Leseprobe - STARK Verlag

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Abitur Deutsch (Bayern G8) – Übungsaufgabe 1:
Verfassen einer vergleichenden Analyse von Sachtexten
und Stellungnahme in einem Brief
Aufgaben:
1. Vergleichen Sie die beiden folgenden Textausschnitte durch eine Analyse ihrer
Argumentation und ihrer sprachlichen Gestaltung und erarbeiten Sie, ausgehend
von Ihren Ergebnissen, die wesentlichen Unterschiede im Hinblick auf die Weltsicht der beiden Autoren.
2. Äußern Sie sich in einem offenen Brief an Friedrich Dürrenmatt, wie Sie als junger Mensch zu seiner Weltsicht stehen und welche Erwartungen Sie an ein zeitgemäßes Theater haben.
Dabei soll vorausgesetzt werden, dass Dürrenmatt noch lebt und sein Text Theaterprobleme als aktuell gelten kann.
Vorbemerkung
Die Abhandlung Theaterprobleme von Friedrich Dürrenmatt erschien als erste Zusammenfassung seiner theoretischen Arbeiten über das Theater bereits 1954, also kurz
nach der Uraufführung von Ein Engel kommt nach Babylon (1953) und zwei Jahre
vor der Uraufführung von Der Besuch der alten Dame (1956). Der Text von Bertolt
Brecht entstand 1955 kurz vor seinem Tod als Essay für das Darmstädter Dramaturgengespräch und knüpft unmittelbar an die Ausführungen von Dürrenmatt an.
Text A
Friedrich Dürrenmatt: Theaterprobleme (1955)
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Doch die Aufgabe der Kunst, soweit sie überhaupt eine Aufgabe haben kann, und somit die Aufgabe der heutigen Dramatik ist, Gestalt, Konkretes zu schaffen. Dies vermag vor allem die Komödie. Die Tragödie, als die gestrengste Kunstgattung, setzt eine
gestaltete Welt voraus. Die Komödie – sofern sie nicht Gesellschaftskomödie ist wie
bei Molière –, eine ungestaltete, im Werden, im Umsturz begriffene, eine Welt, die am
Zusammenpacken ist wie die unsrige. Die Tragödie überwindet die Distanz. Die in
grauer Vorzeit liegenden Mythen macht sie den Athenern zur Gegenwart. Die Komödie schafft Distanz, den Versuch der Athener, in Sizilien Fuß zu fassen, verwandelt
sie in das Unternehmen der Vögel, ihr Reich zu errichten, vor dem Götter und Menschen kapitulieren müssen. […]
Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der
Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine
Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und
haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. Alles wird mitgerissen und bleibt
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in irgendeinem Rechen hängen. Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet
in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist
unser Pech, nicht unsere Schuld: Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als
religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei. Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe, wie ja die apokalyptischen Bilder des Hieronymus
Bosch auch grotesk sind. Doch das Groteske ist nur ein sinnlicher Ausdruck, ein sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer gesichtslosen
Welt, und genauso wie unser Denken ohne den Begriff des Paradoxen nicht mehr auszukommen scheint, so auch die Kunst, unsere Welt, die nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr.
Doch ist das Tragische immer noch möglich, auch wenn die reine Tragödie nicht
mehr möglich ist. Wir können das Tragische aus der Komödie heraus erzielen, hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund, so sind
ja schon viele Tragödien Shakespeares Komödien, aus denen heraus das Tragische
aufsteigt.
Nun liegt der Schluß nahe, die Komödie sei der Ausdruck der Verzweiflung, doch
ist dieser Schluß nicht zwingend. Gewiß, wer das Sinnlose, das Hoffnungslose dieser
Welt sieht, kann verzweifeln, doch ist diese Verzweiflung nicht eine Folge dieser Welt,
sondern eine Antwort, die er auf diese Welt gibt, und eine andere Antwort wäre sein
Nichtverzweifeln, sein Entschluß etwa, die Welt zu bestehen, in der wir oft leben wie
Gulliver unter den Riesen. Auch der nimmt Distanz, auch der tritt einen Schritt zurück,
der seinen Gegner einschätzen will, der sich bereit macht, mit ihm zu kämpfen oder
ihm zu entgehen. Es ist immer noch möglich, den mutigen Menschen zu zeigen.
Aus: Fr. Dürrenmatt, Theater. Werkausgabe in 37 Bänden. Bd. 30,
Zürich: Diogenes 1998, © 1986 Diogenes Verlag AG Zürich
Text B
Bertolt Brecht: Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden?
(1955)
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Mit Interesse höre ich, daß Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch über das Theater
die Frage gestellt hat, ob die heutige Welt durch Theater überhaupt noch wiedergegeben werden kann.
Diese Frage, scheint mir, muß zugelassen werden, sobald sie einmal gestellt ist. Die
Zeit ist vorüber, wo die Wiedergabe der Welt durch das Theater lediglich erlebbar sein
mußte. Um ein Erlebnis zu werden, muß sie stimmen.
Es gibt viele Leute, die konstatieren, daß das Erlebnis im Theater schwächer wird,
aber es gibt nicht so viele, die eine Wiedergabe der heutigen Welt als zunehmend
schwierig erkennen. Es war diese Erkenntnis, die einige von uns Stückeschreibern und
Spielleitern veranlaßt hat, auf die Suche nach neuen Kunstmitteln zu gehen.
Ich selbst habe, wie Ihnen als Leuten vom Bau bekannt ist, nicht wenige Versuche
unternommen, die heutige Welt, das heutige Zusammenleben der Menschen, in das
Blickfeld des Theaters zu bekommen.
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Dies schreibend, sitze ich nur wenige hundert Meter von einem großen, mit guten
Schauspielern und aller nötigen Maschinerie ausgestatteten Theater, an dem ich mit
zahlreichen, meist jungen Mitarbeitern manches ausprobieren kann, auf den Tischen,
um mich Modellbücher mit Tausenden von Fotos unserer Aufführungen und vielen
mehr oder minder genauen Beschreibungen der verschiedenartigsten Probleme und
ihrer vorläufigen Lösungen. Ich habe also alle Möglichkeiten, aber ich kann nicht sagen, daß die Dramaturgien, die ich aus bestimmten Gründen nicht-aristotelische nenne,
und die dazugehörende epische Spielweise die Lösung darstellen. Jedoch ist eines klargeworden: Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie
als eine veränderbare Welt beschrieben wird.
Für heutige Menschen sind Fragen wertvoll der Antworten wegen. Heutige Menschen interessieren sich für Zustände und Vorkommnisse, denen gegenüber sie etwas
tun können. […]
In einem Zeitalter, dessen Wissenschaft die Natur derart zu verändern weiß, daß die
Welt schon nahezu bewohnbar erscheint, kann der Mensch dem Menschen nicht mehr
lange als Opfer beschrieben werden, als Objekt einer unbekannten, aber fixierten
Umwelt. Vom Standpunkt eines Spielballs aus sind die Bewegungsgesetze kaum konzipierbar.
Weil nämlich – im Gegensatz zur Natur im allgemeinen – die Natur der menschlichen Gesellschaft im Dunkeln gehalten wurde, stehen wir jetzt, wie die betroffenen
Wissenschaftler uns versichern, vor der totalen Vernichtbarkeit des kaum bewohnbar
gemachten Planeten.
Es wird Sie nicht verwundern, von mir zu hören, daß die Frage der Beschreibbarkeit
der Welt eine gesellschaftliche Frage ist. Ich habe dies viele Jahre lang aufrechterhalten und lebe jetzt in einem Staat, wo eine ungeheure Anstrengung gemacht wird, die
Gesellschaft zu verändern. Sie mögen die Mittel und Wege verurteilen – ich hoffe übrigens, Sie kennen sie wirklich, nicht aus den Zeitungen –, Sie mögen dieses besondere
Ideal einer neuen Welt nicht akzeptieren – ich hoffe, Sie kennen auch dieses –, aber
Sie werden kaum bezweifeln, daß an der Änderung der Welt, des Zusammenlebens
der Menschen in dem Staat, in dem ich lebe, gearbeitet wird. Und Sie werden mir
vielleicht darin zustimmen, daß die heutige Welt eine Änderung braucht.
Für diesen kleinen Aufsatz, den ich als einen freundschaftlichen Beitrag zu Ihrer
Diskussion zu betrachten bitte, genügt es vielleicht, wenn ich jedenfalls meine Meinung berichte, daß die heutige Welt auch auf dem Theater wiedergegeben werden
kann, aber nur, wenn sie als veränderbar aufgefaßt wird.
Aus: Bertolt Brecht, Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden?
in: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968.
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Hinweise und Tipps
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Die Argumentation der beiden Autoren sollte insbesondere durch die Verwendung
von Verben verdeutlicht werden, welche einzelne Schritte im Verlauf einer Gedankenführung aufzeigen, so z. B. folgen, hinzufügen, veranschaulichen etc.
Beim Vergleich der sprachlichen Gestaltung geht es nicht um eine vollständige
Analyse der beiden Texte, sondern um das Herausstellen von auffälligen Sprachmitteln, so dass auf diese Weise auch die jeweiligen Funktionen deutlich gemacht
werden können.
Eine geraffte Darstellung unter Beachtung ausgewählter Gesichtspunkte ist auch
beim Vergleich der in den beiden Texten zum Ausdruck kommenden Weltsicht anzustreben.
Der offene Brief an Friedrich Dürrenmatt sollte den persönlichen Hintergrund des
Schreibers erkennen lassen und auf der einen Seite durchaus persönliche Akzente
setzen, auf der anderen Seite um Begründungen sachlicher Art bemüht sein. Es sei
besonders betont, dass sowohl die stilistische Gestaltung als auch die inhaltliche
Anlage des Schreibens offen sind.
Gliederung
1
Lange Tradition dramentheoretischer Schriften
2
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2.1.1
2.1.2
2.2
2.2.1
2.2.2
2.3
Vergleichende Analyse der Textausschnitte
Argumentation
Friedrich Dürrenmatt
Bertolt Brecht
Sprachliche Gestaltung
Friedrich Dürrenmatt
Bertolt Brecht
Wesentliche Unterschiede im Hinblick auf die Weltsicht der beiden Autoren
3
Offener Brief an Friedrich Dürrenmatt: Stellungnahme zu der im Text
„Theaterprobleme“ zum Ausdruck kommenden Weltsicht und Erwartungen
an ein zeitgemäßes Theater
Stellungnahme zur Weltsicht des Autors
Erwartungen an ein zeitgemäßes Theater
Realitätsbezug
Provokation
Erschütterung
Nachdenklichkeit, Reflexion
Unterhaltung / Ablenkung – Spott / Schadenfreude
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3.2
3.2.1
3.2.2
3.2.3
3.2.4
3.2.5
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Lösungsvorschlag
Seit der Aufklärung war es üblich, dass sich Autoren in theoretischen Schriften
mit den Möglichkeiten und Aufgaben dramatischer Werke auseinandersetzten. Hier seien nur Gotthold Ephraim Lessing (Briefe die neueste Literatur
betreffend), Friedrich Schiller (Über die ästhetische Erziehung des Menschen),
Friedrich Hebbel (Ein Wort über das Drama) und Georg Büchner (Brief an
die Familie vom 28. 7. 1835) genannt. In der neueren deutschsprachigen Literatur war es insbesondere Bertolt Brecht, der die Diskussion mit seiner Theorie des epischen Theaters und den damit zusammenhängenden grundsätzlichen
Fragen zur Funktion des modernen Dramas beziehungsweise der modernen
Literatur maßgeblich beeinflusste. Aber auch Autoren wie die beiden Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt sowie Peter Handke, Botho Strauß
oder Heiner Müller, um nur einige zu nennen, äußerten sich mehrfach, gelegentlich auch auf streitbare Weise, zu den Aufgaben des Theaters. Die beiden
vorliegenden Texte markieren wesentliche Positionen innerhalb der Theorie
des modernen Dramas.
1
In seinem Text Theaterprobleme geht Dürrenmatt auf die Möglichkeiten des
Theaters seiner Zeit ein. Nach einer allgemeinen Definition der Aufgabe von
Kunst und der Behauptung, dieser Aufgabe könne vor allem die Komödie gerecht werden (Z. 1– 3), belegt der Autor diese These, indem er sich zu wesentlichen Voraussetzungen der Tragödie und Komödie, bezogen auf den Zustand der abzubildenden Wirklichkeit, äußert (Z. 3 –10). Im Anschluss erweitert
Dürrenmatt seine Ausführungen, warum die Tragödie der Welt des 20. Jahrhunderts nicht mehr gerecht werden kann: Diese Dramenform bilde Menschen
ab, die Schuld bzw. Verantwortung tragen. Für Dürrenmatt gibt es jedoch in
seinem Jahrhundert nur noch kollektiv Schuldige, es sei denn, greifbare, also
individuelle Schuld komme als „persönliche Leistung“ oder „religiöse Tat“
(Z. 17 f.) zustande (Z. 11 –18). Eine Welt, die so „gesichtslos[ ]“ (Z. 21) geworden ist, kann nach Dürrenmatt nur durch die Komödie künstlerische Gestalt
erhalten, wobei er die Komödie ganz nah an das Groteske heranrückt. Die Notwendigkeit einer Kunstgattung des Grotesken, der Komödie, leitet er daraus ab,
dass das Groteske und das Paradoxe unser Denken und unsere Welt insgesamt
bestimmen. Die apokalyptischen Bilder von Hieronymus Bosch sind ein Beispiel für die Widerspiegelung einer grotesken Welt in der Kunst, die Erfindung
der Atombombe belegt den grotesken Zustand unserer Welt (Z. 18 –24).
Im letzten Abschnitt des Textes (Z. 25 – 37) räumt Dürrenmatt ein, dass auch
außerhalb der Tragödie noch Tragisches zum Ausdruck kommen könne. Er
belegt dies am Beispiel von Shakespeares Komödien. Deshalb muss die Komödie noch lange nicht pure Verzweiflung über den Zustand der Welt widerspiegeln, sondern sie kann auch als Versuch verstanden werden, Distanz zu
gewinnen und nicht kampflos zu resignieren.
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