interjuli 01 i 2015 MärchenoPer – Auch für Kinder? überlegungen aus dem nachbarland Beata Kornatowska S timmen im Publikum bewegt, langsamen Schrittes zum Proszenium. Seufzer der Entzückung im Zuschauerraum. Kind A, später auch andere Kinder – Wann kommt denn endlich die Hexe? Die Knusperhexe tobt auf dem Besen um ihr Haus herum und singt mit Männerstimme. Vergnügtes Lachen und Quietschen im Publikum. Wir befinden uns im Großen Theater in Posen, Polen. Im Zuschauerraum sitzen Kinder und ihre erwachsenen Begleiter. Auf der Bühne wird eine Märchenoper gezeigt. Man hört Musik und Stimmen im Publikum. Erste Vorstellung Kind A – Mutti, was ist eine Spindel? Kind B – Wer ist dieser Herr in Uniform? Kind C Mühsames halblautes Entziffern von polnischen Untertiteln, nach einer Weile mit hörbarer Enttäuschung: – Mutti, lies Du doch mal vor, es geht mir zu schnell. Erwachsene lesen vor und beantworten Fragen. Rauschendes Meer von Flüsterstimmen. Die oben geschilderten Szenen spielten sich während meiner Besuche als Rezensentin der Musikzeitschrift Ruch Muzyczny in der Posener Oper ab. Im Zuschauerraum saßen überwiegend Kinder, die ihre Reaktionen auf das Gesehene und Gehörte nicht bis zum Zwischen- oder Schlussapplaus zurückhielten. Aufgeführt wurden in beiden Fällen Märchenopern zu bekannten Stoffen – Ottorino Respighis La bella dormente nel bosco (4. Dezember 2011) und Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel (23. Februar 2013). Vierzehn Monate lagen zwischen der ersten und der zweiten Vorstellung und doch musste ich bei der zweiten Zweite Vorstellung Auf der Bühne erscheint eine überlebensgroße Puppe mit freundlichem Gesichtsausdruck und geht, von vier Personen 6 KornAtowSKA die erste mitdenken. Hier gelang etwas, was im ersten Fall fehlte – das kindliche Publikum zeigte sich gefesselt und verzaubert. Die Fragestellung des vorliegenden Beitrags ergab sich aus diesen gegensätzlichen Erfahrungen. Dachte ich über die zwei Vorstellungen nach, so drängte sich mir die Frage auf, ob sich abendfüllende Märchenopern, die ja keine eigens für Kinder geschaffenen Werke sind, überhaupt für das jüngste Publikum eignen. Daran schloss sich die nächste Frage an: Resultiert die Kinder(un)tauglichkeit der Opern aus dem Werkcharakter selbst oder aus dessen Aufbereitung und Ausführung? Im Folgenden soll versucht werden, diese Fragen anhand einer Analyse der oben erwähnten Werke und Aufführungen zu beantworten. Dies geschieht in zwei Schritten: zunächst auf der Ebene des Werkes selbst, im Hinblick auf dessen musikalische Gestalt und die Beziehung zwischen der Märchengrundlage und dem Libretto, dann auf der Ebene der Ausführung – der Sprachfassung und der Inszenierung. Dieser Versuch ist insbesondere in Bezug auf Polen relevant – im Gegensatz zu Deutschland, dem Opernland schlechthin, gibt es hierzulande noch keine auf Kinderoper1 spezialisierten Einrichtungen oder Häuser. Umso mehr weckt ein Märchentitel eindeutige Erwartungen bei den Eltern, die Märchenoper – auch für Kinder? mit ihren Kindern in die Oper wollen – an diesen Abenden ist ein voller Zuschauerraum vorprogrammiert. Opern und Ballette nach bekannten Märchen bilden, neben Mozarts Zauberflöte, in vielen Fällen die einzige Gelegenheit für einen Einstieg in die Welt der Oper. In der Posener Oper beschränkt sich das Angebot an speziell für Kinder aufbereiteten Titeln zurzeit auf eine Adaption von Peter und der Wolf von Sergei Prokofjew, ein Potpourri mit dem Titel Wer hat Angst vor dem hohen C sowie Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck. Die Nationaloper in Warschau und andere Häuser veranstalten regelmäßig Matineen für Kinder, Konzertprogramme mit pädagogischem Hintergrund, gedacht als Vorbereitung auf einen Opernbesuch. Möchte man aber eine Vorstellung besuchen, so hat man in der Hauptstadt keine Wahl; es kommt nur das Ballett in Frage. Nussknacker und Mäusekönig von Pjotr Tschaikowski ist für Generationen von polnischen Kindern untrennbar mit dem ersten Opernhausbesuch verbunden. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet die Oper Breslau, die ein vielfältiges Repertoire anbietet. Dort gibt es seit 2008 auch eine spezifische Kinderopernreihe, bisher wurden u.a. Rotkäppchen von Jiři Pauer, Sid, die Schlange, die singen wollte von Malcolm 7 interjuli 01 i 2015 Kinder- und Hausmärchen, bei Basile, Perrault, Andersen oder im Cabinet des fées enthaltene Geschichte, des weiteren jeder Text, den Autoren wie Clemens Brentano, Oscar Wilde oder Hermann Hesse explizit als „Märchen“ bezeichnet (oder in eine Sammlung ihrer „Märchen“) aufgenommen haben, und natürlich auch aus mündlicher Überlieferung gesammelte, in wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Ausgaben veröffentlichte Erzählungen. (Gier 97) Fox sowie Alice im Wunderland von Robert Chauls aufgeführt. V on der Märchenoper zur intentionalen Kinderoper Wodurch zeichnet sich eine Märchenoper aus? Versuche, diese Erscheinung für Forschungszwecke zu umgrenzen und zu definieren, reichen auf die 1895 veröffentliche Dissertation von Leopold Schmidt Zur Geschichte der Märchenoper zurück. Dort geht der Verfasser von der Feststellung aus, dass die von Komponisten verliehenen Bezeichnungen der musikalischen Bühnenwerke zu unpräzise sind, als dass sich Forschende darauf verlassen könnten. Er schlägt eine Einteilung der Opernwerke nach dem ihnen zugrunde liegenden Stoff vor. Eine Märchenoper sei demnach eine Oper nach einer Märchenvorlage. Diese Herangehensweise bleibt bis heute verbindlich; um zu entscheiden, ob wir es mit einer Märchenoper zu tun haben oder nicht, befragen wir das Libretto und dessen Quellen. Auch Albert Gier, der das Opernlibretto als literarisches Phänomen untersucht, schlägt Strategien der Textproduktion und -rezeption der literarischen Grundlage als Abgrenzungskriterium vor: Jede Oper, die einen dieser Texte als Librettogrundlage hat, ist als eine Märchenoper zu bezeichnen – darunter auch die in den Sammlungen von Perrault und Bechstein wurzelnden Werke von Respighi und Humperdinck. Als „das erste nachweisbare Märchen auf der Opernbühne“ (Pachl 131) gilt Il paese della Cuccagna von Baldassare Galuppi (Librettist: Carlo Goldoni). In Deutschland gehen die Anfänge der Märchenoper auf Ferdinand Hummel und Carl Reinecke zurück, die als erste „dramatisierte Erzählungen aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen mit Musik versahen“ (Pachl 133). Die Märchenopernproduktion kulminiert um die Jahrhundertwende, als deren bedeutende Vertreter sind Engelbert Humperdinck, Hans Pfitzner, Franz Demnach wäre ein „Märchen“ jede in weitverbreiteten Sammlungen wie den Grimmschen 8 KornAtowSKA Märchenoper – auch für Kinder? gedacht sind6 und spezifische Kinderopern7, die auf Vorlieben und Rezeptionsmöglichkeiten der Kinder zugeschnitten sind. Deren Dauer ist auf 50 bis 60 Minuten beschränkt, sie behandeln Stoffe, die Kinder ansprechen. Meistens entsprechen sie der Form des Singspiels und sind musikalisch einfach komponiert. Außerdem gibt es Familienstücke, die sich auf der Stoffebene für das kindliche Publikum eignen und gleichzeitig komplexe, abendfüllende Opern sind. Mit letzteren haben wir es bei Hänsel und Gretel und La bella dormente nel bosco zu tun.8 Eine abendfüllende Oper als intentionale Kinderoper entsteht erst durch einen Akt der Zuschreibung. Ein Opernhaus kündigt eine Märchenoper als Kindervorstellung an, was sich an der Gestaltung von Opernplakaten, der Erwähnung von Kindern als Zielpublikum, später auch an der Inszenierung und der Aufmachung von Programmheften – in Posen waren es in beiden Fällen ausfaltbare Spiele, bunt und reich bebildert, mit knappem Begleittext – bemerkbar macht. Die Eltern sehen einen Märchentitel im Opernrepertoire und kaufen Karten für die ganze Familie. Oder eine Lehrerin nimmt ihre Grundschulklasse nach einer Vorbereitungslektion in eine Erwachsenenoper mit, die Schreker und Siegfried Wagner zu nennen. Viele Werke entstehen in der Wagner-Nachfolge, denn ein an jüngere Kollegen gerichteter Ratschlag von Richard Wagner soll anregend gewirkt haben: „Es ruhe aber noch ein reicher ungehobener Schatz im kleineren Ideenkreise der Sage, der Märchen und der Legende, der Gelegenheit böte, auf engerem Gebiete auch nach ihm Neues zu schaffen“ (Pachl 132). Im zeitgenössischen Musiktheater erfreuen sich populäre Märchenstoffe ebenfalls großer Beliebtheit – der Inhalt kann als bekannt vorausgesetzt werden, was Umdeutungen möglich macht, die als solche erkannt werden. Obwohl die Märchenoper eine wesentliche Erscheinung – insbesondere in der deutschen Operngeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – darstellt, ist die Forschungsliteratur zum Thema relativ klein. Untersucht worden sind vor allem Opern zu den Märchen der Brüder Grimm, etwa zu den Bezügen zwischen den Vorlagen und den Libretti sowie zur Verwendung einzelner Motive.2 Außerdem liegen Forschungsansätze zur allgemeinen Entwicklung der Märchenoper im 19. und 20. Jahrhundert3, zur Märchenoperproduktion in der Wagner-Nachfolge4 und zu einzelnen Werken oder Komponisten5 vor. Unter den Märchenopern gibt es solche, die für ein erwachsenes Publikum 9 interjuli 01 i 2015 sich ihrer Meinung nach gut als Einstieg eignet, und so wird der Titel durch ihre Entscheidung zur intentionalen Kinderoper. La bella dormente lässt sich als ein romantisches Märchen mit witzigem Gegenwartsbezug und als harmlose Melodrama-Parodie bezeichnen. Die Oper weist Merkmale auf, die im Allgemeinen für die Musik von Respighi gelten, das „Gleichgewicht zwischen traditionellen, in einem kultivierten und gebildeten Geiste gereiften Elementen und Anregungen von neuen Ausdrucksmitteln“, „Sinn für Melodie“, „glänzende Farbigkeit der meisterhaften Orchestrierung“ und „vornehmer Eklektizismus“ (MGG 311). Für ein geschultes Ohr hat sie viel zu bieten, wie John C. G. Waterhouse ausführt: [it] serves its simple purposes with a terse, elegantly colorful, freshly melodious perfection which none of his more ambitious operas can quite match. The many gently parodistic references range from late Baroque pomp through Wagner, Verdi’s Falstaff, Massenet and Debussy to 20th century popular music; yet the total effect is surprisingly unified, so manifestly sincere and apt is the composer’s responsiveness to the details of the story. (385) u rsprünge und musikalische Gestalt Beide in Posen aufgeführten Märchenopern sind musikalisch komplexe, abendfüllende Werke, gründen jedoch auf früheren Fassungen, die als Kindertheater konzipiert waren. La bella dormente nel bosco von Respighi entstand ursprünglich für ein Puppentheater, das berühmte Teatro dei Piccoli. Dessen Begründer, Vittorio Podrecca, hielt gute Musik für das Herz seines Unternehmens. Ein Kammerorchester war fester Bestandteil des Ensembles, gespielt wurden Werke von Donizetti, Gluck, Mozart, Pergolesi, Purcell und Rossini, aber auch Auftragswerke. Die Uraufführung der Oper von Respighi fand 1922 in Rom statt. Sie blieb jahrelang im Repertoire des Theaters und wurde u.a. in Australien, Ägypten, Bulgarien, Griechenland, Großbritannien, Japan, Kanada, Russland und der Türkei gespielt. Die zweite Fassung, für ein großes Orchester, wurde für das Teatro di Torino vorbereitet und 1934 uraufgeführt. Auf der Bühne agierten Kinder als Pantomimen, gesungen wurde im Orchestergraben. Die Musik eröffnet sich dem Rezipienten je nach Erfahrung und Kenntnissen: Ein Opernanfänger – eine Bezeichnung, die sich selbstverständlich nicht auf Kinder beschränkt – erfreut sich 10 KornAtowSKA vor allem an der Melodik, die zahlreichen Anspielungen dagegen sind nur für Zuhörer mit musikgeschichtlichem Hintergrund zugänglich. Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck gilt als die Märchenoper schlechthin und ist eines der erfolgreichsten Werke der Operngeschichte. Als Librettoverfasserin wird die Schwester des Komponisten, Adelheid Wette angegeben, obwohl die letzte Fassung des Werkes, die durchkomponierte Oper, eigentlich in Familienarbeit entstand.9 Das Libretto entsprang einem Liederspiel, das zu Hause bei Adelheid Wette von Kindern als Familienvorstellung aufgeführt wurde. Daraus ist, mit der Zwischenstation Singspiel, eine große durchkomponierte Oper geworden. Uraufgeführt wurde sie am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater, am Dirigentenpult stand der junge Richard Strauss. Albert Gier bezeichnet das Werk als einen „merkwürdigen Zwitter“ (100). Der Komponist, Schüler und Verehrer Richard Wagners, bedient sich hier des Wagner-Orchesters, „dessen instrumentale Wucht wenig kindertümlich“ sei (ebd.). Zugleich zitiert oder komponiert er volkstümliche Kinderlieder, die sich später auch außerhalb der Oper großer Popularität erfreuen. Peter P. Pachl schreibt über den „scheinbaren Widerspruch zwischen Märchenoper – auch für Kinder? Kindermärchen und Nibelungenklangwelt“ (135), Piotr Kamiński lobt die „geistreiche Synthese der populären Traditionen der deutschen Oper und der Wagnersprache“ (680). Das Werk wird „als Weihnachtsmärchen für Groß und Klein rezipiert“ (Gier 100), erobert in kurzer Zeit Bühnen in ganz Europa und steht ununterbrochen auf den Spielplänen. In der vergangenen Saison 2013/2014 gab es 51 Inszenierungen in 49 Städten, die meisten in der Weihnachtszeit.10 Über mehrere Generationen von begeisterten Zuhörern weltweit findet sich die von Ingolf Huhn in seinem Beitrag „Kinderoper ist die eigentliche Oper: Zur Typologie einer missverstandenen Gattung“ geäußerte These zur musikalischen Gestalt bestätigt: Kinderoper braucht in ihrer musikalischen Faktur nichts ‚Kindgemäßes‘, weder die Beschränkung auf liedhafte Formen, noch ‚Eingängigkeit‘, einfache Melodik noch gar Primitiv-Harmonik. Sie braucht nicht den Verzicht auf ‚alles Überflüssige‘, auf Ritornelle, lyrische Szenen und Ensembles. Was sie musikalisch einzig braucht, ist Transparenz: Durchhörbarkeit des orchestralen Parts und Textverständlichkeit im Gesang. Und beides wäre ja auch für Erwachsene sinnvoll. (63) 11 interjuli V 01 i 2015 om Märchen zum libretto Das Libretto Bistolfis enthält eine Ebene, die Kindern verschlossen bleibt – satirische Bezüge zur Wirklichkeit der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und Elemente der Distanzierung von der Märchenwelt. Ingolf Huhn, der große Teile des Opernrepertoires als potentielle Kinderoper zulässt, weist auf die Grenze hin, die für die jüngsten Zuschauer unüberwindbar ist, nämlich „die Zweideutigkeit. Damit kann ein Kind nichts anfangen. Es kennt die Konnotationen nicht und versteht deshalb nichts“ (60). Was entgeht den Kindern nun konkret bei Respighis Oper? Am Anfang des dritten Aktes befindet sich eine modisch gekleidete Gesellschaft auf Schnitzeljagd im Wald. Ein Holzhakker erzählt ihnen die Geschichte der schlafenden Schönen. Ein gewisser Mr. Cheque Dollar spricht nur gebrochen Italienisch und missversteht daher, was „schlafende Schöne“ bedeutet. Er spielt mit dem Gedanken, sie zu kaufen, um der Herzogin de la Banderola eine Freude zu machen, die sich vom sichtbar von der Geschichte bewegten Prinz April bereits betrogen fühlt. Die Oper mokiert sich auch über die Hofetikette – nachdem die Prinzessin eingeschlafen ist, tanzt die Spindel vor ihr einen höhnischen Tanz, voll von grotesken Verbeugungen. Mit Tritten vertreibt der König seine Bei den meisten Märchenopern reicht die bloße Märchenkenntnis nicht aus, um der Handlung folgen zu können. In beiden besprochenen Fällen kann sie nicht einmal vorausgesetzt werden. Dornröschen ist in Polen vor allem als Märchen der Brüder Grimm bekannt, Ottorino Respighis La bella dormente nel bosco (Die schlafende Schöne im Walde) liegt eine andere Fassung zugrunde, dazu noch weitgehend abgewandelt. Das Libretto wurde von Gian Bistolfi nach dem Märchen von Charless Perrault La belle au bois dormant verfasst. Der Librettist hat das Personal des Märchens u.a. um Tiere erweitert. Im ersten Bild des ersten Aktes unterhalten sich eine Nachtigall, ein Kuckuck und ein Froschchor, die keine gute Meinung über die Spezies Mensch haben. In der Szene, in der die Prinzessin eine alte Frau am Spinnrad aufsucht, gibt eine Katze ihrer Unzufriedenheit darüber Ausdruck, dass der vornehme Gast spinnen lernen will. Später trägt sie die Spindel, an der sich die Prinzessin gestochen hat, davon. Nachdem das ganze Königreich eingeschlafen ist, kommen Spinnen, die ein großes Netz über das Bett der Prinzessin bauen. Bevor der Prinz April die Prinzessin wecken kann, muss er eine riesige Spinne besiegen. 12 KornAtowSKA Medizi, die dem Schlaf der Prinzessin ratlos gegenüber stehen. Das Königspaar beweint seine Tochter auf dem Thron sitzend. Auf der Liste der Mittel, mit denen man versucht hat, die Prinzessin zu wecken, befinden sich neben Enzian, Kaffee, Sirup und Strophanthin auch Melodien von Strauss. In der Abschlussszene tanzt die glückliche Hofgesellschaft ein Menuett, dann aber lädt der Prinz die Prinzessin zu einem modernen Tanz ein. Es erklingt ein Foxtrott. Jedes Paar setzt sich aus einem Vertreter des Hofes und der Schnitzeljagdgesellschaft zusammen. Das Alte tanzt mit dem Neuen, verkündet wird ein „Nouveau Style“. Diese Aktualisierung des Märchens, die Respighi und sein Librettist unternommen haben, wird bald hundert Jahre alt – aus Gegenwartsbezug ist schon lange ein Bezug zur Vergangenheit geworden. All diese Aspekte des Werkes können nicht verhindern, dass die jüngsten Zuschauer der Märchenhandlung dennoch folgen – nach wie vor geht es vordergründig darum, dass sich die Prinzessin an der Spindel sticht, einschläft und nach vielen Jahren von einem in sie verliebten Prinzen wach geküsst wird. Den Titel der Oper von Engelbert Humperdinck assoziiert man meistens mit den Brüdern Grimm, doch das Märchenoper – auch für Kinder? Werk hat eine andere Fassung des Märchens von Hänsel und Gretel als Grundlage. 1845 veröffentlichte Ludwig Bechstein sein Deutsches Märchenbuch, das unter Nummer acht die Geschichte der beiden Geschwister beinhaltet. Die Popularität dieser Sammlung stand jener der Kinder- und Hausmärchen zur Entstehungszeit der Oper in nichts nach. Sie erreichte zwölf Neuauflagen in acht Jahren. In einem Brief an Margarete Krupp vom 12. Juli 1894 schreibt der Komponist, seine Oper sei „einem Bechsteinschen Märchen entnommen“ (Irmen 27). Bechstein verzichtet in seiner Fassung auf die Stiefmutter, aus ethischen Gründen, wie er selbst erwähnt. Böse Stiefmütter gebe es in Märchen zu viele. Es könne den Familienfrieden gefährden und Stiefkinder gegen ihre angenommenen Mütter einstimmen. Hans-Josef Irmen, Musikwissenschaftler und Musikpädagoge, Verfasser einer umfangreichen Studie zu Humperdincks Hänsel und Gretel, charakterisiert die Fassung folgendermaßen: Bechstein führt keine Figuren vor: er zeigt Menschen mit Gefühlen, Sehnsüchten, Ängsten und Nöten, Menschen die irren und ihren Irrtum bereuen. Bei ihm kommt der Leser zum ersten Mal zur Erkenntnis der ausweglosen Situation dieser Holzhackerfamilie, hier begreift 13 interjuli 01 i 2015 er das soziale Elend in seinem Ausmaß und seiner Konsequenz: Hunger und Tod bestimmen dieses naturalistische Drama. (31) Erdbeeren holen. Bald bereut sie ihren Ausbruch und macht sich mit dem Vater, dem Besenbinder Peter, auf die Suche. In der letzten Szene der Oper kommt es zum Wiedersehen der Familie am Haus der Knusperhexe. Den Schlüssel zum Verständnis des Werkes bildet, wie bei Bechstein, der Glaube an Gottes Hilfe: „Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“ (Humperdinck 16), pflegt der Vater zu sagen. Diese Worte erklingen auch zum Schluss, als Krönung der Oper. Die Botschaft ist musikalisch verankert. Das Motiv des Abendsegens – vierzehn Engel beschützen Hänsel und Gretel im Schlaf – fungiert als Klammer. Es erklingt zum ersten Mal im Vorspiel und begleitet die letzten Worte des Librettos. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der Oper – auch in scheinbar ausweglosen Situationen kann man sich auf den Glauben verlassen und es wird einem geholfen. Somit fügt sich Hänsel und Gretel in eine lange Reihe von Sittenbildern ein, wo „die irdische Not durch eine überirdisch tröstende Apotheose“ verklärt wird. Der Kontrast zwischen Arm und Reich „erscheint aus dem Blickwinkel der Tröstungen der Religion“ (Reiß 33). Märchenhafte Stoffe „voller Wunder, Geheimnis und Zauber“ bezeichnet Ingolf Huhn in seinem bereits Da der Winter naht und die Eltern nicht mit ansehen wollen, wie ihre Kinder vor Hunger sterben, führen sie diese in den Wald und befehlen sie „dem lieben Gott“ (Bechstein 59). Beim zweiten Mal ist vom „Beschluss, die Kinder in den Wald zu führen und sie dort allein und in des Himmels Fürsorge zu lassen“ die Rede (ebd. 61). Auch im Libretto von Adelheid Wette steht Armut im Vordergrund, insbesondere im ersten Bild. Dem Komponisten wurde sogar geraten, das Bild abwechslungsreicher zu gestalten. „So sei eine ganze Scene hindurch von fast nichts anderem die Rede als von Hungerleiden, was an sich zu wenig interessant sei“ (Irmen 148), lautete die Kritik eines seiner Freunde. Wette, selbst Mutter von sechs Kindern, wollte die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern in Hänsel und Gretel entlasten. Armut, schwere Arbeit und die Sorge, dass ihre Kinder Hunger leiden, setzen Gertrud, der Mutter, sehr zu. Nachdem der Milchtopf im Eifer des Streits zerbrochen wurde, gibt es nichts zum Abendbrot. Im Zorn schickt die Mutter ihre Kinder in den Wald, sie sollen 14 KornAtowSKA erwähnten Beitrag als konstitutiv für die Oper schlechthin. Ihr vielschichtiger Charakter erlaube eine Rezeption auf mehreren Stufen, je nach Erfahrung und Vorbereitung. Diese Komplexität ist auch für die Märchenoper von Bedeutung. Jede Opernadaption ist zugleich auch Interpretation, die Umgestaltung der Stoffe geht in vielen Fällen weit über das operntechnisch Notwendige hinaus, es werden etwa Verfahren der Komisierung oder Psychologisierung verwendet. Insofern jedoch das Handlungsgerüst unverändert und das Märchen ohne Mühe wiedererkennbar bleibt, sind Libretti von Märchenopern auf der für das Verständnis des Werkes notwendigen Stufe auch für Kinder zugänglich. Erwachsenen bieten sie zusätzliche Anregungen – wie bei anspruchsvoller Kinderliteratur rezipiert jeder und jede nach seinem oder ihrem Erfahrungshorizont. Märchenoper – auch für Kinder? ununterbrochen Hilfe von ihren erwachsenen Begleitern – die polnischen Untertitel mussten ihnen vorgelesen werden. Andere entzifferten zwar die Übersetzung, verstanden aber nicht alles, fragten nach und waren nicht imstande, dem Bühnengeschehen zu folgen. In der Vorstellung von Hänsel und Gretel waren die Reaktionen des kindlichen Publikums meistens nonverbal und darauf bezogen, was auf der Bühne geschah und als beeindruckend empfunden wurde. Ein müheloses Verfolgen des Geschehens wurde u.a. dadurch ermöglicht, dass die Oper in der polnischer Fassung gespielt wurde. Die Übersetzung, in der Hänsel und Gretel in zwei polnischen Theatern gespielt wird (Bromberg und Posen), stammt von Roman Kołakowski (geb. 1957), einem Komponisten, Lyriker, Sänger, Übersetzer und Regisseur. Man spürt darin einen erfahrenen Bühnenpraktiker – der dynamische Charakter des Ganzen und die rhythmische Ordnung bleiben beibehalten. Dafür geht manches verloren, was das Spezifische dieses weitgehend durch bürgerliche Hauskultur des 19. Jahrhunderts geprägten Textes ausmacht, was übrigens eine typische Erscheinung bei der Übersetzung von deutschen Märchen in die polnische o riginalfassung versus übersetzung Die Posener Aufführung von Respighis Oper in der italienischen Originalfassung beweist, dass es notwendig ist, Libretti von Opern, die man den jüngsten Zuschauern anbieten möchte, in die Muttersprache übersetzen zu lassen. Während der Vorstellung brauchten viele Kinder 15 interjuli 01 i 2015 Sprache zu sein scheint.11 Der Handlungsverlauf bleibt jedoch, trotz der einen oder anderen Veränderung, die im Rahmen einer Übersetzungsanalyse12 zu behandeln wäre, logisch und überschaubar. Zwar werden Opern gegenwärtig bevorzugt in Originalsprachen gespielt, doch wäre für Produktionen, die an Kinder adressiert sind, ein anderer Grundsatz zu bevorzugen: Es lohnt sich, das Libretto übersetzen zu lassen und noch größeren Wert als üblich auf die Textdeutlichkeit beim Gesang zu legen. Bei Abweichungen von allgemein bekannten Märchenfassungen erweist sich eine Einführung vor der Vorstellung und eine ausführliche Beschreibung in der Ankündigung und im Programmheft als hilfreich. i von Ottorino Respighi wurde auf der Website des Theaters als eine Vorstellung sowohl für „jüngere als auch erwachsene“ Zuschauer angekündigt: „Dornröschen ist ein besonderes Werk. Es versetzt uns in eine geschmackvolle Musikwelt, belehrt, fesselt und bewegt uns und zum Schluss amüsiert uns mit glücklichem Ende“ [Kornatowska 25]. Die Inszenierung von Zofia Dowjat hält diese Versprechung nicht und erweist sich in vielerlei Hinsicht als nicht kinderfreundlich – die Wiedererkennbarkeit des Werkes lässt zu wünschen übrig. Das Märchen steht hier in Klammern, zu tun haben wir es mit Theater im Theater. Den Rahmen bildet eine von der Regisseurin erfundene Handlung, die an die Handlungszeit des dritten Aktes anknüpft. Wir befinden uns in einem Aufnahmestudio der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Gezeigt werden Vorbereitungen auf die erste polnische Rundfunkaufnahme der Oper La bella dormente von Respighi. Sänger, einige gerade erst angekommen, schleppen ihr Gepäck, andere klagen über Erkältung, sind jedoch fest entschlossen, ihr Bestes zu geben. Der Inspizient verteilt das Notenmaterial und versucht, das Chaos auf der Bühne zu bändigen, was ihm bis zum Schluss der Vorstellung nicht gelingt. Die für Kinder potentiell so nszenierungsfragen „Kinderoper braucht mehr als andere Oper Verlässlichkeit in der Weitergabe. So wie Kinder bei erzählten Märchen auf den einmal eingeprägten Formulierungen bestehen, so brauchen sie auch in der Inszenierung die Wiedererkennbarkeit des Werkes,“ lautet eine der Voraussetzungen, die Ingolf Huhn in Bezug auf Kinderoper formuliert (63). Wie steht es um diesen Aspekt in den zwei Posener Produktionen? Śpiąca królewna (Dornröschen) 16 KornAtowSKA attraktive Tierszene am See spielt sich in der Posener Inszenierung vor einem Notenständer mit Retro-Mikrofon ab. Agierende sind nicht als Tiere verkleidet, sondern tragen elegante Kleidung, mit Kopfbedeckung im Stil der zwanziger Jahre – für Kinder nichtssagend, da sie den Zusammenhang nicht erkennen. Die Damen, als Nachtigall und Kuckuck besetzt, kämpfen um den Platz am Mikrofon und überbieten sich in Stimmakrobatik. Das sieht nach Opernsatire aus und nicht nach dem von den Verfassern geplanten, diskret gebrochenen Naturidyll. In diesem Rahmen wird die eigentliche Märchenwelt präsentiert. Nach der ersten Szene zerbricht die Wand hinter dem Proszenium. Zu sehen bekommt man eine riesige Schatulle mit sieben Fenstern, einem großen in der Mitte und jeweils drei kleinen rechts und links, welche das Märchen beherbergt. Alle Ausführenden bis auf den Inspizienten und den Chor gehen hinein. Vom Zuschauerraum her betrachtet erinnert das Bühnenbild an ein Elektronikgeschäft, wo mehrere flimmernde Fernseher nebeneinanderstehen. Das Eintauchen in die Welt des Märchens wird unmöglich, zwischen dem Zuschauer und dem Geschehen wird zu viel Distanz aufgebaut. Die Prinzessin sticht sich an der Spindel in Märchenoper – auch für Kinder? einem der kleinen Nebenfenster – eine der Schlüsselszenen der Oper ist also leicht zu übersehen. An den Reaktionen des Publikums konnte man erkennen, dass die Inszenierung für sie voller Verständnishindernisse war. Viele der jungen Zuschauer haben versucht, sich mit Hilfe der Erwachsenen Überblick über die verschachtelte Struktur zu verschaffen. Sie erkundigten sich nach dem Sinn von Gegenständen und schauspielerischen Handlungen. Beeindruckt und still zeigten sie sich beim Erscheinen der bösen Grünen Fee in der zweiten Szene des ersten Aktes und der Spinnen-Akrobaten, die um das Gemach der Prinzessin ein Netz bauen, zum Schluss des zweiten Aktes. Die Kostüme der königlichen Familie und der Feen waren eine Augenweide. Das reichte jedoch nicht aus, um den Zuschauern ein vollwertiges Opernerlebnis anzubieten. Durch den hohen Geräuschpegel im Publikum, weit höher als bei Kindervorstellungen üblich, rückte die Musik in den Hintergrund. Darüber hinaus dämpfte das Bühnenbild den Gesang der Märchenfiguren. Das Ganze klang mitunter nach einem alten Radiogerät, das mit wechselnder Lautstärke spielt. Lauter klangen der Chor und die Personen, die auf dem Proszenium standen, leiser die 17 interjuli 01 i 2015 Vertreter der Märchenwelt, die sich in der Schatulle befanden. Ganz anders erging es den jungen Zuschauern in der Premiere von Humperdincks Hänsel und Gretel in der Regie Monika Dobrowlańskas, mit Bühnenbild von Katarzyna Nesteruk. Die polnische Übersetzung des Librettos, das textdeutliche Singen der Darsteller, die visuelle Attraktivität und die übersichtliche Inszenierung, die an Magie und Humor nicht entbehrt, setzten sich zu einem kinderfreundlichen Opernabend zusammen. Die Regisseurin konzentrierte sich auf das Märchenhafte der Handlung, integrierte Elemente, welche die Stimmung steigerten, verzichtete auf alles, was ablenkend wirken könnte. Während des Vorspiels ereignet sich ein dreifarbiges Schattenspiel – Märchenfiguren begrüßen die Zuschauer und winken ihnen zu. Im ersten Bild schauen wir in das hölzerne Häuschen des Besenbinders hinein, eine karg ausgestattete Stube, wo wir das Geschehen, u.a. das Toben von Hänsel und Gretel, verfolgen können. Sie wirkt wie ein Resonanzraum und bietet akustischen Vorteil für die Sänger. Magie und Unheimlichkeit strahlt das Bühnenbild des zweiten Bildes aus. Wir befinden uns im Wald, am Himmel hängen dunkle Wolken. Bald dämmert es. Zwei weitere Reihen von Bäumen mit silbernen Stämmen, die im Mondesschein glitzern, kommen noch hinzu – der Wald wird dichter und unheimlicher. Nachdem Hänsel und Gretel dank dem Sandmännchen eingeschlafen sind, zeigt sich im Hintergrund ein Umzug von Märchenfiguren. Das dritte Bild spielt sich um das Knusperhäuschen aus Butterkeksen herum ab. Im Hintergrund hängen übergroße, bunte Lockmittel für Kinder: ein Lutscher, ein Bonbon, ein Laptop, ein Sportschuh und ein Handy. Rechts steht ein Gitter, hinter dem Hänsel gefangen gehalten und gemästet wird, links der Ofen, einer Aluschale ähnlich, in dem sich die Knusperhexe in einen großen Lebkuchen verwandelt. Solides schauspielerisches Handwerk und Präzision der Ausführung, aber auch Humor und fröhliches Spiel beherrschen die Bühne. Großen Eindruck macht der Auftritt des Sandmännchens. Es ist eine riesige Puppe, von vier Menschen bewegt, mit einem gutmütigen Gesichtsausdruck, weißem Bart, großem Zylinder und zarten roten Flügeln. Furore unter den jungen Zuschauern macht die Knusperhexe, die vom Sänger mit Bravour und Phantasie verkörpert wird. Sie singt mit einer diskret modifizierten Tenorstimme und kann sowohl Schrecken einjagen als auch durch albernes 18 KornAtowSKA Auftreten für Spannungsentladung sorgen. Auf der Bühne treten auch Kinder auf, als Lebkuchen, die von Hänsel und Gretel entzaubert werden und zu ihrer wahren Gestalt wiederfinden. f Märchenoper – auch für Kinder? und ihr mühelos folgen können und, last but not least, kompetente Begleitung eines Erwachsenen, der die Fragen schnell beantwortet. Kinder sind durch ihre Vorliebe für Wunder, Geheimnis und Zauber und durch ihre Fähigkeit zum Staunen für das Opernerlebnis geradezu prädestiniert und sollen als Zuschauer in jeder Hinsicht ernst genommen werden. Wie das geht, erläutert Ingolf Huhn, der die Meinung vertritt, dass Oper und Kinderoper weitgehend deckungsgleich sind: azit Betrachtet man die Werke selbst, so stellt sich heraus, dass abendfüllende Märchenopern nach Volksmärchen sich durchaus als Kinderopern eignen. Sie zeichnen sich zwar durch Komplexität aus, doch die für das Verständnis der Handlung wichtigen Ebenen des Werkes erweisen sich als für die jüngsten Zuschauer rezipierbar. Es sei denn, ihnen wird der Zugang zum Werk verbaut – etwa wenn die Märchenhandlung nicht wiedererkennbar ist und die Märchenstimmung zerstört wird. Kündigt man eine nicht spezifische Märchenoper als Kindervorstellung an, so sollten einige Grundbedingungen bei der Ausführung eingehalten werden: die muttersprachliche Fassung des Werkes, eine kinderfreundliche Inszenierung, die an Rezeptionsmöglichkeiten der jüngsten Zuschauer angepasst ist und das Geschehen nicht entfremdet, transparentes Orchesterspiel, textdeutliches Singen und gutes Schauspiel. Weiter braucht es Vorbereitung auf die Vorstellung, damit die Kinder die Handlung vorher kennen Oper, wenn sie richtig geht, muss wie von Kindern erlebt werden. Dieses hochartifizielle Ding, diese teuerste und ‚künstlichste‘ aller Gattungen, ist ‚versungen und vertan‘, wenn sie sich ihrem Publikum nicht nähert wie Kindern, ernsthaft und gar nicht infantil, aber in klarer und naiver Unmittelbarkeit, wie einem fragenden, wissen wollenden Kinde, das bereit ist, alles zu glauben und alles begierig aufzusaugen, wenn sie von innen her glaubhaft ist: wie in einem Märchen. Wenn sie – stimmt. (Huhn 57) S chlussbild Wir befinden uns vor dem neuklassizistischen Gebäude der Posener Oper, es ist ein Winterabend. Auf der mit frischem Schnee bedeckten Treppe leuchten bunte Punkte 19 interjuli 01 i 2015 auf, bald verteilen sie sich in verschiedene Richtungen. Es sind kleine Zauberstäbe, die man an einem Verkaufsstand mit Märchenrequisiten kaufen kann. Die Märchenatmosphäre strahlt bis in den benachbarten Park hinein. Es schneit wieder. Ein Abend, den nicht nur Kinder in Erinnerung behalten. Beata Kornatowska (*1975) ist Literaturwissenschaftlerin, Musikpublizistin und Stimmerzieherin. Sie promovierte über das Porträt der ostdeutschen Jugend in der KJL der neunziger Jahre, zurzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt sind Beziehungen zwischen Literatur und Musik, insbesondere literaturwissenschaftliche Librettoforschung. 20 KornAtowSKA Märchenoper – auch für Kinder? AnmErkungEn 1 Im Folgenden benutze ich die Bezeichnungen „spezifische Kinderoper“ und „intentionale Kinderoper“. Diese Einteilung entlehne ich der in Kinder- und Jugendliteraturforschung üblichen Systematik. „Spezifische Kinder- und Jugendliteratur“ ist eigens für Kinder und Jugendliche, im Hinblick auf ihre Interessen und Rezeptionsmöglichkeiten, geschriebene Literatur, als „intentionale Kinder- und Jugendliteratur“ gilt Literatur, die von Erwachsenen als für Kinder und Jugendliche geeignet beurteilt wurde (vgl. Gansel 8–9; Ewers 15–28). 2 Vgl. die Arbeiten von Susanne Meier und Małgorzata Kosecka. 3 Vgl. die Beiträge von Albert Gier und Heinz-Albert Heindrichs. 4 Vgl. Beitrag von Peter P. Pachl. 5 Vgl. die Arbeit von Hans-Josef Irmen und der Sammelband von Matthias Herrmann und Vitus Froesch (Hg.). 6 Beispiele für Märchenopern für Erwachsene sind Antonín Dvořák Rusalka, Hans Werner Henze Der junge Lord, Sergei Prokofjew Die Liebe zu den drei Orangen, Igor Strawinsky Die Nachtigall, Richard Strauss Die Frau ohne Schatten. 7 Spezifische Kinderopern sind zum Beispiel Cesar Bresgen Der Igel als Bräutigam, Hans Werner Henze Pollicino, Jiři Pauer Rotkäppchen. 8 Andere Beispiele für Familienstücke sind Wolfgang Amadeus Mozart Die Zauberflöte, Gioachino Rossini La Cerentola. 9 Es ist zwar eine ansprechende Vorstellung, die zu dieser Oper passt – die Geschwister Humperdinck arbeiten gemeinsam an der Entstehung von Hänsel und Gretel. Das Libretto der Endfassung der Oper hatte jedoch, wie Hans-Josef Irmen anhand des Nachlasses des Komponisten ausführt, mehrere Verfasser. Ungefähr 2/5 des Textes stammen von Adelheid Wette, 1/5 von ihrem Mann Hermann, 1/5 vom Komponisten selbst und seinem Vater Gustav Ferdinand Humperdinck, den Rest verdanken wir Volksquellen. Es ist also ein Familienwerk, verankert in der bürgerlichen Hausmusikkultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 10 Angaben nach Operabase: http://www.operabase.com (Zugriff 28.08.2014). 11 Das Phänomen wird von den Übersetzungswissenschaftlerinnen Maria Krysztofiak und Eliza Pieciul-Karmińska u.a. in Bezug auf polnische Fassungen von Kinder- und Hausmärchen erörtert. 12 Mein Beitrag, der dieser Übersetzung sowie literarischen und kulturellen Zusammenhängen des Librettos von Wette gewidmet ist, für polnische Operninteressierte konzipiert, erscheint bald in einem Tagungsband des Centrum Badań nad Teatrem Muzycznym UAM (Forschungszentrum für Musiktheater der Adam-MickiewiczUniversität Poznań). LitErAturVErZEichnis Bechstein, Ludwig. Sämtliche Märchen. Walter Scherf (Hg.). München: Winkler, 1971. 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