Commonsense Reasoning Gabriele Kern-Isberner LS 1 – Information Engineering TU Dortmund Sommersemester 2015 G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 1 / 118 Commonsense Reasoning – Übersicht • Einführung und Übersicht • Nichtklassisches Schlussfolgern • Rangfunktionen – ein einfaches epistemisches Modell • Probabilistische Folgerungsmodelle und -strategien • Qualitative und Quantitative Wissensrepräsentation • Argumentation • Commonsense Reasoning in Multi-Agentensystemen • Schlussteil und Prüfungsvorbereitung G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 2 / 118 Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 3 / 118 Übersicht Kapitel 2 2.1 Parakonsistenz 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken 2.4 Präferentielle Semantik 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 4 / 118 Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern 2.1 Parakonsistenz G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 5 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Konsistenz Eine der grundlegenden Forderungen für Wissen W ist Konsistenz. W ist konsistent bedeutet: • W ist sinnvoll, stimmig. • W ist widerspuchsfrei, d.h. W 6` ⊥, W 6|= Form(Σ)(= L). • W hat Modelle, d.h. Mod (W ) 6= ∅. Konsistentes Wissen ist in der Regel besonders nützlich und wertvoll. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 6 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Inkonsistenz 1/2 Eines der größten Probleme beim Commonsense Reasoning besteht darin, dass allgemeine, unsichere Zusammenhänge zwar sehr wichtig sind, als klassisch-logische Regeln aber leicht zu Inkonsistenzen führen können. Beispiel (Tweety): P Penguin, B Bird, F fly Die Formel φ = (P ⇒ B) ∧ (B ⇒ F ) ∧ (P ⇒ ¬F ) ∧ P ist klassisch-logisch inkonsistent. ♣ Mögliche Lösung: Regeln mit Ausnahmen → Default-Logiken (nichtklassische Syntax, nichtklassische Semantik). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 7 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Inkonsistenz 2/2 Alternative: F |=p A F Menge klassischer Formeln, möglicherweise inkonsistent, |=p Konsequenzrelation, die mit Inkonsistenzen umgehen kann. Beispiel: Der Agent hat (vielleicht mühsam) die folgende Wissensbasis modelliert: KB = {A ⇒ B, A, C, ¬C}; es gilt KB ` ⊥, d.h. Cn(KB) = Form(Σ). Durch die Inkonsistenz wird die ganze Wissensbasis nutzlos, denn aus ihr kann man jede beliebige Formel ableiten. ♣ Sinnvoll wäre es, die Inkonsistenzen ausblenden zu können, und die konsistenten Inhalte der Wissensbasis für Inferenzen zu nutzen. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 8 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Parakonsistenz Sei F eine Menge klassisch-logischer Formeln in einer aussagenlogischen Sprache L mit Signatur Σ, |=p eine Konsequenzrelation zwischen aussagenlogischen Formeln. Definition 1 |=p heißt parakonsistent, wenn es inkonsistente Formelmengen F gibt, so dass gilt: F 6|=p L. Bei einer parakonsistenten Konsequenzrelation lässt sich also aus einem Widerspruch nicht alles Beliebige ableiten! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 9 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Wissensdimensionen 1/2 Wissen lässt sich entlang zweier Dimensionen messen: • nach dem Grad der Wahrheit mit den Ausprägungen {t, f } → ≤t ; • nach der Menge an Wissen mit den Ausprägungen “zu wenig” oder “zu viel” → ≤k . =⇒ Wissen • kann nicht nur wahr (t) oder falsch (f ) sein: f ≤t t, • sondern auch unvollständig (⊥) oder inkonsistent (>) sein: ⊥ ≤k >. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 10 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Wissensdimensionen 2/2 k > f t ⊥ t G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 11 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– vier Wahrheitswerte 1/2 Damit haben wir nun vier Wahrheitswerte FOUR= {t, f, ⊥, >} , die auch in der folgenden Weise repräsentiert werden: t = (1, 0) f = (0, 1) > = (1, 1) ⊥ = (0, 0) (Koordinatenschreibweise) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 12 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– vier Wahrheitswerte 2/2 • Bezgl. ≤t besteht folgende Anordnung: f ≤t t, ⊥, > unvergleichbar; (x1 , y1 ) ≤t (x2 , y2 ) gdw. x1 ≤ x2 und y1 ≥ y2 • Bezgl. ≤k besteht folgende Anordnung: ⊥ ≤k >, t, f unvergleichbar. (x1 , y1 ) ≤k (x2 , y2 ) gdw. x1 ≤ x2 und y1 ≤ y2 (x1 , x2 , y1 , y2 ∈ {0, 1}) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 13 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– Semantik 1/3 Eine Auswertungsfunktion I ist eine Funktion I : Σ → FOUR. Auswertungsfunktionen liefern Interpretationen von (atomaren) Formeln. Auswertungen komplexer logischer Formeln werden durch • Interpretation der atomaren Formeln und • Interpretationen der Junktoren ¬, ∧, ∨ festgelegt. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 14 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– Semantik 2/3 I(¬A) = ¬I(A), I(A ∧ B) = I(A) ∧ I(B), I(A ∨ B) = I(A) ∨ I(B), wobei die logischen Operatoren für die FOUR-Werte in Koordinatenschreibweise wie folgt gegeben sind: ¬(x, y) = (y, x) (x1 , y1 ) ∧ (x2 , y2 ) = (x1 ∧ x2 , y1 ∨ y2 ) (x1 , y1 ) ∨ (x2 , y2 ) = (x1 ∨ x2 , y1 ∧ y2 ) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 15 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– Wahrheitstafeln bezgl. ¬, ∧ und ∨: ¬ t f f t > > ⊥ ⊥ ∧ t f t t f f f f > > f ⊥ ⊥ f > ⊥ > ⊥ f f > f f ⊥ ∨ t f > ⊥ t f > ⊥ t t t t t f > ⊥ t > > t t ⊥ t ⊥ bzgl. ⇒ (A ⇒ B ≡ ¬A ∨ B): ⇒ t f > ⊥ G. Kern-Isberner (TU Dortmund) t f > ⊥ t f > ⊥ t t t t t > > t t ⊥ t ⊥ Commonsense Reasoning 16 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR– Semantik 3/3 Um “wahre” Aussagen zu bestimmen, müssen wir nun noch festlegen, welche Wahrheitswerte von FOUR als “wahr” angesehen werden, diese Teilmenge D nennt man designierte Werte: D = DFOUR = {t, >} Eine Interpretation I erfüllt eine Formel F , oder I ist ein Modell von F (in der Logik FOUR), I |=4 F gdw. I(F ) ∈ D. Ist F eine Menge (aussagen)logischer Formeln, so bezeichnet Mod 4 (F) die Menge aller FOUR-Modelle von F. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 17 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Beispiel – Tweety P Penguin, B Bird, F fly Die Formel φ = P ∧ (P ⇒ B) ∧ (B ⇒ F ) ∧ (P ⇒ ¬F ) ist (bekanntermaßen) klassisch-logisch inkonsistent, aber in FOUR ist I |=4 φ (d.h. I(φ) ∈ D) z.B. für I(P ) = t, I(B) = t, I(F ) = >. Damit ist φ in FOUR kein Widerspruch! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 18 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR-Semantik – Eigenschaften Es gelten die de Morgan-Regeln ¬(A ∧ B) ≡ ¬A ∨ ¬B ¬(A ∨ B) ≡ ¬A ∧ ¬B d.h. ¬((x1 , y1 ) ∧ (x2 , y2 )) ≡ ¬(x1 , y1 ) ∨ ¬(x2 , y2 ) ¬((x1 , y1 ) ∨ (x2 , y2 )) ≡ ¬(x1 , y1 ) ∧ ¬(x2 , y2 ) Wie in der klassischen Logik gilt auch Mod 4 (A ∧ B) = Mod 4 (A) ∩ Mod 4 (B). Allerdings – in FOUR gibt es keine Tautologien, insbesondere ist A ∨ ¬A keine Tautologie! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 19 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Materiale Implikation Damit ist das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten in FOUR also nicht mehr gültig, und damit verliert die materiale Implikation A ⇒ B ≡ ¬A ∨ B ihre Stärke – A, A ⇒ B können designiert (wahr) sein, auch wenn B nicht designiert (wahr) ist. Wichtige und interessante Eigenschaften von ⇒ für die Aussagenlogik: • F, A |= B ist äquivalent zu F |= A ⇒ B (Deduktionstheorem); • I(A ⇒ B) = 1 gdw. I(A) ≤ I(B) (für klassische Interpretationen I). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 20 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Neue Implikationen 1/2 Wir führen eine stärkere Implikation ⊃ ein (a, b ∈ FOUR): a⊃b= b wenn a ∈ D t wenn a 6∈ D Es gilt (x1 , y1 ) ⊃ (x2 , y2 ) = (¬x1 ∨ x2 , x1 ∧ y2 ) I(A ⊃ B) = I(A) ⊃ I(B) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 21 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Neue Implikationen 2/2 Eine weitere Implikation →, die ⊃ auch kontrapositiv anwendet: a → b = (a ⊃ b) ∧ (¬b ⊃ ¬a) Alle Formeln, die sich aus der Signatur Σ mit Hilfe der logischen Symbole ¬, ∧, ∨, ⇒, ⊃, → bilden lassen, bilden die Formeln der FOUR-Sprache L4 . Proposition 1 Für FOUR-Interpretationen I und aussagenlogische Formeln A, B ∈ L gilt I(A → B) ∈ D gdw. I(A) ≤t I(B). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 22 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Beispiel – 4-Tweety Wir betrachten die folgende Wissensbasis F = {B ⇒ F, P ⊃ B, P ⊃ ¬F, B, P } F hat 6 FOUR-Modelle: Modell M1,2 M3,4 M5,6 G. Kern-Isberner (TU Dortmund) B > > t F > f > Commonsense Reasoning P >, t >, t >, t 23 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR-Implikationen In FOUR verwendet man also • ⊃ für Regeln ohne Ausnahmen, • ⇒ für Regeln mit Ausnahmen. Man kann zeigen: ⊃ lässt sich nicht durch die anderen Junktoren ¬, ∧, ∨, >, ⊥ definieren. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 24 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR-Konsequenzrelation 1/2 Wir können nun die FOUR-Konsequenzrelation |=4 definieren: F |=4 A, wenn jedes FOUR-Modell von F auch FOUR-Modell von A ist (wobei F ⊆ L4 , A ∈ L4 eine Menge von FOUR-Formeln bzw. eine FOUR-Formel ist). Beispiel: Für F = {A, B, ¬B} gilt F |=4 A, aber F 6|=4 ¬A. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning ♣ 25 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz FOUR-Konsequenzrelation 2/2 Proposition 2 |=4 ist monoton(, kompakt,) und parakonsistent. Monotonie bedeutet Wenn F |=4 A und F ⊆ G gilt, dann gilt auch G |=4 A. bzw. insbesondere Wenn A |=4 B, dann auch A ∧ C |=4 B. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 26 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Konsequenz und Implikation In FOUR gilt zwischen ⊃ und |=4 eine ähnliche Beziehung wie zwischen ⇒ und |= in der Aussagenlogik: Proposition 3 (Deduktionstheorem) Für eine Menge F von Formeln und zwei Formeln A, B in FOUR gilt: F, A |=4 B gdw. F |=4 A ⊃ B. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 27 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Beispiel – 4-Tweety (Forts.) F = {B ⇒ F, P ⊃ B, P ⊃ ¬F, B, P } mit den FOUR-Modellen Modell M1,2 M3,4 M5,6 B > > t F > f > P >, t >, t >, t Damit gilt F |=4 P, F |=4 B, F |=4 ¬F. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 28 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Parakonsistenz Weitere Eigenschaften Es gibt einen vollständigen Inferenzkalkül zu |=4 . Allerdings – |=4 ist strikt schwächer als klassische Logik – Aus A und A ⇒ B lässt sich nicht B ableiten: A, A ⇒ B 6|=4 B. Damit ist |=4 insgesamt “weicher” als die klassische Logik. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 29 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Übersicht Kapitel 2 2.1 Parakonsistenz 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken 2.4 Präferentielle Semantik 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 30 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 31 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Plausibles Schlussfolgern Commonsense Reasoning → plausibles, revidierbares Schlussfolgern • Schlussfolgern ≡ (logische) Inferenzen; • revidierbar ≡ nichtmonoton; • plausibel ≡ ??? Approximation plausibel ≈ wahrscheinlich ? G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 32 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Konsequenz- und Inferenzoperationen Eine Inferenzoperation ist eine Abbildung C : 2Form(Σ) → 2Form(Σ) , die einer Menge von Formeln die Menge aller Formeln zuordnet, die sich aus ihr (logisch, plausibel, etc.) schlussfolgern lässt, d.h. C(F) = {G ∈ Form(Σ) | F |∼ G} Die Inferenzoperation C beschreibt also die Inferenzrelation |∼ und umgekehrt. Eine spezielle Inferenzoperation ist die Konsequenzoperation Cn : 2Form(Σ) → 2Form(Σ) Cn(F) = {G ∈ Form(Σ) | F |= G}, die die logische Folgerungsrelation |= beschreibt. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 33 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Charakteristika monotoner Logiken Die klassische Folgerungsoperation Cn erfüllt drei zentrale Bedingungen (wobei A, B Mengen von Formeln sind): • Inklusion bzw. Reflexivität: A ⊆ Cn(A) bzw. A |= a ∀a ∈ A • Schnitteigenschaft: A ⊆ B ⊆ Cn(A) impliziert Cn(B) ⊆ Cn(A) aus A |= b und A ∪ {b} |= c folgt A |= c bzw. • Monotonie: A ⊆ B impliziert Cn(A) ⊆ Cn(B) bzw. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) aus A |= c folgt A ∪ {b} |= c Commonsense Reasoning 34 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Eigenschaften nichtmonotoner Logiken ? • Was sind passende Eigenschaften/Axiome nichtmonotoner Logiken ? • Welche der Eigenschaften klassischer Logiken sind auch für nichtmonotone Logiken relevant ? Zur Illustration betrachten wir zunächst (z.B. aus der DVEW) bekannte Beispiele für nichtklassische Inferenzrelationen |∼ . G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 35 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Inferenzrelationen für Default-Logiken • Sei (W, ∆) eine Reiter’sche Default-Theorie. W |∼Reiter φ ∆ wenn φ in allen Extensionen der Default-Theorie (W, ∆) liegt. Reiter (W ) = {φ | W |∼Reiter φ} C∆ ∆ • Sei (F, D) eine Poole’sche Default-Theorie. F |∼PDoole φ wenn φ in allen Extensionen der Default-Theorie (F, D) liegt. P oole (F) = {φ | F |∼P oole φ} CD D G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 36 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Extensionen einer Reiter’schen Default-Theorie Theorem 2 (Reiter, 1980) Sei E eine Menge geschlossener Formeln, und sei T = (W, ∆) eine Default-Theorie. Definiere eine Folge von Formelmengen Ei , i ≥ 0, in der folgenden Weise: E0 = W Ei+1 = Cn(Ei ) ∪ χ | ϕ : ψ1 , . . . , ψn ∈ ∆, ϕ ∈ Ei χ und ¬ψ1 , . . . , ¬ψn ∈ / E} Dann ist E eine Extension von T genau dann, wenn gilt E= G. Kern-Isberner (TU Dortmund) S∞ i=0 Ei Commonsense Reasoning 37 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Poole’s Default-Logik Benutze klassische Logik – aber in einer anderen Art und Weise! • basiert eigentlich auf Prädikatenlogik, wir betrachten hier eine aussagenlogische Variante; • Default-Theorien bestehen aus Mengen F (Fakten) und D (Hypothesen/Defaults); • ein Szenario ist eine konsistente Menge D ∪ F, wobei D ⊆ D eine Menge von Hypothesen aus D ist; • Extensionen sind die (klassischen) Konsequenzen Cn(D ∪ F) maximaler Szenarios (enthalten soviele Hypothesen/Defaults wie möglich). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 38 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Beispiel – Reiter und Poole Default-Wissen in verschiedenen Formalisierungen: Reiter’sche Default-Theorie Poole’sche Default-Theorie Extensionen: bei Reiter: bei Poole: > : a a : b b : ¬a , , }) a b ¬a (∅, {a, a ⇒ b, b ⇒ ¬a}) (∅, { Cn(a, b) ∅ |∼Reiter a, b ∆ Cn(a, b), Cn(a, ¬b), Cn(¬a) ∅ |∼PDoole >. Konditionale: bei Reiter: (a|>) und (b|>) werden akzeptiert bei Poole: das nichtssagende Konditional (>|>) wird akzeptiert G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 39 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Beispiel-KB Flocke Legende: B Br K T Bär braun klein Tier E W G Eisbär weiß gefährlich Konditionale Wissensbasis KB F locke {(Br |B), E ⇒ B, B ⇒ T, (W |E), (G|W ∧ B), (G|T ∧ K), E ∧ K} (G ≡ ¬G) Intendierte plausible Ableitungen: E |∼ W, E ∧ K |∼ W, E |∼ G, E |∼ B G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 40 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Was hinter Flocke und Tweety steckt . . . Warum sind Flocke und Tweety so interessant und relevant? Flocke und Tweety sind Repräsentanten des Subklassen-Superklassen-Problems: Subklassen-Superklassen-Problem: Plausibles Wissen über Klassen trifft oft nicht auf ihre Subklassen zu! (im Unterschied zu sicherem, logischen Wissen !) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 41 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Subklassen-Superklassen-Problem Beispiel (Empfehlungssysteme): Was bieten Sie jedem Kunden an? Normale Kunden kaufen lieber elektronische Medien als Bücher, insbesondere Romane: Kunden |∼ ¬Romane Studentische Kunden lieben Bücher (auch Romane): Studenten |∼ Romane Informatik-Studierende lieben in der Regel keine Romane: Inf ormatikStudenten |∼ ¬Romane Aber: Informatik-Studierende lieben in der Regel Romane von Terry Pratchett: Inf ormatikStudenten |∼ T erryP ratchettRomane ♣ G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 42 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Eigenschaften nichtmonotoner Logiken 1/2 Sinnvoll für nichtmonotone Inferenzoperationen C: • Inklusion bzw. Reflexivität: A ⊆ C(A) bzw. A |∼ a ∀a ∈ A • Schnitteigenschaft: A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert C(B) ⊆ C(A) bzw. aus A |∼ b und A ∪ {b} |∼ c folgt A |∼ c • vorsichtige Monotonie: A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert C(A) ⊆ C(B) bzw. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) aus A |∼ b und A |∼ c folgt A ∪ {b} |∼ c Commonsense Reasoning 43 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Beispiel-KB “Flocke” (Forts.) • Reflexivität: KB F locke |∼ E ∧ K; • Schnitt: E |∼ W, W ∧ E |∼ G impliziert E |∼ G; • Vorsichtige Monotonie: E |∼ W, E |∼ G impliziert E ∧ W |∼ G( und E ∧ G |∼ W ). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 44 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Eigenschaften nichtmonotoner Logiken 2/2 Kumulativität = Inklusion + vorsichtige Monotonie + Schnitt A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert C(B) = C(A) d.h. wenn A |∼ b gilt, dann ist A |∼ c gdw. A ∪ {b} |∼ c Kumulativität besagt also, dass die Hinzunahme ableitbaren Wissens die Menge der Inferenzen nicht verändert. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 45 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Inklusion, Monotonie und Idempotenz Was sind mögliche weitere interessante Eigenschaften? Idempotenz (gilt für Cn): C(C(A)) = C(A) • Inklusion und Schnitt implizieren Idempotenz. • Inklusion, Idempotenz und vorsichtige Monotonie implizieren Schnitt. • Inklusion, Idempotenz und Monotonie sind charakterisierende Eigenschaften von Abschlussoperationen (Logik, Topologie etc.) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 46 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Reziprozität und rationale Monotonie Reziprozität A ⊆ C(B) und B ⊆ C(A) impliziert C(A) = C(B) Gilt Inklusion, so sind Kumulativität und Reziprozität äquivalent. rationale Monotonie (nicht-Horn Bedingung) A |∼ b und nicht A |∼ ¬c impliziert A ∪ {c} |∼ b Rationale Monotonie impliziert (bei konsistenten Mengen) vorsichtige Monotonie. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 47 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Plausible und klassisch-logische Inferenz Bisher haben wir uns nur mit Eigenschaften von |∼ beschäftigt. Wie sieht es mit der Verträglichkeit von nichtmonotoner Inferenz ( |∼ bzw. C) mit klassisch-logischer Inferenz (|= bzw. Cn) aus? Insbesondere: • Ist Cn stärker als C (d.h. gilt Cn(A) ⊆ C(A)?) • Lassen sich |∼ und |= kombinieren, d.h. was folgt aus A |∼ B, B |= C? G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 48 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Supraklassizität Die Sprache L sei unter den klassischen Junktoren abgeschlossen (also z.B. eine aussagenlogische Sprache). Supraklassizität: Cn(A) ⊆ C(A) d.h. A |= b impliziert A |∼ b Beispiel Flocke: Aus E |= B folgt auch E |∼ B. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning ♣ 49 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Absorption Absorption: Cn C(A) = C(A) = C Cn(A) Beispiel Flocke: KB F locke : E |= B; E |∼ G ∧ B; E |∼ W ; E ∧ K |∼ W. • C = Cn C: Aus KB F locke |∼ G ∧ B, B ⇒ T folgt KB F locke |∼ G ∧ T ; • C Cn = C: C({E, E ⇒ B, B ⇒ T }) = C({E, B, T }). Achtung: Bisher nutzen wir C bzw. |∼ im Eisbärenbeispiel nur auf einer informellen Ebene ! ♣ G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 50 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Absorption und Supraklassizität 1/3 Formale Interpretation der Absorptionseigenschaften: • C = Cn C: Die nichtmonotonen Schlussfolgerungen bilden eine klassisch-logische Theorie, d.h. C(A) ist deduktiv abgeschlossen. • C Cn = C: Die nichtmonotonen Schlussfolgerungen hängen nur vom semantischen Inhalt von A ab, nicht von der syntaktischen Form, d.h. es ist C(A) = C(B) für zwei logisch äquivalente Formeln A, B. Proposition 4 Jede supraklassische, kumulative Inferenzoperation erfüllt auch Absorption. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 51 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Supraklassizität und Absorption 2/3 Wenn die Inferenzoperation C Absorption erfüllt, dann gilt auch: • Konjunktion in der Konklusion: b, c ∈ C(A) impliziert b ∧ c ∈ C(A) A |∼ b, A |∼ c A |∼ b ∧ c • Rechte Abschwächung (Right Weakening): b ∈ C(A) und c ∈ Cn(b) impliziert c ∈ C(A) A |∼ b, b |= c A |∼ c G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 52 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Supraklassizität und Absorption 3/3 • Linke logische Äquivalenz: Cn(A) = Cn(B) impliziert C(A) = C(B) |= A ≡ B, A |∼ c B |∼ c • Subklassische Kumulativität: A ⊆ B ⊆ Cn(A) impliziert C(A) = C(B) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 53 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Qualitätskriterien – Überblick Kumulativität A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert C(B) = C(A) rationale Monotonie A |∼ b und nicht A |∼ ¬c impliziert A ∪ {c} |∼ b Supraklassizität Cn(A) ⊆ C(A) d.h. A |= b impliziert A |∼ b Absorption: Cn C(A) = C(A) = C Cn(A) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 54 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Strategien plausiblen Schlussfolgerns Auf einer informellen Ebene werden beim plausiblen Schlussfolgern oft folgende Strategien (sinnvollerweise) angewendet: • Folgere kohärent! (→ Kumulativität) • Folgere plausibel, solange nichts dagegen spricht! (→ rationale Monotonie) • Benutze klassische Logik, wenn möglich! (→ Supraklassizität, Absorption) • Benutze Wissen über die spezifischste Referenzklasse! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 55 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Beispiel-KB Flocke (Whlg.) Legende: B Br K T Bär braun klein Tier E W G Eisbär weiß gefährlich Konditionale Wissensbasis KB F locke {(Br |B), E ⇒ B, B ⇒ T, (W |E), (G|W ∧ B), (G|T ∧ K), E ∧ K} (G ≡ ¬G) Intendierte plausible Ableitungen: E |∼ W, E ∧ K |∼ W, E |∼ G, E |∼ B G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 56 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Distributivität 1/3 Die Inferenzoperation C heißt distributiv, wenn gilt C(A) ∩ C(B) ⊆ C(Cn(A) ∩ Cn(B)) Beispiel (Flocke): Betrachte im Eisbärenbeispiel die Mengen A = {E, E ⇒ B, B ⇒ T } und B = {E, K}. Plausibel ist, dass W ∈ C(A) ∩ C(B), da (W |E) ∈ KB F locke . Aus der Distributivität von C würde folgen W ∈ C(Cn(A) ∩ Cn(B)) = C(Cn({E, B, T }) ∩ Cn({E, K})) = C(Cn({E, B ∨ K, T ∨ K})) ♣ G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 57 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Distributivität 2/3 Für eine supraklassische, distributive Inferenzoperation C mit Absorption gelten die folgenden Eigenschaften: • Disjunktion in der Antezedenz: C(A ∪ {b}) ∩ C(A ∪ {c}) ⊆ C(A ∪ {b ∨ c}) A ∪ {b} |∼ d, A ∪ {c} |∼ d impliziert A ∪ {b ∨ c} |∼ d • Beweis durch Fallunterscheidung: C(A ∪ {b}) ∩ C(A ∪ {¬b}) ⊆ C(A) A ∪ {b} |∼ d, A ∪ {¬b} |∼ d impliziert A |∼ d • Konditionalisierung: (“schwierige Hälfte” des Deduktionstheorems!) c ∈ C(A ∪ {b}) A ∪ {b} |∼ c G. Kern-Isberner (TU Dortmund) impliziert impliziert b ⇒ c ∈ C(A) A |∼ b ⇒ c Commonsense Reasoning 58 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Distributivität 3/3 Die “leichte Hälfte” des Deduktionstheorems A |∼ b ⇒ c impliziert A ∪ {b} |∼ c gilt für keine interessante nichtmonotone Inferenzrelation, denn gemeinsam mit Supraklassizität und Absorption impliziert sie Monotonie! (Aus A |∼ c folgt mit Rechter Abschwächung A |∼ b ⇒ c, die “leichte Hälfte” würde also A ∪ {b} |∼ c implizieren.) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 59 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Spezifizität und Ausnahmen 1/2 Proposition 5 Sei C eine distributive, supraklassische Inferenzoperation, die Absorption erfüllt. Wenn A |∼ b und A ∪ {c} |∼ ¬b, dann A |∼ ¬c. Nur Ausnahmen liefern auch Ausnahmewissen! Beweis: Sei A |∼ b und A ∪ {c} |∼ ¬b. Dann gilt (s.o.) A |∼ c ⇒ ¬b und A |∼ (c ⇒ ¬b) ∧ b |= ¬c, wegen der rechten Abschwächung auch A |∼ ¬c. Q.E.D. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 60 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Spezifizität und Ausnahmen 2/2 Vergleiche Wenn A |∼ b und A ∪ {c} |∼ ¬b, dann A |∼ ¬c. mit rationaler Monotonie: Wenn A |∼ b und nicht: A ∪ {c} |∼ b, dann A |∼ ¬c. Rationale Monotonie ist die stärkere Aussage von beiden. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 61 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken Loop Wenn A1 |∼ A2 |∼ . . . |∼ An |∼ A1 , dann C(Ai ) = C(Aj ) für alle i, j • eingeschränkte Transitivität • Verallgemeinerung der Reziprozität (Loop für n = 2) Proposition 6 Sei C eine distributive, supraklassische und kumulative Inferenzoperation. Dann erfüllt C auch Loop. Zentrale Bedingungen: Kumulativität, Supraklassizität & Distribution G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 62 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken Übersicht Kapitel 2 2.1 Parakonsistenz 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken 2.4 Präferentielle Semantik 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 63 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 64 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken Kalkül Ein Kalkül ist ein System von Inferenzregeln, mit dem man aus gegebenem Wissen weiteres Wissen ableiten kann. Beispiel: In der klassischen Logik ist der Modus ponens die wichtigste Inferenzregel: A, A ⇒ B . ♣ B Beispiel: Für die Ableitung von Widersprüchen ist der Resolutionskalkül gut geeignet. ♣ Kalküle sollten mindestens korrekt, am besten auch vollständig sein. (Semantik?) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 65 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System C Sei L eine klassisch-logische Sprache, a, b, c seien Formeln aus L. System C besteht aus folgenden 5 Inferenzregeln: • Reflexivität: a |∼ a. • Schnitt: a ∧ b |∼ c, a |∼ b . a |∼ c • vorsichtige Monotonie (CM): a |∼ b, a |∼ c a ∧ b |∼ c • Rechte Abschwächung (RW): a |∼ b, b |= c a |∼ c • Linke logische Äquivalenz (LLE): G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning |= a ≡ b, a |∼ c b |∼ c 66 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System C – abgeleitete Regeln 1/2 Die folgenden Inferenzregeln können aus System C abgeleitet werden: • Äquivalenz: a |∼ b, b |∼ a, a |∼ c b |∼ c • Und (And): a |∼ b, a |∼ c a |∼ b ∧ c • Modus ponens (in der Konsequenz)(MPC): a |∼ b ⇒ c, a |∼ b a |∼ c G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 67 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System C – abgeleitete Regeln 2/2 Außerdem gilt noch: • a ∨ b |∼ a, a |∼ c a ∨ b |∼ c • Jede Inferenzrelation, die System C erfüllt, ist supraklassisch. (folgt aus Reflexivität und (RW)) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 68 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System P 1/2 Durch eine weitere Inferenzregel erhält man System P aus System C: • Oder (Or): a |∼ c, b |∼ c a ∨ b |∼ c System P = System C + (Or) Jede supraklassische, distributive Inferenzoperation, die Absorption erfüllt, erfüllt auch (Or). (siehe “Disjunktion in der Antezedenz”) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 69 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System P 2/2 Die folgenden Regeln können aus System P abgeleitet werden: a ∧ b |∼ c a |∼ b ⇒ c a |∼ c, b |∼ d a ∨ b |∼ c ∨ d a ∧ ¬b |∼ c, a ∧ b |∼ c a |∼ c a ∨ b |∼ a, b ∨ c |∼ b a ∨ c |∼ a G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 70 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken Ein nichtmonotones Kalkül Problem: KB Wissen(sbasis) als Menge von Default-Regeln bzw. plausiblen Folgerungen A |∼ B gegeben; Anfrage: Gilt im Fall C normalerweise D? Idee: Versuche, aus KB mit Hilfe der Inferenzregeln von System P den Default/die plausible Folgerung C |∼ D abzuleiten G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 71 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Kalküle für nichtmonotone Logiken System P-Kalkül – Beispiel p – penguin, f – flies, b – bird KB = {p |∼ b, p |∼ ¬f, b |∼ f } Gilt p ∧ b |∼ ¬f , d.h. können Pinguin-Vögel normalerweise nicht fliegen? Mit vorsichtiger Monotonie (CM) gilt: p |∼ b p |∼ ¬f p ∧ b |∼ ¬f Es bleibt die Frage, wie die Korrektheit (und auch Vollständigkeit?) dieses Kalküls überprüft werden kann. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 72 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Übersicht Kapitel 2 2.1 Parakonsistenz 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken 2.4 Präferentielle Semantik 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 73 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern 2.4 Präferentielle Semantik G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 74 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Ziel dieses Abschnitts: Semantik für System P System P • Reflexivität: a |∼ a. • Schnitt: • CM: a ∧ b |∼ c, a |∼ b . a |∼ c a |∼ b, a |∼ c a ∧ b |∼ c G. Kern-Isberner (TU Dortmund) • RW: a |∼ b, b |= c a |∼ c • LLE: |= a ≡ b, a |∼ c b |∼ c • Or: Commonsense Reasoning a |∼ c, b |∼ c a ∨ b |∼ c 75 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Nichtmonotone Logiken Nichtmonotone Inferenzen modellieren Ableitungen, die * * * * * meistens typischerweise im Allgemeinen normalerweise ... gelten. Präferenzmodelle sind semantische Strukturen, die den Folgerungsbegriff mit nicht-logischen Informationen über Normalität, Plausibilität etc. verbinden. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 76 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzmodelle Ein Präferenzmodell ist ein Tripel M = (M, |=, <) mit den folgenden Eigenschaften: • M ist eine (beliebige) Menge, deren Elemente Zustände genannt werden; • |= ist eine (beliebige) Relation zwischen den Elementen von M und Formeln der zugrundeliegenden Sprache L, d.h. |= ⊂ M × L; |= wird Erfüllungsrelation des Modells genannt; • < ist eine (beliebige) Relation zwischen den Elementen von M , d.h. < ⊆ M × M ; < wird Präferenzrelation des Modells genannt. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 77 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik 1/3 Sei M = (M, |=, <) ein Präferenzmodell; sei A eine Menge von Formeln von L. [A] = {n ∈ M | n |= A} = {n ∈ M | n |= a ∀a ∈ A} [∅] = M Ein Zustand m ∈ M erfüllt A präferentiell m |=< A gdw. m |= A und es gibt kein n ∈ M, n < m mit n |= A gdw. m ist minimales Element (bzgl. <) von [A]. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 78 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik 2/3 Die (mit M assoziierte) präferentielle Inferenzoperation C< : 2L → 2L wird definiert durch C< (A) = {b ∈ L | ∀ m ∈ M gilt : m |=< A impliziert m |= b} Die zugehörige präferentielle Inferenzrelation ist A |∼< b gdw. ∀ m ∈ M gilt : m |=< A impliziert m |= b G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 79 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik 3/3 Semantik durch Präferenzmodelle M = (M, |=, <): • M ≈ Menge der Interpretationen; • Erfüllungsrelation |= modelliert logische Folgerung, kann aber auch allgemeiner sein; • [A] entspricht dann den Modellen von A; • Präferenzrelation < drückt Normalität aus. A |∼< b gdw. ∀ m ∈ M : m |=< A ⇒ m |= b bedeutet: Aus A folgt plausibel b, wenn b in allen minimalen (d.h. plausibelsten) Modellen von A gilt. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 80 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – Spezialfall Spezialfall: A = ∅ m |=< ∅ gdw. m ist minimales Element (bzgl. <) von [∅] = M C< (∅) = {a ∈ L | ∀ m ∈ M gilt : m |=< ∅ impliziert m |= a} = {a ∈ L | ∀ m ∈ M gilt : m minimal in M impliziert m |= a} In C< (∅) liegen also alle Aussagen, die in allen (bzgl. <) minimalen (also normalsten, plausibelsten) Zuständen von M gelten. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 81 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – Fundiertheit ! Wichtige Bedingung im allgemeinen Fall, dass M nicht endlich ist !: Ein Präferenzmodell M = (M, |=, <) heisst fundiert (glatt, engl. stoppered, smooth), wenn für jede Menge A von Formeln, und für jedes m ∈ M gilt: Ist m ∈ [A], so gibt es ein minimales n ∈ [A] mit n ≤ m (d.h. n < m oder n = m). Endliche Präferenzmodelle sind fundiert, wenn < nicht zyklisch ist. Wir werden im Folgenden in der Regel solche endlichen Präferenzmodelle betrachten. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 82 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – Beispiel V : Vogel sein F : Fliegen können P : Pinguin sein m3 = vf p m4 = vf p m1 = vf p m2 = vf p m5 = vf p m6 = vf p m7 = vf p m8 = vf p m5 = vf p, m7 = vf p 6 m1 = vf p v |∼< f m3 = vf p, m4 = vf p p |∼< v m2 = vf p, m6 = vf p p |∼< f < m8 = vf p G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 83 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzrelationen Für die Modellierung der Plausibilität sind Präferenzrelationen < von zentraler Bedeutung. Hierbei kann es sich um ganz allgemeine Relationen handeln, in denen es z.B. Zykel geben kann, oder in denen Zustände unvergleichbar sind. Insbesondere kann man nicht annehmen, dass es sich bei < um eine lineare Ordnung handelt. Häufig aber sind Präferenzrelationen totale, reflexive und transitive Relationen, lassen sich also durch ein sortiertes Schichtenmodell darstellen. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 84 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – 1. Haupttheorem Repräsentationstheorem für kumulative Inferenzoperationen: Theorem 3 Eine Inferenzoperation C ist genau dann kumulativ, wenn es ein (fundiertes) Präferenzmodell M = (M, |=, <) gibt mit C = C< . < kann genau dann als transitive Relation gewählt werden, wenn C Loop erfüllt. • Jede präferentielle Inferenzoperation ist kumulativ. • Kumulative Inferenzoperationen lassen sich durch Präferenzmodelle definieren. • Der Inferenz-Eigenschaft Loop entspricht die Präferenz-Eigenschaft Transitivität. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 85 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Klassische Präferenzmodelle Ein (fundiertes) Präferenzmodell M = (M, |=, <) heißt klassisch, wenn • < transitiv ist und • für alle m ∈ M gilt: m |= ¬a gdw. m 6|= a m |= a ∨ b gdw. m |= a oder m |= b In klassischen Präferenzmodellen werden Formeln also so interpretiert, wie man es in klassischen Logiken gewohnt ist. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 86 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – 2. Haupttheorem Repräsentationstheorem für System P: Theorem 4 Eine Inferenzrelation erfüllt System P genau dann, wenn sie durch ein klassisches Präferenzmodell definiert wird. System P • Reflexivität: a |∼ a. • Schnitt: • CM: a ∧ b |∼ c, a |∼ b . a |∼ c a |∼ b, a |∼ c a ∧ b |∼ c G. Kern-Isberner (TU Dortmund) • RW: a |∼ b, b |= c a |∼ c • LLE: |= a ≡ b, a |∼ c b |∼ c • Or: Commonsense Reasoning a |∼ c, b |∼ c a ∨ b |∼ c 87 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Präferenzsemantik – 2. Haupttheorem (Beweis) Beweisskizze: Wir zeigen hier nur: Ist M ein klassisches Präferenzmodell, dann erfüllt C< (Or). Per definitionem ist C< (A) = {b ∈ L | m |=< A ⇒ m |= b}. Weiterhin gilt für alle a, b ∈ L: [a ∨ b] = [a] ∪ [b]. Sei nun a |∼< c und b |∼< c, d.h. alle minimalen Modelle in [a] und [b] erfüllen c. Sei weiterhin m ein minimales Modell in [a ∨ b] = [a] ∪ [b]; dann ist m entweder minimal in [a] oder minimal in [b], in jedem Fall gilt also m |= c. Alle minimalen Modelle in [a ∨ b] erfüllen also c, also gilt a ∨ b |∼< c. Q.E.D. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 88 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Folgerung aus dem 2. Haupttheorem Korollar 1 Jede Inferenzrelation, die System P erfüllt, erfüllt auch (Loop). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 89 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Parakonsistente Präferenzsemantik 1/4 In der parakonsistenten Logik FOUR gab es zwei Relationen, um Wahrheitswerte zu ordnen: • ≤t ordnete Wahrheitswerte nach ihrem Wahrheitsgehalt; • ≤k ordnete Wahrheitswerte nach der verfügbaren Menge an Informationen. Idee: Nutze ≤k für eine Präferenzrelation auf den Interpretationen. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 90 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Parakonsistente Präferenzsemantik 2/4 Damit kann man nun ein FOUR-Präferenzmodell M4 = (M4 , |=4 , <k ) definieren: • M4 ist die Menge aller FOUR-Interpretationen; • I |=4 F gdw. I(F ) ∈ {t, >}(= D); • I1 ≤k I2 , wenn für alle a ∈ Σ gilt: I1 (a) ≤k I2 (a); daraus erhält man <k : I1 <k I2 G. Kern-Isberner (TU Dortmund) gdw. I1 ≤k I2 und nicht I2 ≤k I1 . Commonsense Reasoning 91 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Parakonsistente Präferenzsemantik 3/4 Damit kann man nun auf den FOUR-Formeln eine nichtmonotone Inferenzrelation |∼ k4 definieren: F |∼ k4 A gdw. für jedes k-minimale Modell I von F gilt: I |=4 A. Da M4 = (M4 , |=4 , <k ) ein klassisches Präferenzmodell ist, folgt sofort: Proposition 7 |∼ k4 erfüllt System P. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 92 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Beispiel – 4-Tweety (Forts.) F = {B ⇒ F, P ⊃ B, P ⊃ ¬F, B, P } mit den FOUR-Modellen Modell M1,2 M3,4 M5,6 B > > t F > f > P >, t >, t >, t Für |=4 gilt F |=4 P, F |=4 B, F |=4 ¬F. k-minimale Modelle: Modell M4 M6 B > t F f > P t t Also gilt auch F |∼ k4 P, F |∼ k4 B, F |∼ k4 ¬F. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 93 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Präferentielle Semantik Parakonsistente Präferenzsemantik 4/4 Man kann zeigen: Proposition 8 Enthält A ∈ L4 nicht ⊃, so ist F |∼ k4 A gdw. F |=4 A. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 94 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Übersicht Kapitel 2 2.1 Parakonsistenz 2.2 Qualitätskriterien für nichtmonotone Logiken 2.3 Kalküle für nichtmonotone Logiken 2.4 Präferentielle Semantik 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 95 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Kapitel 2 2. Nichtklassisches Schlussfolgern 2.5 Defaultsysteme und Extensionsfamilien G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 96 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Nichtmonotone Inferenz im Default Reasoning Zwei Aspekte sind beim nichtmonotonen plausiblen Schlussfolgern besonders interessant: • Bildung von Folgerungsketten durch Verwendung von Inferenzregeln; • Qualitätsbeurteilung von plausiblen Schlussfolgerungen anhand gewisser Qualitätskriterien (System C, P). Lassen sich diese Aspekte beim Schlussfolgern mit Defaults wiederfinden? • Beweise → normale Reiter-Defaults • Qualitätskriterien → Poole-Systeme G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 97 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Default-Beweis Sei T = (W, ∆) eine normale Reiter’sche Default-Theorie; sei ϕ eine Formel. Ein Default-Beweis von ϕ in T ist eine endliche Folge (∆0 , ∆1 , . . . , ∆k ) mit ∆i ⊆ ∆ so dass gilt: • W ∪ cons(∆0 ) |= ϕ; • für alle i < k lassen sich die Voraussetzungen von Defaults in ∆i aus W ∪ cons(∆i+1 ) ableiten; • ∆k = ∅; S • W ∪ cons( i ∆i ) ist konsistent. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 98 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Default-Beweise und Extensionen Theorem 5 Eine Formel ϕ besitzt genau dann einen Default-Beweis in der normalen Default-Theorie T , wenn ϕ in einer Extension von T liegt. Bei normalen Reiter-Default-Theorien ist also auch alles beweisbar, was man (leichtgläubig) folgern kann. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 99 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Default-Beweis – Beispiel Sei T = (W, ∆) mit W = {q ∧ r ⇒ p} und d : ¬c ∧ b d : c > : d , δ2 = , δ3 = , d ¬c ∧ b c > : a a∧b : q ¬c : r δ4 = , δ5 = , δ6 = a q r ∆ = { δ1 = } ? p – gilt p? 1 W ∪ {q, r} |= p → ∆0 = {δ5 , δ6 }; 2 suche Argumente für a, b, ¬c → ∆1 = {δ2 , δ4 }; 3 suche Argumente für d → ∆2 = {δ1 }; 4 > ist ableitbar aus W . 5 W ∪ cons(∆0 , ∆1 , ∆2 ) = {p, q, r, a, b, ¬c, d} konsistent. → (∆0 , ∆1 , ∆2 , ∅) ist ein Default-Beweis für p in T . G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 100 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Default-Beweise Default-Beweise sind im Allgemeinen nicht möglich! Beispiel: Sei T = (W, ∆) mit W = {p} und ∆ = {δ1 , δ2 , δ3 } mit δ1 = p : q r : q > : t , δ2 = , δ3 = r s ¬q ? s – gilt s? 1 s = cons(δ2 ) → ? r 2 r = cons(δ1 ) → ? p 3 p∈W Aber s liegt in keiner Extension von T , denn die einzige Extension von T ist Cn({p, ¬q}) !!! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 101 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole – Problem mit Kontraposition Die Poole’sche Default-Logik beruht stärker auf klassischer Logik: F D : : Fakten (klass. Formeln) Defaults (klass. Formeln, i.d.R. materiale Implikationen) Extensionen = Cn(F ∪ D), D maximale Teilmenge von D. Ein Poole’scher Default A(X) ⇒ B(X) kann z.B. auch in der kontrapositiven Form ¬B(X) ⇒ ¬A(X) aktiv werden ! (s. Studenten-Beispiel) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 102 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Studenten-Beispiel D = {student ⇒ adult, student ⇒ ¬works, adult ⇒ works} F = {student} Maximale Szenarien: D1 = {student ⇒ adult, student ⇒ ¬works} D2 = {student ⇒ adult, adult ⇒ works} D3 = {student ⇒ ¬works, adult ⇒ works} Extensionen: E1 = Cn(F ∪ D1 ) = Cn({student, adult, ¬works}) E2 = Cn(F ∪ D2 ) = Cn({student, adult, works}) E3 = Cn(F ∪ D3 ) = Cn({student, ¬works, ¬adult}) E3 ist nicht plausibel! G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 103 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Constraints . . . haben die Aufgabe, unplausible Schlussfolgerungen zu verhindern: Erweiterung der Poole’schen Default-Logik: • Gegeben seien Mengen F : Fakten (klass. Formeln) D : Defaults (klass. Formeln) C : Constraints (klass. Formeln) • Ein Szenario von (F, D, C) ist ein Szenario F ∪ D von (F, D), so dass F ∪ D ∪ C konsistent ist. • Eine Extension von (F, D, C) ist Cn(F ∪ D) für ein maximales Szenario F ∪ D von (F, D, C). • Constraints werden nicht zum Schlussfolgern verwendet, sie filtern lediglich unplausible Schlussfolgerungen heraus. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 104 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Studentenbeispiel (Forts.) Wir erweitern das Studentenbeispiel um Constraints: F = {student} D = {student ⇒ adult, student ⇒ ¬works, adult ⇒ works} C = {¬(student ∧ ¬adult) ≡ student ⇒ adult} Extensionen sind jetzt nur noch E1 = Cn(F ∪ D1 ) = Cn({student, adult, ¬works}) E2 = Cn(F ∪ D2 ) = Cn({student, adult, works}) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 105 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Inferenzrelationen für Default-Logiken (Whlg.) • Sei (W, ∆) eine Reiter’sche Default-Theorie. W |∼Reiter φ ∆ wenn φ in allen Extensionen der Default-Theorie (W, ∆) liegt. Reiter (W ) = {φ | W |∼Reiter φ} C∆ ∆ • Sei (F, D) eine Poole’sche Default-Theorie. F |∼PDoole φ wenn φ in allen Extensionen der Default-Theorie (F, D) liegt. P oole (F) = {φ | F |∼P oole φ} CD D G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 106 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Extensionsfamilien 1/2 Sei L eine logische Sprache und A ⊆ L eine Menge von Formeln. Definition 6 Zu jeder Menge A von Formeln einer logischen Sprache L sei E(A) eine Familie von Mengen von Formeln (Extensionen von A) mit Cn(A) ⊆ E für alle E ∈ E(A). {E(A)} heißt Extensionsfamilie. Definiere die (skeptische) Inferenzoperation C durch C(A) = T E(A) (→ Reiter’sche Default-Logik, Poole’sche Default-Logik) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 107 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Extensionsfamilien 2/2 Es gilt: • C ist supraklassisch. • C erfüllt die Schnitteigenschaft, wenn A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert E(A) ⊆ E(B). D.h. wenn jede Extension von A auch Extension von B ist. • C ist vorsichtig monoton, wenn A ⊆ B ⊆ C(A) impliziert E(B) ⊆ E(A). D.h. wenn jede Extension von B auch Extension von A ist. • C ist genau dann distributiv, wenn für jedes A, B gilt: für jedes E ∈ E(Cn(A) ∩ Cn(B)) und jede Formel c ∈ / E gibt es E 0 ∈ E(A) ∪ E(B) mit c 6∈ E 0 . G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 108 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Reiter-Extensionen 1/3 Sei ∆ eine Menge Reiter’scher Defaults. EReiter (A) = Menge aller Extensionen der Default-Theorie (A, ∆) A ⊆ E = Cn(E), also Cn(A) ⊆ E für alle E ∈ EReiter (A). CReiter (A) = G. Kern-Isberner (TU Dortmund) T EReiter (A) Commonsense Reasoning 109 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Reiter-Extensionen 2/3 Proposition 9 CReiter erfüllt die Schnitteigenschaft. Beweis: Sei A ⊆ B ⊆ CReiter (A); nach obiger Bemerkung genügt es, EReiter (A) ⊆ EReiter (B) zu zeigen. Wir benutzen die folgende Definition einer Extension: E ist Extension von A unter ∆ gdw. es eine Folge E0 , E1 , . . . gibt, so dass gilt: • E0 = A; S • E = i≥0 Ei ; • Ei+1 = Cn(Ei ) ∪ {χ : φ : ψ1χ,...,ψn ∈ ∆, φ ∈ Ei , ¬ψj 6∈ E ∀ 1 ≤ j ≤ n} (i ≥ 0). Sei also E ∈ EReiter (A), und es sei eine solche Folge E0 , E1 , . . . gegeben. Es ist zu zeigen, dass E auch eine Extension von B unter ∆ ist. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 110 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Reiter-Extensionen 3/3 Wir definieren F und eine neue Folge F0 , F1 , . . . wie folgt: • F0 = B; • F = S i≥0 Fi ; • Fi+1 = Cn(Fi ) ∪ {χ : φ : ψ1χ,...,ψn ∈ ∆, φ ∈ Fi , ¬ψj 6∈ E ∀ 1 ≤ j ≤ n} (i ≥ 0). Es gilt Ei ⊆ Fi (klar wegen A ⊆ B und mit Induktion) und Fi ⊆ E (mit Induktion: i = 0: F0 = B ⊆ C(A) ⊆ E; i → i + 1: Fi ⊆ E, also auch Cn(Fi ) ⊆ E. Sei φ : ψ1χ,...,ψn ∈ ∆ mit φ ∈ Fi ⊆ E; dann gibt es Ej mit φ ∈ Ej , also χ ∈ Ej+1 ⊆ E, folglich Fi+1 ⊆ E.) Insgesamt gilt daher E = F , und F ist eine Extension von B unter ∆, also E ∈ E(B). Q.E.D. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 111 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Reiter-Extensionen – Eigenschaften Aber: Die Reiter’sche Default-Logik • ist nicht kumulativ ! (siehe Gegenbeispiel aus DVEW zur vorsichtigen Monotonie) • ist nicht distributiv ! Proposition 10 Die Reiter’sche Default-Logik erfüllt Absorption, d.h. es gilt Cn CReiter (A) = CReiter (A) = CReiter Cn(A) Damit erfüllt CReiter auch LLE (linke logische Äquivalenz) und RW (Rechte Abschwächung). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 112 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole-Systeme 1/3 Ein Poole-System ist ein Paar (D, K) mit Mengen D : Defaults K : Constraints geschlossener Formeln einer prädikaten- oder aussagenlog. Sprache. Ist K = ∅, so heißt (D, K) ein Poole-System ohne Constraints. Für eine Menge von Formeln A sei d(A) = {D0 ⊆ D | A ∪ D0 ∪ K konsistent} d!(A) = {D0 ∈ d(A) | D0 maximal in d(A)} EP oole (A) = {Cn(A ∪ D) | D ∈ d!(A)} T Inferenzoperation: CP oole (A) = EP oole (A) Extensionsfamilie: G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 113 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole-Systeme 2a/3 Proposition 11 Ist (D, K) ein Poole-System und CP oole seine assoziierte Inferenzrelation, so ist CP oole kumulativ und supraklassisch. Beweis: Die Supraklassizität ist offensichtlich. Um die Kumulativität zu zeigen, nehmen wir T an: A ⊆ B ⊆ CP oole (A) = EP oole (A). Nach obiger Bemerkung genügt es, EP oole (A) = EP oole (B) zu zeigen. Zunächst gilt: Cn(A ∪ D) = Cn(B ∪ D) ∀ D ∈ d!(A) T (wegen A ⊆ B ⊆ CP oole (A) = EP oole (A) ⊆ Cn(A ∪ D), also Cn(A ∪ D) ⊆ Cn(B ∪ D) ⊆ Cn(A ∪ D) ∀ D ∈ d!(A)). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 114 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole-Systeme 2b/3 E(A) ⊆ E(B): • Sei Cn(A ∪ D) ∈ E(A) mit D ∈ d!(A); dann ist Cn(A ∪ D) = Cn(B ∪ D). Wir zeigen: D ∈ d!(B) (daraus folgt dann Cn(B ∪ D) ∈ E(B)). • B ∪ D ∪ K ist konsistent, denn A ∪ D ∪ K ist konsistent und Cn(A ∪ D) = Cn(B ∪ D); also D ∈ d(B). • D ist auch maximal in d(B), denn jede Menge D 0 ⊇ D, die mit B ∪ K konsistent ist, ist wegen A ⊆ B auch mit A ∪ K konsistent, also in d(A); hier aber ist D maximal, also folgt D = D0 . • Insgesamt: D ∈ d!(B). G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 115 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole-Systeme 2c/3 E(B) ⊆ E(A): • Sei Cn(B ∪ D) ∈ E(B) mit D ∈ d!(B). Wir zeigen: D ∈ d!(A) (denn dann ist wieder Cn(A ∪ D) = Cn(B ∪ D)). • Wegen B ∪ D ∪ K konsistent und A ⊆ B ist auch A ∪ D ∪ K konsistent, also D ∈ d(A). • Dann gibt es ein maximales D 0 ∈ d!(A) mit D ⊆ D 0 und Cn(A ∪ D0 ) = Cn(B ∪ D0 ). Dann ist auch D0 ∈ d(B), und da D in d(B) maximal ist, folgt D = D0 , also D ∈ d!(A). Q.E.D. G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 116 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Poole-Systeme 3/3 Proposition 12 Ist (D, ∅) ein Poole-System ohne Constraints, so ist seine assoziierte Inferenzoperation distributiv. Aber: Poole-Systeme mit Constraints sind im Allgemeinen nicht distributiv. Proposition 13 Sei (D, K) ein Poole-System mit assoziierter Inferenzoperation CP oole . Dann erfüllt CP oole die Loop-Eigenschaft. (Die Reiter’sche Default-Logik ist nicht kumulativ, kann also insbesondere auch nicht Loop erfüllen.) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Commonsense Reasoning 117 / 118 Nichtklassisches Schlussfolgern Defaultsysteme und Extensionsfamilien Grundlegende Prinzipien – Übersicht Methode ASP Reiter Poole (m.Constr.) Poole (o.Constr.) Präf.sem. Präf.sem (fund.) G. Kern-Isberner (TU Dortmund) Inkl. 1 1 1 1 1 1 Schn. 1 1 1 1 1 1 v.M. 0 0 1 1 0 1 Loop 0 0 1 1 0 0 Commonsense Reasoning S.kl. – 1 1 1 0 0 Abs. – 1 1 1 0 0 Dist. – 0 0 1 0 0 118 / 118