Über das Ende der Moral

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Über das Ende der Moral
von Nikolaus Werle
Was ist Moral (lat. mos, m = Wille, Sitte, Brauch, Gesetz, Charakter, Wandel, Verhalten)?
Moral bezeichnet ein Gefüge von Überzeugungen, die zum Ausdruck bringen, was für eine
bestimmte Gesellschaft als sittlich gilt.
In Gemeinschaften spielen Traditionen eine entscheidende Rolle. Traditionen sind einer
andauernden Entwicklung unterworfen. Sie beginnen meist mit einem autoritären Stadium, in
dem bestimmte Überzeugungen, Texte und Äußerungen von Autoritäten fraglos übernommen
werden. Im Verlauf der Geschichte kann es zu Konflikten und Krisen kommen, die dazu führen,
dass diese Autoritäten in Frage gestellt und ihre Vorgaben neu formuliert werden. So werden die
bestehenden Traditionen kontinuierlich weiterentwickelt, bis eventuell ein Punkt erreicht ist, an
dem innerhalb einer bestehenden Tradition kein Fortschritt mehr möglich ist. Kommt es in einer
Tradition zu Konflikten, die innerhalb dieser nicht mehr bewältigt werden können, scheint es nur
zwei Möglichkeiten eines Auswegs zu geben: Memoria oder Hinwendung zu einer anderen
Tradition.
Memoria und Konversion
Memoria als Erinnerungsvermögen an eine vergangene Erfahrungswelt ist meist zum
Scheitern verurteilt, weil kein lebendiger Bezug mehr zu ihr besteht, nur mehr ein sentimentaler
oder künstlich gefühlter. Eine andere Möglichkeit, nämlich die Hinwendung zu einer anderen,
kraftvollen Tradition kann sich ergeben, indem man sie zu verstehen lernt. Unterschiedliche
Traditionen bestehen immer nebeneinander. Bei Konflikten zwischen Traditionen gibt es nur eine
geringe Wahrscheinlichkeit, diese rational zu lösen, da es keine traditionsunabhängigen
Rationalitätskriterien gibt.
Es gab zwar immer wieder Versuche, doch gelang es noch nie, Altes, Vergangenes, dessen
Zeit abgelaufen war, auf Dauer zu restaurieren. Die Renaissance bildet deshalb keine Ausnahme,
da sie sich zwar an der klassischen Antike orientierte, diese jedoch innerhalb der christlich
geprägten Welt Europas neu akzentuierte. Doch dies sind Überlegungen, die eher zu
geschichtsphilosophischen Betrachtungen führen. Hier soll jedoch eine kurze Beschreibung der
moralischen Situation der Gegenwart versucht und auf die Spitze getrieben werden mit der
Frage: Welche Fundamente bestimmen das moralische Handeln in unserer Gesellschaft?
Die Konsequenz einer allmächtigen Moral ist der Relativismus
Anstelle einer religiös oder rational begründeten Ethik scheint heute ein emotional
bestimmter Relativismus den Ton anzugeben. Moralische Urteile werden als Ausdruck von
persönlichen Neigungen, Vorlieben und Gefühlen angesehen, sodass nicht mehr rationale
Argumente entscheiden. Als die große Errungenschaft unserer Zeit wird gepriesen, dass es
Allgemeingültiges und einende Prinzipien nicht mehr geben dürfe. Es gebe nur das Viele, das
gleich Gültige. Allgemeingültiges sei immer mit Machtausübung verbunden.
Wie sind wir, wie ist die Gesellschaft gerade in den hochentwickelten Industriestaaten, in
diesen Zustand geraten. Immanuel Kant (1724-1804) versuchte die Moral durch zwei einfache
Thesen zu begründen:
1. Wenn die Gesetze der Moral rational sind, dann müssen sie für alle rationalen Wesen
gleich sein, genauso wie es auch die Gesetze der Arithmetik sind.
2. Wenn die Gesetze der Moral für alle rationalen Wesen bindend sind, dann ist die
mögliche Fähigkeit der Menschen, sie auszuführen, unwesentlich. Allein wesentlich ist ihr Wille,
sie auszuführen.
Gemäß dem kategorischen Imperativ ist nur eine Maxime, die für alle Menschen
verbindlich ist, vernünftig. Was Kant für rational und daher für allgemein verbindlich hielt, war
die ihm seit seiner Kindheit vertraute Moral christlich-abendländischer Tradition. In dieser ist nur
eine einzige Wahrheit denkbar, zwei miteinander konkurrierende widersprachen dem Verständnis
des christlichen Monotheismus. Das Projekt der Aufklärung, die Moral rational zu begründen,
musste scheitern. Warum? Der übermächtige Anspruch des christlichen Erbes, mittels der
Vernunft zu allgemein gültigen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens zu gelangen,
scheiterte an der Mauer der Kulturen, die angesichts dieses Anspruchs nicht einstürzten. So
begann allmählich der Relativismus seinen Siegeszug, der zur Verherrlichung des Kleinlichen, wo
alles möglich wurde, führte.
Der Triumph der Rationalität ist der Niedergang der Moral
Wer verkörpert den Ungeist des Rationalitätspopanzes heute in besonderer Weise?
Popanz sei hier jenes genannt, das den Eindruck von Macht und Gewissheit zu erwecken
versucht. Als Beispiele seien angeführt: Der Manager, der Therapeut, der Meinungsforscher und
der Experte, vom Coach bis zum Bildungsfachmann. Allen gemeinsam ist die Hinwendung zum
Erfolg, die ein Abtasten eines Zieles darstellt, dessen normierende Kraft sich nicht an Werten,
sondern am Ergebnis orientiert. Das Ergebnis ersetzt den Wert. Das heute so selbstverständlich
auftretende Expertentum hat sich in allen Lebensbereichen breit gemacht und längst die Rolle der
Priesterschaft übernommen, damit der Laie ein Laie bleibt. Je erfolgreicher die Experten sind,
umso mehr verlaufen sie sich in Sackgassen, die sie mit der Welt verwechseln.
Der ewige Kreislauf der Verkommenheit
Da nicht zuletzt durch den materiellen Überfluss alles zur reinen Beliebigkeit verfällt,
bietet das Leben keine Freuden mehr, aber auch keine Ängste. Man kann tun, was man will, denn
es interessiert niemanden. So kommt es zu sinnentleerten Existenzversuchen in einem im
Überfluss sich langweilenden Wohlstand. Bei vielen gilt schlafen, shoppen und Videospiele als
Zentrum der Lebensfreude.
Tragen wir nur mehr eine Maske der Moralität zur Schau? Ein merkwürdiges Indiz dafür
ist die Tatsache, dass immer mehr und immer aufdringlichere gesetzliche Regelungen das Leben
bestimmen wollen. Die Sucht der Parlamente, alles noch genauer zu regeln, ist ein trauriger
Bestandteil dieser Entwicklung.
Wenn es wahr ist, dass gemeinschaftliche Werte immer mehr verloren gehen, so drohen
auch die ethischen Überzeugungen geschwächt zu werden, denn die Werte beziehen ihre
Rechtfertigung nicht aus einem Prozess rationaler Begründungen, sondern aus der innersten
Überzeugung des Individuums und der Gesellschaft, die sie sich zu eigen machen. Ohne eine
subjektive Verinnerlichung der Werte kann es kein gelingendes Bemühen um eine Ethik geben,
denn die Werte sind keine künstlichen und verstandesmäßigen Konstruktionen, sondern sie
entstammen dem geschichtlichen Lauf einer Zivilisation und werden mit ihr genauso wieder
verschwinden.
Ende der Moral?
In den alten Gesellschaften hatte man eine allgemein akzeptierte Vorstellung vom Wesen
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des Menschen und von seinem Weg zum Glück. Doch diese allgemeine Übereinstimmung vom
Wesen des Menschen gibt es nicht mehr. Im Zentrum steht heute der einzelne Mensch als freie,
selbstverantwortliche Person.
Das Wort Person stammt aus dem Lateinischen mit wahrscheinlich etruskischer Herkunft.
Es bedeutete ursprünglich Maske oder Rolle. Wir spielen in unserem Leben verschiedene Rollen.
Diese Betrachtungsweise findet auch in der Terminologie der Grammatik ihren Ausdruck. Dort
werden mit Personen die wechselnden Rollen in Gesprächssituationen bezeichnet: ich, du, er, sie,
es... Person bezeichnet die konkrete Existenzform des Geistes.
Die – spätestens seit Rousseau – verbreitete Auffassung, dass Menschen von Natur aus
gut seien und ihnen lediglich durch Erziehungs- oder Bildungsmaßnahmen geholfen werden
müsse, sich ihrer Natur gemäß zu verhalten, stellte sich als Irrtum heraus. Ebenso wie die
Annahme, dass Menschen ihrem Wesen nach böse seien und man sie vor ihren Trieben schützen
muss, einer näheren Betrachtung nicht standhält. Es gibt keine Garantien moralischen Verhaltens,
weder durch eine bessere Gestaltung der den Menschen beeinflussenden Umstände, noch durch
eine ausgetüftelte Reglementierung von Handlungsabläufen. Wie ein Handeln bewertet wird, ist
niemals festlegbar, die Wirkungen des moralischen Handelns sind meist auch nicht vorhersehbar.
Deshalb muss man lernen, ohne Garantien zu leben und mit dem Bewusstsein, dass eine perfekte
Gesellschaft ebenso wie ein perfektes menschliches Wesen keine realisierbare Aussicht darstellen
und Versuche, das Gegenteil durchzusetzen, zu größerer Grausamkeit als zu mehr Menschlichkeit
– und sicher zu weniger Moralität – führen.
Moral ist eigentlich nicht rational. Denn jene moralisch handelnden Menschen, die wir
bewundern, handeln oft jeglichen Zwecküberlegungen und Kosten/Nutzenrechnungen zuwider.
Moral lässt sich auch nicht universalisieren. Was zunächst wie ein moralischer
Relativismus klingt, bedeutet aber nicht anything goes. Unter Nicht-Universalisierbarkeit von Moral
wird hier die Unmöglichkeit verstanden, sich auf Gleichschaltung zu verlegen, auf eine zähe
Kampagne, Unterschiede zu glätten und vor allem die widerspenstigen, unkontrollierten
Ursprünge der moralischen Urteilskraft zu eliminieren.
Ergebnis
Dem „ethischen Relativismus” unserer Zeit, nämlich dem Standpunkt, dass ethische
Auffassungen unterschiedlich (relativ) sind und dass es nicht möglich ist zu entscheiden, welche
davon die richtige ist, steht ein „ethischer Universalismus” gegenüber, nämlich der Standpunkt,
dass es moralische Überzeugungen gibt, die universell sind, d.h. von allen Menschen anerkannt
werden bzw. anerkannt werden müssen. Welche Fundamente bestimmen also das moralische
Handeln in unserer Gesellschaft? Die primäre Ausgangsbewegung jeder Ethik ist kein
ausgetüfteltes System, sondern die Verantwortung, welche darin besteht, dass man für den
anderen da ist. Dies ist die menschliche Urtat und daher die menschliche Grunderfahrung, die
nicht überbietbar ist.
Vom “Ende der Moral” zu sprechen, ist gewiss voreilig – vielmehr erleben wir seit der
Aufklärung und der Industriellen Revolution einen Prozess der Neubestimmung von Moral
jenseits von Religionen und Kulturen. Der Ausgang dieses Prozesses wird vermutlich darüber
entscheiden, ob es zu einer globalen „Moral der Moderne” kommen wird oder ob wir einen
Rückfall in voraufklärerische Positionen erleben und den damit einhergehenden Zerfall der Welt
in nebeneinander existierende Kulturen.
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