23 KULTUR NORDWESTSCHWEIZ MZ Dienstag, 8. Juni 2010 Ist das Reden am Ende, spricht die Musik «Überall verfolgt und zensiert, erhebt sich der Tod von überall. Der Tod setzt alles in Gang und dient allem, er ist die absolute Anpassung des Menschen an seine Funktion. (...) Er ist nicht mehr biologisch, psychologisch oder metaphysisch, er ist nicht einmal mehr tödlich – seine Nekropolen sind die Schaltstellen in Bunkern oder Hallen.» Jean Baudrillard Der symbolische Tausch und der Tod. JURIJUNKOV «Ars moriendi» ist ein Musiktheaterprojekt über Tod und Vergänglichkeit zu englischer barocker Beerdigungsmusik. Dirigent Anthony Rooley und Regisseurin Anna-Sophie Mahler erläutern ihr Konzept. CHRISTIAN FLURI Der in unserer Welt fest verankerten Ausschliessung des Todes setzt das Musiktheaterprojekt «Ars moriendi» ein Reden und Singen über den Tod entgegen – gedacht ist das auch als ein Zeichen für das Leben: Der französische Philosoph Jean Baudrillard äussert in «Der symbolische Tausch und der Tod» von 1976 die These, dass der verdrängte Tod zurückkehre, sich im Leben einniste und es seiner Lebendigkeit beraube. Im Barock war das anders. Der Tod war allgegenwärtig. Hier wurde das Sterben immer auch kunstvoll zelebriert. England im 16. und 17. Jahrhundert habe eine reiche Tradition an Beerdigungsmusik, erzählt Anthony Rooley, ein Pionier der alten Musik und musikalischer Leiter des Projekts «Ars moriendi», im Gespräch mit der bz. Er schwärmt von der Qualität der Musik, wie sie von heute kaum bekannten Komponisten bereits vor Purcell geschaffen worden ist. Sie hätten beispielsweise die Möglichkeiten starker Dissonanzen erkundet, um über den Tod zu sprechen (siehe Box). DIE FUNERAL MUSIC von Henry Purcell hat die Regisseurin Anna-Sophie Mahler, die Mitbegründerin der Basler Theatergruppe CapriConnection, fasziniert und ihr die Idee zum Projekt «Ars moriendi» (eine Koproduktion von Schola Cantorum Basiliensis, CapriConnection, Kaserne Basel, Theater HAU Berlin, Theater Chur und dem Westdeutschen Rundfunk Köln) gegeben. Anna-Sophie Mahler wurde angefragt, BAROCKE TRAUERMUSIK Anthony Rooley, musikalischer Leiter des Projekts «ars moriendi», hat die Musik dazu zusammengestellt. Thomas Weelkes (1576–1623): Noel Adieu (Fragment). Thomas Tomkins (1572–1656): When David Heard (Fragment). William Lawes (1602–1645): Musick, The Master Of Thy Art Is Dead. In Darkness Let Me Dwell (Fragment). Henry Purcell (1659–1695): Chorus Of The Cold People. Anonym (Ann Boleyn?) «O Death, Rock Me Asleep» (Fragment). Henry Purcell Funeral Sentences: Man that is born of a woman, In the midst of life, Thou knowest Lord, March, Canzona. ZUR PERSON eine Barockoper zu inszenieren. An einem bestehenden Stück war die Regisseurin, die mit CapriConnection mit recherchiertem Material arbeitet, weniger interessiert, wie sie im Gespräch erwähnt. Purcells Funeral Music war die Initialzündung zu ihrem Projekt über Tod und Vergänglichkeit. Als Grundmaterial dient eine Diskussion deutscher Philosophen über Jean Baudrillards «Der symbolische Tausch und der Tod». Die Diskussion fand 1983 in Tübingen statt – teilweise mit Baudrillard selbst – und wurde aufgezeichnet und von Claudia Gehrke im «Konkursbuch» gedruckt herausgegeben. Anna-Sophie Mahler erzählt: «Die Diskussion dreht sich zuerst um den Übergang der Moderne zur Postmoderne, um den Tod der Moderne, um den Begriff des Todes, um den Tod als Metapher, aber auch um den persönlichen Tod. Die Diskussion entfernt sich immer mehr von der Metapher des Todes und wird immer mehr zum Reden über das Sterben des Einzelnen.» Baudrillard habe die deutschen Philosophen mit seinen Einwürfen, mit seinen frechen Gedankenspielen, die auch charakteristisch sind für sein Buch selbst, immer mehr ins Schleudern gebracht. «Sie wissen immer weniger, worüber sie eigent- lich diskutieren. Dabei schafft es Baudrillard, die Philosophen in ein wirkliches, riskantes Streitgespräch zu verwickeln. Er bringt sie dazu, Neues zu denken.» Dieses Hin-und-Her zwischen dem Nachdenken «über die Welt, darüber, in welchem System wir mit unserer Hightech angekommen sind, was wir hier wollen und machen», und dem Nachdenken darüber, «was mit uns ist, wenn es mit uns zu Ende geht», bildet den Ausgangspunkt für «Ars moriendi». Die Gruppe hat einige der Philosophen aufgesucht und sie nach ihren Erinnerungen an die Diskussion befragt. Damit beginnt das Stück: Die vier Schauspieler Susanne Abelein, Christian Dieterle, Thomas Douglas und Cathrin Störmer spielen die Philosophen. Ausgehend von den Erinnerungen der Philosophen lassen sie die Philosophen selbst und ihr Reden über Tod und Sterben zum lebendigen theatralischen Akt werden. Die Diskussion drehe sich auch darum, führt Mahler aus, «ob wir eine kritische Analyse des Systems überhaupt leisten können, ohne in die Sphäre der Transzendenz zu springen». Hier setze die Musik erstmals ein. Je mehr die Philosophen Mühe bekunden, sich dem riskanten Gedankenspiel hinzugeben, je mehr sie mit den Worten an Grenzen stossen, desto mehr mischt sich die Musik ein. «Genügen die Worte nicht mehr, spricht die Musik.» Die Musik erreiche mit ihrer Direktheit und Unmittelbarkeit eine Dimension, «in die wir mit unserem Denken mit Worten nicht hin kommen», sagt Mahler. Und Rooley erklärt: «Die Trauermusik, die gesungenen Lamenti, haben eine so tiefe Melancholie, die eine kathartische Kraft hat.» Die tiefe Trauer in der Musik schaffe Befreiung, Erleichterung. Das klinge nach einem Paradox, aber es sei das Paradox des Lebens. Die Beerdigungsmusik, die damals konstitutiver Teil des Rituals war, hat durch ihre starke Emotionalität – verbunden mit ihrer bewusst gebauten Form, mit eindringlichen, der Zahlensymbolik entsprechenden Wiederholungen zum Beispiel – eine stark theatralische Seite. ZU PURCELLS MUSIK zum Tode der Queen Mary von 1693, mit der «Ars moriendi» endet, kommen Trauergesänge von Komponisten früherer Generationen, die Rooley aufgrund seiner langjährigen intensiven Forschungsarbeit, ja der eigentlichen Schatzgräbertätigkeit, zusammengestellt hat. Das Ensemble von Sängern und Musikern ist von Rooley gleichsam auf den Anthony Rooley, bedeutender Lautenist und Dirigent, ist Dozent für Projektarbeit und Ensembles des 16.–18. Jahrhunderts an der Schola Cantorum Basiliensis. Mit seinem Ensemble «Consort of Musicke» vollbrachte er in der Barockmusik grosse Pionierleistungen. Zuletzt hat er mit dem Basler Barockorchester «La Cetra» William Hayes «The Passions» auf CD eingespielt. Anna-Sophie Mahler hat sich als Regisseurin und mit der von ihr 2005 mitbegründeten Basler Theatergruppe CapriConnection international profiliert. Die Gruppe hat mit der theatralischen Aufbereitung von dokumentarischem Material einen eigenen Inszenierungsstil entwickelt. (FLU) Kern reduziert. Die sechs Gesangssolisten Adiran Horsewood, Hanna Järveläinen, Kate Macoboy, Yulia Mikkonen, Tiago Mota und David Munderloh werden begleitet von Orgel, sechs Blasinstrumenten und Trommel. Für die Sängerinnen und Sänger sei die Mitwirkung hier auch eine wichtige Theatererfahrung, auch eine Schulung im theatralischen Ausdruck, merkt ein begeisterter Anthony Rooley an. Kaserne Basel 10. bis 15. Juni. Lies-Tal und Schreib-Welt Judith Arlt und ihr neues Buch, «Die Fölmlis», ist eine schweizerische Handwerker-Familiensaga, die durch faktische Genauigkeit, beharrlicher Recherche sowie durch den literarischen Zugang, der den Stoff souverän formt, überzeugt. VE R E N A S TÖ S S I N G E R 1909 hat Anton Fölmli im luzernischen Menznau, in einem Zimmer über der Dorfbäckerei, seine Schuhmacherwerkstatt eröffnet. Bald begann er, auch Schuhe zu verkaufen, die in Fabriken hergestellt wurden, 1936 baute er sich ein Haus mit Laden, 1951 ein zweites, grösseres, an der Hauptstrasse. Heute wird das Geschäft von seiner Enkelin geführt; sie nennt es «gangart», will «die richtige und schöne Art des Gehens fördern» und dass sich bei ihr «Schuh- und andere Kultur begegnen». Die Geschichte der Schuhmacherfamilie Fölmli ist eine schweizerische Erfolgsgeschichte. Sie erzählt von Beschei- denheit und Beständigkeit, Fleiss und Handwerkerstolz und davon, wie weit man es bringen kann, wenn man seine Arbeit gern hat und ausserdem stets bereit ist, weiterzulernen und Neues auszuprobieren, auch, weil die Zeit nicht stehen bleibt. Judith Arlt hat die Geschichte recherchiert und aufgezeichnet, und ihr Buch «Die Fölmlis. Eine Schuhmacherfamilie» lässt uns daran teilhaben. Sie wird dabei sehr lebendig – zum einen durch die grosse Genauigkeit der Beschreibung, und zum anderen durch die Fähigkeit der Autorin, sich in die Menschen und ihre Zeit hinein zu denken, sie also nicht nur von aussen zu betrachten: «Anton ist, wie er ist. Ich erfinde ihn nicht, ich verändere ihn nicht. Ich zerre nicht an ihm herum. Ich warte nur. Auf ihn.» FAKTISCHE GENAUIGKEIT, beharrliche Recherche und ein literarischer Zugriff, der den Stoff souverän formt, optimiert und beglaubigt: das sind auch die Qualitäten des vorletzten Buches von Judith Arlt – auch wenn sein Thema ungleich grausamer ist und der Autorin sehr viel näher als die Geschichte der Luzerner Schuhdynastie. «Entlassen nach: Tod» heisst es und erzählt die «wahre Geschichte» (Untertitel), wie ihr Schwiegervater im August 2006 auf der Intensivstation eines Berliner Spitals von einer Krankenschwester umgebracht wurde. Der Text zeichnet die Tat nach, den Prozess und die Verurteilung der Täterin und macht die Erschütterung deutlich, die sie auslöste, die Leere danach und die Bitterkeit. Judith Arlts Texte sind direkt und ungeschönt, und andererseits sind sie literarisch anspruchsvoll und sehr sprachbewusst. Die 1956 in Liestal (ihrem «Lies-Tal») als Judith Büsser geborene (und als Arlt verheiratete) Autorin und Literaturwissenschaftlerin hat sich dabei längst eine eigene Schreib-Welt erschlossen. Sie debütierte (noch unter dem Namen Büsser) 1993 beim LenosVerlag, publizierte seither Erzählungen, übersetzte polnische Literatur. doktorierte mit einer Arbeit über den polnischen Autor Tadeusz Konwicki, bereiste die halbe Welt und lebt heute als freie Schriftstellerin in einem Dorf in Schleswig-Holstein, an der Nordsee, und schreibt «über den Wind, das Meer, die Berge». Es gibt Grund, sich auf das Ergebnis zu freuen. Judith Arlt: Die Fölmlis. Eine Schuhmacherfamilie. 350 S. ill., Verlag Claudia Wartmann Natürlich, 2009 Judith Arlt: Entlassen nach. Tod. Todesfalle Krankenhaus. Eine wahre Geschichte. 192 S., mgv-Verlag, 2008