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JAN JIRACEK VON ARNIM
Franz
Liszt
Visionär und Virtuose
EINE BIOGRAFIE
RESIDENZ VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
© 2011 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg
Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks
und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.
Umschlagbild: Sammlung Rauch/Interfoto/picturedesk.com
Umschlaggestaltung, grafische Gestaltung/Satz:
Gabi Adébisi-Schuster
Schrift: Elmhurst
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books
ISBN 978-3-7017-3234-0
ZU DIESEM BUCH
7
PROLOG
Bayreuth. Die letzte Reise.
11
ERSTER ABSCHNITT
Raiding. Die Ankunft des Kometen.
Wien. Der kleine Zauberer. 31
Paris. Le petit Litz. 43
21
ZWEITER ABSCHNITT
Krise und Depression. 55
Der Künstler erwacht. 63
Der Weg wird gewiesen. 77
DRITTER ABSCHNITT
Franz Liszt und Marie d’Agoult – eine Liebe.
Wien und Franz Liszt – eine Affäre. 115
Abschied vom Virtuosentum. 137
91
VIERTER ABSCHNITT
Weimar. Visionen und Utopien. 149
Rom. Innere Einkehr. 169
Zwischen Pest und Weimar. Zersplitterung.
EPILOG
Nachklang.
199
Anmerkungen 213
Literatur 218
Zeittafel 221
Dank 223
Bildnachweis 223
Namenregister 224
185
ZU DIESEM BUCH.
Leben und Kunst von Franz Liszt haben mich als
konzertierenden Pianisten schon in den Jahren meiner Ausbildung beschäftigt und immer wieder neu
fasziniert. Liszts Musik überschreitet Grenzen: Es
geht ihm nicht primär um musikalischen Wohlklang und poetischen Ausdruck, sondern um ein
Spiel mit den Extremen, um den Ausdruck von Gefühlen mit all ihren Schattierungen, um ein Abbild
des Lebens in der Musik.
Und auch wenn wir im 21. Jahrhundert ganz neue
Arten der Kommunikation gefunden haben, überhaupt unser ganzes Leben sich so grundlegend
anders darstellt als das, was wir über damalige Zeiten lesen, so spricht uns Franz Liszts Musik doch
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auch heute direkt an und bewegt uns in unserem
Innersten.
Liszt hatte sich dazu entschlossen, seinem Publikum in den großen Sälen zu begegnen – er hatte anders als etwa Chopin die Salons des Adels hinter sich
gelassen und es damit einem »Massenpublikum«
ermöglicht, seine Musik zu erleben. Dies brachte
zwangsläufig mit sich, dass sich sein Klavierspiel
und Kompositionsstil in eine virtuose Richtung
weiterentwickelten: Vor einem größeren Publikum
braucht es stärkere Klangeffekte und eine verstärkte Betonung der Körpersprache, um hier eine
ähnliche Spannung, wie im überschaubaren Rahmen des Salons, zu erreichen.
Die von ihm hervorgerufene Ekstase des Publikums und die Faszination seiner Gestalt waren
groß, und so ist es verständlich, dass bereits zu
Liszts Lebzeiten eine umfangreiche Biografie verfasst wurde: Sie wurde geschrieben von Lina Ramann (1833–1912), einer aus dem Frankenland
stammenden Musikpädagogin. Sie hatte als junge
Klavierlehrerin in den USA gearbeitet, wo sie von
Farm zu Farm reiten musste, um ihre Schülerinnen
und Schüler zu unterrichten. 1858 gründete sie in
Glückstadt in Schleswig ihr eigenes Musikinstitut
für »junge Damen, welche die Musik zu ihrem Lebensberufe machen wollen«, und entschloss sich
nach der ersten Begegnung mit Franz Liszt im Jahr
8
1859, eine Biografie über ihn zu verfassen. Liszt
autorisierte sie 1875 hierzu, der Kontakt zu ihm
blieb bis zu seinem Tode herzlich. Von 1874 bis 1894
arbeitete Lina Ramann an den drei Bänden ihres
Werkes. Die Betrachtungen aller Biografen Franz
Liszts – auch in meinem Fall – berücksichtigen ihre
Ausführungen. Durch den engen persönlichen Kontakt war es Lina Ramann möglich, direkt von Franz
Liszt Fakten seines Lebens dargestellt zu bekommen, auch wenn in ihrem Werk einiges inakkurat,
und einer gewissen Heldenverehrung geschuldet,
verfälscht wurde.
Ich habe Franz Liszt ursprünglich durch seine
Noten und nicht durch Buchstaben kennengelernt.
So ist mein Blick auf ihn geprägt von dem Zugang
eines Musikers, der sich besonders identifizieren
kann mit dem steinigen Weg des herumreisenden
Virtuosen, immer auf der Suche nach sich selbst. So
manches Mal habe ich mir dabei gewünscht, mit
Liszt zusammen unter den Zypressen der Villa
d’Este zu sitzen. Gerne hätte ich ihm davon erzählt,
dass auch in unserer Zeit das Interesse an seiner
Musik und an seinem Lebensweg weiter besteht.
9
PROLOG.
Bayreuth. Die letzte Reise.
Im Juli 1886 reist Franz Liszt nach Bayreuth.
Bayreuth ist eine Stadt, die vor allem mit einem
Komponisten assoziiert ist: Richard Wagner. Auch
im Jahr 1886, dem Jahre drei nach Wagners Tod,
pilgern seine Anhänger nach Bayreuth, um hier im
von Wagner konzipierten Festspielhaus seine Werke
zu hören. Lange hatte ihn die Idee eines eigenen
Festspielhauses umgetrieben, viele Mühen und
Nerven gekostet. Doch Wagners Kämpfe sind nun
geschlagen, und dass ihm dieses Projekt glückte, ist
umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie dieser
Mann Zeit seines Lebens um das Geld kämpfen
musste, sogar oft vor seinen Gläubigern floh und
dadurch Eklats provozierte. Aber nicht etwa, dass
11
er wenig Geld verdient hätte – nein: Grund seines
Geldmangels waren sein Anspruchsdenken und
sein Hang zum Luxus. »Die Welt ist mir schuldig, was
ich brauche!«1 Mit solch einer Einstellung ist es
leicht, schnell mehr Geld auszugeben, als einem
zur Verfügung steht. Wagner zerrinnt zeitlebens
das Geld zwischen den Fingern … Wie gut, dass dieses »Pumpgenie« (Thomas Mann) sich auf seine
Freunde und Bewunderer verlassen konnte. Besonders dreist hielt es Richard Wagner mit einem
glühenden Verehrer, der so etwas wie eine Melkkuh
für ihn war: Ludwig II. von Bayern. Und zu seinen
Geldgebern gehörte, wie selbstverständlich, auch
sein Schwiegervater Franz Liszt.
Die Festspiele finden 1886 zum fünften Mal statt.
Die Verklärung von Wagners Person hat bereits eingesetzt und seine Musik ist populärer denn je. So,
wie es seine Vision war, ist es tatsächlich gekommen: Das Festspielhaus in Bayreuth steht auf festem Stein, ermöglicht auch durch die Spenden vieler begeisterter Anhänger.
Nach einem Jahr Pause werden nun die Straßen
wieder beflaggt und geschmückt: Die Festspiele
1886 sollen am 23. Juli beginnen. Auf dem Programm
stehen neun Aufführungen des Parsifal und acht
Aufführungen von Tristan und Isolde.
Wer wacht über Wagners Erbe und die Fortführung seiner Visionen? Es ist eine Person, die er
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selbst dafür anscheinend nie in Betracht gezogen
hat: Gralshüterin in Bayreuth ist nun seine Witwe
Cosima, geschiedene von Bülow, geborene Liszt.
Eine besondere Frau, diese Cosima Wagner. In Kindertagen »Schwan« genannt, war sie ein schüchternes Mädchen, sanft und zurückhaltend. In Wagner
findet sie ihren Lebenspartner; ihm zur Seite zu
stehen und sein Werk zu fördern, wird ihr Lebensinhalt. Sein Tod im Februar 1883 stürzt sie zunächst
in eine tiefe Sinnkrise. Sie schottet sich von der
Welt ab. Selbst ihr Vater blitzt drei lange Jahre mit
allen Kontaktversuchen bei ihr ab.
Doch nach Wagners Tod ist das Projekt der Wagner-Festspiele bedroht. In das Vakuum drängen
Fremde, um die Macht zu übernehmen. Dies sieht
Cosima, und sie erwacht aus ihrer Lethargie: Nachdem im Jahr 1885 die Festspiele ausgefallen sind,
steht sie nun als starke Wächterin bereit, das Erbe
zu beschützen und in keiner Weise von den Wünschen Richard Wagners abzurücken. Mit eiserner
Hand dirigiert sie das Unternehmen, und 1886 führt
sie sogar selbst Regie, beim Musikdrama Tristan und
Isolde, das damit zum ersten Mal in Bayreuth zur
Aufführung kommt.
Franz Liszt ist überrascht über ihre Einladung
nach Bayreuth – drei Jahre hat sie auf seine Briefe
und Kontaktversuche nicht reagiert, jetzt aber lädt
sie ihn ein, zur Hochzeit seiner Enkelin nach Bay13
reuth zu kommen, und gleich auch die kurz darauf
folgende Eröffnung der Festspiele mitzuerleben.
Und Franz Liszt kommt: In Begleitung seines
Schülers Bernhard Stavenhagen und seines Dieners
Mihály Kreiner, genannt Mischka, trifft er am 1. Juli
1886 in Bayreuth ein. Liszt ist knapp fünfundsiebzig Jahre alt. Überall finden Konzerte zu seinen
Ehren statt, das Publikum feiert ihn wie in seinen
besten Jahren als Virtuosen – jetzt aber vor allem als
Komponisten. Das muss ihm Genugtuung geben,
wo er doch in den Jahren als durch ganz Europa reisender Virtuose von vielen als Blender angesehen
wurde, als Zauberer mit billigen Tricks.
Nun wird Franz Liszt als letzter Vertreter einer
untergehenden Epoche gesehen: Geprägt von Persönlichkeiten der Wiener Klassik, hat er sein Leben
lang nach neuen Wegen für die Entwicklung der
Kunst gesucht und mit seinen Kompositionen den
Stil der neudeutschen Schule maßgeblich beeinflusst. Er wurde damit auch zum musikalischen
Ziehvater Richard Wagners. Liszt ist eine lebende
Legende geworden; überall empfängt man ihn im
Bewusstsein, diesen Mann vielleicht zum letzten
Mal erleben zu können.
1886 ist für ihn vor allem ein Jahr des Reisens:
Rom, Budapest, Wien, Paris, London, Weimar, Bayreuth, ständig ist Liszt unterwegs. Tut er dies, weil
er insgeheim merkt, wie seine Kräfte schwinden,
14
und er zum Trotz den Beweis sucht, dass er sich
diese Reisen noch abverlangen kann? Auf die Mahner hört er jedenfalls nicht.
Besonders die Reise nach England ist beschwerlich, und alle Ehrungen (sogar Queen Victoria lädt
ihn auf Schloss Windsor ein) ändern doch nichts
daran, dass für seinen Körper die ständigen Belastungen zu viel werden. Bei der Rückkehr nach Weimar, Mitte Mai 1886, ist er so stark erkältet, dass er
aus dem Zugabteil getragen werden muss.
Der Besuch bei berühmten Ärzten in Halle führt
dazu, dass er Badekuren verordnet bekommt. Auch
eine Operation am linken Auge steht ihm bevor.
Dies alles ist allerdings erst für den August geplant:
Denn zunächst gibt es weitere Konzerte zu seinen
Ehren. Eine Reise nach Luxemburg wird geplant,
und vorher geht es nach Bayreuth. Dort angekommen, bezieht Liszt zwei kleine Räume in der »Pension Fröhlich« gegenüber der Villa Wahnfried, denn
die Einladung seiner Tochter beinhaltet nicht die
Einladung in ihr Haus. Warum lässt ihn Cosima
nicht bei sich wohnen? Scheinbar gibt es keinen
Platz für ihn, man hat andere Gäste, die Proben
für die Festspiele laufen, außerdem steht die Hochzeit von Liszts Enkelin Daniela bevor. Es ist viel los
in der Villa Wahnfried. Für Richard Wagner wäre
eine Unterkunft in einer kleinen, spartanischen
Pension, wie der von Oberforstmeister Fröhlich, un15
denkbar gewesen – Liszt aber beschwert sich nicht.
Das Programm in Bayreuth ist gut gefüllt: Am
3. Juli findet die standesamtliche Heirat seiner
Enkelin Daniela mit dem Kunsthistoriker Henry
Thode statt, Privatdozent an der Universität Bonn.
Daniela hatte Liszt einst seine Komposition Der
Weihnachtsbaum gewidmet. Sie ist seine Lieblingsenkelin, mit der er regelmäßig Briefe wechselt. Nun
ist Daniela, die Tochter von Cosima und Hans von
Bülow, sechsundzwanzig Jahre alt, am 4. Juli wird
sie in Bayreuth evangelisch getraut. (Die Ehe bleibt
kinderlos und wird im Jahr 1914 geschieden.)
Am 23. Juli 1886 sollen die fünften Bayreuther
Festspiele mit der ersten Aufführung des Parsifal eröffnet werden – doch Liszt bleibt in der Zwischenzeit nicht etwa in Bayreuth, um seinen geschwächten Körper auszuruhen! Stattdessen fährt er am
6. Juli nach Luxemburg, wo er für vierzehn Tage von
Freunden auf das Schloss Colpach eingeladen ist.
Als sich seine Anwesenheit herumspricht, bittet
ihn sogleich die Luxemburgische Musikvereinigung
darum, bei ihrer nächsten Veranstaltung anwesend
zu sein. Trotz der Ruhe im Schloss und vieler
Spaziergänge in der Natur geht es Liszt nicht gut:
Husten quält ihn, auch seine Sehkraft hat nachgelassen. Dennoch, vielleicht auch aus Dankbarkeit
gegenüber seinen Freunden, erklärt er sich bereit,
am 19. Juli im Luxemburger Casino aufzutreten,
16
sogar selbst zu spielen. Das Publikum ahnt davon
zunächst nichts, denn angekündigt ist ein Orchesterprogramm. Doch die Nachricht verbreitet sich
schnell, und man ist begeistert, Franz Liszt so unverhofft in Luxemburg zu sehen. Als der alte Mann
mit einem prächtigen Blumenbouquet in der Hand
den Saal betritt, erhebt sich das Publikum in Ehrerbietung. In der Beschreibung des Abends im Journal de Luxembourg heißt es:
»Liszt ist ein gut aussehender alter Mann, mit langem
silbrigen Haar und klaren Gesichtszügen, leicht gebeugt
gehend; seine Augen sind hell und ein freundliches Lächeln umspielt seine Lippen; seine langen, feingliedrigen
Hände scheinen ständig etwas zu liebkosen.«3
Als nach dem angekündigten Programm unverhofft ein Klavier hereingeschoben wird, setzt sich
der »König des Klaviers«2 unter frenetischem Applaus an das Instrument, um unter anderem ein Arrangement eines Chopin-Liedes, Liszts Liebestraum
(»Hohe Liebe«) und Ausschnitte aus den Soirées de
Vienne zu spielen. Liszt hat in seinem Leben ungezählt viele Konzerte gegeben. Allein in den Jahren
1840 bis 1847 müssen es an die tausend Auftritte gewesen sein. In den größten Sälen und allen Metropolen Europas war er zu hören.
Im Saal ahnt niemand, dass dieses Konzert am
19. Juli 1886 im Luxemburger Casino Franz Liszts
letzter Auftritt sein wird.
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Am nächsten Morgen besucht er zunächst die
Messe in der Luxemburger Kathedrale. Anschließend besteigt er mit seinem Schüler Stavenhagen
den Zug zurück nach Bayreuth. Seine Freunde bitten ihn, diese Reise nicht zu unternehmen (sie beinhaltet zunächst die Fahrt nach Frankfurt, dann
den Nachtzug nach Bayreuth), aber er will sein Versprechen seiner Tochter gegenüber halten. »Cosima
wünscht es, ich habe es ihr versprochen.«4 Vielleicht
auch fühlt er seine Anwesenheit bei den Aufführungen der Bayreuther Festspiele als letzten Dienst
an Wagner. In der Nacht bleibt das Zugfenster geöffnet, weil andere Passagiere dies wünschen. Liszt
beschwert sich nicht. Aber als man am nächsten
Morgen Bayreuth erreicht, hat er hohes Fieber, sein
Husten ist quälend stark, und er muss sogleich ins
Bett, um Ruhe zu bekommen. Es ist der 21. Juli. In
zehn Tagen endet das Leben von Franz Liszt.
18
Das Publikum und
Franz Liszt – eine Affäre.
»Concert Reisen: Paris, London, Berlin, Petersburg etc:
Fantasien, Transcriptionen, Saus und Braus.« 47
Am Anfang war die Technik. Auch in den glanzvollen Jahren seiner Pianistenkarriere hörte Franz Liszt
nie auf, an seiner virtuosen Technik zu arbeiten und
weiter zu feilen. Er sah diese Selbstdisziplin als Voraussetzung für den Erfolg und setzte sich zum Ziel,
am Tag zumindest fünf Stunden lang die Finger zu
bewegen, damit diese nicht erstarrten. Auf Reisen
hatte er deshalb eine stumme Klaviatur dabei, auf
der er seine Finger trainierte. Paganini hatte sein Bewusstsein für den Effekt von Virtuosität geschärft,
Thalberg hatte für den notwendigen Konkurrenzdruck gesorgt, der ihm Ansporn war – nun sorgten
Liszts unvergleichliche Oktavstürme endlich dafür,
dass das Publikum in ganz Europa ihm verfiel.
115
Seine Spielweise überforderte die meisten Klaviere seiner Zeit, da sie noch keinen eisernen Rahmen hatten, auf den die Saiten gespannt waren.
Damit waren die üblichen Instrumente wenig belastbar für kraftvolles, lautes Spiel. Wenn es nicht
möglich war, einen seiner geliebten Érard-Flügel zu
seinen Konzerten transportieren zu lassen, gab es
dann häufig zwei Flügel auf dem Podium: Sollte das
erste Instrument versagen und sollten womöglich
zu viele Klaviersaiten reißen, konnte er so auf dem
Ersatzflügel weiterspielen … Clara Wieck schrieb
am 14. Februar 1840 etwas spöttisch an ihren späteren Mann Robert Schumann von einem Auftritt
Liszts: »Liszt hat im vorletzten Konzert [in Wien] mit
einem Akkord drei Hämmer aus den Kapseln geschlagen
und außerdem 4 Saiten gesprengt – er muß also wieder
gesund sein.«48
Franz Liszt leistete sich als erster Künstler die
unerhörte Extravaganz, einen öffentlichen Konzertabend allein zu bestreiten. Dies bedeutet einen Einschnitt für die weitere Entwicklung der Konzerttradition nach Liszt: Davor war es üblich, dass auch
berühmte Musiker die Bühne mit anderen teilten,
um dem Publikum mit einem gemischten Programm genügend Abwechslung zu liefern; selbst
Paganini hatte sich nach dieser Tradition gerichtet.
Alles andere als ein gemischter Abend galt als eine
Anmaßung und war verpönt. Liszt ging mit dem
116
Anspruch auf die Bühne: »Le concert, c’est moi!«49,
und die einsetzende Vergötterung Liszts ließ dies
dem Publikum als ganz natürlich erscheinen:
Schließlich ging man in das Konzert, um den
»König des Klaviers« zu erleben. So machte es Sinn,
dass Liszt den Flügel auf der Bühne nun quer zum
Publikum stellen ließ, damit der Fokus ganz auf
den Interpreten gerichtet war und sein Mienenspiel
besser gesehen werden konnte. Allerdings gab es
immer wieder Pressestimmen, die solche Neuerungen als unerhört beklagten. Im März 1839 hatte
Franz Liszt den ersten reinen Klavierabend im Palazzo Poli des Fürsten Dmitri Golizyn in Rom gegeben, dabei noch im halb privaten Rahmen. 1841
führte er dann diese Praxis des »soliloque musicale«, wie er es nannte, in Paris ein (bei horrenden
Eintrittspreisen). Auf diese Weise hatte allein er
Einfluss auf den Verlauf des Abends, konnte das
Programm nach seinen Wünschen gestalten und die
Inszenierung kontrollieren.
Liszt hob sich bei seinen Konzertprogrammen
von den anderen Pianisten seiner Zeit dahingehend
ab, dass er es verstand, mit Bearbeitungen, Transkriptionen, Paraphrasen und Fantasien über bekannte Opernmelodien das Publikum zu verzaubern. Er war auch immer wieder bereit, unbekanntere oder verkannte Werke zu präsentieren, etwa die
Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach
117
oder den Carnaval von Robert Schumann. Dazu
eigene Transkriptionen, etwa die der Wilhelm-TellOuvertüre von Rossini. In einem Bericht der Londoner Times vom 2. Juli 1840 steht darüber geschrieben:
»… obwohl dies wahrscheinlich Rossinis am vollsten
besetzte Orchesterpartitur ist, haben wir nie ein noch so
reich besetztes Orchester mit solchem Ausdruck spielen
gehört, und gewiss blieb jede Orchester-Produktion weit
hinter der Lisztschen zurück, was den Geist und die Einheitlichkeit des Vortrags betrifft. Wie all dies mit zehn
Fingern ausführbar ist, gestehen wir, uns gar nicht vorstellen zu können; noch sind wir imstande, Liszts Vortrag zu beschreiben, es würde ohnehin jedem unglaublich
erscheinen, der ihn nicht gehört hat.«50
Allerdings musste Liszt selbst in den Jahren seiner größten Virtuosenerfolge die schmerzliche Erfahrung machen, dass seine eigenen Kompositionen
mit tieferem Anspruch längst nicht so viel Beifall
fanden wie seine virtuosen Fantasien über Melodien von anderen Komponisten. Seine sogenannte
Dante-Sonate aus den Années de pèlerinage etwa
wurde vom Publikum ungnädig aufgenommen und
verschwand bald aus seinen Konzertprogrammen.
Liszt selbst erkannte seine neue Qualität des Musizierens: »Ich fange an, bewundernswert zu spielen.«51
In Wien begeisterte er Publikum wie Fachleute
(unter ihnen Friedrich Wieck mit seiner achtzehn118
jährigen Tochter Clara, die zur gleichen Zeit in
seinem Hotel wohnten). Er spielte meist aus dem
Gedächtnis, in Wien unter anderem Werke von
Hummel, Beethoven, Weber, Chopin, Händel und
Scarlatti, außerdem Transkriptionen der SchubertLieder. Wien war die Stadt seiner ersten Schritte als
Wunderkind, hier hatte er die Grundsteine seiner
Technik gelernt – nun erntete er die Früchte, gerade
auch mit seinen Beethoven- und Schubert-Interpretationen: Denn langsam begann in Wien die Verklärung der verstorbenen Komponisten und es bildete
sich eine bewusste Pflege der Tradition heraus, die
stolz von der »Wiener Klassik« sprach.
Verblüffende Spieltechnik und musikalischer Inhalt, der sich am Zeitgeschmack orientiert: Dies
sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche
Karriere als Virtuose. Sein Auftreten und die Faszination, die von seiner ungewöhnlichen Erscheinung
ausging, machten Liszt einzigartig und sorgten
schließlich für beispiellose Begeisterungsstürme.
Dabei schwankte er zwischen natürlicher Eleganz
und Dandytum. Seine erotische Ausstrahlung und
die unverbrauchte Aura der Jugend ließen ihn schön
und exotisch erscheinen. Liszt betonte nun mehr
und mehr seine ungarische Herkunft, denn er hatte
realisiert, dass dies für zusätzliches Interesse
sorgte. (Vielleicht hatte der stille Pole Chopin in seinem französischen Exil Inspiration dazu geliefert.)
119
Mit seinem langen Haar und seinem Kleidungsstil
sorgte Liszt für Gesprächsstoff. Aus den Gazetten
erfuhr man, dass er für jeden Tag des Jahres eine andere Krawatte habe, man bewunderte seine Handschuhe aus feinstem Leder, die er vor dem Spiel
theatralisch abstreifte, man riss sich um Erinnerungsstücke, kostbar waren von Liszt benutzte Gläser oder gar Taschentücher, um die heftigst gestritten wurde … Allmählich nahm die Faszination
quasi-religiöse Züge an, kaum noch von Liszt zu
kontrollieren. Der Personenkult entwickelte eine
Eigendynamik, bei der es letztendlich gar nicht
mehr darum ging, wie und was Liszt eigentlich
musizierte – man ging in seine Konzerte, um kollektiv schwindlig gespielt zu werden. In Berlin
konnte man Damenhandschuhe mit seinem Porträt kaufen, auch Liszt-Tabakdosen oder Liszt-Bonbons. Seine Kunst und noch mehr seine Person erregten Interesse, gerade auch von »schmachtenden
Damen«. Bereitwillig scheinen sich Vertreterinnen
der Damenwelt um seine Gunst gerissen zu haben,
darüber schreibt etwa Bettina von Arnim:
»Die Geschwister Hagn, wohlgelitten in unserer Theaterwelt und von einigen im Überschwang des Interesses
als die größten Darstellerinnen dieser Zeit im klassischen Drama gepriesen, machten sich alsbald so aufdringlich an Liszt (…) heran, dass es nicht nur der Allgemeinheit auffiel, sondern Ärgernis erregte.«52
120
»Eljen!« – »Hoch lebe Franz Liszt!«
Bettina von Arnim beglückwünscht Franz Liszt zum Geburtstag.
Bald galt Liszt als Herzensbrecher, ob gewollt
oder ungewollt, ob verschuldet oder nicht.
Sein Charisma muss jedenfalls unvergleichlich
gewesen sein. Über ein Konzert Liszts in Hamburg
schreibt der Zeitzeuge Hans Christian Andersen:
»Wie ein elektrischer Schlag fuhr es durch den Saal,
als Liszt hereintrat, die Mehrzahl der Damen erhob sich,
und ein Sonnenglanz verbreitete sich auf jedem Gesicht,
so als begrüßten alle Augen einen lieben, teuren Freund.
(…) Wie Liszt da vor dem Pianoforte saß, wirkte seine
Persönlichkeit, dieser Ausdruck starker Leidenschaften
in dem bleichen Gesicht, auf mich zu allererst dämonisch. Er schien an das Instrument genagelt, aus dem die
Töne strömten, sie kamen aus seinem Blut, aus seinen
Gedanken; er war ein Dämon, der seine Seele frei spielen
musste.«53
Große Erfolge feierte Liszt in Berlin, 1841 gab er
dort über zwanzig frenetisch gefeierte Konzerte.
Das Publikum geriet so in Ekstase, dass Berichte
über die Konzerterfolge zu Skepsis führten, etwa
bei Heinrich Heine in Paris, der meinte, Liszt habe
wohl Claqueure und Blumenwerfer selbst bestellt
und die Ovationen teuer bezahlt. Aber Liszt war
tatsächlich eine Sensation, die Ekstase war zum
Selbstläufer geworden.
Die Auftritte Liszts gerieten immer mehr zu
einem Spektakel, auch weil er wusste, wie er sich zu
inszenieren hatte und wie er das Publikum um den
122
kleinen Finger wickeln konnte. Misstrauisch sprachen neidische Stimmen, die nur den Oktavendonner wahrnahmen, von Scharlatanerie. Liszts
Streben nach Substanz in seinem musikalischen
Schaffen, sein Bild von sich als Künstler und seine
nie versiegende Bereitschaft, hart an sich selbst zu
arbeiten, blieben im Kern dennoch unbeschadet
und bewahrten ihn letztendlich davor, ganz von
dem süßen »Saus und Braus« verschlungen zu
werden.
»Ein Wagen, mit sechs Schimmeln bespannt, rollte
vor das Hotel; Liszt wurde unter dem Zujauchzen der
Menge fast die Treppe hinabgetragen und in den Wagen
gehoben, wo er zwischen den Senioren der Universität
seinen Platz hatte. Dreißig vierspännige Wagen mit Studierenden, eine Anzahl Reiter im akademischen Festornat gaben ihm das Geleit. Zahllose andere Wagen hatten sich angeschlossen; zu vielen Tausenden umwogte die
Menge die Abfahrenden (…) Nicht nur die Straßen und
Plätze, sondern auch die Fenster aller Häuser waren
dicht mit Zuschauern und Zuschauerinnen erfüllt.«54
So schreibt Rahel Varnhagen von Ense über Liszts
Abreise aus Berlin. Um Liszt kreisten die Gespräche
der Gesellschaft.
In den Jahren 1839 bis 1847 reiste er mit seiner
Kutsche kreuz und quer durch Europa. In acht
Jahren hat er in über zwanzig Ländern gespielt:
unter anderem in England, Schottland, Irland, Bel123
gien, Holland, Frankreich, Spanien, Portugal, der
Schweiz, Österreich, Ungarn, Böhmen, Polen, Italien, Deutschland, Luxemburg, Dänemark, Rumänien, im Russischen und im Osmanischen Reich.
Nach den überstandenen Kinderkrankheiten war er
offensichtlich zu einem strapazierfähigen, kräftigen
Mann gereift.
Überall in Europa bewunderte man diesen Künstler, in Wien und Berlin lag man ihm zu Füßen, die
Namen anderer Musiker verblassten – kein Wunder,
dass die Neider nicht ausblieben. Sein Lebensstil
und die Bewunderung der Massen stieß auf Ablehnung. So zum Beispiel bei Robert Schumann, der
von Franz Liszt Zeit seines Lebens gefördert wurde,
und dessen Werke Liszt immer wieder der Öffentlichkeit vorstellte. Aber Schumann war ein gescheiterter Pianist, der schwer in seine Rolle als Komponist fand – so war zum Beispiel seine angedachte
Umsiedlung nach Wien und die dortige Herausgabe
einer Musikzeitschrift zum Scheitern verurteilt,
weil er als junger, noch weitgehend unbekannter
Komponist keinen Zutritt zu den »besseren« Kreisen (und damit finanziellen Unterstützern) fand.
Franz Liszts Lebensstil war nicht kompatibel mit
dem Robert Schumanns, in dessen von ihm in Leipzig herausgegebener Neuen Zeitschrift für Musik sich
einige böse persönliche Spitzen von Schumann
gegen Liszt finden, die später auch von Clara Schu124
mann offen gegen Liszt vorgebracht wurden: Man
stelle bei ihm einen Mangel an kompositorischer
Kreativität fest, weshalb Liszt Zuflucht bei anderen
Komponisten nehmen müsse und sich mit seinen
Transkriptionen mehr schlecht als recht behelfe.
Über den Auftritt von Liszt im konservativen Leipzig klagte Schumann gegenüber Clara: »In den ganzen vorigen Tagen gab es nichts als Diners und Soupers,
Musik und Champagner, Grafen und schöne Frauen,
kurz, er hat unser ganzes Leben umgestürzt.«55
Die allergrößte Begeisterung aber entfachte Franz
Liszt bei seinen Konzerten in Ungarn: Dort wurde
er lange Jahre nach Verlassen des Heimatlandes wie
ein verlorener Sohn begrüßt, mit Menschenaufläufen und lauten »Eljen! Eljen!«-Rufen (Er lebe
hoch!). Seit Ungarn zu Österreich gehörte, waren
Nationalgefühl und Sprache unterdrückt worden.
Liszt stellte ein Ventil für den Nationalstolz dar,
durch ihn und mit ihm gab es ein Symbol für die
ungarische Nation, er war eine Art Messias für die
ungarische Bevölkerung, auf ihn konnte der Stolz
eines ganzen Landes projiziert werden.
In Pest spielte Liszt bei einem Konzert am 4. Januar 1840 als Zugabe den Rákóczi-Marsch, was zu
begeisterter Raserei im Publikum führte, denn dieses Werk stellte sozusagen die inoffizielle Nationalhymne der Ungarn dar. Nachdem er das Stück
mehrmals wiederholt hatte, kamen schließlich
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