Auch für Kinder?

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MärchenoPer – Auch für Kinder?
überlegungen aus dem nachbarland
Beata Kornatowska
S
timmen im Publikum
bewegt, langsamen Schrittes zum Proszenium. Seufzer der Entzückung im Zuschauerraum.
Kind A, später auch andere Kinder
– Wann kommt denn endlich die
Hexe?
Die Knusperhexe tobt auf dem Besen um
ihr Haus herum und singt mit Männerstimme. Vergnügtes Lachen und Quietschen
im Publikum.
Wir befinden uns im Großen Theater in
Posen, Polen. Im Zuschauerraum sitzen
Kinder und ihre erwachsenen Begleiter.
Auf der Bühne wird eine Märchenoper gezeigt. Man hört Musik und Stimmen im
Publikum.
Erste Vorstellung
Kind A
– Mutti, was ist eine Spindel?
Kind B
– Wer ist dieser Herr in Uniform?
Kind C
Mühsames halblautes Entziffern von polnischen Untertiteln, nach einer Weile mit
hörbarer Enttäuschung:
– Mutti, lies Du doch mal vor, es geht
mir zu schnell.
Erwachsene lesen vor und beantworten
Fragen. Rauschendes Meer von Flüsterstimmen.
Die oben geschilderten Szenen spielten sich während meiner Besuche als
Rezensentin der Musikzeitschrift Ruch
Muzyczny in der Posener Oper ab. Im
Zuschauerraum saßen überwiegend
Kinder, die ihre Reaktionen auf das
Gesehene und Gehörte nicht bis zum
Zwischen- oder Schlussapplaus zurückhielten. Aufgeführt wurden in
beiden Fällen Märchenopern zu bekannten Stoffen – Ottorino Respighis
La bella dormente nel bosco (4. Dezember
2011) und Engelbert Humperdincks
Hänsel und Gretel (23. Februar 2013).
Vierzehn Monate lagen zwischen der
ersten und der zweiten Vorstellung
und doch musste ich bei der zweiten
Zweite Vorstellung
Auf der Bühne erscheint eine überlebensgroße Puppe mit freundlichem Gesichtsausdruck und geht, von vier Personen
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KornAtowSKA
die erste mitdenken. Hier gelang etwas,
was im ersten Fall fehlte – das kindliche
Publikum zeigte sich gefesselt und verzaubert. Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags ergab sich aus diesen
gegensätzlichen Erfahrungen. Dachte
ich über die zwei Vorstellungen nach,
so drängte sich mir die Frage auf, ob
sich abendfüllende Märchenopern, die
ja keine eigens für Kinder geschaffenen
Werke sind, überhaupt für das jüngste
Publikum eignen. Daran schloss sich
die nächste Frage an: Resultiert die
Kinder(un)tauglichkeit der Opern aus
dem Werkcharakter selbst oder aus
dessen Aufbereitung und Ausführung?
Im Folgenden soll versucht werden,
diese Fragen anhand einer Analyse der
oben erwähnten Werke und Aufführungen zu beantworten. Dies geschieht
in zwei Schritten: zunächst auf der
Ebene des Werkes selbst, im Hinblick
auf dessen musikalische Gestalt und
die Beziehung zwischen der Märchengrundlage und dem Libretto, dann auf
der Ebene der Ausführung – der
Sprachfassung und der Inszenierung.
Dieser Versuch ist insbesondere in
Bezug auf Polen relevant – im Gegensatz zu Deutschland, dem Opernland
schlechthin, gibt es hierzulande noch
keine auf Kinderoper1 spezialisierten
Einrichtungen oder Häuser. Umso
mehr weckt ein Märchentitel eindeutige Erwartungen bei den Eltern, die
Märchenoper – auch für Kinder?
mit ihren Kindern in die Oper wollen
– an diesen Abenden ist ein voller Zuschauerraum vorprogrammiert. Opern
und Ballette nach bekannten Märchen
bilden, neben Mozarts Zauberflöte, in
vielen Fällen die einzige Gelegenheit
für einen Einstieg in die Welt der
Oper. In der Posener Oper beschränkt
sich das Angebot an speziell für Kinder aufbereiteten Titeln zurzeit auf
eine Adaption von Peter und der Wolf
von Sergei Prokofjew, ein Potpourri
mit dem Titel Wer hat Angst vor dem
hohen C sowie Hänsel und Gretel von
Engelbert Humperdinck. Die Nationaloper in Warschau und andere Häuser veranstalten regelmäßig Matineen
für Kinder, Konzertprogramme mit
pädagogischem Hintergrund, gedacht
als Vorbereitung auf einen Opernbesuch. Möchte man aber eine Vorstellung besuchen, so hat man in der
Hauptstadt keine Wahl; es kommt nur
das Ballett in Frage. Nussknacker und
Mäusekönig von Pjotr Tschaikowski ist
für Generationen von polnischen Kindern untrennbar mit dem ersten
Opernhausbesuch verbunden. Eine
Ausnahme in dieser Hinsicht bildet
die Oper Breslau, die ein vielfältiges
Repertoire anbietet. Dort gibt es seit
2008 auch eine spezifische Kinderopernreihe, bisher wurden u.a. Rotkäppchen von Jiři Pauer, Sid, die
Schlange, die singen wollte von Malcolm
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Kinder- und Hausmärchen, bei
Basile, Perrault, Andersen oder
im Cabinet des fées enthaltene
Geschichte, des weiteren jeder
Text, den Autoren wie Clemens
Brentano, Oscar Wilde oder
Hermann Hesse explizit als
„Märchen“ bezeichnet (oder in
eine Sammlung ihrer „Märchen“) aufgenommen haben,
und natürlich auch aus mündlicher Überlieferung gesammelte,
in wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Ausgaben
veröffentlichte Erzählungen.
(Gier 97)
Fox sowie Alice im Wunderland von
Robert Chauls aufgeführt.
V
on der Märchenoper zur
intentionalen Kinderoper
Wodurch zeichnet sich eine Märchenoper aus? Versuche, diese Erscheinung
für Forschungszwecke zu umgrenzen
und zu definieren, reichen auf die
1895 veröffentliche Dissertation von
Leopold Schmidt Zur Geschichte der
Märchenoper zurück. Dort geht der
Verfasser von der Feststellung aus,
dass die von Komponisten verliehenen Bezeichnungen der musikalischen
Bühnenwerke zu unpräzise sind, als
dass sich Forschende darauf verlassen
könnten. Er schlägt eine Einteilung
der Opernwerke nach dem ihnen zugrunde liegenden Stoff vor. Eine Märchenoper sei demnach eine Oper nach
einer Märchenvorlage. Diese Herangehensweise bleibt bis heute verbindlich; um zu entscheiden, ob wir es mit
einer Märchenoper zu tun haben oder
nicht, befragen wir das Libretto und
dessen Quellen. Auch Albert Gier, der
das Opernlibretto als literarisches Phänomen untersucht, schlägt Strategien
der Textproduktion und -rezeption
der literarischen Grundlage als Abgrenzungskriterium vor:
Jede Oper, die einen dieser Texte als Librettogrundlage hat, ist als eine Märchenoper zu bezeichnen – darunter
auch die in den Sammlungen von Perrault und Bechstein wurzelnden Werke
von Respighi und Humperdinck.
Als „das erste nachweisbare Märchen auf der Opernbühne“ (Pachl 131)
gilt Il paese della Cuccagna von Baldassare Galuppi (Librettist: Carlo Goldoni). In Deutschland gehen die
Anfänge der Märchenoper auf Ferdinand Hummel und Carl Reinecke zurück, die als erste „dramatisierte
Erzählungen aus der Sammlung der
Kinder- und Hausmärchen mit Musik
versahen“ (Pachl 133). Die Märchenopernproduktion kulminiert um die
Jahrhundertwende, als deren bedeutende Vertreter sind Engelbert
Humperdinck, Hans Pfitzner, Franz
Demnach wäre ein „Märchen“
jede in weitverbreiteten Sammlungen wie den Grimmschen
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KornAtowSKA
Märchenoper – auch für Kinder?
gedacht sind6 und spezifische Kinderopern7, die auf Vorlieben und Rezeptionsmöglichkeiten der Kinder zugeschnitten sind. Deren Dauer ist auf
50 bis 60 Minuten beschränkt, sie behandeln Stoffe, die Kinder ansprechen. Meistens entsprechen sie der
Form des Singspiels und sind musikalisch einfach komponiert. Außerdem
gibt es Familienstücke, die sich auf
der Stoffebene für das kindliche Publikum eignen und gleichzeitig komplexe, abendfüllende Opern sind. Mit
letzteren haben wir es bei Hänsel und
Gretel und La bella dormente nel bosco
zu tun.8
Eine abendfüllende Oper als intentionale Kinderoper entsteht erst durch
einen Akt der Zuschreibung. Ein
Opernhaus kündigt eine Märchenoper
als Kindervorstellung an, was sich an
der Gestaltung von Opernplakaten,
der Erwähnung von Kindern als Zielpublikum, später auch an der Inszenierung und der Aufmachung von
Programmheften – in Posen waren es
in beiden Fällen ausfaltbare Spiele,
bunt und reich bebildert, mit knappem Begleittext – bemerkbar macht.
Die Eltern sehen einen Märchentitel
im Opernrepertoire und kaufen Karten für die ganze Familie. Oder eine
Lehrerin nimmt ihre Grundschulklasse nach einer Vorbereitungslektion in eine Erwachsenenoper mit, die
Schreker und Siegfried Wagner zu
nennen. Viele Werke entstehen in der
Wagner-Nachfolge, denn ein an jüngere Kollegen gerichteter Ratschlag
von Richard Wagner soll anregend gewirkt haben: „Es ruhe aber noch ein
reicher ungehobener Schatz im kleineren Ideenkreise der Sage, der Märchen
und der Legende, der Gelegenheit
böte, auf engerem Gebiete auch nach
ihm Neues zu schaffen“ (Pachl 132).
Im zeitgenössischen Musiktheater erfreuen sich populäre Märchenstoffe
ebenfalls großer Beliebtheit – der Inhalt kann als bekannt vorausgesetzt
werden, was Umdeutungen möglich
macht, die als solche erkannt werden.
Obwohl die Märchenoper eine wesentliche Erscheinung – insbesondere
in der deutschen Operngeschichte des
19. und 20. Jahrhunderts – darstellt, ist
die Forschungsliteratur zum Thema relativ klein. Untersucht worden sind vor
allem Opern zu den Märchen der Brüder Grimm, etwa zu den Bezügen zwischen den Vorlagen und den Libretti
sowie zur Verwendung einzelner Motive.2 Außerdem liegen Forschungsansätze zur allgemeinen Entwicklung der
Märchenoper im 19. und 20. Jahrhundert3, zur Märchenoperproduktion in
der Wagner-Nachfolge4 und zu einzelnen Werken oder Komponisten5 vor.
Unter den Märchenopern gibt es solche, die für ein erwachsenes Publikum
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sich ihrer Meinung nach gut als Einstieg eignet, und so wird der Titel
durch ihre Entscheidung zur intentionalen Kinderoper.
La bella dormente lässt sich als ein
romantisches Märchen mit witzigem
Gegenwartsbezug und als harmlose
Melodrama-Parodie bezeichnen. Die
Oper weist Merkmale auf, die im Allgemeinen für die Musik von Respighi
gelten, das „Gleichgewicht zwischen
traditionellen, in einem kultivierten
und gebildeten Geiste gereiften Elementen und Anregungen von neuen
Ausdrucksmitteln“, „Sinn für Melodie“, „glänzende Farbigkeit der
meisterhaften Orchestrierung“ und
„vornehmer Eklektizismus“ (MGG
311). Für ein geschultes Ohr hat sie
viel zu bieten, wie John C. G. Waterhouse ausführt:
[it] serves its simple purposes
with a terse, elegantly colorful,
freshly melodious perfection
which none of his more ambitious operas can quite match.
The many gently parodistic references range from late Baroque
pomp through Wagner, Verdi’s
Falstaff, Massenet and Debussy
to 20th century popular music;
yet the total effect is surprisingly unified, so manifestly sincere and apt is the composer’s
responsiveness to the details of
the story. (385)
u
rsprünge und musikalische Gestalt
Beide in Posen aufgeführten Märchenopern sind musikalisch komplexe,
abendfüllende Werke, gründen jedoch
auf früheren Fassungen, die als Kindertheater konzipiert waren. La bella
dormente nel bosco von Respighi entstand ursprünglich für ein Puppentheater, das berühmte Teatro dei
Piccoli. Dessen Begründer, Vittorio
Podrecca, hielt gute Musik für das
Herz seines Unternehmens. Ein Kammerorchester war fester Bestandteil
des Ensembles, gespielt wurden
Werke von Donizetti, Gluck, Mozart,
Pergolesi, Purcell und Rossini, aber
auch Auftragswerke. Die Uraufführung der Oper von Respighi fand 1922
in Rom statt. Sie blieb jahrelang im Repertoire des Theaters und wurde u.a.
in
Australien, Ägypten, Bulgarien,
Griechenland, Großbritannien, Japan,
Kanada, Russland und der Türkei gespielt. Die zweite Fassung, für ein großes Orchester, wurde für das Teatro di
Torino vorbereitet und 1934 uraufgeführt. Auf der Bühne agierten Kinder
als Pantomimen, gesungen wurde im
Orchestergraben.
Die Musik eröffnet sich dem Rezipienten je nach Erfahrung und Kenntnissen:
Ein Opernanfänger – eine Bezeichnung, die sich selbstverständlich nicht
auf Kinder beschränkt – erfreut sich
10
KornAtowSKA
vor allem an der Melodik, die zahlreichen Anspielungen dagegen sind nur
für Zuhörer mit musikgeschichtlichem
Hintergrund zugänglich.
Hänsel und Gretel von Engelbert
Humperdinck gilt als die Märchenoper schlechthin und ist eines der
erfolgreichsten Werke der Operngeschichte. Als Librettoverfasserin
wird die Schwester des Komponisten,
Adelheid Wette angegeben, obwohl
die letzte Fassung des Werkes, die
durchkomponierte Oper, eigentlich in
Familienarbeit entstand.9 Das Libretto
entsprang einem Liederspiel, das zu
Hause bei Adelheid Wette von Kindern als Familienvorstellung aufgeführt wurde. Daraus ist, mit der
Zwischenstation Singspiel, eine große
durchkomponierte Oper geworden.
Uraufgeführt wurde sie am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater,
am Dirigentenpult stand der junge Richard Strauss. Albert Gier bezeichnet
das Werk als einen „merkwürdigen
Zwitter“ (100). Der Komponist, Schüler und Verehrer Richard Wagners, bedient sich hier des Wagner-Orchesters,
„dessen instrumentale Wucht wenig
kindertümlich“ sei (ebd.). Zugleich zitiert oder komponiert er volkstümliche
Kinderlieder, die sich später auch außerhalb der Oper großer Popularität erfreuen. Peter P. Pachl schreibt über den
„scheinbaren Widerspruch zwischen
Märchenoper – auch für Kinder?
Kindermärchen und Nibelungenklangwelt“ (135), Piotr Kamiński lobt
die „geistreiche Synthese der populären Traditionen der deutschen Oper
und der Wagnersprache“ (680). Das
Werk wird „als Weihnachtsmärchen
für Groß und Klein rezipiert“ (Gier
100), erobert in kurzer Zeit Bühnen in
ganz Europa und steht ununterbrochen auf den Spielplänen. In der vergangenen Saison 2013/2014 gab es 51
Inszenierungen in 49 Städten, die meisten in der Weihnachtszeit.10 Über
mehrere Generationen von begeisterten Zuhörern weltweit findet sich die
von Ingolf Huhn in seinem Beitrag
„Kinderoper ist die eigentliche Oper:
Zur Typologie einer missverstandenen Gattung“ geäußerte These zur
musikalischen Gestalt bestätigt:
Kinderoper braucht in ihrer
musikalischen Faktur nichts
‚Kindgemäßes‘, weder die Beschränkung auf liedhafte Formen, noch ‚Eingängigkeit‘,
einfache Melodik noch gar Primitiv-Harmonik. Sie braucht
nicht den Verzicht auf ‚alles
Überflüssige‘, auf Ritornelle, lyrische Szenen und Ensembles.
Was sie musikalisch einzig
braucht,
ist
Transparenz:
Durchhörbarkeit des orchestralen Parts und Textverständlichkeit im Gesang. Und beides
wäre ja auch für Erwachsene
sinnvoll. (63)
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V
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om Märchen zum libretto
Das Libretto Bistolfis enthält eine
Ebene, die Kindern verschlossen bleibt
– satirische Bezüge zur Wirklichkeit
der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und Elemente der Distanzierung
von der Märchenwelt. Ingolf Huhn,
der große Teile des Opernrepertoires
als potentielle Kinderoper zulässt,
weist auf die Grenze hin, die für die
jüngsten Zuschauer unüberwindbar
ist, nämlich „die Zweideutigkeit.
Damit kann ein Kind nichts anfangen.
Es kennt die Konnotationen nicht und
versteht deshalb nichts“ (60).
Was entgeht den Kindern nun konkret bei Respighis Oper? Am Anfang
des dritten Aktes befindet sich eine
modisch gekleidete Gesellschaft auf
Schnitzeljagd im Wald. Ein Holzhakker erzählt ihnen die Geschichte der
schlafenden Schönen. Ein gewisser
Mr. Cheque Dollar spricht nur gebrochen Italienisch und missversteht
daher, was „schlafende Schöne“ bedeutet. Er spielt mit dem Gedanken,
sie zu kaufen, um der Herzogin de la
Banderola eine Freude zu machen, die
sich vom sichtbar von der Geschichte
bewegten Prinz April bereits betrogen
fühlt. Die Oper mokiert sich auch über
die Hofetikette – nachdem die Prinzessin eingeschlafen ist, tanzt die Spindel
vor ihr einen höhnischen Tanz, voll
von grotesken Verbeugungen. Mit
Tritten vertreibt der König seine
Bei den meisten Märchenopern reicht
die bloße Märchenkenntnis nicht aus,
um der Handlung folgen zu können.
In beiden besprochenen Fällen kann sie
nicht einmal vorausgesetzt werden. Dornröschen ist in Polen vor allem als Märchen der Brüder Grimm bekannt, Ottorino Respighis La bella dormente nel
bosco (Die schlafende Schöne im Walde)
liegt eine andere Fassung zugrunde,
dazu noch weitgehend abgewandelt. Das
Libretto wurde von Gian Bistolfi nach
dem Märchen von Charless Perrault La
belle au bois dormant verfasst.
Der Librettist hat das Personal des
Märchens u.a. um Tiere erweitert. Im
ersten Bild des ersten Aktes unterhalten sich eine Nachtigall, ein Kuckuck
und ein Froschchor, die keine gute
Meinung über die Spezies Mensch
haben. In der Szene, in der die Prinzessin eine alte Frau am Spinnrad aufsucht, gibt eine Katze ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck, dass
der vornehme Gast spinnen lernen
will. Später trägt sie die Spindel, an
der sich die Prinzessin gestochen hat,
davon. Nachdem das ganze Königreich eingeschlafen ist, kommen Spinnen, die ein großes Netz über das Bett
der Prinzessin bauen. Bevor der Prinz
April die Prinzessin wecken kann,
muss er eine riesige Spinne besiegen.
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Medizi, die dem Schlaf der Prinzessin
ratlos gegenüber stehen. Das Königspaar beweint seine Tochter auf dem
Thron sitzend. Auf der Liste der Mittel,
mit denen man versucht hat, die Prinzessin zu wecken, befinden sich neben
Enzian, Kaffee, Sirup und Strophanthin
auch Melodien von Strauss.
In der Abschlussszene tanzt die
glückliche Hofgesellschaft ein Menuett, dann aber lädt der Prinz die Prinzessin zu einem modernen Tanz ein.
Es erklingt ein Foxtrott. Jedes Paar
setzt sich aus einem Vertreter des
Hofes und der Schnitzeljagdgesellschaft zusammen. Das Alte tanzt mit
dem Neuen, verkündet wird ein
„Nouveau Style“. Diese Aktualisierung des Märchens, die Respighi und
sein Librettist unternommen haben,
wird bald hundert Jahre alt – aus Gegenwartsbezug ist schon lange ein
Bezug zur Vergangenheit geworden.
All diese Aspekte des Werkes können
nicht verhindern, dass die jüngsten
Zuschauer der Märchenhandlung
dennoch folgen – nach wie vor geht es
vordergründig darum, dass sich die
Prinzessin an der Spindel sticht, einschläft und nach vielen Jahren von
einem in sie verliebten Prinzen wach
geküsst wird.
Den Titel der Oper von Engelbert
Humperdinck assoziiert man meistens
mit den Brüdern Grimm, doch das
Märchenoper – auch für Kinder?
Werk hat eine andere Fassung des
Märchens von Hänsel und Gretel als
Grundlage. 1845 veröffentlichte Ludwig Bechstein sein Deutsches Märchenbuch, das unter Nummer acht die
Geschichte der beiden Geschwister beinhaltet. Die Popularität dieser Sammlung stand jener der Kinder- und
Hausmärchen zur Entstehungszeit der
Oper in nichts nach. Sie erreichte
zwölf Neuauflagen in acht Jahren. In
einem Brief an Margarete Krupp vom
12. Juli 1894 schreibt der Komponist,
seine Oper sei „einem Bechsteinschen
Märchen entnommen“ (Irmen 27).
Bechstein verzichtet in seiner Fassung auf die Stiefmutter, aus ethischen
Gründen, wie er selbst erwähnt. Böse
Stiefmütter gebe es in Märchen zu
viele. Es könne den Familienfrieden
gefährden und Stiefkinder gegen ihre
angenommenen Mütter einstimmen.
Hans-Josef Irmen, Musikwissenschaftler und Musikpädagoge, Verfasser einer
umfangreichen Studie zu Humperdincks Hänsel und Gretel, charakterisiert
die Fassung folgendermaßen:
Bechstein führt keine Figuren
vor: er zeigt Menschen mit Gefühlen, Sehnsüchten, Ängsten
und Nöten, Menschen die irren
und ihren Irrtum bereuen. Bei
ihm kommt der Leser zum ersten Mal zur Erkenntnis der
ausweglosen Situation dieser
Holzhackerfamilie, hier begreift
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er das soziale Elend in seinem
Ausmaß und seiner Konsequenz:
Hunger und Tod bestimmen
dieses naturalistische Drama.
(31)
Erdbeeren holen. Bald bereut sie ihren
Ausbruch und macht sich mit dem
Vater, dem Besenbinder Peter, auf die
Suche. In der letzten Szene der Oper
kommt es zum Wiedersehen der
Familie am Haus der Knusperhexe.
Den Schlüssel zum Verständnis des
Werkes bildet, wie bei Bechstein, der
Glaube an Gottes Hilfe: „Wenn die Not
aufs Höchste steigt, Gott der Herr die
Hand uns reicht“ (Humperdinck 16),
pflegt der Vater zu sagen. Diese Worte
erklingen auch zum Schluss, als Krönung der Oper. Die Botschaft ist musikalisch verankert. Das Motiv des
Abendsegens – vierzehn Engel beschützen Hänsel und Gretel im Schlaf – fungiert als Klammer. Es erklingt zum
ersten Mal im Vorspiel und begleitet
die letzten Worte des Librettos. Hier
liegt der Schlüssel zum Verständnis
der Oper – auch in scheinbar ausweglosen Situationen kann man sich auf
den Glauben verlassen und es wird
einem geholfen. Somit fügt sich Hänsel
und Gretel in eine lange Reihe von Sittenbildern ein, wo „die irdische Not
durch eine überirdisch tröstende Apotheose“ verklärt wird. Der Kontrast
zwischen Arm und Reich „erscheint
aus dem Blickwinkel der Tröstungen
der Religion“ (Reiß 33).
Märchenhafte Stoffe „voller Wunder, Geheimnis und Zauber“ bezeichnet Ingolf Huhn in seinem bereits
Da der Winter naht und die Eltern
nicht mit ansehen wollen, wie ihre
Kinder vor Hunger sterben, führen sie
diese in den Wald und befehlen sie
„dem lieben Gott“ (Bechstein 59). Beim
zweiten Mal ist vom „Beschluss, die
Kinder in den Wald zu führen und sie
dort allein und in des Himmels Fürsorge zu lassen“ die Rede (ebd. 61).
Auch im Libretto von Adelheid Wette
steht Armut im Vordergrund, insbesondere im ersten Bild. Dem Komponisten wurde sogar geraten, das Bild
abwechslungsreicher zu gestalten. „So
sei eine ganze Scene hindurch von fast
nichts anderem die Rede als von Hungerleiden, was an sich zu wenig interessant sei“ (Irmen 148), lautete die
Kritik eines seiner Freunde.
Wette, selbst Mutter von sechs Kindern, wollte die Beziehung zwischen
den Eltern und ihren Kindern in Hänsel und Gretel entlasten. Armut,
schwere Arbeit und die Sorge, dass
ihre Kinder Hunger leiden, setzen Gertrud, der Mutter, sehr zu. Nachdem
der Milchtopf im Eifer des Streits zerbrochen wurde, gibt es nichts zum
Abendbrot. Im Zorn schickt die Mutter
ihre Kinder in den Wald, sie sollen
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KornAtowSKA
erwähnten Beitrag als konstitutiv für
die Oper schlechthin. Ihr vielschichtiger Charakter erlaube eine Rezeption
auf mehreren Stufen, je nach Erfahrung und Vorbereitung. Diese Komplexität ist auch für die Märchenoper
von Bedeutung. Jede Opernadaption
ist zugleich auch Interpretation, die
Umgestaltung der Stoffe geht in vielen
Fällen weit über das operntechnisch
Notwendige hinaus, es werden etwa
Verfahren der Komisierung oder Psychologisierung verwendet. Insofern jedoch das Handlungsgerüst unverändert
und das Märchen ohne Mühe wiedererkennbar bleibt, sind Libretti von
Märchenopern auf der für das Verständnis des Werkes notwendigen
Stufe auch für Kinder zugänglich.
Erwachsenen bieten sie zusätzliche
Anregungen – wie bei anspruchsvoller Kinderliteratur rezipiert jeder
und jede nach seinem oder ihrem
Erfahrungshorizont.
Märchenoper – auch für Kinder?
ununterbrochen Hilfe von ihren erwachsenen Begleitern – die polnischen
Untertitel mussten ihnen vorgelesen
werden. Andere entzifferten zwar die
Übersetzung, verstanden aber nicht
alles, fragten nach und waren nicht
imstande, dem Bühnengeschehen zu
folgen.
In der Vorstellung von Hänsel und
Gretel waren die Reaktionen des kindlichen Publikums meistens nonverbal
und darauf bezogen, was auf der
Bühne geschah und als beeindruckend
empfunden wurde. Ein müheloses
Verfolgen des Geschehens wurde u.a.
dadurch ermöglicht, dass die Oper in
der polnischer Fassung gespielt
wurde.
Die Übersetzung, in der Hänsel und
Gretel in zwei polnischen Theatern gespielt wird (Bromberg und Posen),
stammt von Roman Kołakowski (geb.
1957), einem Komponisten, Lyriker,
Sänger, Übersetzer und Regisseur.
Man spürt darin einen erfahrenen
Bühnenpraktiker – der dynamische
Charakter des Ganzen und die rhythmische Ordnung bleiben beibehalten.
Dafür geht manches verloren, was das
Spezifische dieses weitgehend durch
bürgerliche Hauskultur des 19. Jahrhunderts geprägten Textes ausmacht,
was übrigens eine typische Erscheinung bei der Übersetzung von deutschen Märchen in die polnische
o
riginalfassung versus
übersetzung
Die Posener Aufführung von Respighis Oper in der italienischen Originalfassung beweist, dass es notwendig
ist, Libretti von Opern, die man
den jüngsten Zuschauern anbieten
möchte, in die Muttersprache übersetzen zu lassen. Während der Vorstellung brauchten viele Kinder
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Sprache zu sein scheint.11 Der Handlungsverlauf bleibt jedoch, trotz der
einen oder anderen Veränderung, die
im Rahmen einer Übersetzungsanalyse12 zu behandeln wäre, logisch und
überschaubar. Zwar werden Opern
gegenwärtig bevorzugt in Originalsprachen gespielt, doch wäre für Produktionen, die an Kinder adressiert
sind, ein anderer Grundsatz zu bevorzugen: Es lohnt sich, das Libretto
übersetzen zu lassen und noch größeren Wert als üblich auf die Textdeutlichkeit beim Gesang zu legen. Bei
Abweichungen von allgemein bekannten Märchenfassungen erweist
sich eine Einführung vor der Vorstellung und eine ausführliche Beschreibung in der Ankündigung und im
Programmheft als hilfreich.
i
von Ottorino Respighi wurde auf der
Website des Theaters als eine Vorstellung sowohl für „jüngere als auch erwachsene“ Zuschauer angekündigt:
„Dornröschen ist ein besonderes
Werk. Es versetzt uns in eine geschmackvolle Musikwelt, belehrt, fesselt und bewegt uns und zum Schluss
amüsiert uns mit glücklichem Ende“
[Kornatowska 25]. Die Inszenierung
von Zofia Dowjat hält diese Versprechung nicht und erweist sich in vielerlei Hinsicht als nicht kinderfreundlich
– die Wiedererkennbarkeit des Werkes
lässt zu wünschen übrig. Das Märchen
steht hier in Klammern, zu tun haben
wir es mit Theater im Theater. Den
Rahmen bildet eine von der Regisseurin erfundene Handlung, die an die
Handlungszeit des dritten Aktes anknüpft. Wir befinden uns in einem
Aufnahmestudio der zwanziger Jahre
des vergangenen Jahrhunderts. Gezeigt werden Vorbereitungen auf die
erste polnische Rundfunkaufnahme
der Oper La bella dormente von Respighi. Sänger, einige gerade erst angekommen, schleppen ihr Gepäck,
andere klagen über Erkältung, sind jedoch fest entschlossen, ihr Bestes zu
geben. Der Inspizient verteilt das Notenmaterial und versucht, das Chaos
auf der Bühne zu bändigen, was ihm
bis zum Schluss der Vorstellung nicht
gelingt. Die für Kinder potentiell so
nszenierungsfragen
„Kinderoper braucht mehr als andere
Oper Verlässlichkeit in der Weitergabe. So wie Kinder bei erzählten
Märchen auf den einmal eingeprägten
Formulierungen bestehen, so brauchen sie auch in der Inszenierung die
Wiedererkennbarkeit des Werkes,“
lautet eine der Voraussetzungen, die
Ingolf Huhn in Bezug auf Kinderoper
formuliert (63). Wie steht es um diesen
Aspekt in den zwei Posener Produktionen? Śpiąca królewna (Dornröschen)
16
KornAtowSKA
attraktive Tierszene am See spielt sich
in der Posener Inszenierung vor einem
Notenständer mit Retro-Mikrofon ab.
Agierende sind nicht als Tiere verkleidet, sondern tragen elegante Kleidung, mit Kopfbedeckung im Stil der
zwanziger Jahre – für Kinder nichtssagend, da sie den Zusammenhang
nicht erkennen. Die Damen, als Nachtigall und Kuckuck besetzt, kämpfen
um den Platz am Mikrofon und überbieten sich in Stimmakrobatik. Das
sieht nach Opernsatire aus und nicht
nach dem von den Verfassern geplanten, diskret gebrochenen Naturidyll.
In diesem Rahmen wird die eigentliche Märchenwelt präsentiert. Nach
der ersten Szene zerbricht die Wand
hinter dem Proszenium. Zu sehen bekommt man eine riesige Schatulle mit
sieben Fenstern, einem großen in der
Mitte und jeweils drei kleinen rechts
und links, welche das Märchen beherbergt. Alle Ausführenden bis auf den
Inspizienten und den Chor gehen
hinein.
Vom Zuschauerraum her betrachtet erinnert das Bühnenbild an ein
Elektronikgeschäft, wo mehrere flimmernde Fernseher nebeneinanderstehen. Das Eintauchen in die Welt des
Märchens wird unmöglich, zwischen
dem Zuschauer und dem Geschehen
wird zu viel Distanz aufgebaut. Die
Prinzessin sticht sich an der Spindel in
Märchenoper – auch für Kinder?
einem der kleinen Nebenfenster – eine
der Schlüsselszenen der Oper ist also
leicht zu übersehen.
An den Reaktionen des Publikums konnte man erkennen, dass die
Inszenierung für sie voller Verständnishindernisse war. Viele der jungen
Zuschauer haben versucht, sich mit
Hilfe der Erwachsenen Überblick
über die verschachtelte Struktur zu
verschaffen. Sie erkundigten sich
nach dem Sinn von Gegenständen
und schauspielerischen Handlungen.
Beeindruckt und still zeigten sie sich
beim Erscheinen der bösen Grünen
Fee in der zweiten Szene des ersten
Aktes und der Spinnen-Akrobaten, die
um das Gemach der Prinzessin ein
Netz bauen, zum Schluss des zweiten
Aktes. Die Kostüme der königlichen
Familie und der Feen waren eine Augenweide. Das reichte jedoch nicht aus,
um den Zuschauern ein vollwertiges
Opernerlebnis anzubieten.
Durch den hohen Geräuschpegel
im Publikum, weit höher als bei Kindervorstellungen üblich, rückte die
Musik in den Hintergrund. Darüber
hinaus dämpfte das Bühnenbild den
Gesang der Märchenfiguren. Das
Ganze klang mitunter nach einem
alten Radiogerät, das mit wechselnder Lautstärke spielt. Lauter klangen
der Chor und die Personen, die auf
dem Proszenium standen, leiser die
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Vertreter der Märchenwelt, die sich in
der Schatulle befanden.
Ganz anders erging es den jungen
Zuschauern in der Premiere von
Humperdincks Hänsel und Gretel in
der Regie Monika Dobrowlańskas, mit
Bühnenbild von Katarzyna Nesteruk.
Die polnische Übersetzung des Librettos, das textdeutliche Singen der Darsteller, die visuelle Attraktivität und
die übersichtliche Inszenierung, die an
Magie und Humor nicht entbehrt, setzten sich zu einem kinderfreundlichen
Opernabend zusammen. Die Regisseurin konzentrierte sich auf das Märchenhafte der Handlung, integrierte
Elemente, welche die Stimmung steigerten, verzichtete auf alles, was ablenkend wirken könnte.
Während des Vorspiels ereignet
sich ein dreifarbiges Schattenspiel –
Märchenfiguren begrüßen die Zuschauer und winken ihnen zu. Im ersten Bild schauen wir in das hölzerne
Häuschen des Besenbinders hinein,
eine karg ausgestattete Stube, wo wir
das Geschehen, u.a. das Toben von
Hänsel und Gretel, verfolgen können.
Sie wirkt wie ein Resonanzraum und
bietet akustischen Vorteil für die Sänger. Magie und Unheimlichkeit strahlt
das Bühnenbild des zweiten Bildes
aus. Wir befinden uns im Wald, am
Himmel hängen dunkle Wolken. Bald
dämmert es. Zwei weitere Reihen von
Bäumen mit silbernen Stämmen, die
im Mondesschein glitzern, kommen
noch hinzu – der Wald wird dichter
und unheimlicher. Nachdem Hänsel
und Gretel dank dem Sandmännchen
eingeschlafen sind, zeigt sich im Hintergrund ein Umzug von Märchenfiguren. Das dritte Bild spielt sich um
das Knusperhäuschen aus Butterkeksen herum ab. Im Hintergrund hängen
übergroße, bunte Lockmittel für
Kinder: ein Lutscher, ein Bonbon,
ein Laptop, ein Sportschuh und ein
Handy. Rechts steht ein Gitter, hinter
dem Hänsel gefangen gehalten
und gemästet wird, links der Ofen,
einer Aluschale ähnlich, in dem sich
die Knusperhexe in einen großen
Lebkuchen verwandelt.
Solides schauspielerisches Handwerk und Präzision der Ausführung,
aber auch Humor und fröhliches Spiel
beherrschen die Bühne. Großen Eindruck macht der Auftritt des Sandmännchens. Es ist eine riesige Puppe,
von vier Menschen bewegt, mit einem
gutmütigen Gesichtsausdruck, weißem Bart, großem Zylinder und zarten
roten Flügeln. Furore unter den jungen Zuschauern macht die Knusperhexe, die vom Sänger mit Bravour und
Phantasie verkörpert wird. Sie singt
mit einer diskret modifizierten Tenorstimme und kann sowohl Schrecken
einjagen als auch durch albernes
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KornAtowSKA
Auftreten für Spannungsentladung
sorgen. Auf der Bühne treten auch Kinder auf, als Lebkuchen, die von Hänsel
und Gretel entzaubert werden und zu
ihrer wahren Gestalt wiederfinden.
f
Märchenoper – auch für Kinder?
und ihr mühelos folgen können und,
last but not least, kompetente Begleitung eines Erwachsenen, der die Fragen
schnell beantwortet.
Kinder sind durch ihre Vorliebe für
Wunder, Geheimnis und Zauber und
durch ihre Fähigkeit zum Staunen für
das Opernerlebnis geradezu prädestiniert und sollen als Zuschauer in
jeder Hinsicht ernst genommen werden. Wie das geht, erläutert Ingolf
Huhn, der die Meinung vertritt, dass
Oper und Kinderoper weitgehend
deckungsgleich sind:
azit
Betrachtet man die Werke selbst, so
stellt sich heraus, dass abendfüllende
Märchenopern nach Volksmärchen
sich durchaus als Kinderopern eignen.
Sie zeichnen sich zwar durch Komplexität aus, doch die für das Verständnis
der Handlung wichtigen Ebenen des
Werkes erweisen sich als für die jüngsten Zuschauer rezipierbar. Es sei denn,
ihnen wird der Zugang zum Werk verbaut – etwa wenn die Märchenhandlung nicht wiedererkennbar ist und die
Märchenstimmung zerstört wird.
Kündigt man eine nicht spezifische
Märchenoper als Kindervorstellung
an, so sollten einige Grundbedingungen bei der Ausführung eingehalten
werden: die muttersprachliche Fassung
des Werkes, eine kinderfreundliche
Inszenierung, die an Rezeptionsmöglichkeiten der jüngsten Zuschauer angepasst ist und das Geschehen nicht
entfremdet, transparentes Orchesterspiel, textdeutliches Singen und gutes
Schauspiel. Weiter braucht es Vorbereitung auf die Vorstellung, damit die
Kinder die Handlung vorher kennen
Oper, wenn sie richtig geht, muss
wie von Kindern erlebt werden.
Dieses hochartifizielle Ding, diese
teuerste und ‚künstlichste‘ aller
Gattungen, ist ‚versungen und
vertan‘, wenn sie sich ihrem Publikum nicht nähert wie Kindern,
ernsthaft und gar nicht infantil,
aber in klarer und naiver Unmittelbarkeit, wie einem fragenden,
wissen wollenden Kinde, das bereit ist, alles zu glauben und alles
begierig aufzusaugen, wenn sie
von innen her glaubhaft ist: wie in
einem Märchen. Wenn sie –
stimmt. (Huhn 57)
S
chlussbild
Wir befinden uns vor dem neuklassizistischen Gebäude der Posener Oper, es ist ein
Winterabend. Auf der mit frischem Schnee
bedeckten Treppe leuchten bunte Punkte
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interjuli
01 i 2015
auf, bald verteilen sie sich in verschiedene
Richtungen. Es sind kleine Zauberstäbe,
die man an einem Verkaufsstand mit Märchenrequisiten kaufen kann. Die Märchenatmosphäre strahlt bis in den benachbarten
Park hinein. Es schneit wieder. Ein Abend,
den nicht nur Kinder in Erinnerung
behalten.
Beata
Kornatowska
(*1975) ist Literaturwissenschaftlerin, Musikpublizistin und Stimmerzieherin. Sie promovierte über das Porträt der
ostdeutschen Jugend in
der KJL der neunziger Jahre, zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Institut für Germanische Philologie
der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań.
Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt sind
Beziehungen zwischen Literatur und
Musik, insbesondere literaturwissenschaftliche Librettoforschung.
20
KornAtowSKA
Märchenoper – auch für Kinder?
AnmErkungEn
1
Im Folgenden benutze ich die Bezeichnungen „spezifische Kinderoper“ und „intentionale Kinderoper“. Diese Einteilung entlehne ich der in Kinder- und Jugendliteraturforschung üblichen Systematik. „Spezifische Kinder- und Jugendliteratur“ ist eigens für
Kinder und Jugendliche, im Hinblick auf ihre Interessen und Rezeptionsmöglichkeiten,
geschriebene Literatur, als „intentionale Kinder- und Jugendliteratur“ gilt Literatur, die
von Erwachsenen als für Kinder und Jugendliche geeignet beurteilt wurde (vgl. Gansel
8–9; Ewers 15–28).
2
Vgl. die Arbeiten von Susanne Meier und Małgorzata Kosecka.
3
Vgl. die Beiträge von Albert Gier und Heinz-Albert Heindrichs.
4
Vgl. Beitrag von Peter P. Pachl.
5
Vgl. die Arbeit von Hans-Josef Irmen und der Sammelband von Matthias Herrmann
und Vitus Froesch (Hg.).
6
Beispiele für Märchenopern für Erwachsene sind Antonín Dvořák Rusalka, Hans Werner
Henze Der junge Lord, Sergei Prokofjew Die Liebe zu den drei Orangen, Igor Strawinsky Die
Nachtigall, Richard Strauss Die Frau ohne Schatten.
7
Spezifische Kinderopern sind zum Beispiel Cesar Bresgen Der Igel als Bräutigam, Hans
Werner Henze Pollicino, Jiři Pauer Rotkäppchen.
8
Andere Beispiele für Familienstücke sind Wolfgang Amadeus Mozart Die Zauberflöte,
Gioachino Rossini La Cerentola.
9
Es ist zwar eine ansprechende Vorstellung, die zu dieser Oper passt – die Geschwister
Humperdinck arbeiten gemeinsam an der Entstehung von Hänsel und Gretel. Das Libretto
der Endfassung der Oper hatte jedoch, wie Hans-Josef Irmen anhand des Nachlasses des
Komponisten ausführt, mehrere Verfasser. Ungefähr 2/5 des Textes stammen von Adelheid Wette, 1/5 von ihrem Mann Hermann, 1/5 vom Komponisten selbst und seinem
Vater Gustav Ferdinand Humperdinck, den Rest verdanken wir Volksquellen. Es ist also
ein Familienwerk, verankert in der bürgerlichen Hausmusikkultur des ausgehenden 19.
Jahrhunderts.
10
Angaben nach Operabase: http://www.operabase.com (Zugriff 28.08.2014).
11
Das Phänomen wird von den Übersetzungswissenschaftlerinnen Maria Krysztofiak
und Eliza Pieciul-Karmińska u.a. in Bezug auf polnische Fassungen von Kinder- und Hausmärchen erörtert.
12
Mein Beitrag, der dieser Übersetzung sowie literarischen und kulturellen Zusammenhängen des Librettos von Wette gewidmet ist, für polnische Operninteressierte konzipiert, erscheint bald in einem Tagungsband des Centrum Badań nad Teatrem
Muzycznym UAM (Forschungszentrum für Musiktheater der Adam-MickiewiczUniversität Poznań).
LitErAturVErZEichnis
Bechstein, Ludwig. Sämtliche Märchen. Walter Scherf (Hg.). München: Winkler, 1971.
Bistolfi, Gian. La bella dormente nel bosco. Anna Makuracka (Übersetzerin). Unveröffentlichtes Manuskript. Poznań: Teatr Wielki im. Stanisława Moniuszki, o.J.
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interjuli
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Gansel, Carsten. Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht.
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Heindrichs, Heinz-Albert. „Märchen als Musiktheater?“. Märchenwelten: Das Volksmärchen
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Herrmann, Matthias und Vitus Froesch (Hg.). Märchenoper als europäisches Phänomen.
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Huhn, Ingolf. „Kinderoper ist die eigentliche Oper: Zur Typologie einer missverstandenen
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Isolde Schmid-Reiter (Hg.). Schriften der Europäischen Musiktheater-Akademie
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