Afghanistan: Eine lange Erfahrung mit Interventionen

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International, Zeitschrift für internationale Politik, Wien. Nr. 2 / 1981
Christian Reder
Afghanistan: Eine lange Erfahrung mit Interventionen
Nach eineinhalb Jahren direkter sowjetischer „Befriedungsbemühungen“ ist es dem
Widerstand immerhin gelungen, unter schweren Opfern eine Patt-Situation zu halten.
Vieles spricht dafür, dass erst die spontan um sich greifende, durch ein brutale
Regierungspolitik und später durch das sowjetische Eingreifen provozierte Auflehnung
fast der gesamten Bevölkerung zu einer verstärkten Identifikation mit gemeinsamen mit afghanischen - Interessen führt.
Die derzeitigen Gegensätze basieren nicht so sehr auf ideologischen Feindseligkeiten,
sondern auf konkreten persönlichen Erfahrungen. Monatelang man der Politik Tarakis
abwartend zugesehen. Erst als es zu Verhaftungswellen kam, erst als dessen
„Revolution per Dekeret“ als unverstandene, negative Eingriffe in die eigene
AlItäglichkeit begriffen wurden, als die staatlichen Maßnahmen zum Zusammenbruch
fest
verankerter
Systeme
führten
(Agrarkredite,
Saatgutlagerung,
Bewässerungssysteme, u. ä.), ohne den vorher Benachteiligten Vorteile zu bringen, erst
dann kam es zu Kettenreaktion eines Volkswiderstandes, der das ganze Land erfasste.
Und mit zunehmender Brutalität der Repressalien (Bombenkrieg, Folterungen,
Massenerschießungen) eskalierten Kampf, die gegenseitig verübten Grausamkeiten
und die Fluchtbewegung.
Auch Kabul hat seinen Revolutionsversuch immer nur verschämt als sozialistisch
bezeichnet, offenbar um verbal den eigenen Weg zu betonen. In der Bevölkerung ist
aber inzwischen die gesamte damit in Zusammenhang stehende Terminologie ein Tabu.
Dies ist mit ein wichtiger Grund dafür, daß die interne und die internationale
Verständigung über politische Vorstellungen auf so starke Schwierigkeiten stößt. Wenn
in der Sprache das gewohnte Links-Rechts-Schema verlassen wird und neue oder
neutrale Begriffe Verwendung finden, haben „wissende“ Beobachter schnell den
Vorwand zur Hand, dass es sich ausschließlich um reaktionäre, feudale oder politisch
naive Bewegungen handeln kann, was aber nicht stimmt. Auch in der Kommunikation
wird durch solche Auffassungen eine Isolation provoziert, ausbaufähige Traditionen und
Verhaltensformen werden von außen nicht zur Kenntnis genommen, eigenständige
Entwicklungsmöglichkeiten finden keine Unterstützung.
Daß der Widerstand chaotische und politisch unorganisierte Züge hat, ist angesichts der
Sozialstrukturen verständlich. Zentralgewalten wird seit jeher mißtraut , der
Widerstandskampf ist primär ein lokaler und regionaler, eine Selbstverteidigung von
Dorf- und Stammesgemeinschaften, aber gerade dadurch sehr wirksam. Die etwa
zwanzig ethnischen Gruppen des Landes, festgefügte, oft von Tal zu Tal stark
abweichende Hierarchie- und Besitzverhältnisse und eine sich erst seit den 60er Jahren
langsam vertiefende Politisierung schaffen jedoch Bedingungen, die auch für den
Widerstand schwer überwindbar sind. Veränderungen haben aber bereits begonnen,
traditionell verfeindete Gruppen schließen sich zusammen, aufs Land geflüchtete
Städter und Mitglieder der Intelligenz werden integriert, vereinzelt beginnen auch Frauen
Waffen zu tragen.
Das fest verankerte Ratsversammlungssystem der Djirgas bekommt neue Inhalte und
wird ausgebaut. Sowohl die eigene Praxis, wie sich schrittweise herausbildende Ziele
sind mehrheitlich auf demokratische Formen gerichtet. Appelle im Sinne einer Rückkehr
zu Zuständen vor 1978 finden kaum ein Echo. Mit den überwiegend neu gegründeten
Exilparteien in Pakistan haben die Widerstandsgruppen im Lande eine mißtrauische bis
feindselige Beziehung. Sie werden zu Recht der Verfolgung undurchsichtiger eigener
Absichten und der Geschäftemacherei beschuldigt. Daß gerade sie die
Auslandskontakte an sich gerissen haben, wird als Tragik empfunden, da so ein
manipuliertes Bild der inneren Zustände an die Öffentlichkeit gelangt und Hilfsgüter in
die falschen Kanäle geleitet werden. Der Widerstand im Lande selbst ist aber aufgrund
seiner dezentralen Organisation derzeit nicht in der Lage, in diesem System
internationaler Kontaktanknüpfung mitzuspielen, weil ihm die Erfahrungen, die Mittel und
die anerkannten Repräsentanten fehlen. Deshalb ist auch bisher fast keine
ausländische Unterstützung bis zu ihm gelangt. Die Verteilung von Geld und Waffen
wird von den islamischen Exilparteien kontrolliert und zum Ausbau der eigenen
Machtstellung benutzt. Ihre relativ gut ausgerüsteten Parteimilizen kämpfen zwar in den
grenznahen Gebieten, werden aber als Keile in der unorganisierten nationalen
Widerstandsfront empfunden. Vorrangig versuchen sie jedoch unter den 1,5 Millionen
Flüchtlingen in Pakistan durch den Einfluß auf die Hilfsgüterverteilung genügend
Mitglieder für eine Legitimation der eigenen Machtstellung zu bekommen.
Auch die vordergründige - und von den westlichen Medien plötzlich anscheinend
verständnisvoll aufgegriffene - Interpretation des Widerstandes als Teil der islamischen
Revolution ist als Auswirkung dieses Macht und Profilierungsstrebens und nicht so sehr
als eine Konsequenz von religiösen Anliegen der Bevölkerung zu sehen. Im
überwiegend sunnitischen Afghanistan hat der Klerus keine dem schiitischen Iran
vergleichbare Macht, auch nicht, seit er innerhalb der Opposition seine Stellung
ausbauen konnte Der Islam prägt zwar die Lebensformen und wird als verbindende
Identifikationsgrundlage und als Möglichkeit zu einer antikolonialistischen Selbstfindung
verstanden, spielt aber keineswegs im Widerstand jene tragende Rolle, die ihm in der
Mehrheit der Berichte zugeordnet wird.
Afghanistan ist nicht das abgeschlossene Bergland, als das es im Sinne eines
Kulturreservates gerne gesehen wird. Vermutlich gibt es nur wenige Gebiete, in denen
die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Stufen von Fremdherrschaft unter
gleichzeitiger Wahrung starker Eigenständigkeit soweit zurückreicht und die
Verhaltensweisen bis heute geprägt hat. Bis zur Verlagerung des Fernhanhandels von
den Karawanenstraßen auf den Seeweg im 16. Jahrhundert war es ein Knotenpunkt
internationaler Beziehungen, und auch später sind diese Verbindungen nie völlig
abgestorben. Eroberer kamen hauptsächlich aus dem Westen (Perser, Alexander,
Sassaniden, Araber) und aus dem Norden (Saken, Hunnen, Mongolen). Selbständige
Staaten gab es auf dem Gebiet des heutigen Afghanistan immer nur vorübergehend, in
Form des gräko-baktrischen Reiches (rd. 200 Jahre vor und nach unserer Zeitwende)
oder der Ghasnawiden-Herrschaft (um 1000). „Afghanische“ Dynastien herrschten eine
zeitlang in Indien und auch in Persien. Einmal gehörte d as Land zum „Westen“, zu
persischen oder arabischen Staatsgebilden, einmal zum „Osten“, zum Gupta-,
Timuriden- und Moghulreich. Gründungsdatum des heutigen Afghanistan ist das Jahr
1747. Damals wurde der für kurze Zeit zwischen Isfahan und Delhi herrschende Türke
Nadir Schah ermordet, und der Führer seiner afghanischen Hilfstruppen – die euch den
Pfauenthron der späteren persischen Schahs in Indien erobert hatten – nutzte das
entstandene Machtvakuum und begründete als Ahmed Shah Durrani das selbständige
Afghaistan der Neuzeit.
Die 234 seither vergangenen Jahre liefern ein exemplarisches Beispiel für hegemoniale
Einflüsse auf ein sonst kaum zur Kenntnis genommenes Land. Außer dem Lapislazuli,
den schon das alte Ägypten aus dem Hindukusch bezog, lieferten nur die Tribute der
Bauer und einer äußerst schmalen Schicht von Feudalherren und Händlern einen
materiellen Anreiz für Eroberer. Trotzdem blieb dieses unwegsame Hochgebirgs- und
Steppenland bis heute umstritten und dem Kampf um Einflusssphären unterworfen.
Im Westen Afghanistans gerieten immer wieder Gebiete unter persische Kontrolle, und
bis heute sind die Sozialstrukturen dort wesentlich starrer als in den
autonomiegewohnten Ostgebieten. Ein in unserem Sinn westlicher Einfluß wurde erst in
diesem Jahrhundert spürbar, nach der kolonialen Erschließung des persischen Golfes
und des Irans, und als im Lande selbst erste Reform- und Industrialisierungsversuche
gestartet wurden. In Spekulationen über die Sicherung des Zugriffs zum Öl und des
Weges nach Indien begann Afghanistan eine periphere Rolle zu spielen. Deutschland
paktierte mit dem osmanischen Reich, sandte Agenten nach Kabul, der Bau der
Bagdad-Bahn wurde begonnen.
Im Osten des Landes kam das Moghulreich zunehmend unter die Kontrolle der (1600
gegründeten) britischen Ostindischen Handelskompanie, und daraus entwickelte sich
die erste direkte Konfrontation mit kolonialen Interessen. Beide wurden nach
Niederwerfung des großen indischen Aufstandes von 1857/58 formal aufgehoben und
Indien zum Gebiet der englischen Krone erklärt, bis es zugleich mit Pakistan 1947 seine
staatliche Unabhängigkeit durchsetzen konnte.
In China, zu dem über die Seidenstraße und die kurze gemeinsame Grenze in Sinkiang
lange zurückreichende Beziehungen bestehen, hatte sich zur Zeit der Staatsgründung
Afghanistans die Herrschaft der letzten, bis 1911 regierenden Mandschu-Dynastie unter
Ausrottung weiter Bevölkerungsteile gefestigt. Hundert Jahre später begann mit dem
Eingreifen von Europäern, Japanern und Amerikanern der Zusammenbruch dieser
Phase chinesischer Entwicklung.
Rußland war seit Peter dem Großen (1682-1725) zur zunehmend europäisierten
Großmacht geworden. Nach der kolonialen Erschließung der sibirischen Taiga und den
ersten Zusammentreffen und Grenzverträgen mit den Chinesen (um 1700) wurden auch
die südlichen Steppen seiner Oberhoheit unterworfen. Die zentralasiatischen Khanate
kamen ab 1730/40 unter seine Herrschaft, immer wieder wurden militärische Vorstöße
in Richtung Afghanistan unternommen. Mit dem Fall der alten Oasenstadt Merw im
Jahre 1884, neben Samarkand und Buchara ein Zentrum zentralasiatischer Kulturen,
waren etwa die heutigen Grenzen erreicht.
In Europa hatten sich zur Zeit der afghanischen Staatsgründung Österreich (Maria
Theresia 1717 – 1780) und Preußen zu Großmächten entwickelt. Frankreich bewegte
sich unter den fünfzehnten und sechzehnten Ludwigs der Revolution entgegen.
Großbritannien baute sein Weltreich aus. Nach der Unabhängigkeit der Veinigten
Staaten von Nordamerika und den Staatenbildungen in Südamerika verlagerten sich die
Schwerpunkte direkter kolonialer Bestrebungen auf Afrika und Asien. Wahrscheinlich
war das 18. Jahrhundert - jener Zeitraum, ab dem das neu entstandene Afghanistan von
Großmächten eingekreist wurde - noch eine Phase, in der die Lebensumstände der
Menschen global ähnlich waren, und deshalb ist s wichtig, die seither abgelaufenen
Entwicklungen auch aus regionaler Sicht immer wieder neu zu analysieren.
Schon im frühen 19. Jahrhundert stießen Großbritannien und Rußland beim Versuch
aufeinander, das Land in ihren eigenen Einflußbereich zu integrieren. Rußland war
offensichtlich politisch noch zu schwach, England schickte seine Armeen (siehe Tabelle:
Afghanistan. Daten zur neueren Geschichte), konnte sich aber letztlich auch nicht im
angestrebten Ausmaß durchsetzen. In diesem Zusammenhang ist auf das Beispiel
Abessiniens zu verweisen, das sich ebenfalls, als seltene Ausnahme, bis in dieses
Jahrhundert einer direkten Fremdherrschaft entziehen konnte.
Schließlich wurde die staatliche Unabhängigkeit erkämpft (1919), der englische Einfluß
abgeschüttelt, mit der jungen Sowjetunion ein Freundschaftsvertrag geschlossen und
der - schon im ersten Weltkrieg eingeschlagene - Neutralitätskurs mit phasenweisen
Schwankungen durchgehalten. In den 50er Jahren gab die UdSSR Militär- und
Wirtschaftshilfe und die USA ebenso, ohne daß die politischen Strukturen davon
irgendwie beeinflußt wurden. 1960 weigerte sich Premierminister Daud, dem CENTOPakt beizutreten, einem westlichen Verteidigungsbündnis, dem die Türkei, der Iran und
Pakistan angehörten. Die USA stoppten daraufhin die Militärhilfe und setzten voll auf
Pakistan, dem durch die wieder aktualisierte Paschtunenfrage erneut zum Erbfeind
gewordenen Nachbarn (von dessen Militärbasen aus z. B. auch die U-2 Spionageflüge
über die UdSSR gestartet wurden). Seit den 60er Jahren geriet das afghanische Militär
zunehmend unter sowjetischen EinfIuß, die UdSSR - konzentriert auf den Norden –
erschloß Erdgasvorkommen, baute strategisch wichtige Straßen, Wasserkraftwerke und
Industrieanlagen. Die USA zogen dann - überwiegend im Süden - teilweise wieder nach,
und auch die Bundesrepublik finanzierte großangelegte Entwicklungshilfeprojekte. Ende
der 60er und Anfang der 70er Jahre kam auch aus China ökonomische Unterstützung.
Die sozialen Verhältnisse blieben fast unverändert. Die meisten ausländischen Projekte,
die sowjetischen Berater, die westlichen Experten und die jahrelang durchziehenden
Indien-Ausflipper verbinden die Afghanen heute mit negativen Erfahrungen.
Überwiegend im Untergrund kam es zu einer verstärkten Politisierung kleiner Gruppen
und zu Parteigründungen. Die Forderung nach mehr demokratischen Rechten führte
schließlich 1965 zu großen, militärisch niedergeschlagenen Massendemonstrationen.
Durch die Verschärfung politischer Gegensätze, die Arbeit parteiähnlicher Gruppen,
durch die bei Auslandsaufenthalten gewonnenen Erfahrungen vieler Studenten und
durch die dürrebedingten Hungerkatastrophen von 1971/72 spitzte sich die Lage immer
mehr zu.
1973 stürzte der frühere Premierminister Daud seinen Vetter und Schwager König Zahir
und rief die Republik aus, unterstützt von maßgeblichen Kreisen der ihn später
bekämpfenden Demokratischen Volkspartei und der Sowjetunion. Aber auch in den
folgenden fünf Jahren wurde keine der notwendigen Strukturreformen durchgesetzt.
Daud brache, rasch die Orthodoxen, die Nicht-Paschtunen und die sich vielfältig
formierende Linke gegen sich auf. Die republikanischen Hoffnungen Vieler waren rasch
begraben, außerhalb der Städte nahm kaum jemand Notiz von den Ereignissen.
1978 putscht die Armee, befreit die Oppositionspolitiker aus dem Gefängnis, Daud wird
getötet, Taraki (Demokratische Volkspartei) übernimmt die Macht und verkündet die
große „Saur-(April-)Revolution“. Seine Reformversuche scheitern, im Herbst 1979 setzt
sich der zweite Mann Amin an seint Stelle. Taraki wir getötet und drei Monate danach
(Ende Dezember 1979) marschiert die sowjetische Armee ein. Jetzt wird Amin getötet
und Babrak Karmal eingesetzt, ohne daß seither eine Konsolidierung der Lage erreicht
worden wäre. Inzwischen haben die führenden Kräfte des April 78 sich in internen
Machtkämpfen weitgehend gegenseitig ausgerottet und die schmale Schicht der
Intelligenz radikal dezimiert. Ihre Reste sehen sich einem Volkskrieg gegenüber, der
bisher trotz angespanntester Versorgungslage nicht erlahmt.
Unter den Betroffenen selbst gibt es über die Absichten der Sowjetunion grundsätzlich
zweierlei Überlegungen. Einerseits nimmt man an, daß die UdSSR das wankende,
außerordentlich brutale, möglicherweise schon von ihr abrückende Regime Amins durch
ihre Intervention unter Wahrung einer „sozialistischen“ Linie entfernen wollte. Manche
gestehen ihr sarkastisch sogar zu, daß sie das tun „musste“, wenn sie errungene
Einflusspositionen nicht verlieren und die Kontrolle über ein ausartendes Regime
zurückgewinnen wollte. Diesbezüglich decken sich sogar teilweise die Interpretationen –
wenn auch nicht das Verständnis dafür - auf beiden Seiten, da auch Moskau nur von
einer vorübergehenden brüderlichen Hilfsaktion spricht, die fortschrittliche Kreise in
Kabul erbeten hatten. Trotz der lange zurückreichenden sowjetischen Einflußnahmen
spricht einiges dafür, daß nicht ein geplantes langfristiges Programm abgelaufen ist, und
wenn doch, dann mit einer Reihe von Pannen und chaotischen Akzenten. Ein
momentanes Übergewicht der Militärs im Kreml, die Furcht vor einem Übergreifen der
islamischen Bewegung und vor einem Abfall Amins oder auch die Ermordurig
zahlreicher sowjetischer Berater hat möglicherweise zu einer ungeplanten Überreaktion
geführt, aus der es nur schwer ein Zurück gibt.
Neben dieser einleuchtenden „Kettenreakions-These“ spricht aber trotzdem einiges für
die „These der Langfrist-Strategie“; vermutlich trifft von beiden etwas zu. Afghanistan ist
für die Sowjetunion als unmittelbares - vor 1978 praktisch neutrales - Grenzland
interessant, als Durchgangsland zum Süden, zum warmen Meer, als Schlüsselstellung
im unruhigen Ge iet zwischen Indien und dem Nahen Osten. Schon unter den Zaren
gab es immer wieder Bemühungen um einen entsprechenden Einfluß, und auch später
waren sie, mehr oder weniger stark, immer gegenwärtig. Nach dem letzten Weltkrieg
setzte die Sowjetunion aber eher auf eine „Balkanisierung“ der Region, auf die indirekte
Kontrolle von Separatismusbewegungen (Paschtunen, Belutschen) und nicht auf ein
direktes Eingreifen. Solange der lran und Pakistan provokantes Aufrüstungsland der
USA waren, blieb der sowjetische Einfluß in Afghanistan ostentativ zurückhaltend, es
wurden eher mit nationalen Oppositionsgruppen Kontakte geknüpft. Auch wenn diese
offensichtlich heute von den Sowjets abgerückt sind, so werden doch noch der
pakistanischen People's Party des hingerichteten All Bhutto oder den Belutschen
weiterhin derartige Kontakte nachgesagt. Und das stimmt wieder mit der ziemlich
sowjetfreundlichen Haltung Indirah Gandhis zusammen, die sich als einer der wenigen
Vertreter blockfreier Staaten in der Afghanistanfrage neutral verhält. Im Iran dürfte die
UdSSR in jüngster Zeit nicht allzuviel Kredit genießen, auch wenn die Anti-USStimmung mehr Publizität erlangt hat. In der Einschätzung der Situation durch lokale
informierte Gesprächspartner hat jedenfalls eine Furcht vor sowjetischer Ausdauer und
Unbeirrbarkeit einen hohen Stellenwert. „Die Russen stehen jetzt am Khyber-Paß und
an der persischen Wüste, und vor ihnen liegen die großen Ebenen; sie können warten,
bis sich Pakislan, Indien der im Iran eine direkte Chance für sie ergibt", solche
Vermutungen habe ich oft gehört. Um die Lage nicht noch anzuheizen, werden zum
Beispiel auch die zahlreichen sowjetischen Luftraumverletzungen und Bombardements
von Flüchtlingslagern in Pakistan seitens der pakistanischen Regierung
heruntergespielt.
Was die USA - auch seit der markigen Erklärungen von Präsident Reagan - tatsächlich
in Afghanistan an Unterstützung leisten, bleibt selbst den Widerstandskämpfern unklar.
Ägypten liefert und auch die Saudis liefern, und das meiste bleibt in Pakistan und bei
den Exilparteien hängen.
Afghanistan ist zu einem Schauplatz geworden, auf dem eine schwer einzuordnende
„Dritte-Welt-Situation“ abläuft. Zur Zeit zeichnen sich kaum konkrete Hoffnungen ab.
Trotzdem sieht die Mehrheit der Afghanen nur im Widerstand eine Chance - wenn auch
eine sehr ferne.
Afghanistan: Daten zur neueren Geschichte
1747 Gründung des Königreichs Afghanistan unter Ahmed Shah Durrani; Russen,
Perser und Briten beanspruchen Gebiete und politischen Einfluß.
1809 Vertrag von Kalkutta mit den Briten; als Preis für die politische Anerkennung soll
Agfhanistan einer von Napoleon angedrohten Armee gegen Indien den Durchmarsch
verweigern.
1858-842 Erster britisch-afghanischer Krieg; um Verhandlungen mit ein russischen
Gesandtschaft zu torpedieren, erobert eine britische Armee Kabul; ein Volksaufstand
erzwingt ihren Rückzug und sie wird vollständig aufgerieben.
1878-1879 Zweiter britisch-afghanischer Krieg; nach Gebietsabtretungen an Rußland
und Anerkennung der Nordgrenze wird eine russische Gesandtschaft in Kabul
empfangen, eine britische aber zurückgewiesen; daraufhin erobert eine britische Armee
große Gebiete im Osten („Paschtunistan") und im Süden (Belutschistan), Afghanistan
muß im Vertrag von Gandamak zusichern, seine Außenpolitik britischen Interessen
unterzuordnen; die Mitglieder der britischen Mission in Kabul überleben nur wenige
Wochen; nach dem Selbstverständnis der Afghanen endet auch dieser Krieg mit einem
Sieg; das Land wird aber erneut zu einem Pufferstaat unter englischem Einfluß, der
auch von Russland anerkannt ist.
1893 Festlegung der heutigen Ostgrenze (Durand-Linie), die großen Gebiete der
Paschtunen östlich des Khyber-Passes fallen an Indien
1917 Lenin erklärt, „das neue Sowjetrußland reicht allen Völkern des Ostens und vor
allem dem afghanischen Volk die Hand der Freundschaft und Brüderlichkeit“, und
kündigt das englisch-russiche Abkommen auf, in dem das Zarenreich die Kontrolle
Großbritanniens über die afghanische Außenpolitik anerkannt hatte.
1919 Dritter britisch-afghanischer Krieg; nach militärischen und diplomatischen Erfolgen
wird die staatliche Unabhängigkeit Afghanistans durchgesetzt.
1919-1929 Emir Amanullah versucht innere Reformen, ein wirtschaftIiche und kulturelle
Öffnung des Landes. In den Zwanziger-Jahr starker Flüchtlingsstrom aus den
angrenzenden Sowjetrepubliken.
1921 Abkommen mit der UdSSR über miIitärische Unterstützung und Aufnahme von
Handelsbeziehungen.
1951 Neutralitäts- und Nichtangriffspakt zwischen Afghanistan und der UdSSR.
1933-1973 Herrschaft von Zahir Shah; Machtausübung durch eingesetzte Regenten –
Hashim Khan, Shah Mamud, Prinz Daud (1953-1963); das Land bleibt im Zweiten
Weltkrieg, wie im Ersten, neutral; nach dem letzten Krieg insbesonders Einfluß der
UdSSR, der USA, der Bundesrepublik und Chinas (Entwicklungshilfe)-
1960 Premierminister Daud lehnt den Beitritt zum CENTO-Pakt ab (einer Erweiterung
des westlichen Bündnissystems als Nachfolge des Bagdad-Paktes – Türkei, Iran,
Pakistan); USA stoppen Militärhilfe. Annäherung an die UdSSR
1965
Erste
„freie“
Wahlen
zum
Parlament;
Niederschlagung
von
Massendemonstrationen in Kabul und anderen Städten, Erstarken oppositioneller
Bewegungen und politischer Parteien (Moslembruderschaft, Demokratische Volkspartei
mit Khalk- und Parcham-Flügel, linke und liberale Gruppen); Einfluß westlicher
Wirtschafts- und Kulturpolitik; Militär gerät unter starken sowjetischen Einfluß
1971/72 Hungerkatastrophe mit vermutlich mehreren hunderttausend Toten infolge
extremer Dürreperiode
1973 Sturz der Monarchie durch Daud, Ausrufung der Republik Afghanistan,; anfangs
Unterstützung durch Khalk- (Taraki) und Parcham- (Karmal) Partei sowie die UdSSR,
später erneute Westorientierung
1975 Verlängerung des Neutralitäts- und Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion um
weitere zehn Jahre
1978 Militärputsch, Machtübernahme Tarakis („Große Saur-Revolution“), Versuch der
Reform von Agrar-, Schul- und Rechtswesen, Beginn des Widerstandes
1979 Eskalation von Militärmaßnahmen und Widerstand; der Vizeministerpräsident
Amin stürzt Taraki; Ende Dezember Einmarsch sowjetischer Truppen und Sturz Amins,
Babrak Karmal übernimmt die Macht
198ß Massive Ausweitung der Kämpfe; Bombenkrieg und hohe Verluste der
Zivilbevölkerung; die UNO-Resolution über den sofortigen Abzug aller ausländischen
Truppen wird vom Veto der UdSSR blockiert; bis zum Jahresende steigt die Zahl der
Flüchtlinge inPakistan und im Iran auf über zwei Millionen an (Gesamtbevölkerung: rd.
15 Millionen).
© Christian Reder 1981
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