International, Zeitschrift für internationale Politik, Wien. Nr. 2 / 1981 Christian Reder Afghanistan: Eine lange Erfahrung mit Interventionen Nach eineinhalb Jahren direkter sowjetischer „Befriedungsbemühungen“ ist es dem Widerstand immerhin gelungen, unter schweren Opfern eine Patt-Situation zu halten. Vieles spricht dafür, dass erst die spontan um sich greifende, durch ein brutale Regierungspolitik und später durch das sowjetische Eingreifen provozierte Auflehnung fast der gesamten Bevölkerung zu einer verstärkten Identifikation mit gemeinsamen mit afghanischen - Interessen führt. Die derzeitigen Gegensätze basieren nicht so sehr auf ideologischen Feindseligkeiten, sondern auf konkreten persönlichen Erfahrungen. Monatelang man der Politik Tarakis abwartend zugesehen. Erst als es zu Verhaftungswellen kam, erst als dessen „Revolution per Dekeret“ als unverstandene, negative Eingriffe in die eigene AlItäglichkeit begriffen wurden, als die staatlichen Maßnahmen zum Zusammenbruch fest verankerter Systeme führten (Agrarkredite, Saatgutlagerung, Bewässerungssysteme, u. ä.), ohne den vorher Benachteiligten Vorteile zu bringen, erst dann kam es zu Kettenreaktion eines Volkswiderstandes, der das ganze Land erfasste. Und mit zunehmender Brutalität der Repressalien (Bombenkrieg, Folterungen, Massenerschießungen) eskalierten Kampf, die gegenseitig verübten Grausamkeiten und die Fluchtbewegung. Auch Kabul hat seinen Revolutionsversuch immer nur verschämt als sozialistisch bezeichnet, offenbar um verbal den eigenen Weg zu betonen. In der Bevölkerung ist aber inzwischen die gesamte damit in Zusammenhang stehende Terminologie ein Tabu. Dies ist mit ein wichtiger Grund dafür, daß die interne und die internationale Verständigung über politische Vorstellungen auf so starke Schwierigkeiten stößt. Wenn in der Sprache das gewohnte Links-Rechts-Schema verlassen wird und neue oder neutrale Begriffe Verwendung finden, haben „wissende“ Beobachter schnell den Vorwand zur Hand, dass es sich ausschließlich um reaktionäre, feudale oder politisch naive Bewegungen handeln kann, was aber nicht stimmt. Auch in der Kommunikation wird durch solche Auffassungen eine Isolation provoziert, ausbaufähige Traditionen und Verhaltensformen werden von außen nicht zur Kenntnis genommen, eigenständige Entwicklungsmöglichkeiten finden keine Unterstützung. Daß der Widerstand chaotische und politisch unorganisierte Züge hat, ist angesichts der Sozialstrukturen verständlich. Zentralgewalten wird seit jeher mißtraut , der Widerstandskampf ist primär ein lokaler und regionaler, eine Selbstverteidigung von Dorf- und Stammesgemeinschaften, aber gerade dadurch sehr wirksam. Die etwa zwanzig ethnischen Gruppen des Landes, festgefügte, oft von Tal zu Tal stark abweichende Hierarchie- und Besitzverhältnisse und eine sich erst seit den 60er Jahren langsam vertiefende Politisierung schaffen jedoch Bedingungen, die auch für den Widerstand schwer überwindbar sind. Veränderungen haben aber bereits begonnen, traditionell verfeindete Gruppen schließen sich zusammen, aufs Land geflüchtete Städter und Mitglieder der Intelligenz werden integriert, vereinzelt beginnen auch Frauen Waffen zu tragen. Das fest verankerte Ratsversammlungssystem der Djirgas bekommt neue Inhalte und wird ausgebaut. Sowohl die eigene Praxis, wie sich schrittweise herausbildende Ziele sind mehrheitlich auf demokratische Formen gerichtet. Appelle im Sinne einer Rückkehr zu Zuständen vor 1978 finden kaum ein Echo. Mit den überwiegend neu gegründeten Exilparteien in Pakistan haben die Widerstandsgruppen im Lande eine mißtrauische bis feindselige Beziehung. Sie werden zu Recht der Verfolgung undurchsichtiger eigener Absichten und der Geschäftemacherei beschuldigt. Daß gerade sie die Auslandskontakte an sich gerissen haben, wird als Tragik empfunden, da so ein manipuliertes Bild der inneren Zustände an die Öffentlichkeit gelangt und Hilfsgüter in die falschen Kanäle geleitet werden. Der Widerstand im Lande selbst ist aber aufgrund seiner dezentralen Organisation derzeit nicht in der Lage, in diesem System internationaler Kontaktanknüpfung mitzuspielen, weil ihm die Erfahrungen, die Mittel und die anerkannten Repräsentanten fehlen. Deshalb ist auch bisher fast keine ausländische Unterstützung bis zu ihm gelangt. Die Verteilung von Geld und Waffen wird von den islamischen Exilparteien kontrolliert und zum Ausbau der eigenen Machtstellung benutzt. Ihre relativ gut ausgerüsteten Parteimilizen kämpfen zwar in den grenznahen Gebieten, werden aber als Keile in der unorganisierten nationalen Widerstandsfront empfunden. Vorrangig versuchen sie jedoch unter den 1,5 Millionen Flüchtlingen in Pakistan durch den Einfluß auf die Hilfsgüterverteilung genügend Mitglieder für eine Legitimation der eigenen Machtstellung zu bekommen. Auch die vordergründige - und von den westlichen Medien plötzlich anscheinend verständnisvoll aufgegriffene - Interpretation des Widerstandes als Teil der islamischen Revolution ist als Auswirkung dieses Macht und Profilierungsstrebens und nicht so sehr als eine Konsequenz von religiösen Anliegen der Bevölkerung zu sehen. Im überwiegend sunnitischen Afghanistan hat der Klerus keine dem schiitischen Iran vergleichbare Macht, auch nicht, seit er innerhalb der Opposition seine Stellung ausbauen konnte Der Islam prägt zwar die Lebensformen und wird als verbindende Identifikationsgrundlage und als Möglichkeit zu einer antikolonialistischen Selbstfindung verstanden, spielt aber keineswegs im Widerstand jene tragende Rolle, die ihm in der Mehrheit der Berichte zugeordnet wird. Afghanistan ist nicht das abgeschlossene Bergland, als das es im Sinne eines Kulturreservates gerne gesehen wird. Vermutlich gibt es nur wenige Gebiete, in denen die Auseinandersetzung mit den verschiedensten Stufen von Fremdherrschaft unter gleichzeitiger Wahrung starker Eigenständigkeit soweit zurückreicht und die Verhaltensweisen bis heute geprägt hat. Bis zur Verlagerung des Fernhanhandels von den Karawanenstraßen auf den Seeweg im 16. Jahrhundert war es ein Knotenpunkt internationaler Beziehungen, und auch später sind diese Verbindungen nie völlig abgestorben. Eroberer kamen hauptsächlich aus dem Westen (Perser, Alexander, Sassaniden, Araber) und aus dem Norden (Saken, Hunnen, Mongolen). Selbständige Staaten gab es auf dem Gebiet des heutigen Afghanistan immer nur vorübergehend, in Form des gräko-baktrischen Reiches (rd. 200 Jahre vor und nach unserer Zeitwende) oder der Ghasnawiden-Herrschaft (um 1000). „Afghanische“ Dynastien herrschten eine zeitlang in Indien und auch in Persien. Einmal gehörte d as Land zum „Westen“, zu persischen oder arabischen Staatsgebilden, einmal zum „Osten“, zum Gupta-, Timuriden- und Moghulreich. Gründungsdatum des heutigen Afghanistan ist das Jahr 1747. Damals wurde der für kurze Zeit zwischen Isfahan und Delhi herrschende Türke Nadir Schah ermordet, und der Führer seiner afghanischen Hilfstruppen – die euch den Pfauenthron der späteren persischen Schahs in Indien erobert hatten – nutzte das entstandene Machtvakuum und begründete als Ahmed Shah Durrani das selbständige Afghaistan der Neuzeit. Die 234 seither vergangenen Jahre liefern ein exemplarisches Beispiel für hegemoniale Einflüsse auf ein sonst kaum zur Kenntnis genommenes Land. Außer dem Lapislazuli, den schon das alte Ägypten aus dem Hindukusch bezog, lieferten nur die Tribute der Bauer und einer äußerst schmalen Schicht von Feudalherren und Händlern einen materiellen Anreiz für Eroberer. Trotzdem blieb dieses unwegsame Hochgebirgs- und Steppenland bis heute umstritten und dem Kampf um Einflusssphären unterworfen. Im Westen Afghanistans gerieten immer wieder Gebiete unter persische Kontrolle, und bis heute sind die Sozialstrukturen dort wesentlich starrer als in den autonomiegewohnten Ostgebieten. Ein in unserem Sinn westlicher Einfluß wurde erst in diesem Jahrhundert spürbar, nach der kolonialen Erschließung des persischen Golfes und des Irans, und als im Lande selbst erste Reform- und Industrialisierungsversuche gestartet wurden. In Spekulationen über die Sicherung des Zugriffs zum Öl und des Weges nach Indien begann Afghanistan eine periphere Rolle zu spielen. Deutschland paktierte mit dem osmanischen Reich, sandte Agenten nach Kabul, der Bau der Bagdad-Bahn wurde begonnen. Im Osten des Landes kam das Moghulreich zunehmend unter die Kontrolle der (1600 gegründeten) britischen Ostindischen Handelskompanie, und daraus entwickelte sich die erste direkte Konfrontation mit kolonialen Interessen. Beide wurden nach Niederwerfung des großen indischen Aufstandes von 1857/58 formal aufgehoben und Indien zum Gebiet der englischen Krone erklärt, bis es zugleich mit Pakistan 1947 seine staatliche Unabhängigkeit durchsetzen konnte. In China, zu dem über die Seidenstraße und die kurze gemeinsame Grenze in Sinkiang lange zurückreichende Beziehungen bestehen, hatte sich zur Zeit der Staatsgründung Afghanistans die Herrschaft der letzten, bis 1911 regierenden Mandschu-Dynastie unter Ausrottung weiter Bevölkerungsteile gefestigt. Hundert Jahre später begann mit dem Eingreifen von Europäern, Japanern und Amerikanern der Zusammenbruch dieser Phase chinesischer Entwicklung. Rußland war seit Peter dem Großen (1682-1725) zur zunehmend europäisierten Großmacht geworden. Nach der kolonialen Erschließung der sibirischen Taiga und den ersten Zusammentreffen und Grenzverträgen mit den Chinesen (um 1700) wurden auch die südlichen Steppen seiner Oberhoheit unterworfen. Die zentralasiatischen Khanate kamen ab 1730/40 unter seine Herrschaft, immer wieder wurden militärische Vorstöße in Richtung Afghanistan unternommen. Mit dem Fall der alten Oasenstadt Merw im Jahre 1884, neben Samarkand und Buchara ein Zentrum zentralasiatischer Kulturen, waren etwa die heutigen Grenzen erreicht. In Europa hatten sich zur Zeit der afghanischen Staatsgründung Österreich (Maria Theresia 1717 – 1780) und Preußen zu Großmächten entwickelt. Frankreich bewegte sich unter den fünfzehnten und sechzehnten Ludwigs der Revolution entgegen. Großbritannien baute sein Weltreich aus. Nach der Unabhängigkeit der Veinigten Staaten von Nordamerika und den Staatenbildungen in Südamerika verlagerten sich die Schwerpunkte direkter kolonialer Bestrebungen auf Afrika und Asien. Wahrscheinlich war das 18. Jahrhundert - jener Zeitraum, ab dem das neu entstandene Afghanistan von Großmächten eingekreist wurde - noch eine Phase, in der die Lebensumstände der Menschen global ähnlich waren, und deshalb ist s wichtig, die seither abgelaufenen Entwicklungen auch aus regionaler Sicht immer wieder neu zu analysieren. Schon im frühen 19. Jahrhundert stießen Großbritannien und Rußland beim Versuch aufeinander, das Land in ihren eigenen Einflußbereich zu integrieren. Rußland war offensichtlich politisch noch zu schwach, England schickte seine Armeen (siehe Tabelle: Afghanistan. Daten zur neueren Geschichte), konnte sich aber letztlich auch nicht im angestrebten Ausmaß durchsetzen. In diesem Zusammenhang ist auf das Beispiel Abessiniens zu verweisen, das sich ebenfalls, als seltene Ausnahme, bis in dieses Jahrhundert einer direkten Fremdherrschaft entziehen konnte. Schließlich wurde die staatliche Unabhängigkeit erkämpft (1919), der englische Einfluß abgeschüttelt, mit der jungen Sowjetunion ein Freundschaftsvertrag geschlossen und der - schon im ersten Weltkrieg eingeschlagene - Neutralitätskurs mit phasenweisen Schwankungen durchgehalten. In den 50er Jahren gab die UdSSR Militär- und Wirtschaftshilfe und die USA ebenso, ohne daß die politischen Strukturen davon irgendwie beeinflußt wurden. 1960 weigerte sich Premierminister Daud, dem CENTOPakt beizutreten, einem westlichen Verteidigungsbündnis, dem die Türkei, der Iran und Pakistan angehörten. Die USA stoppten daraufhin die Militärhilfe und setzten voll auf Pakistan, dem durch die wieder aktualisierte Paschtunenfrage erneut zum Erbfeind gewordenen Nachbarn (von dessen Militärbasen aus z. B. auch die U-2 Spionageflüge über die UdSSR gestartet wurden). Seit den 60er Jahren geriet das afghanische Militär zunehmend unter sowjetischen EinfIuß, die UdSSR - konzentriert auf den Norden – erschloß Erdgasvorkommen, baute strategisch wichtige Straßen, Wasserkraftwerke und Industrieanlagen. Die USA zogen dann - überwiegend im Süden - teilweise wieder nach, und auch die Bundesrepublik finanzierte großangelegte Entwicklungshilfeprojekte. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre kam auch aus China ökonomische Unterstützung. Die sozialen Verhältnisse blieben fast unverändert. Die meisten ausländischen Projekte, die sowjetischen Berater, die westlichen Experten und die jahrelang durchziehenden Indien-Ausflipper verbinden die Afghanen heute mit negativen Erfahrungen. Überwiegend im Untergrund kam es zu einer verstärkten Politisierung kleiner Gruppen und zu Parteigründungen. Die Forderung nach mehr demokratischen Rechten führte schließlich 1965 zu großen, militärisch niedergeschlagenen Massendemonstrationen. Durch die Verschärfung politischer Gegensätze, die Arbeit parteiähnlicher Gruppen, durch die bei Auslandsaufenthalten gewonnenen Erfahrungen vieler Studenten und durch die dürrebedingten Hungerkatastrophen von 1971/72 spitzte sich die Lage immer mehr zu. 1973 stürzte der frühere Premierminister Daud seinen Vetter und Schwager König Zahir und rief die Republik aus, unterstützt von maßgeblichen Kreisen der ihn später bekämpfenden Demokratischen Volkspartei und der Sowjetunion. Aber auch in den folgenden fünf Jahren wurde keine der notwendigen Strukturreformen durchgesetzt. Daud brache, rasch die Orthodoxen, die Nicht-Paschtunen und die sich vielfältig formierende Linke gegen sich auf. Die republikanischen Hoffnungen Vieler waren rasch begraben, außerhalb der Städte nahm kaum jemand Notiz von den Ereignissen. 1978 putscht die Armee, befreit die Oppositionspolitiker aus dem Gefängnis, Daud wird getötet, Taraki (Demokratische Volkspartei) übernimmt die Macht und verkündet die große „Saur-(April-)Revolution“. Seine Reformversuche scheitern, im Herbst 1979 setzt sich der zweite Mann Amin an seint Stelle. Taraki wir getötet und drei Monate danach (Ende Dezember 1979) marschiert die sowjetische Armee ein. Jetzt wird Amin getötet und Babrak Karmal eingesetzt, ohne daß seither eine Konsolidierung der Lage erreicht worden wäre. Inzwischen haben die führenden Kräfte des April 78 sich in internen Machtkämpfen weitgehend gegenseitig ausgerottet und die schmale Schicht der Intelligenz radikal dezimiert. Ihre Reste sehen sich einem Volkskrieg gegenüber, der bisher trotz angespanntester Versorgungslage nicht erlahmt. Unter den Betroffenen selbst gibt es über die Absichten der Sowjetunion grundsätzlich zweierlei Überlegungen. Einerseits nimmt man an, daß die UdSSR das wankende, außerordentlich brutale, möglicherweise schon von ihr abrückende Regime Amins durch ihre Intervention unter Wahrung einer „sozialistischen“ Linie entfernen wollte. Manche gestehen ihr sarkastisch sogar zu, daß sie das tun „musste“, wenn sie errungene Einflusspositionen nicht verlieren und die Kontrolle über ein ausartendes Regime zurückgewinnen wollte. Diesbezüglich decken sich sogar teilweise die Interpretationen – wenn auch nicht das Verständnis dafür - auf beiden Seiten, da auch Moskau nur von einer vorübergehenden brüderlichen Hilfsaktion spricht, die fortschrittliche Kreise in Kabul erbeten hatten. Trotz der lange zurückreichenden sowjetischen Einflußnahmen spricht einiges dafür, daß nicht ein geplantes langfristiges Programm abgelaufen ist, und wenn doch, dann mit einer Reihe von Pannen und chaotischen Akzenten. Ein momentanes Übergewicht der Militärs im Kreml, die Furcht vor einem Übergreifen der islamischen Bewegung und vor einem Abfall Amins oder auch die Ermordurig zahlreicher sowjetischer Berater hat möglicherweise zu einer ungeplanten Überreaktion geführt, aus der es nur schwer ein Zurück gibt. Neben dieser einleuchtenden „Kettenreakions-These“ spricht aber trotzdem einiges für die „These der Langfrist-Strategie“; vermutlich trifft von beiden etwas zu. Afghanistan ist für die Sowjetunion als unmittelbares - vor 1978 praktisch neutrales - Grenzland interessant, als Durchgangsland zum Süden, zum warmen Meer, als Schlüsselstellung im unruhigen Ge iet zwischen Indien und dem Nahen Osten. Schon unter den Zaren gab es immer wieder Bemühungen um einen entsprechenden Einfluß, und auch später waren sie, mehr oder weniger stark, immer gegenwärtig. Nach dem letzten Weltkrieg setzte die Sowjetunion aber eher auf eine „Balkanisierung“ der Region, auf die indirekte Kontrolle von Separatismusbewegungen (Paschtunen, Belutschen) und nicht auf ein direktes Eingreifen. Solange der lran und Pakistan provokantes Aufrüstungsland der USA waren, blieb der sowjetische Einfluß in Afghanistan ostentativ zurückhaltend, es wurden eher mit nationalen Oppositionsgruppen Kontakte geknüpft. Auch wenn diese offensichtlich heute von den Sowjets abgerückt sind, so werden doch noch der pakistanischen People's Party des hingerichteten All Bhutto oder den Belutschen weiterhin derartige Kontakte nachgesagt. Und das stimmt wieder mit der ziemlich sowjetfreundlichen Haltung Indirah Gandhis zusammen, die sich als einer der wenigen Vertreter blockfreier Staaten in der Afghanistanfrage neutral verhält. Im Iran dürfte die UdSSR in jüngster Zeit nicht allzuviel Kredit genießen, auch wenn die Anti-USStimmung mehr Publizität erlangt hat. In der Einschätzung der Situation durch lokale informierte Gesprächspartner hat jedenfalls eine Furcht vor sowjetischer Ausdauer und Unbeirrbarkeit einen hohen Stellenwert. „Die Russen stehen jetzt am Khyber-Paß und an der persischen Wüste, und vor ihnen liegen die großen Ebenen; sie können warten, bis sich Pakislan, Indien der im Iran eine direkte Chance für sie ergibt", solche Vermutungen habe ich oft gehört. Um die Lage nicht noch anzuheizen, werden zum Beispiel auch die zahlreichen sowjetischen Luftraumverletzungen und Bombardements von Flüchtlingslagern in Pakistan seitens der pakistanischen Regierung heruntergespielt. Was die USA - auch seit der markigen Erklärungen von Präsident Reagan - tatsächlich in Afghanistan an Unterstützung leisten, bleibt selbst den Widerstandskämpfern unklar. Ägypten liefert und auch die Saudis liefern, und das meiste bleibt in Pakistan und bei den Exilparteien hängen. Afghanistan ist zu einem Schauplatz geworden, auf dem eine schwer einzuordnende „Dritte-Welt-Situation“ abläuft. Zur Zeit zeichnen sich kaum konkrete Hoffnungen ab. Trotzdem sieht die Mehrheit der Afghanen nur im Widerstand eine Chance - wenn auch eine sehr ferne. Afghanistan: Daten zur neueren Geschichte 1747 Gründung des Königreichs Afghanistan unter Ahmed Shah Durrani; Russen, Perser und Briten beanspruchen Gebiete und politischen Einfluß. 1809 Vertrag von Kalkutta mit den Briten; als Preis für die politische Anerkennung soll Agfhanistan einer von Napoleon angedrohten Armee gegen Indien den Durchmarsch verweigern. 1858-842 Erster britisch-afghanischer Krieg; um Verhandlungen mit ein russischen Gesandtschaft zu torpedieren, erobert eine britische Armee Kabul; ein Volksaufstand erzwingt ihren Rückzug und sie wird vollständig aufgerieben. 1878-1879 Zweiter britisch-afghanischer Krieg; nach Gebietsabtretungen an Rußland und Anerkennung der Nordgrenze wird eine russische Gesandtschaft in Kabul empfangen, eine britische aber zurückgewiesen; daraufhin erobert eine britische Armee große Gebiete im Osten („Paschtunistan") und im Süden (Belutschistan), Afghanistan muß im Vertrag von Gandamak zusichern, seine Außenpolitik britischen Interessen unterzuordnen; die Mitglieder der britischen Mission in Kabul überleben nur wenige Wochen; nach dem Selbstverständnis der Afghanen endet auch dieser Krieg mit einem Sieg; das Land wird aber erneut zu einem Pufferstaat unter englischem Einfluß, der auch von Russland anerkannt ist. 1893 Festlegung der heutigen Ostgrenze (Durand-Linie), die großen Gebiete der Paschtunen östlich des Khyber-Passes fallen an Indien 1917 Lenin erklärt, „das neue Sowjetrußland reicht allen Völkern des Ostens und vor allem dem afghanischen Volk die Hand der Freundschaft und Brüderlichkeit“, und kündigt das englisch-russiche Abkommen auf, in dem das Zarenreich die Kontrolle Großbritanniens über die afghanische Außenpolitik anerkannt hatte. 1919 Dritter britisch-afghanischer Krieg; nach militärischen und diplomatischen Erfolgen wird die staatliche Unabhängigkeit Afghanistans durchgesetzt. 1919-1929 Emir Amanullah versucht innere Reformen, ein wirtschaftIiche und kulturelle Öffnung des Landes. In den Zwanziger-Jahr starker Flüchtlingsstrom aus den angrenzenden Sowjetrepubliken. 1921 Abkommen mit der UdSSR über miIitärische Unterstützung und Aufnahme von Handelsbeziehungen. 1951 Neutralitäts- und Nichtangriffspakt zwischen Afghanistan und der UdSSR. 1933-1973 Herrschaft von Zahir Shah; Machtausübung durch eingesetzte Regenten – Hashim Khan, Shah Mamud, Prinz Daud (1953-1963); das Land bleibt im Zweiten Weltkrieg, wie im Ersten, neutral; nach dem letzten Krieg insbesonders Einfluß der UdSSR, der USA, der Bundesrepublik und Chinas (Entwicklungshilfe)- 1960 Premierminister Daud lehnt den Beitritt zum CENTO-Pakt ab (einer Erweiterung des westlichen Bündnissystems als Nachfolge des Bagdad-Paktes – Türkei, Iran, Pakistan); USA stoppen Militärhilfe. Annäherung an die UdSSR 1965 Erste „freie“ Wahlen zum Parlament; Niederschlagung von Massendemonstrationen in Kabul und anderen Städten, Erstarken oppositioneller Bewegungen und politischer Parteien (Moslembruderschaft, Demokratische Volkspartei mit Khalk- und Parcham-Flügel, linke und liberale Gruppen); Einfluß westlicher Wirtschafts- und Kulturpolitik; Militär gerät unter starken sowjetischen Einfluß 1971/72 Hungerkatastrophe mit vermutlich mehreren hunderttausend Toten infolge extremer Dürreperiode 1973 Sturz der Monarchie durch Daud, Ausrufung der Republik Afghanistan,; anfangs Unterstützung durch Khalk- (Taraki) und Parcham- (Karmal) Partei sowie die UdSSR, später erneute Westorientierung 1975 Verlängerung des Neutralitäts- und Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion um weitere zehn Jahre 1978 Militärputsch, Machtübernahme Tarakis („Große Saur-Revolution“), Versuch der Reform von Agrar-, Schul- und Rechtswesen, Beginn des Widerstandes 1979 Eskalation von Militärmaßnahmen und Widerstand; der Vizeministerpräsident Amin stürzt Taraki; Ende Dezember Einmarsch sowjetischer Truppen und Sturz Amins, Babrak Karmal übernimmt die Macht 198ß Massive Ausweitung der Kämpfe; Bombenkrieg und hohe Verluste der Zivilbevölkerung; die UNO-Resolution über den sofortigen Abzug aller ausländischen Truppen wird vom Veto der UdSSR blockiert; bis zum Jahresende steigt die Zahl der Flüchtlinge inPakistan und im Iran auf über zwei Millionen an (Gesamtbevölkerung: rd. 15 Millionen). © Christian Reder 1981