nichts mehr hält

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Ekstase und Mysterium
Maria Lettberg im Gespräch mit Olaf Wilhelmer
2004 haben Sie damit begonnen, alle mit Opuszahlen versehenen Solo-Klavierwerke von Alexander Skrjabin einzuspielen. So
entstanden innerhalb von vier Jahren acht CDs. 2012 legten Sie
eine CD mit frühen Werken Skrjabins nach, nun folgt unter dem
Titel „Poème de l‘extase“ eine weitere Produktion zum Thema.
Was fasziniert Sie so sehr an diesem Komponisten?
Die Musik von Alexander Skrjabin verfolgt mich geradezu, anscheinend bin ich abhängig geworden! Ein paar Jahre nach der
Aufnahme der Werke mit Opuszahlen dachte ich, dass ich auch
die anderen Stücke aufnehmen sollte, weil sie so schön sind.
Und nun, einhundert Jahre nach seinem Tod, möchte ich Skrjabin noch einmal zeigen, aber nicht als Figur für sich selbst, sondern umgeben von dem, was vor ihm war und dem, was nach
ihm kam. Es geht um die Rezeption Skrjabins.
Das Programm dieser Hommage-CD ist sehr weit gefasst, die
ausgewählten Komponisten stammen alle nicht aus Skrjabins
Umfeld. Kam keiner der russischen „Skrjabinisten“ für Sie infrage?
Diese Komponisten – etwa Ivan Wyschnegradsky, Nikolaj Obuchow oder Nikolaj Roslavets – sind zweifellos interessant, aber
ich finde, dass sie im Hinblick auf Skrjabin nichts Neues zu sagen haben. Ich wollte eine weitergehende Entwicklung darstellen, und so kam ich auf Olivier Messiaen. Der war natürlich kein
Skrjabinist, aber die ästhetischen Verbindungen sind deutlich zu
erkennen: Synästhesie, Neigung zu Orientalismus und Pantheismus, Schöpfung einer neuen Weltvision – die Welt der Ekstase. Das gilt auch für Franz Liszt, dessen Spätwerk viele Parallelen zu Skrjabin aufweist.
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Am wenigsten wird man hier Harald Banter und Manfred Kelkel
erwarten. Was hat Sie dazu bewogen, diese vergleichsweise unbekannten Komponisten auszuwählen?
Manfred Kelkel war ein deutscher Musikwissenschaftler und
Komponist, der in Paris gelehrt und viel für die Erforschung von
Skrjabin getan hat. Er hat die Skizzen des Acte préalable, der
„Vorbereitenden Handlung“ zu dem von Skrjabin geplanten
Mysterium-Gesamtkunstwerk analysiert und mit einer eigenen
Komposition versucht, einen Eindruck dieses nie ausgeführten
Spätwerks zu vermitteln. Überdies war Manfred Kelkel Schüler
von Olivier Messiaen, also gibt es auch hier den Aspekt der
Entwicklung. Zu dem Werk von Harald Banter habe ich eine direkte Beziehung, denn er hat es für mich komponiert! Meine
Einspielung von Skrjabins Klavierwerken hatte ihn dazu inspiriert.
Im Zentrum dieser Produktion steht Alexander Skrjabin mit
seinem 1908 vollendeten Poème de l’extase op. 54 in einer
1955 publizierten Bearbeitung für Klavier von Sergej Pawtschinky. Nun war das Klavier zwar Skrjabins Instrument, aber
gerade diese Musik ist für ein üppig besetztes Orchester gedacht. Kann man das auf dem Klavier überhaupt darstellen?
Für diese CD habe ich ein Werk gesucht, das das gesamte
Schaffen von Skrjabin repräsentiert. Da kommt man – neben
dem Prométhée op. 60 – schnell auf Le poème de l‘extase, außerdem handelt es sich hier um eine sehr gute Transkription.
Obwohl Skrjabin überwiegend für das Klavier schrieb, sind für
ein größeres Publikum vor allem seine Orchesterwerke interessant. Das Klavier war sein Laboratorium, in dem er sich sozusagen alles erlauben konnte. Die Orchesterwerke präsentieren die
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Ergebnisse dieser Versuche in einem in sich geschlossenen
Rahmen.
Die Dichtung, die Skrjabin seinem Poème de l’extase zur Seite
stellte, handelt von einem Geist, der sich gleichsam unter Hochspannung zu neuen Sphären aufschwingt. Diese Idee ist im musikalischen Verlauf des Werkes durchaus nachzuvollziehen. Ist
diese Dramaturgie typisch für Skrjabin?
Das ist nicht nur typisch, das ist ein Kern seiner Musik! Schon
in Skrjabins Frühwerk, das oft mit Chopin verglichen wird, erkenne ich diese Idee der Ekstase. Wobei sich diese sehr unterschiedlich äußern kann: Ekstase kann nicht nur Ausbruch, sondern beispielsweise Selbstbehauptung oder auch Sehnsucht bedeuten. Natürlich gibt es da auch erotische und orgiastische Züge (der Werktitel lautete ursprünglich Poème orgiaque), aber
das darf man nicht, wie es zu Skrjabins Zeit geschah, banal interpretieren. Er war kein Erotomane. Das ist eher in einem theosophischen Sinn zu verstehen: das Universum, die Schöpfung
als erotischer Akt.
Geraten Sie beim Spielen dieser Musik auch selbst in Ekstase?
Ehrlich gesagt: Das passiert am ehesten beim Üben. Im Konzert
oder bei der Aufnahme der so komplexen Partituren brauche ich
die vollständige Kontrolle. Allerdings erlebe ich den schwebenden Charakter des Werkes beim Spielen sehr stark – das ist
schon verrückte Musik, das kann man körperlich spüren.
Über Skrjabins Idee des Mysteriums ist viel geschrieben worden; seine Beschäftigung mit der Theosophie von Helena Blavatsky (The Secret Doctrine, 1888) wurde in vielen Einzelheiten
dargelegt. Können Sie eine Musik, über deren Hintergrund so
viel bekannt ist, noch unbefangen spielen?
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Skrjabin hat selbst gesagt, dass beim Poème de l‘extase der Text
für ihn so wichtig war wie die Musik. Wenn man diese Ideen
kennt, kann man sein Werk besser verstehen. Spielen kann man
die Musik natürlich auch ohne diese Informationen, aber es ist
bereichernd, seine Briefe und Tagebücher zu kennen. Ich möchte einfach wissen, wie er gelebt und wie er gedacht hat.
In Skrjabins theosophischem Weltbild ging es darum, über die
Kunst zu einer „All-Einheit“ zu gelangen. 1913 begann er, zu
seinem Mysterium den Acte préalable („Vorbereitende Handlung“) zu skizzieren. Auf diesem Material beruht der Tombeau
de Scriabine op. 22 von Manfred Kelkel, der 1972 – im Jahr
des 100. Geburtstages von Skrjabin – von Radio France in Auftrag gegeben wurde. Kelkel schrieb das im Untertitel Transmutations symphoniques genannte Werk zunächst für Orchester,
ehe er eine Klavierfassung davon schuf. Inwieweit findet sich
Skrjabins Vermächtnis darin wieder?
Über dieses Projekt Skrjabins wissen wir nicht sehr viel, allerdings arbeitete er am Acte préalable parallel zu seinen späten
Préludes op. 74, in denen er mit dem gleichen Material experimentierte. Kelkel hat versucht, einige Skizzen für Klavier zusammenzustellen, so wie Alexander Nemtin daraus eine Orchesterfassung machte. An Kelkel gefällt mir besonders, dass er
nicht lediglich im Stile Skrjabins zu schreiben versuchte, sondern dass er dessen Ideen weiterentwickelte. Man erkennt, dass
Skrjabin einige Elemente der seriellen Musik vorwegnahm und
dass seine Ideen nicht unbedingt von den Skrjabinisten, sondern
eher von Olivier Messiaen und Pierre Boulez fortgeführt wurden.
In seinem 2008 entstandenen Werk Naître et disparaître. Werden und Vergehen. Hommage à Skrjabin greift Harald Ban4
ter gedanklich auf Skrjabins Idee vom Schöpfungsakt im Kosmos
zurück. Was macht er musikalisch daraus?
Banter ist kein wissenschaftlich orientierter Komponist wie Kelkel, er bezieht sich eher auf bekannte Züge der Skrjabinschen
Musik. Er verwendet keine direkten Zitate, aber es gibt einige
Hinweise auf konkrete Werke, etwa die Sechste Klaviersonate
op. 62. Banter spiegelt Skrjabin, indem er in einer symbolischen
Handlung das Werden und Vergehen von dessen Persönlichkeit
zeigt.
Banter ist eine ungewöhnliche Erscheinung: Der Schüler von
Hans Werner Henze und Bernd Alois Zimmermann trat als
Jazzmusiker mit Albert Mangelsdorff auf und wurde vor allem
als Bandleader des WDR in dessen Gründungsjahren bekannt.
In den 1950er Jahren spielte er die Musik des legendären Hörspielkrimis Paul Temple ein. Ein Werk rund um Skrjabin, Maria
Lettberg gewidmet, liegt da nicht direkt auf der Hand. Woran
knüpft Harald Banter an?
Das muss ich mit einer Gegenfrage beantworten: Was bringt
Chick Corea dazu, Skrjabins a-Moll-Prélude aus den 24 Préludes op. 11 für eine eigene Komposition zu verwenden? Es gibt
viele Jazzmusiker, etwa Keith Jarrett oder Bill Evans, die sich
von Skrjabin zu ihren Improvisationen anregen lassen, da der
Gebrauch von Sept- und Nonenakkorden der gleichen musikalischen Sprache entstammt. Banter versucht nicht, in Skrjabins
Stil zu schreiben, sondern er adaptiert dessen Idee für seine eigene Vision. Und genau darum geht es mir: was Skrjabin heute
für uns bedeutet.
Wir verlassen die Sphäre der theosophisch inspirierten Musik
und kommen zum „katholischen“ Teil Ihres Programms. War
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Franz Liszt für Skrjabin ein Vorbild auch wegen seiner musikalischen Bearbeitung von poetischen und mystischen Ideen?
Ja, und dieses Vorbild findet sich vor allem in Liszts Spätwerk,
etwa in La lugubre gondola Nr. 2, jener 1885 vollendeten zweiten „Trauergondel“, die sich auf den Tod Richard Wagners bezieht. Natürlich hat sich Skrjabin auch als Pianist mit Liszt auseinandergesetzt, der in der russischen Klavierschule eine wichtige Rolle spielte. Liszts Mozart-Paraphrase Réminiscences de
Don Juan war ein Schicksalswerk für Skrjabin, mit dem er sich
durch übermäßiges Spielen seine Hand verletzte. Ästhetisch eint
beide Komponisten die Idee der Ekstase – bei Liszt ist es die religiöse Ekstase, die sich dann auch bei Messiaen findet. Allgemein geht es um Rauschzustände, seien sie durch Alkohol, Religion oder durch das künstlerische Schaffen bedingt. Auch Skrjabin war zunächst sehr gläubig, bevor er sich vom russischorthodoxen Christentum zugunsten der Theosophie abwandte.
Bei der Komposition der Fünften Klaviersonate op. 53 äußerte
er den Eindruck, jemand diktiere ihm diese Musik.
Religiöse Ekstase und katholische Mystik kennzeichnen auch die
Ästhetik von Olivier Messiaen. Den großen Klavierzyklus Vingt
Regards sur l’Enfant-Jésus („Zwanzig Blicke auf das Jesuskind“) schrieb er 1944 in Paris, zeitgleich zur Befreiung der
Stadt durch die Alliierten. Seine Musik ist einerseits viel moderner als die Skrjabins, andererseits wirken die beiden von Ihnen
eingespielten Sätze in einer Hinsicht konventioneller: Während
Dissonanzen bei Skrjabin oft nicht aufgelöst werden, findet Messiaen immer wieder zur Tonika zurück – er lässt sich in die Tonarten geradezu hineinfallen. Wie erleben Sie diese Musik aus
der Perspektive Skrjabins?
Ich bin mit dieser Sichtweise nicht ganz einverstanden. Es gibt
bei Messiaen eine klare Trennung zwischen deutlichen Harmo6
nien und gleichsam chaotischen Clustern. Gleichzeitig findet
man in der Harmonik der Vingts Regards sur l’Enfant-Jésus eine
starke Tritonusspannung zwischen den Tönen c und fis sowie es
und a (die sogenannte Zweite oktatonische Tonleiter), während
das c auch in Skrjabins Poème de l’extase im Mittelpunkt steht.
Und für beide repräsentiert die Tonart Fis-Dur die höchste Stufe:
Messiaen schreibt darin das „Thème de Dieu“, das als Gottesthema eine Art „Leitmotiv“ dieses Zyklus ist. Skrjabin und Messiaen haben vieles gemeinsam: Leitthemen, Klangfarbenmelodien, Glockenklänge sowie den Ausdruck von Ekstase und Zärtlichkeit. Aber es gibt auch Unterschiede: Für Skrjabin ist das
Chaos als Vereinigung aller Elemente eine Rückkehr zum
Nichts; für Messiaen ist es der Weg zum einzig wahren Ziel – zu
Gott.
Die Bevorzugung jubelnder Dur-Tonarten ist typisch für Messiaen, doch im Überschwang der Freude scheint er in den Vingts
Regards sur l’Enfant-Jésus die Grenzen des Klaviers überschreiten zu wollen. Welche pianistische Herausforderung stellt diese
Musik für Sie dar?
Messiaens Notation ist teils unrealistisch, vor allem bei der Dynamik: Kein Pianist kann ein vierfaches Forte oder ein vierfaches Piano spielen, da müssen dann andere Lautstärken auf diese Vortragsbezeichnungen abgestimmt werden. Außerdem
merkt man, dass Messiaens Hauptinstrument die Orgel war: Seine Vorstellung vom Crescendo ist auf dem Klavier schwer umzusetzen. Da war Skrjabin etwas realistischer.
Ekstase und Mysterium sind als Ideen in allen Werken dieser
CD präsent. Skrjabins künstlerischer Impuls zielte um 1900 auf
ein neues Bewusstsein, das den Materialismus hinter sich lässt –
ein Gedanke, der in der russischen Kunst dieser Zeit allenthalben zu finden ist. Ist das für Sie heute noch aktuell?
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Leben und Tod sind Rätsel, unendliche Mysterien. Deswegen
beschäftigen sich auch heute viele Künstler damit. Das macht
doch den Menschen aus – gerade in unserer Zeit, die nicht nur
politisch schwierig ist. Meine Überzeugung ist, dass die Menschen Kunst und Musik wie Brot brauchen – als Inspiration zum
Leben. Geld allein macht nicht glücklich.
Das Gespräch führte Olaf Wilhelmer
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