Gewissenhaftes Handeln im Militär

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Schweizerische Eidgenossenschaft
Confédération suisse
Confederazione Svizzera
Confederaziun svizra
Schweizer Armee
Moralisches Urteilen, Entscheiden und
Handeln – Zur W irksamkeit der Ethikausbildung
in den Streitkräften
Herausgeber
Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf ZH, 2011
Verantwortlich für diese Nummer: Dr. Stefan Seiler, lic. phil. Andreas Fischer, BSc Sibylle Vögtli
Stefan Seiler, Andreas Fischer und Sibylle Vögtli (Hrsg.)
Gestaltung, Satz und Druck
Höhere Kaderausbildung der Armee (HKA), Multimedialer Dienst (MMD)
Bildmaterial
Titelseite, ETH Zürich, Fotograf: J. Tissot
Titelseite, Treppenhaus MILAK, Signaletik: Bringolf Irion Vögeli GmbH; Fotograf: W. Mair
Militärakademie an der ETH Zürich
© 2011 Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf/ZH
Schriftenreihe
ISBN: 978-3-9523186-3-8
Moralisches Urteilen, Entscheiden und
Handeln – Zur W irksamkeit der Ethikausbildung
in den Streitkräften
Militärakademie
an der ETH Zürich
Schriftenreihe
S t e f a n S e i l e r, A n d r e a s F i s c h e r
und Sibylle Vögtli (Hrsg.)
M I L A K S c h r i f t N r. 10
MILAK Schrift Nr. 1 – 2003
1
Herausgeber
Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf ZH, 2011
Verantwortlich für diese Nummer: Dr. Stefan Seiler, lic. phil. Andreas Fischer, BSc Sibylle Vögtli
Gestaltung, Satz und Druck
Höhere Kaderausbildung der Armee (HKA), Multimedialer Dienst (MMD)
Bildmaterial
Titelseite, ETH Zürich, Fotograf: J. Tissot
Titelseite, Treppenhaus MILAK, Signaletik: Bringolf Irion Vögeli GmbH; Fotograf: W. Mair
© 2011 Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf/ZH
ISBN: 978-3-9523186-3-8
2
MILAK Schrift Nr. 1 – 2003
Inhaltsverzeichnis
5
Editorial
Stefan Seiler, Andreas Fischer, Sibylle Vögtli
7
Dilemmatraining – Entwicklung von moralischen
Entscheidungskompetenzen bei Schweizer
Berufsoffizieren
Stefan Seiler, Andreas Fischer
15
Gewissenhaftes Handeln im Militär
Dieter Baumann
37
Moralisches Urteilen, Entscheiden und Handeln –
Zur Wirksamkeit der Ethikausbildung in den Streitkräften:
Ein Beitrag aus (truppen-) psychologischer Sicht
Uwe Drews
47
Der Sinn und Zweck berufsethischer Bildung aus der
Sicht betroffener Soldaten
Andreas Kastberger, Stefan Gugerel und Karl Novak
53
Ausbildungshilfe, Ausbildungsthema – Die ZDv 10/4 (zE)
„Lebenskundlicher Unterricht“ – Selbstverantwortlich
leben – Verantwortung für andere übernehmen können
Mathias Wilke
61
Erfahrungen als Militärseelsorger bei der
Truppenbegleitung von Soldatinnen und Soldaten von
ISAF (International Security Assistance Force)
Stefan Jurkiewicz
69
Die Autoren
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
3
4
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Editorial
Dr. Stefan Seiler
lic. phil. Andreas Fischer
BSc Sibylle Vögtli
Sehr geehrte Leserinnen und Leser
Im Juni 2010 fand die dritte Expertenkonferenz „Sachstand der ethischen Bildung in den Streitkräften“ an der Militärakademie der ETH
Zürich statt. Die Expertengruppe, bestehend aus Teilnehmern des „Zentrums Innere Führung“ (D), der Heeresunteroffiziersakademie des Bundesheeres (A), der Militärakademie an der ETH Zürich (CH) und der
Berufsunteroffiziersschule der Armee (CH) hat sich das Ziel gesetzt, die
ethischen Herausforderungen im militärischen Handeln, sowie die ethische Ausbildung der Soldaten und militärischen Führungskräfte zu thematisieren und sich zwecks der Verbesserung der Ausbildungsmethoden international auszutauschen.
Die 10. Ausgabe der Schriftenreihe der Militärakademie an der ETH
Zürich hält die Ergebnisse der letzten Expertenkonferenz zum Thema
„Moralisches Urteilen, Entscheiden und Handeln – Zur Wirksamkeit der
Ethikausbildung in den Streitkräften“ fest.
Die Thematik ist hochaktuell, denn der langfristige Erfolg von militärischen Einsätzen, sei es in internationalen Konflikten oder in der Friedensförderung, hängt in grossem Masse davon ab, wie ethisch sich eine
Streitkraft verhält. Unethisches Verhalten kann dazu führen, dass die
Unterstützung der Streitkräfte durch die Zivilbevölkerung im Konfliktgebiet, durch die Zivilbevölkerung und die Politik in der Heimat, durch
die internationale Gemeinschaft und durch die Soldatinnen und Soldaten selbst, drastisch abnimmt und die ganze Mission gefährdet.
Der Sprengkraft, die ein unethisches militärisches Handeln in sich birgt,
sind sich heute fast alle westlichen Armeen bewusst und der Ethikunterricht ist ein fester Bestandteil der militärischen Ausbildung geworden.
Wie, von wem und in welcher Form der moralische Kompass der Armeeangehörigen richtig gestellt werden soll, wird jedoch von Land zu Land
unterschiedlich interpretiert und gehandhabt. Ebenfalls sind zur Wirksamkeit der jeweiligen Ausbildungsprogramme noch viele Fragen offen.
Es freut uns ausserordentlich, dass wir Ihnen zu diesem Thema eine
Reihe spannender Artikel präsentieren dürfen:
Stefan Seiler und Andreas Fischer zeigen in ihrem Interaktionalen DualProzess-Modell, welche psychologischen Prozesse bei der moralischen
Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. Sie verweisen auf das komplexe Zusammenspiel von Rationalität und Intuition in der Moralpsychologie und geben mit ihrem Dilemmatraining ein praktisches Beispiel,
wie man die moralische Entscheidungsfindung gezielt entwickeln kann.
Dieter Baumann stellt in seinem Aufsatz einen umfassenden Ansatz zur
Militärethik vor, der neben der Soldatin/dem Soldaten auch die Führung
und Ausbildung, die Armee als Organisation und die Gesellschaft berücksichtigt. Aus diesem Ansatz leitet er vier Thesen ab, die darauf abzielen
die ethische Urteilsbildung auf allen Stufen praxisnah und im Zusammenspiel mit bereits bestehenden militärischen Entscheidungsprozessen auszubilden.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
5
Aus Sicht der Psychologie beleuchtet Uwe Drews die Ethikausbildung
in den Streitkräften. Kritisch diskutiert er gängige Ausbildungsmethoden,
die auf dem entwicklungspsychologischen Fundament von Lawrence
Kohlberg beruhen und regt dabei an, sich Gedanken zur Messbarkeit
von Wirksamkeit und Qualität ethischer Ausbildungsprogramme im
Militär zu machen.
Aufbauend auf dem strukturierten Konzept für die Berufsethische
Bildung von österreichischen Unteroffizieren entwickelten die Ausbildner an der Heeresunteroffiziersakademie in Enns (A) Unterrichtsmaterialen, die auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kursteilnehmer zugeschnitten sind. Andreas Kastberger, Stefan Gugerel und Karl Novak
präsentieren dazu Resultate einer Untersuchung, in welcher die Unterrichtsteilnehmer nach ihrer persönlichen Einschätzung der Relevanz
berufsethischer Bildung befragt wurden.
Mathias Wilke stellt in seinem Aufsatz die Ausbildungshilfe „Lebenskundlicher Unterricht – selbstverantwortlich leben – Verantwortung für
andere übernehmen“ vor. Er postuliert den lebenskundlichen Unterricht
als unverzichtbare Ergänzung bei der Entwicklung berufsethischer Kompetenzen, der die Persönlichkeitsbildung der Soldatinnen und Soldaten
fördert, um ihnen die Handlungssicherheit zu geben, moralische Urteile
zu fällen und sich ethisch korrekt zu verhalten.
Ein spannender Erfahrungsbericht rundet diese Schrift ab: Stefan
Jurkiewicz schreibt von seiner Tätigkeit als Militärseelsorger bei der
Truppenbegleitung von ISAF in Afghanistan im Jahre 2009. Aus nächster Nähe erlebte er die persönlichen Probleme der sich im Einsatz befindenden Soldatinnen und Soldaten und verdichtet diese zu einem aufschlussreichen Lagebild über die psychischen Herausforderungen im
Einsatz.
Wir möchten allen Autoren herzlich für Ihr Engagement danken und
wünschen den Leserinnen und Lesern eine interessante und aufschlussreiche Lektüre.
Die Herausgeber
Dr. Stefan Seiler
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lic. phil. Andreas Fischer
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
BSc Sibylle Vögtli
Dilemmatraining – Entwicklung von moralischen
Entscheidungskompetenzen bei Schweizer Berufsoffizieren
Stefan Seiler
Andreas Fischer
In der Diskussion darüber, wie man am effizientesten Moral und Ethik
bei Soldaten und Offizieren ausbilden sollte, stellen sich regelmässig
folgende Fragen: Was soll in militärethischen Ausbildungsprogrammen
unterrichtet werden? Wie sollen die Inhalte im Unterricht vermittelt werden? Und wer sollte am Besten den Unterricht gestalten und abhalten?
Die Frage nach dem „was“ wird primär dadurch zu beantworten versucht, dass man den Gegenstandsbereich der Militärethik erläutert und
die Vor- und Nachteile verschiedenster ethischer Konzepte (aristotelische Tugendethik, Utilitarismus, Deontologismus usw.) im Bezug auf
militärisches Handeln gegeneinander abwägt. Bei der Frage nach der
richtigen Methodik werden verschiedenste Konzepte von formellem
Unterricht in der Moralphilosophie, über den Einsatz von Fallstudien,
moralischer Dilemmas oder dem Studium „moralischer Helden“ herumgereicht. Bei der Frage nach dem „wer“ diskutiert man darüber, ob
Ethiker, Philosophen, Geistliche, Psychologen oder erfahrenes militärisches Personal den besten Unterricht gestalten können (Robinson, 2008).
Alle diese Fragen sind zweifelsohne wichtig, um die Ausgestaltung des
militärethischen Unterrichts verbessern zu können und benötigen weiterer Klärung. Unser in diesem Artikel vorgestelltes Trainingsprogramm
konzentriert sich jedoch auf einen weiteren Aspekt, der unter Militärethikern erst seit wenigen Jahren verstärkt Beachtung findet und den Soldaten als Entscheidungsträger in den Mittelpunkt rückt. Das Treffen von
Entscheidungen gehört zu den Kernaufgaben von militärischen (und
zivilen) Verantwortungsträgern. Erfolg und Misserfolg sind dabei in grossem Masse davon abhängig, ob eine Führungskraft in der Lage ist eine
Situation richtig einzuschätzen, die aus der Analyse gewonnenen Erkenntnisse in realistische Zielsetzungen zu transformieren und diese
Ziele gemeinsam mit den Unterstellten zu erreichen.
Entscheidungen im militärischen Kontext haben praktisch immer einen
Einfluss auf das Wohlergehen anderer Menschen, der Gesellschaft oder
der Umwelt und sind deshalb ethisch relevant. Eine „verantwortungsbewusst handelnde“ militärische Führungskraft kann daher bei der
Planung und Umsetzung eines Einsatzes (und auch der Ausbildung)
ihren Fokus nicht nur auf die rücksichtslose Erfüllung des Auftrages richten, sondern muss sich dabei auch an ethisch-moralischen Massstäben
orientieren, die ihr Entscheiden und Handeln begleiten (Seiler, 2010).
Doch wie urteilen und entscheiden Menschen über moralische Aspekte einer Situation? Nehmen sie diese überhaupt wahr? Welche psychologischen Prozesse sind für deren Verarbeitung zuständig und wie lassen sich diese Prozesse durch Trainingsmassnahmen beeinflussen?
In diesem Artikel möchten wir versuchen, diese Fragen anhand des Interaktionalen Dual-Prozess Modells (IDP Modell) der moralischen Entscheidungsfindung (Seiler, Fischer, & Ooi, 2010) zu beantworten. Darauf aufbauend stellen wir die Trainingsmethodik vor, welche wir an der
Militärakademie an der ETH Zürich zur Ausbildung von Führungsverantwortung bei angehenden Berufsoffizieren anwenden.
Unsere Betrachtungsweise und unser Ausbildungskonzept basieren auf
psychologischen Entscheidungsprozessen, die intra- und interpersonal
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
7
stattfinden, wenn ein Individuum mit moralischen Herausforderungen
konfrontiert ist. Wir haben nicht den Anspruch, dass unser Ansatz alle
offenen Fragen im Zusammenhang mit militärethischer Ausbildung zu
beantworten vermag, sind aber überzeugt, dass der Fokus auf moralische Entscheidungskompetenz ein wesentlicher Faktor zur Entwicklung
von verantwortungsbewussten Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren
darstellt.
Das Interaktionale Dual-Prozess-Modell des moralischen
Entscheidens als Gr undlage für eine ef fiziente Trainingsstrategie
Um die psychologischen Prozesse, die an moralischen Entscheidungen
beteiligt sind, zu beschreiben, haben Seiler et al. (2010) die neusten
Erkenntnisse aus der moralpsychologischen Forschung zusammengefasst und in ihrem „Interaktionalen Dual-Prozess-Modell des moralischen Entscheidens“ (IDP Modell; siehe Abbildung 1) integriert.
Pe
Person
rson A
Pe
Person
rson B
eliciting
e
liciting
situation
situation
1.
1. moral
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perception
1.
1. moral
moral perception
perception
5a.
5
a. social
social
social
5.
iinteraction
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reasoning
reasoning
intuition
4.4.
4
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intuition
5a.
55.
a. social
social
social
interaction
ininteraction
teraction
reasoning
reasoning
3.
3. moral
moral
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judgment/
decision
decision
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rom d
decision
ecision to
to action
action
2. internal
internal dual
dual process
process
2.
2.
process
2. internal
internal dual
dual p
rocess
4.4.
4
. post
ppost
ost hoc
hoc
hoc
moral
moral decision
decision making
making process
process
5b.
5b. social
social
interaction
interaction
3.
3. moral
moral
judgment/
judgment/
decision
decision
motivation
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and
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ther interfering
interfering
other
ffactors
actors
moral
moral a
action
ction
moral
moral a
action
ction
Das IDP Modell beschreibt die Prozessschritte, die von der Wahrnehmung moralischer Aspekte in einer Situation, über das Treffen moralischer Urteile und Entscheidungen bis zur moralischen Handlung reichen. Wir werden in der Folge die einzelnen Schritte erläutern und
mögliche Konsequenzen für Trainingsinterventionen daraus ableiten.
Moralische Wahrnehmung (moral perception)
Bevor überhaupt ein moralischer Entscheidungsprozess in Gang gesetzt
werden kann, muss eine Person die moralischen Aspekte einer Situa -
8
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Abb. 1:
Das Interaktionale Dual-Prozess-Modell
des moralischen Entscheidens
(Seiler, Fischer & Ooi, 2010).
tion wahrnehmen. Ob und in welchem Umfang dies geschieht, hängt
von der Sensitivität der Person und der Intensität der moralischen Stimuli der Situation ab (Clarkeburn, 2002; Jones, 1991; Sparks & Hunt,
1998). Die moralische Sensitivität bezieht sich auf die persönliche Fähigkeit einer Person, moralische Aspekte einer Situation zu erkennen. Die
Intensität eines moralischen Stimulus bestimmt, wie gut er sich vom
Hintergrund einer Situation abhebt.
Eine effiziente Trainingsstrategie sollte aus diesem Grund die Diskussion oder Bearbeitung von moralischen Situationen mit einbeziehen,
die den realen Herausforderungen eines Offiziers oder Soldaten entsprechen. Das heisst, dass man Szenarien verwenden sollte, die moralische Aspekte mit instrumentellen Anforderungen (Aufträge, Ziele) und
situationalen Bedingungen (Zeitdruck, Gefahr) kombinieren. Nur so kann
sichergestellt werden, dass die moralische Intensitäten der Trainingssituation und der Realität vergleichbar sind und die Sensitivität für moralische Probleme militärischer Aufgaben geschärft wird (Seiler et al., 2010).
Internaler Dual-Prozess (internal dual-process)
Nachdem eine Person die moralischen Stimuli wahrgenommen hat,
werden diese verarbeitet. Bis in die späten 90er-Jahre war das kognitive Entwicklungsmodell des amerikanischen Psychologen Lawrence
Kohlberg (1927-1987) die einflussreichste Theorie über die Beschaffenheit dieser Verarbeitung. Kohlberg (1969, 1981) war der Auffassung,
dass ein moralisches Urteil das Resultat bewusster Denkprozesse (reasoning) ist. Die Qualität eines moralischen Urteils ist dabei vom kognitiven Entwicklungsstand eines Menschen abhängig, welcher bis zu einem
gewissen Grade durch gezieltes Training beeinflussbar ist.
In den letzten 20 Jahren geriet die Theorie von Kohlberg jedoch zunehmend unter Kritik. Verschiedene Studien (Haidt, 2001; Haidt et al., 2000;
Shweder & Haidt, 1993; Wilson, 1993) legten den Schluss nahe, dass
Menschen moralische Aspekte, nicht immer durch bewusstes Nachdenken, sondern oft intuitiv und ohne die Beteiligung bewusster Denkprozesse verarbeiten (intuition). Haidt (2001) zeigte, dass Menschen in
moralischen Dilemmas oft sehr schnell ein Urteil darüber abgeben können, ob sie die Handlung der Akteure moralisch „richtig“ oder „falsch“
finden, jedoch bei der Bitte um eine Begründung, keine Argumente zur
Unterstützung ihres Entscheids liefern können. Haidt (2001) schliesst
aus dieser „moralischen Sprachlosigkeit“ (moral dumbfounding), dass
diese Urteile kaum rational hergeleitet werden, sondern das Resultat
moralischer Intuitionen sind, die auf einer unbewussten und automa tischen Informationsverarbeitung beruhen.
Unter welchen Umständen bewusste Denkprozesse oder die Intuition
das grössere Gewicht haben, ist noch nicht vollständig geklärt und bedarf
weiterer Forschung (Narvaez, 2010). Beim Training moralischer Entscheidungskompetenzen ist es jedoch wichtig zu wissen, dass beide
Prozesse beteiligt sein können, und höchstwahrscheinlich miteinander
interagieren. Es macht darüber hinaus keinen Sinn, den einen Prozess
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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auf Kosten des anderen zu forcieren, da beide anfällig für kognitive Verzerrungen sind. Offiziere und Soldaten sollten daher ermutigt werden,
beiden Prozessen Raum zu geben, indem sie angeleitet werden, ihre
ersten, spontanen Reaktionen zu hinterfragen und im Gegenzug auch
immer zu prüfen, ob eine rational elaborierte Entscheidung mit ihren
intuitiven Neigungen und Gefühlen kompatibel ist. Nur so kann man
wirkungsvoll „Schnellschüssen“ vorbeugen und Entscheidungen herbeiführen, für die militärische Führungskräfte die Verantwortung übernehmen und, noch viel wichtiger, mit denen sie auch nach einem Einsatz gut „leben“ können.
Moralische Urteile / Entscheidungen (moral judgments
and decisions)
Ist die Verarbeitung des moralischen Stimulus vollzogen, bildet sich ein
moralisches Urteil, bzw. eine moralische Entscheidung. Dieses Urteil
oder diese Entscheidung muss aber keinesfalls schon endgültig sein,
da durch post-hoc-Denkprozesse und soziale Interaktion Änderungen
möglich sind.
Post-hoc-Denkprozesse (post hoc reasoning): Oft suchen Personen,
nachdem sie ein Urteil gefällt haben, nach Rechtfertigungsgründen.
Dabei kommt es häufig zu kognitiven Verzerrungen, da nur nach Argumenten gesucht wird, die das ursprünglich gefällte Urteil unterstützen,
während allfällige Argumente, die gegen das Urteil sprechen, nicht
beachtet werden (Perkins, Farady, & Bushey, 1991). Vollständig vermeiden lassen sich solche Verzerrungen kaum. Wenn man sich dieser
Problematik jedoch bewusst ist, ist die Chance immerhin erhöht, dass
man die eigenen Argumente kritisch überprüft und dadurch allenfalls
eine unmoralische Entscheidung verhindern kann.
Soziale Interaktion (social interaction): Moralische Urteile und Entscheidungen werden häufig im Beisein und in der Auseinandersetzung
mit anderen Menschen getroffen. Haidt (2001) erwähnte, dass die Äusserung eines moralischen Urteils andere Personen beeinflussen kann,
indem diese angeregt werden, erneut über einen moralischen Gegenstand nachzudenken (5a). Wir glauben ausserdem, dass sich Personen
durch die reine argumentative Auseinandersetzung mit einem moralischen Problem gegenseitig beeinflussen und dies noch bevor man für
sich ein abschliessendes Urteil oder eine endgültige Entscheidung gefällt
hat (5b).
Die individuelle Fähigkeit Urteile und Entscheidungen in moralischen
Konfliktsituationen zu treffen, wird durch die Interaktion und argumentative Auseinandersetzung mit anderen gefördert (Blatt & Kohlberg,
1975; Haidt, 2001). Deshalb gilt es eine Trainingsstrategie zu wählen, die
Interaktionen z.B. in Form von Diskussionen, Gruppenentscheidungen,
Rollenspielen etc. vorsieht. Darüber hinaus sollte auch das Management
von Gruppenprozessen nicht vergessen werden, denn oft werden un ethische Handlungen in der Gruppe vollzogen.
10
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Moralische Handlung (moral action)
Hat eine Person ein moralisches Urteil oder eine Entscheidung gefällt,
liegt der Schluss nahe, dass sie nun dieser Entscheidung entsprechend
handelt. Auch wenn dieser Schritt gedanklich einfach nachvollziehbar
ist, hat die Forschung gezeigt, dass dies nicht immer der Fall ist.
Obwohl man weiss, was richtig und was falsch ist, handelt man in der
Praxis nicht immer danach. Es reicht nicht zu wissen, welche Handlung
moralisch „richtig“ wäre – man muss sie auch ausführen wollen. Die
Motivation moralisch zu handeln, ist individuell unterschiedlich ausgeprägt und wird entscheidend dadurch bestimmt, ob man sich selbst als
fähig einschätzt, das moralisch Richtige in einer Situation durchzusetzen (Hannah & Sweeney, 2007). Das Entwickeln moralischer Entscheidungskompetenzen hat demnach zusätzlich den Wert, dass dem Soldat
ein „Werkzeug“ vermittelt wird, mit dem er sich befähigt fühlt, komplexe moralische Konfliktsituationen zu meistern. Dadurch soll die Diskrepanz zwischen Entscheidung und Handlung verringert und öfters das
„Gute“ getan und das „Schlechte“ verhindert werden.
Das einsatzspezifische Dilemmatraining
Beispiel: „Konvoi“-Dilemma
Sie sind Kommandant von UNSoldaten, welche einen Konvoi
bestehend aus 2 Radschützenpanzern, 2 PWs und 10 Lastwagen
mit dringend benötigten Versorgungsgütern für die vom Hungertod bedrohte Zivilbevölkerung
begleiten.
Dabei geraten Sie in eine Strassensperre, die von bewaffneten
Angehörigen einer Konfliktpartei
durch einen Radschützenpanzer
mit leichtem MG gesichert wird.
Für das Passieren der Strassen sperre verlangt der Anführer die
Hälfte der Hilfsgüter. Grössere
zeitliche Verzögerungen des Hilfsgütertransports könnten aufgrund
der sehr schlechten Wettervorhersage problematisch werden,
da die Transportwege allenfalls
unpassierbar werden.
Das einsatzspezifische Dilemmatraining ist an der Militärakademie der
ETH Zürich seit einigen Jahren ein fester Bestandteil des Ausbildungsblocks zur Entwicklung von Führungsverantwortung bei angehenden
Berufsoffizieren. Der Inhalt des Trainings wurde gemäss den theoretischen Überlegungen des IDP Modells gestaltet.
In einer ersten Phase wird den Trainingsteilnehmern ein Szenario mit
einem moralischen Dilemma präsentiert (siehe Beispieldilemma). Das
Szenario wird so ausgestaltet, dass es möglichst gut einer Situation entspricht, die von den Teilnehmern in ihrem realen Aufgabenbereich auch
tatsächlich angetroffen werden könnte. So kann man sich der realen
moralischen Intensität einer Situation annähern und die moralische
Sensitivität der Teilnehmer wird für aufgabenbezogene moralische
Aspekte geschärft.
Nach dem Lesen des Szenarios werden die Teilnehmer in einer zweiten
Phase gebeten, eine individuelle Lösung des Problems zu entwickeln.
Durch eine schematische Vorgehensweise werden die Teilnehmer
gezwungen rationale und intuitive Prozesse miteinander zu vereinen.
a) Die Teilnehmer werden gebeten, ihre spontane Reaktion aufzuschreiben. Dieser Schritt soll dazu beitragen, die intuitiven Anteile
der Entscheidungsfindung bewusst zu machen.
b) Dann sollen die Teilnehmer die Kernproblem des Szenarios aus instrumenteller (Was ist hier meine Aufgabe? Wie lautet mein Auftrag?)
und aus moralischer Sicht (Was sind die moralischen Herausforderungen in dieser Situation? Welche moralischen Werte sind bedroht?)
bestimmen.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
11
c) In einem weiteren Schritt identifizieren die Teilnehmer alle von der
Situation betroffenen Personen, Gruppen und Institutionen. Sie versuchen deren Interessen zu erkennen und setzen diese mit den Kernproblemen in Verbindung.
d) Anschliessend entwickeln die Teilnehmer verschiedene Lösungsalternativen und bewerten diese hinsichtlich instrumenteller und
moralischer Aspekte und treffen eine Entscheidung, die sie schriftlich begründen.
e) Da in einem Dilemma nie alle Interessen gleichwertig gegeneinander abgewogen werden können, sollen die Teilnehmer auch Handlungen in ihre Lösungen einfliessen lassen, die unerwünschte Wertverletzungen zumindest ein Stück weit kompensieren können.
f) Die Teilnehmer sollen ihre Lösung abschliessend mit ihren ursprünglichen intuitiven Urteilen vergleichen und über Unterschiede und
Gemeinsamkeiten reflektieren.
In einer dritten Phase diskutieren die Teilnehmer ihre individuell getroffenen Lösungen in kleinen Gruppen von ca. 4 – 6 Personen. Hier sollen
sie ihre Argumente vorlegen, die Lösungen anderer reflektieren und in
ihre Gedankengänge einfliessen lassen. Martinelli-Fernandez (2006)
empfiehlt, dass der Fokus solcher Gruppendiskussionen nicht nur auf
die Lösung, sondern ebenfalls auf die Motive dahinter gerichtet werden
sollte. Durch die Frage nach dem Warum werden die Teilnehmer gezwungen ihre Argumente vorzubringen und der kritischen Überprüfung durch
die anderen auszusetzen.
In einer vierten Phase sollte die Gruppe schliesslich zu einer gemeinsamen Lösung kommen und ihre Erfahrungen mit anderen Gruppen in
einer Plenumsdiskussion teilen. Diese letzte Phase erlaubt es den Teilnehmern, noch einmal über ihren individuellen Beitrag zur Gruppenlösung, sowie ihr Verhalten und die Dynamik in der Gruppe nachzudenken. Die dritte und vierte Phase des Trainings bezieht sich auf die
IDP-Prozesskomponente der sozialen Interaktion.
Durch das mehrmalige Wiederholen des Trainings zu verschiedenen
inhaltlichen Szenarien, sollten die Teilnehmer ein Prozessschema verinnerlichen, mit dem sie in der Lage sind, unterschiedlichste moralische
Konfliktsituationen zu meistern. Man muss sich jedoch bewusst sein,
dass die Entwicklung automatischer Denkschemata Zeit braucht und
ständiges Training erfordert.
Diskussion
Im Militär werden rund um die Welt unterschiedliche Ethik-Programme
durchgeführt. Leider stehen viele dieser Programme nur auf einer schwachen konzeptionellen oder theoretischen Basis oder wenden Methoden
an, die nicht auf die Herausforderungen des soldatischen Berufs zugeschnitten sind. Zudem werden die meisten dieser Programme nicht auf
ihre Wirksamkeit überprüft. In diesem Artikel haben wir ein Trainingsprogramm vorgestellt, das auf den theoretischen Überlegungen des IDP
Modells beruht. Das IDP Modell beschreibt, welche Prozesse bei der Ent-
12
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
stehung moralischer Urteile und Entscheidungen beteiligt sind. Aus diesen Erkenntnissen haben wir mehrere Interventionskriterien abgeleitet
und dargestellt, wie das einsatzspezifische Dilemmatraining diese Kriterien berücksichtigt.
Um unserer eigenen Forderung nach einer kritischen Überprüfung der
Wirksamkeit des Trainings nachzukommen, haben wir eine Interventionsstudie zur Überprüfung der Wirksamkeit des einsatzspezifischen
Dilemmatrainings auf die moralische Entscheidungskompetenz durchgeführt. Erste Resultate zeigen, dass das Training einen positiven Einfluss auf die moralische Wahrnehmung, die Qualität der Auseinandersetzung mit moralischen Aspekten und die Bereitschaft zur Entwicklung
von Kompensationshandlungen hat. Zudem hat es einen positiven Einfluss auf prozessbezogene Aspekte im Zusammenhang mit moralischen
Entscheidungsprozessen, wie zum Beispiel das Durchführen einer systematischen Lagebeurteilung oder das Entwickeln von alternativen Lösungen. Die detaillierten Ergebnisse dieser Interventionsstudie werden zur
Zeit in einer umfassenden Forschungspublikation dargestellt und diskutiert (Seiler, Fischer, & Voegtli, under review).
Zum Schluss bleibt anzufügen, dass die Effekte eines einmaligen Trainings kaum über längere Zeit bestehen bleiben. Ethisches Entscheiden
und Handeln lässt sich nicht per Kurzintervention entwickeln und anschliessend per Knopfdruck aktivieren, sondern muss durch ständige
Übung entwickelt werden. Zudem empfehlen wir, dass moralische Konfliktsituationen nicht nur im Theoriesaal bearbeitet werden, sondern
dass sie Gegenstand der praktischen militärischen Ausbildung werden.
Erst so wird es gelingen, dass Soldatinnen und Soldaten lernen, die
instrumentelle und ethische Dimension ihrer Aufgaben zu erkennen, zu
verknüpfen und sich verantwortungsvoll zu verhalten.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
13
Blatt, M., & Kohlberg, L. (1975). The effects of classroom moral discussion upon children’s level of moral judgment. Journal of Moral
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14
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Literaturverzeichnis
Gewissenhaftes Handeln im Militär
Gedanken zum militär ethischen Handlungs- und Entscheidungspr ozess sowie zur
militärethischen Ausbildung und Methodik
„Ohne Zweifel würde das Soldatenhandwerk (…) noch härter, als es
ohnehin schon ist. Doch in Anbetracht der Leiden, die es häufig verursacht, kann es nicht Sache der Moralphilosophie sein, es leichter zu
machen.“
M. Walzer1
„Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aussprechen lässt.“
L. Wittgenstein2
Dieter Baumann
1. Einleitung
Die Arbeitsgruppe „Sachstand ethischer Bildung in den Streitkräften“
hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, aktuelle Tendenzen und Herausforderungen im Bereich der militärethischen Bildung / militärischen
Berufsethik zu thematisieren und zu diskutieren. Während der eigenen
Arbeit zur Militärethik, gerade auch während meiner Bemühungen,
Militärethik praxisorientiert auszubilden, kristallisierten sich vier Themenfelder heraus, die meiner Meinung nach in Zukunft noch vertiefter
bearbeitet werden sollten.3 Das erste Themenfeld ist der Frage gewidmet, bis auf welche Funktion und Stufe Militärethik ausgebildet werden
soll. Das zweite bezieht sich auf die Berücksichtigung der Wechselwirkung zwischen Vernunft und Emotion in der militärethischen Bildung
mit der Frage, welche Rolle dem Gewissen zukommt. Drittens werden
verschiedentlich Wege, Schemas und Abläufe zur ethischen Urteilsbildung publiziert. Gibt es in diesem Bereich einen geeigneten Ansatz für
die militärische Praxis? Und schliesslich stellt sich die Frage, mit welchen Methoden Militärethik ausgebildet werden soll, damit die Ausbildung nicht nur oberflächlich und theoretisch bleibt, sondern die Grundhaltung und somit das Handeln der Soldaten prägt, ohne dabei zu
indoktrinieren und zu manipulieren.
Ziel des Beitrages ist es, die aufgrund von diesen Fragestellungen entwickelten nachfolgenden vier Thesen plausibel zu machen und anzudeuten, wie eine umfassende Begründung dieser Themenfelder aussehen würde, was an dieser Stelle nicht ausführlich geleistet werden kann.4
These 1: Eine gründliche Militärethikausbildung ist heute bis auf
Stufe Soldat / Soldatin notwendig.
1. Walzer, M., Erklärte Kriege – Kriegserklärungen,
Hamburg 2003, 61.
2. Wittgenstein, L., Tractatus Logico-Philosophicus,
6.421, Frankfurt a. M. 1984, 83.
3. Vgl. dazu auch: Cook, M., Syse, H., What Should
We Mean by „Military Ethics“?, in: Journal of
Military Ethics, Vol. 9, No. 2, 119 -122, 2010.
4. Der Text basiert auf meinem Vortrag anlässlich
der Konferenz „Sachstand ethische Bildung in
den Streitkräften“ an der Militärakademie an der
ETH Zürich. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
Der Text übernimmt teilweise wörtlich Gedanken
aus meinem Artikel Militärethik – Was sonst?, in:
Zentrum Innere Führung (Hrsg.), Sachstand der
ethischen Bildung in den Streitkräften, Arbeitspapier III/2008, Koblenz 2009, 40-56.
These 2: Das Zusammenspiel zwischen Emotionen/Intuitionen und
Vernunft wird in der militärethischen Ausbildung noch zu wenig
berücksichtigt. Das Gewissen spielt für das Urteilen, Entscheiden
und Handeln eine entscheidende Rolle.
These 3: Die militärischen Führungstätigkeiten eignen sich als
Schritte der ethischen / moralischen Urteilsbildung – keine Verdoppelung von Strukturen und Begriffen im militärischen Umfeld.
These 4: Förderung eines praxisintegrierten und „narrativen“
Methodenansatzes, der auf Sinnvermittlung und Prägung der
Grundhaltung zielt.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
15
Die Thesen werden im Folgenden unterschiedlich tief erläutert (3.– 6.).
Zuvor ist jedoch darzustellen, was unter einer integrativen Militärethik
verstanden wird, da dieser Ansatz das Grundgerüst für die Beantwortung der Thesen bildet (2.).5 Als Zusammenfassung wird abschliessend
ein Kodex für Soldaten vorgestellt (7.).
2. Integrative Militärethik
Definition und Ziel: Militärethik ist die kritische Reflexion über a) das
richtige und gute Handeln und Verhalten von Soldaten und Soldatinnen; b) das friedensfördernde Verhältnis zwischen Armeen, Staaten und
der internationalen Gemeinschaft sowie c) das Selbstverständnis einer
Armee mit ihrer Führungs-, Ausbildungs- und Erziehungskultur.6 Ziel
der militärethischen Bildung ist es, dazu beizutragen, dass der Soldat
und die Soldatin (aller Hierarchiestufen) ethisch korrekt handeln und
sich moralisch verhalten.
Nur, was ist „ethisch korrektes Handeln“? Der vorliegende Ansatz definiert das moralisch Gute / Richtige als das „Gute für den Menschen als
Gemeinschaftswesen“7 und bezieht sich deshalb sowohl auf das Individuum mit seinem Gewissen wie auch auf die Gemeinschaft(en) mit
dem Recht, den Institutionen und den Sitten. Die anthropologischen
Grundeigenschaften der Menschen dienen dabei als Fundament der
normativen Begründungen. Ethik will als kritische Reflexion der Moral
einen überparteilichen Standpunkt einnehmen und universalisierbare
Werte, Normen sowie Prinzipien formulieren. Die ethische Reflexion orientiert sich in dieser Perspektive vor allem an der allen Menschen unveräusserlichen Menschenwürde mit den daraus abgeleiteten elementaren Menschenrechten. Militärethik als Bereichsethik will das so definierte
„moralisch Gute“ in Bezug auf die Institution Armee und die Soldaten
und Soldatinnen konkretisieren.
Vier Ebenen: Eine integrative Militärethik will auf Fragen auf vier Ebenen eine Antwort geben:8
1. Ebene (Gesellschaft): Zu welchen Zielen (wozu) und in welcher Situation (wann) ist die Anwendung militärisch organisierter Gewalt ethisch
gerechtfertigt? (militärische Sozialethik)
2. Ebene (Armee): Welchen Normen unterliegt militärisches Handeln
und speziell die Anwendung militärischer Gewalt vor, während und
nach einem Einsatz? Wie ist eine diesen Normen entsprechende
Armee zu gestalten und in der Gesellschaft zu verankern? Wie hat die
Institution Armee beschaffen zu sein und welche soziale Verantwortung trägt die militärische Organisation gegenüber ihren Angehörigen? (militärische Institutionenethik)
3. Ebene (Führung und Ausbildung): Was ist eine gute militärische
Führungs-, Ausbildungs- und Erziehungsperson? Welches sind die
normativen Grenzen der militärischen Führung, Ausbildung und Erziehung? Worin besteht die Fürsorgeaufgabe militärischer Vorgesetzter? (militärische Führungsethik)
4. Ebene (Soldat / Soldatin): Wie soll ein heutiger Soldat, eine heutige
Soldatin sein, handeln und sich verhalten? Welche Fähigkeiten, cha-
16
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
5. Vgl. ausführlich: Baumann, D., Militärethik, Stuttgart 2007; ders., Militärethik – Was sonst?
6. Vgl. dazu, Baumann, D., Armeeaufträge aus
militärethischer Sicht, in: Military Power Revue,
Nr. 1/2008, 19-30. Vgl. auch Smith, R., The Utility
of Force, London 2006; Münkler, H., Der Wandel
des Krieges, Göttingen 2006.
7. Vgl. Tugendhat, E., Vorlesungen über Ethik,
Frankfurt a. M. 1993, 49-64.
8. Vgl. in Anlehnung an L. Bendel Baumann, D.,
Militärethik , 141f.; Bendel, L., Soldat und Ethik,
in: O. Hoffmann, A. Prüfert (Hrsg.), Innere
Führung 2000, Baden-Baden 2001, 9-24.
rakterlichen Dispositionen und Verhaltensweisen (Tugenden) sind
wünschenswert oder sogar notwendig und wie können diese ausgebildet werden? Wie gelingt dem Menschen als Soldat oder Soldatin
ein gelingendes (glückliches) Leben? (militärische Individualethik)
Abb. 1:
Integrative Militärethik.
Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen: 9 Diese Ebenen können nur
idealtypisch voneinander getrennt werden, sie sind immer miteinander
verknüpft. So bewirken beispielsweise der durch die Tugenden und die
Erziehung geformte Charakter und das durch Wissen und Erfahrung
gebildete Gewissen, eine Situation überhaupt als ethisch relevant wahrzunehmen (Was ist das ethische Problem? Gibt es überhaupt ein ethisches Problem?).
Die durch die Ausbildung geschulte und durch Erfahrung geprägte moralische Urteilskraft ermöglicht es, die von der Gesellschaft oder der
militärischen Institution implizit übernommenen oder explizit reflektierten allgemeinen Werte und Normen auf eine spezielle Situation und
ihre inhärenten Handlungsmöglichkeiten hin anzuwenden. Die einzelnen Möglichkeiten werden dabei durch die Vernunft und die moralische
Intuition (implizit oder explizit) gewichtet (Was soll oder muss ich in dieser Situation tun?).
Der wiederum aus dem gebildeten Gewissen und der Erfahrung stammende und durch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung und situative
Faktoren motivierte Wille wählt (rational oder intuitiv) die den fachlichen, körperlichen und institutionellen Fähigkeiten entsprechende Handlungsmöglichkeit (Was kann und will ich tun?).
Bei der daraus folgenden Umsetzung der Handlung bestimmen wieder
die Tugenden die Art und Weise des Handelns (Wie soll ich es tun?).
9. Vgl. Baumann, D., Militärethik, 143.
Da nun aber in den meisten Fällen dieser Prozess nicht reflektiert, sondern intuitiv und vielfach sogar spontan abläuft, spielen die Grundhaltung und die Einstellung der Handlungsperson, die ihrerseits eine
biografische Entwicklung und kulturelle Prägungen aufweist, eine ent-
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
17
scheidende Rolle. Sie richten nämlich die Wahrnehmungserfassung und
Spontaneität im Handelnden so aus, dass – im Idealfall – reflexiv so
gehandelt wird, wie es dem eigenen Selbstbild entspricht (Wer will ich
sein? Als wen will ich mich zu verstehen geben?).
Gleichzeitig prägt die „Atmosphäre“ in einer Situation oder einem konkreten Kontext die Wahrnehmung und Handlungsweise unbewusst (Wie
wirken wir als Gruppe, Gemeinschaft? Wie werden wir von „Stimmungen“ beeinflusst?). Diese „Atmosphären“ sind ihrerseits von gesellschaftlichen, institutionellen und individuellen Werten mitgeprägt.
Der Einzelne wäre überfordert, wenn er zu jeder Zeit alle Handlungsalternativen beurteilen und alle an ihn gestellten Ansprüche erfüllen müsste. Daher haben (ethisch reflektierte) Maximen, rechtliche und soziale
Normen sowie Prozesse ihre unverzichtbare Funktion in der notwendigen Komplexitätsreduktion der Wirklichkeit (Wie sehen ethisch verantwortbare individuelle, institutionelle und gesellschaftliche Strukturen,
Normen und Prozesse aus?), die wiederum alle Ebenen beeinflussen.
Abb. 2: Wechselwirkungen.
3. Militärethik zielt auf Praxis
These 1: Eine gründliche Militärethikausbildung ist heute bis auf
Stufe Soldat / Soldatin notwendig.
Um diese These plausibel zu machen, werde ich in einem ersten Schritt
zeigen, was ich unter Nachhaltigkeit in der Militärethikausbildung verstehe. Daraus wird ersichtlich, wieso Militärethik nicht nur bestimmten
Funktionen wie zum Beispiel Offizieren vorbehalten bleiben soll, sondern jeder Soldat und jede Soldatin stufengerecht eine militärethische
Ausbildung erhalten sollte. Daran anschliessend zeige ich anhand des
„hybrid-strategischen“ Soldaten, dass die Moral in den gegenwärtigen
Konflikten ein entscheidender Faktor ist und auch aus diesem Grund
18
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Militärethikausbildung auf allen Stufen nicht nur wünschbar, sondern
vielmehr notwendig ist.
Nachhaltigkeit: Es geht bei allen militärethischen Überlegungen und der
Militärethikausbildung letztlich darum, dass Soldaten und Soldatinnen
einen legitimen Auftrag bezogen auf die heutigen Bedrohungsformen
und das daraus resultierende sicherheitspolitische Einsatzspektrum von
Armeen nach einer verantwortbaren Ausbildung nachhaltig erfüllen können. Eine solche Nachhaltigkeit ist dann gegeben, wenn mindestens
vier Felder zusammenwirken: 10
1) Wenn erstens der einzelne Soldat bzw. die Soldatin rational und emotional überzeugt ist, das ethisch sowie rechtlich Verantwortbare zu
tun, sich entsprechend verhält und dadurch seine Handlungen und
(zum Teil traumatischen) Erlebnisse auch verarbeiten kann, was sich
positiv auf seine familiäre und gesellschaftliche Verankerung auswirken kann.
2) Wenn zweitens die Institution Armee ihre Operationstypen, die institutionelle Verfasstheit sowie die Fähigkeiten ihrer Soldaten und
Soldatinnen an die jeweiligen Bedrohungsformen und rechtlichen
Rahmenbedingungen anpasst und somit als Organisation innerhalb
der ethischen Leitlinien effektiv und effizient handelt.
3) Wenn drittens die eigene Gesellschaft (und Politik) die Armee und
ihre Soldaten und Soldatinnen in ihrer Aufgabe unterstützt, sie nicht
missbräuchlich einsetzt sowie ihnen Wertschätzung entgegenbringt
und deshalb auch ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die
Armeeaufträge besteht.
4) Wenn viertens die Staaten der internationalen Gemeinschaft und die
Weltöffentlichkeit einem umfassenden Friedens- und Sicherheitskonzept verpflichtet sind, innerhalb welchem militärische Organisationen und Einsätze in bestimmten Kontexten als legitim, legal und
notwendig zum Erhalt eines „rechtmässigen Friedens“ erachtet werden, gegen Missbräuche militärischer Gewalt aber auch entschieden
vorgegangen wird.
„Hybrid-strategischer“ Soldat: 11 Die Verantwortung, aber auch die
notwendigen Fähigkeiten von Soldaten und Soldatinnen gerade auf
unterer und unterster Stufe steigen in heutigen, durch die Bedrohungslage bedingten „Full-Spektrum-Operationen“ im Sicherheitsverbund an. Entsprechende „integrierte Missionen“ finden meistens „inmitten der Bevölkerung“ (R. Smith) statt und stehen und fallen mit der
Legitimität und Akzeptanz der Einsätze bei der betroffenen Bevölkerung.
Ethisch korrektes Verhalten und kulturelle Sensibilität sind in diesen
multikulturellen Situationen entscheidend, um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen. Dazu muss militärethische Bildung beitragen.
10. Vgl. Baumann, D., Militärethik – Was sonst? 43f.
11. Vgl. Haltiner, K., Kümmel, G., Die Hybridisierung
des Soldaten: Soldatisches Subjekt und Identitätswandel, in: G. Kümmel (Hrsg.), Streitkräfte
im Einsatz, Baden-Baden 2008, 47-53.
Durch die Medien, das nationale Strafrecht sowie das Völkerstrafrecht
wird aber auch die individuelle Schuldfrage zunehmend in den Fokus
gerückt. „Nur“ Befehle ausgeführt zu haben, reicht heute bei weitem
nicht mehr zur individuellen Entlastung. Aber auch rechtlich korrektes
Verhalten sistiert letztlich nicht die moralische Schuldfrage. Die reale
oder wahrgenommene moralische Schuld meldet sich im Gewissen mit
den entsprechenden emotionalen Begleiterscheinungen (posttrauma-
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
19
tische Belastungsstörung). Auch in diesem Bereich muss die Militärethik
ihren Beitrag leisten.
Im alltäglichen Handeln müssen rechtliche Rahmenbedingungen und Prozesse etabliert werden, die ethisch und rechtlich korrektes Verhalten fördern. Für den militärischen Einsatz braucht es Einsatz- und Verhaltensregeln, die rechtlich und ethisch korrektes Handeln ermöglichen. Diese
dienen unter anderem auch dazu, die Soldaten und Soldatinnen zu entlasten, indem ihnen in die Überfülle von Handlungsvarianten eine Struktur gelegt wird und Richtungen der Handlungsmuster vorgezeigt werden.
Solche Rahmenbedingungen und Regeln sollen die Soldaten und Soldatinnen dabei entlasten, jedoch nicht aus der Verantwortung entlassen. Auch Gegebenes ist von Zeit zu Zeit kritisch in Frage zu stellen. Ein
gebildetes soldatisches Gewissen ist daher entscheidend und eine
militärethische Bildung bis auf Stufe Soldat / Soldatin notwendig. Dies
führt mich zur zweiten These über das Gewissen.
4. Militärethik zielt auf die Grundhaltung des Soldaten
These 2: Das Zusammenspiel zwischen Emotionen/Intuitionen und
Vernunft wird in der militärethischen Ausbildung noch zu wenig
berücksichtigt. Das Gewissen spielt für das Urteilen, Entscheiden
und Handeln eine entscheidende Rolle.
Zum Plausibilisieren dieser These wird im Folgenden zuerst gezeigt, wie
zentral und untrennbar die Wechselwirkungen zwischen Vernunft und
Emotionen sind, die sich in der Grundhaltung des Soldaten und der Soldatin oder dem Ethos einer Armee zeigen. Das schwer zu definierende
„Gewissen“ spielt dabei die zentrale Rolle.
Wechselwirkung Vernunft – Emotionen: 12 Wenn Militärethik auf das Handeln und Verhalten von Soldaten und Soldatinnen zielt, dann muss sie
berücksichtigen, dass die meisten Handlungen intuitiv, teilweise unbewusst und oft auch spontan oder sogar affektiv geschehen. Dies nicht
nur im Einsatz, dort aber besonders, sondern auch im Alltag. Es besteht
daher eine enge Wechselwirkung zwischen Vernunft, Emotionen und
Intuitionen. Die teilweise anzutreffende Unterscheidung zwischen Vernunft und Intuition (bzw. Emotionen) oder auch Vernunft und Erfahrung
ist aus diesem Grund zu Gunsten eines Ansatzes der Wechselwirkung
zu überwinden.
Intuitionen / Emotionen / Erfahrungen spielen bei (militär-)ethischen
Fragestellungen mindestens eine dreifache Bedeutung.13
1) Auf der individuellen Ebene helfen sie unter anderem mit, sich in das
Gegenüber einfühlen zu können (Empathiefähigkeit, kulturelle Sensibilität), die in der konkreten Situation spontan richtige Entscheidung
zu treffen sowie geforderte Prinzipien oder Vorschriften (wie z.B. Einsatzregeln) zu verinnerlichen. Vielfach erfolgen Handlungen spontan,
intuitiv und affektiv. Es ist deshalb entscheidend, wie diese Spon taneität „gerichtet“ ist, welches die Grundhaltung des Soldaten ist.
20
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
12. Vgl. Baumann, D., Militärethik – Was sonst? 48f.;
Ammann, Ch., Emotionen – Seismographen der
Bedeutung, Stuttgart 2007; Fischer, J., Grundlagen der Moral aus ethischer Perspektive und aus
der Perspektive der empirischen Moralforschung, in: J. Fischer, St. Gruden (Hrsg.), Die
Struktur der moralischen Orientierung, Münster
2010, 19-48.
13. Vgl. zu Folgendem vor allem Fischer, J., Theologische Ethik, Stuttgart 2002, 124-131, 239-251.
Diese Intuitionen / Emotionen / Erfahrungen sind jedoch mit Hilfe der
Vernunft aufzuklären und zu formen.
2) Auf der institutionellen Ebene hilft der gelebte „Habitus“ der Soldaten und Soldatinnen mit, eine „Atmosphäre“ zu schaffen, die das
Umfeld affiziert. Der herrschende „Geist“ in einer Gruppe, Institution
oder Gesellschaft wirkt auf einer vorsprachlichen und wohl auch vorbewussten Ebene stark. Dieses Phänomen lässt sich gut in Konfliktgebieten beobachten. Unter anderem durch die Omnipräsenz von
Gewalt und das Auftreten von marodierenden Banden findet eine Verrohung der Sitten statt. Vieles wird in dieser Atmosphäre gar nicht
mehr als falsch oder schlecht angesehen oder fällt unter eine falsch
verstandene Gruppenkohäsion. Vor diesen Phänomenen sind auch
Armeen nicht gefeit. Den Sitten und Gebräuchen, der Sprache, den
Ritualen und Symbolen in der militärischen Gemeinschaft ist daher
ein spezielles Augenmerk zu schenken.
3) Auf der ethischen Prinzipienebene helfen die Intuitionen im Sinne eines
ethischen Kohärentismus mit, das für den Menschen moralisch Entscheidende emotional und rational in ein Gleichgewicht zu bringen.14
Gewissen: Im Gewissen, wie ich es verstehe, wirken rationale, emotionale, intuitive, triebhafte, motivierende, rechtfertigende und gesellschaftliche sowie transzendentale Elemente ineinander; oder einfacher
gesagt: verschmelzen „Herz“, „Geist“, „Bauch“, „Seele“ und „Verstand“
zu einer einmaligen persönlichen Individualität und einem Selbstbild.
Das Gewissen ist eine die Vernunft und Emotionen übergreifende Instanz,
die eine die Handlungen und das Verhalten motivierende, prüfende, leitende sowie begleitende Funktion hat.
Das Wissen über pflichtgemässes Verhalten führt nicht zwangsläufig zu
einem solchen Verhalten. Vielmehr benötigt der Mensch eine Art „Regelinstanz“, die mit moralischen Emotionen und Gefühlen wie Freude, Stolz,
Scham oder Schuld zu einem entsprechenden Verhalten „motiviert“. Erst
durch die Verankerung des Wissens im Gewissen entstehen die Einsicht
und das daraus resultierende Handeln aus einem Nicht-anders-Können
heraus (das Wissen ist affektiv und emotional erfasst).
14. Vgl. u. a. Rawls, J., Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1974, 68-71.
15. Vgl. Ratzinger, J., Werte in Zeiten des Umbruchs,
Freiburg 2005, 101ff.
16. Vgl. Arendt, H., Über das Böse, München 2006,
9-45.
17. Vgl. Welzer, H., Klimakriege, Frankfurt a.M. 2008,
30.
Aber das Gewissen des Einzelnen kann – gerade wegen der zunehmenden Komplexität und der Handlungsmöglichkeiten – irren,15 oder es kann
durch gewaltträchtige oder inhumane Situationen und Atmosphären verrohen. Historische Erfahrungen veranschaulichen, wozu Menschen fähig
sind, wenn es zu einem gesellschaftlichen „Massenschlaf des Gewissens“
(F. Eberhard) aufgrund von Konformitätsdruck oder zunehmender Funktionalisierung und Bürokratisierung kommt.16 In einem gesellschaftlichen
oder institutionellen System können sich inhumane Werte etablieren,
oder es kommt zu „eingebauten Verantwortungslosigkeiten“ (H. Welzer)
durch den arbeitsteiligen Vollzug von Handlungen.17 Das Gewissen der
Entscheidungsträger muss daher in der militärethischen Ausbildung
immer wieder durch Reflexion gebildet, geprägt und kultiviert werden.
Gleichzeitig müssen aber auch rechtliche Rahmenbedingungen und Prozesse geschaffen werden, die Irrtümer oder Versagen von Verantwortungsträgern verhindern helfen. Deshalb kommt auch eine Militärethik
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
21
nicht ohne Prozesse, Organigramme, Hierarchien, Verfahren und Reglemente aus, die aber jeweils auf ihre ethischen Grundlagen und Auswirkungen zu prüfen sind. Dies kann unter anderem mit Hilfe der ethischen
Urteilsbildung gemacht werden, was mich zu meiner nächsten These führt.
5. Zur militärethischen Urteilsbildung
These 3: Die militärischen Führungstätigkeiten eignen sich als
Schritte der ethischen /moralischen Urteilsbildung – keine Verdoppelung von Strukturen und Begriffen im militärischen Umfeld.
Nach einigen Vorbemerkungen zum Prozess der ethischen Urteilsbildung wird zur Beantwortung dieser These ein erster Ansatz eines entsprechenden Schemas mit möglichen Fragen pro Vorgehensschritt vorgestellt.
Vorbemerkung: Eine Funktion der Militärethik besteht darin, mitzuhelfen, bei aktuellen oder möglichen Konflikten zwischen Handlungsmöglichkeiten, die nicht rein „militärtechnischer“ Natur sind, eine Entscheidung herbeizuführen. Solche Konflikte können auf mindestens
dreierlei Weise entstehen. Erstens, indem die einzelne Militärperson im
eigenen Gewissen feststellt, dass in der vorliegenden Situation etwas
mit ihrem persönlichen Wertesystem nicht übereinstimmt, was sich vielfach in einem entsprechenden Gefühl oder so genannten „Gewissensbissen“ zeigt. Zweitens, wenn die handelnde Person bemerkt, dass unterschiedliche Verpflichtungsaspekte miteinander kollidieren und sie nicht
beiden Aspekten gleichzeitig gerecht werden kann (interner Werte- und
Güterkonflikt). Drittens, indem unterschiedliche Personen eine Situation in unterschiedlicher Weise beurteilen, weil sie unterschiedliche Wertvorstellungen und Wertepriorisierungen oder sogar andere kulturelle
Wertesysteme zu Grunde legen (externer Wertekonflikt).18 Gerade der
letzte Punkt ist bei militärischen Einsätzen fast immer gegeben. Militärs
greifen in Konfliktsituationen ein, die teilweise gerade aufgrund unterschiedlicher Wertevorstellungen (Ethnien, Religionen, Kulturen, Regierungsformen, Minderheiten etc.) entstanden sind. Im Planungsprozess
müssen daher Handlungsoptionen entwickelt werden, die nicht zwingend mit dem Wertesystem aller beteiligten Parteien in Einklang gebracht
werden können. Auch aus diesem Grund ist es für den militärischen
Bereich so wichtig, universell anerkannte ethische Prinzipien (Menschenwürde, elementare Menschenrechte etc.) vor einem Einsatz zu
definieren und diese in eine rechtliche Form zu giessen (Völkerrecht,
humanitäres Völkerrecht, Einsatzregeln etc.). Diese ethischen Prinzipien und rechtlichen Normen bilden anschliessend die Schranken der Planung auf strategischer, operativer und taktischer Stufe und helfen mit,
ethisch vertretbare Endzustände zu definieren.
Zum Prozess: Zur Erarbeitung einer Lösung hilft ein strukturierter, rationaler Prozess der ethischen Urteilsbildung. Dieser soll es ermöglichen,
eine möglichst adäquate und umfassende Beurteilung der Situation mit
ihrer Faktenlage und Optionen zu erreichen, um den Entscheid breit
abzustützen. Es darf aber im gesamten Prozess nicht ausgeblendet wer-
22
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
18. Vgl. zu dieser Unterscheidung Mathwig, F.,
Stückelberger, Ch., Grundwerte, Zürich 2007.
den, dass bei jedem Schritt immer intuitive und emotionale Elemente
enthalten sind und vieles wiederum von der Wahrnehmung und den
richtigen Schlussfolgerungen abhängig ist. Schemas garantieren nicht
schon die Lösung, sondern sie sollen mithelfen, wichtige Punkte nicht
zu vergessen oder auszublenden.
Der Prozess kann auf konkrete Einzelfälle / Situationen bezogen werden,
aber auch auf ethische Grundsatzfragen, Prinzipen oder Maximen. Die
Art und Weise sowie die Tiefe der Erarbeitung hängt entscheidend vom
Faktor Zeit und der Komplexität der Situation oder Fragestellung ab.
Je mehr Zeit zur Verfügung steht, je komplexer oder neuer die Aufgabenstellung, desto umfassender und methodengeleiteter hat die Analyse auszufallen.19 Fehlt die Zeit, wird man sich auf seine moralische
Intuition verlassen bzw. auf seine „innere Stimme“ (sein „Gewissen“)
hören. Diese Intuition soll daher durch exemplarische Anwendung des
Prozesses in der militärethischen Ausbildung mitgeprägt werden.
In der Militärethik drängt sich auf, dass zur Urteilsbildung nicht ein eigenes Schema entwickelt oder verwendet wird, sondern auf die militärischen Führungstätigkeiten der jeweiligen Armeen zurückgegriffen wird.20
Das Schema und die Begrifflichkeit sind dadurch einerseits den Armeeangehörigen bekannt, und andererseits wird damit auch zum Ausdruck
gebracht, dass ethische Aspekte integraler Teil der militärischen
Führungstätigkeiten sind. Ein Vergleich mit bestehenden nicht militärischen Prozessen zeigt, dass sich die militärischen Führungstätigkeiten
dazu auch gut eignen.
Abb. 3:
Ethische Urteilsbildung im Vergleich.
19. Vgl. Zwygart, U., Wie entscheiden Sie?, Bern
2007, 218ff.
20. Vgl. zur ethischen Urteilsbildung vor allem: Tödt,
H. E., Perspektiven theologischer Ethik, München
1988, 21-48; ders., Versuch zu einer Theorie ethischer Urteilsfindung, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 21. Jg. (1977), 81-93. Vgl. auch Bender, W., Ethische Urteilsbildung, Stuttgart 1988,
174–185; van der Arend, A., Pflegeethik, Wiesbaden 1998, 51-68.
21. Vgl. Schweizer Armee, Führung und Stabsorganisation der Armee (FSO XXI), Ziffer 111-206;
dies., Taktische Führung (TF XXI), Ziffer 383-391.
Schritte: Die militärischen Führungstätigkeiten in der Schweizer Armee
kennen folgende Systematik:21
1. Schritt: Problemerfassung
2. Schritt: Beurteilung der Lage
3. Schritt: Entschlussfassung
4. Schritt: Planentwicklung
5. Schritt: Befehlsgebung / Revision der Pläne
Nach Schritt 1 parallel: Zeitplan und Sofortmassnahmen
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
23
Diese Schritte sollen im Folgenden als Schritte der ethischen Urteilsbildung vorgestellt werden. Dabei werden die Ziele des Schrittes und
die entsprechenden Leitfragen stichwortartig aufgelistet sowie teilweise methodische Hilfen vorgestellt. Diese Punkte sind weder vollständig
noch müssen sie in allen Entscheidungsfindungen gleich herangezogen
werden. Sie sollen helfen, die für den jeweiligen Schritt wichtigen Elemente herauszuarbeiten und eine Idee des Vorgehens zu vermitteln.
Problemerfassung
Ziel
a) Erkennen des Soll-Ist-Deltas
b) Feststellen, um was es in der vorliegenden Situation aus ethischer
Sicht überhaupt geht
c) Klärung der Problemlage und erste Problembeschreibung
d) Klären der eigenen Rolle und Verantwortlichkeiten
e) Definition des angestrebten Endzustandes
f) Definition von Handlungsrichtlinien zur Weiterarbeit / Festlegung der
Gruppengliederung (bei Bearbeitung der Problemstellung in einem
Stab oder einer Gruppe)
Leitende Fragen
– Was ist die Situation (IST) und welchen Endzustand will ich erreichen
(SOLL)?
– Um was geht es beim vorliegenden Problem, in der vorliegenden
Situation?
– Handelt es sich überhaupt um ein ethisches Problem oder geht es
nicht vielmehr um „technische“ bzw. „pragmatische“ Probleme?
– Gibt es Teilprobleme?
– Welche persönlichen Verantwortlichkeiten / Bedürfnisse / Interessen
sind betroffen?
– Unter welchem Zeitdruck und in welcher Priorität ist zu handeln?
– Wer behandelt was für die Weiterarbeit?
Zur Methode
Zur Klärung dieser Fragen hilft die Systematisierung in Problementdeckung (Übersicht über Problem), Problemklärung (Zerlegung eines
komplexen Problems in über-, neben- und untergeordnete Teilprobleme) und Problembeurteilung (Zuständigkeit / Bedeutung / Dringlichkeit).
Sofortmassnahmen / Zeitplan
Diese beiden Prozesse laufen nach der Problemerfassung parallel zu
den weiteren Schritten und dienen der Informationsgewinnung bzw. der
Aufrechterhaltung der Handlungsfreiheit.
Ziel
Sofortmassnahmen:
– Laufend ergänzende/zusätzliche Informationen zum Problem beschaffen.
– Anordnungen zum Erhalt der Handlungsfreiheit treffen.
24
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Zeitplan:
– Festlegen, bis wann was getan werden muss, um das Problem zur
Zeit zu lösen.
Leitende Fragen
Sofortmassnahmen:
– Welche Zusatzinformationen muss / kann ich bei wem beschaffen, um
über das notwendige Wissen zu verfügen?
– Welche Massnahmen kann ich anordnen, ohne dem Entschluss vorzugreifen?
Zeitplan:
– Geht es um ein akutes Problem, das unter Zeitdruck behandelt werden muss, oder habe ich Zeit zur Erarbeitung der Lösung?
– Bis wann muss ich einen Entschluss / Entscheid gefasst haben und
was hat dies für einen Einfluss auf das weitere Vorgehen?
Beurteilung der Lage
Zur Beurteilung der Lage wird in der Planung die Analyse nach den Faktorengruppen Auftrag, Umwelt, gegnerische Mittel/Möglichkeiten, eigene Mittel sowie Zeitverhältnisse vorgenommen. Auch diese eignen sich
– in angepasster Form – für die Situationsanalyse bei einem ethischen
Problem oder Konflikt bzw. zur ethischen Urteilsbildung.
Ziel
a) Möglichst adäquate Erfassung der Situation
b) Die entscheidungsrelevanten Faktoren (Werte, Maximen, moralische
und rechtliche Normen, Interessen, Bedürfnisse, Güter etc.) erkennen und beurteilen sowie daraus Konsequenzen ableiten
c) Wert-, Güter- und Interessenskonflikte sowie Dilemmas erkennen
Leitende Fragen
Auftragsanalyse:
– Welches ist der Auftrag? Wie sieht der Auftrag aus ethischer Perspektive aus?
– Welches ist der Gesamtrahmen des zu lösenden Problems (ethisch,
politisch, rechtlich)?
– Was wird von mir/uns genau erwartet (zum Beispiel: Lösung, Vermittlung, Beratung)?
– Was erwarte ich von mir?
– Wo und wie bin ich von meiner Funktion her gebunden bzw. frei?
– Wie werde ich von wem unterstützt?
Umweltanalyse:
– Wie sieht die konkrete Situation genau aus? Wie ist sie entstanden?
– Welche Personen /Gruppen sind mit welchen Werten, Interessen,
Bedürfnissen involviert?
– Wie sind die „Akteure“/„Faktoren“ untereinander verbunden?
– Welche Güter, Werte und Überzeugungen stehen auf dem Spiel?
– Wer trägt wem gegenüber für was welche Verantwortung?
– Von welchem Menschen- und Weltbild wird ausgegangen?
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
25
– Welches Sach- und Fachwissen wird zur Lösung des Problems
benötigt?
– Wie sieht die rechtliche Situation aus?
– Welche Sachzwänge gibt es (technisches Wissen, Stand Fachwissen
etc.)?
„Gegnerische“ Mittel und Möglichkeiten (hier besser: Interessen- und
Konfliktanalyse):
– Welche Handlungs- bzw. Verhaltensalternativen liegen vor?
– Welche Wertvorstellungen, Rechte und Pflichten stehen in einem
Konflikt? Wie können diese gewichtet werden?
– Welches sind die widerstreitenden Interessen und Erwartungen?
– Welche Güterabwägung muss vollzogen werden?
Eigene Mittel:
– Welches sind die eigenen Werte, Überzeugungen, Normen?
– Welches ist der eigene Einflussbereich? Welche eigenen Möglichkeiten liegen vor?
– Welches ist die eigene Verantwortung?
– Welches sind die eigenen körperlichen, geistigen und funktionellen
Mittel und Fähigkeiten?
– Was sagt mein Gewissen?
Zeitverhältnis:
– Welche Zeitverhältnisse schränken mich wo und wie ein?
Zur Methode
Bei der Beurteilung der Lage ist die Faktorenanalyse nach dem „Aussage – Erkenntnis – Konsequenz“ (A-E-K)-Schema hilfreich. Aussagen (Fakten) aus den verschiedenen Faktorengruppen werden zueinander in Beziehung gesetzt, zu Erkenntnissen verdichtet (Was zeigt
sich darin?) und daraus Konsequenzen abgeleitet (Wie handle ich deshalb?).
Ebenfalls eignet sich das so genannte „Conflict Mapping“, bei dem die
wichtigsten Faktoren (Akteure, Werte etc.) und ihre Verbindungen visualisiert und dadurch auch Abhängigkeiten aufgezeigt werden.
Entschlussfassung
Der implizite oder explizite Urteilsentscheid bildet den Abschluss des
Abwägungsprozesses. Dieser kann rational erarbeitet und begründet
werden, wird aber letztlich durch einen intuitiv-kreativen Akt im Gewissen abgeschlossen.
Ziel
a) Ermitteln der Handlungs- und Verhaltensoptionen
b) Prüfen der betroffenen Normen, Güter, Perspektiven sowie Vor- und
Nachteile der einzelnen Varianten
c) Erstellen der Risikoanalyse
d) Fällen des Entschlusses / Urteils
e) Begründung des Entscheids
26
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Leitfragen
– Welche Handlungsmöglichkeiten / Verhaltensoptionen gibt es?
– Welche ethisch relevanten Überzeugungen, Werte und Normen stehen bei den einzelnen Varianten auf dem Spiel?
– Welchem Wert, welcher Norm wird bei den Varianten der Vorzug gegeben, wieso?
– Welche rechtlichen Rahmenbedingungen und Normen sind betroffen?
– Welche Menschenbilder sind involviert?
– Ist die einzelne Option realistisch und sachgemäss?
– Sind die Mittel zur Zielerreichung vorhanden und angemessen?
– Wo befinden sich welche Risiken?
– Wie kann das Urteil begründet werden?
Zur Methode
Wenn die Situation möglichst präzise erfasst wurde, können adäquate
Handlungsoptionen zum Erreichen des gewünschten Endzustandes entwickelt werden. Die Optionen können anhand von Kriterien in einer
„Bewertungsmatrix“ gegenübergestellt werden. Die Schwierigkeit
besteht jedoch darin, zu bestimmen, aufgrund von welchen Kriterien
die Varianten miteinander verglichen werden sollen und wie diese Kriterien gewichtet werden.
Es gibt je nach Komplexität verschiedene „Kriterien“ und „Prüfverfahren“, die aber selber von unterschiedlichen ethischen Grundentscheidungen ausgehen. An dieser Stelle können sie nur angedeutet werden:
„Kriterien“: Bestimmte ethische Maximen, Normen und Werte, Rechtmässigkeit, Tragbarkeit, Verhältnismässigkeit, Angemessenheit, Machbarkeit etc.
„Prüfverfahren“: Reziprozität, Rollenübernahme, Perspektive des unparteiischen Dritten, Kategorischer Imperativ, Verallgemeinerung, „Schleier des Nichtwissens“, utilitaristisches Nutzenkalkül, Diskursansatz etc.
Planentwicklung
Ziel
a) Detailausarbeitung, wie das Urteil (der Entschluss) umgesetzt werden kann
b) Erstellen von Eventualplanungen
Leitfragen
– Wie wird der Entschluss in seinen Einzelheiten umgesetzt?
– Wer macht was wann?
– Was muss wo und wie initiiert und angepasst werden, um den Entschluss umzusetzen (zum Beispiel Prozessanpassung, Gesetzesänderung, politische Willensbildung etc.)?
– Was mache ich bei auftretenden Schwierigkeiten?
Zur Methode
Bei komplexeren Umsetzungen mit räumlich-zeitlichem Synchronisa tionsbedarf können die einzelnen Schritte in Phasen und Sequenzen
unterteilt werden und in einer „Synchronisationsmatrix“ visualisiert
werden.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
27
Befehlsgebung und Revision der Pläne
Ziel Befehlsgebung
a) Den Entschluss konkret umsetzen / handeln
b) Diejenigen, die den Entschluss umsetzen müssen, überzeugen und
beauftragen
c) Dynamiken und Einflüsse antizipieren, die die Umsetzung beeinflussen können
Ziel Revision der Pläne
Der Entscheid behält seine Gültigkeit, solange nicht neue Faktoren auftreten oder das externe und interne Handlungscontrolling durch die
Feststellung einer Soll-Ist-Differenz einen neuen Prozess auslösen.
Leitfragen Befehlsgebung
– Wie soll ich handeln? Wie sollen die anderen handeln?
– Wie kann ich mich und die anderen zur Umsetzung motivieren?
– Reichen die eigenen Fähigkeiten und meine Selbstwirksamkeitsüberzeugung aus?
– Entsprechen die Fähigkeiten und die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der anderen der geplanten Umsetzung?
– Wie gehe ich mit möglichen auftretenden Stress-, Angst- und Belastungsphänomenen um?
– Wie gehe ich mit situativen, institutionellen und sozio-kulturellen Einflüssen um?
– Welche sozialen (Gruppen-)Dynamiken und Prozesse muss ich beachten?
– Was mache ich bei auftretenden Schwierigkeiten?
Leitfragen Revision
– Wird das gewollte Ziel erreicht?
– Treten neue Probleme auf? Hat sich die Situation geändert?
– Wurde etwas ausgeblendet oder vergessen?
– Gibt es Gründe, auf den Entscheid zurückzukommen?
Ist ein ethischer Urteilsprozess abgeschlossen und umgesetzt, können
Lehren für nachfolgende Prozesse gezogen werden. Die Verarbeitung
und somit Verinnerlichung von Erlebtem dient der Bildung von Handlungs- und Verhaltensmustern, die sich auf das individuelle, institutionelle oder kollektive Gedächtnis und die Gestaltung von Grundprinzipien auswirken können.
Weil in militärischen Einsätzen vom Einzelnen nicht verlangt werden
kann, permanent und für jede Handlungssituation eine umfassende
ethische Urteilsbildung vorzunehmen, ist es notwendig, ethische Prinzipien sowie darauf basierende allgemeine strategische, operationelle
und taktische Prinzipien zu erarbeiten und basierend auf den (kritisch
geprüften) ethischen und rechtlichen Verpflichtungen Einsatz- und Verhaltensregeln zu erlassen. Dadurch wird dem militärischen Entscheidungsträger einerseits eine Struktur in seine Handlungsmöglichkeiten
gelegt, zweitens eine erste grobmaschige Güterabwägung vorgenommen (Welchem Gut wird grundsätzlich ein Vorrang eingeräumt? Wie
habe ich mich in erster Linie zu verhalten?) und ihm drittens die
28
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
grundsätzliche Richtung des Handelns gezeigt. Dies soll ihm Entscheidungs- und Handlungssicherheit geben, im Wissen, dass solche Prinzipien immer auf die konkrete Situation angepasst werden müssen und
keine „Naturnotwendigkeit“ darstellen.
Abb. 4:
Skizze eines umfassenden Schemas.
Beides, das Kennen und Verinnerlichen von allgemeinen ethischen Prinzipien sowie die Fähigkeit zur umfassenden ethischen Urteilsbildung,
muss im Militärethikunterricht ausgebildet werden. Dies führt mich zur
vierten und letzten These.
6. Konsequenzen für die militärethische Bildung
These 4: Förderung eines praxisintegrierten und „narrativen“
Methodenansatzes, der auf Sinnvermittlung und Prägung der
Grundhaltung zielt.
Diese These basiert auf der Überzeugung, dass militärethische Bildung
auf die Einsicht der Soldaten und Soldatinnen zielt und deren Grundhaltung beeinflussen will, ohne zu indoktrinieren oder zu manipulieren.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
29
Dazu werden vermehrt narrative und praxisintegrierte Ansätze benötigt.
Ein „Vierstufenansatz“ kann helfen, stufen- und funktionsgerecht die
geeigneten Themen und Methoden für die militärethische Ausbildung
zu bestimmen. Die Gefahren der militärethischen Bildung dürfen dabei
jedoch nicht ausgeblendet werden.
Narrativer Militärethik-Ansatz:22 Militärethische Bildung zielt auf Sinnvermittlung. Der Soldat oder die Soldatin soll in dieser Perspektive nicht
primär aus rechtlichem oder sozialem Zwang handeln, sondern aus
Überzeugung, das Richtige und ethisch Verantwortbare für sich, die
Armee und die Gesellschaft zu tun. Diese Zielsetzung hat auch einen
ganz pragmatischen Grund. Gerade in affektiv aufgeladenen Situationen, in denen rasch gehandelt werden muss, wird ein nicht verinnerlichtes externes rechtlich-moralisches Korsett in der Regel abgeworfen,
was aufgrund der heutigen Stellung des „strategischen Soldaten“ fatale Folgen für den militärischen Einsatz haben kann. Ethische Normen
sind daher in der Ausbildung – wenn möglich – in einer „Indikativ-Kohortativ-Struktur“ zu formulieren, das heisst weniger in der Form „Du sollst
das Kriegsvölkerrecht einhalten“ als vielmehr „Weil ich als Soldat einen
Rechtsvertreter darstelle, halte ich das Kriegsvölkerrecht ein“.23 Die Handlungs- und Beobachterperspektive wird dadurch durch einen notwendigen Identitätsfokus ergänzt (Wer will ich sein?). Es soll nicht nur erkannt
werden, was zu tun ist, sondern vielmehr anerkannt werden, dass es zu
tun ist. Es entsteht dann aus dem externen Müssen und Sollen ein internes „Nicht-anders-Können“. In der Ausbildung ist daher eine Art „freiwillige Selbstbindung aus Einsicht“ (Nunner-Winkler) auf der Basis eines
aufgeklärten Wissens und Fühlens anzustreben. Dazu dient auch die
Reflexion von persönlichen und fremden (Schlüssel-)Erlebnissen, die
die persönliche Grundhaltung sowie individuelle und kollektive Einstellungen prägen.
Ein narrativer Ansatz in der Ethikausbildung geht weiter davon aus, dass
die moralische Grundhaltung – die Justierung des moralischen Kompasses – weniger (aber auch) durch Argumentieren gefördert wird, sondern vielmehr durch Erleben, Erzählen und Machen von Erfahrung, weil
dadurch auch hier von der Beobachterperspektive in die Identifizierungsperspektive gewechselt wird. Solche Ansätze können zu sedimentierten Erfahrungen führen, die ihrerseits die Wahrnehmung und
das Handeln beeinflussen. Auf solche Aspekte ist beispielsweise bei der
Arbeit mit Fallbeispielen zu achten. Kein Fallbeispiel wird je die kommende Situation abbilden, aber durch die Auseinandersetzung mit ihnen
(bis hin zu Dilemmatrainings) und durch die Identifikation mit den
Handelnden sollen zu Grunde liegende Denkstrukturen, moralische Überzeugungen und Handlungsmuster erkannt werden, die es dem Entscheidungsträger ermöglichen, zukünftige Situationen in einer entsprechenden Perspektive zu sehen oder für neue Perspektiven offen zu
sein. Es ist die Schulung von bestimmten Arten und Strukturen der Wahrnehmung und des Denkens sowie der Verinnerlichung von Entscheidungsprozessen und Entscheidungsmustern.
In eine ähnliche Richtung weisen die Arbeiten von Hans Joas über die
Entstehung von Werten und zur Wertebindung. Wertebindungen sind
30
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
22. Vgl. zur narrativen Ethik: Mathwig, F., Ethik in
einer „Welt ohne Letztbegründungen“ in:
M. Hofheinz, F. Mathwig, M. Zeindler (Hrsg.),
Ethik und Erzählung, Zürich 2009, 345-381.
23. Vgl. Fischer, J., Theologische Ethik, Stuttgart
2002, 121ff.
nach ihm nicht mit Absicht erzeugbar, sondern Personen müssen von
ihnen „ergriffen sein“. Die Erfahrung des Ergriffenseins gehört ebenso
dazu wie die Verankerung der Werte im Selbstbild. Deshalb entstehen
für Joas Werte in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz.24
Erfahrungen müssen ermöglicht werden. Dies ist vor allem mit einem
praxisintegrierten Ansatz möglich:
Praxisintegrierter Ansatz: Unter einem praxisintegrierten Ansatz verstehe ich in diesem Kontext zweierlei:
a) Erstens verstehe ich darunter den Einbau der Militärethikausbildung
in den Ausbildungsalltag. In den praktischen militärischen Übungen
sind militärethische Themen einzubauen. Dies wird heute teilweise
bereits mit kriegsvölkerrechtlich relevanten Fragen gemacht. Genauso können aber auch „ethische Fragen“ in eine Übung eingebaut werden. Einzelne Fallbeispiele, beispielsweise aus der kanadischen Sammlung25, können nicht nur im Theoriesaal besprochen werden, sondern
auch als Übungen „inszeniert“ werden. Dadurch wird der Praxis- und
Realitätsbezug zum militärischen Einsatz und Alltag besser hergestellt. Faktoren wie Müdigkeit, Stress, Lärm etc. können je nach Bedarf
zusätzlich eingeplant werden. Bei solchen Einsatzübungen geht es
um das Einüben in die (richtige) geforderte Grundhaltung und somit
in die Habitualisierung der geforderten Verhaltens- und Denkmuster.
Es geht dabei nicht um ein blindes Übernehmen von fremder Erfahrung, sondern um die kreative Aneignung fremder sowie den Aufbau
eigener Erfahrung.
Vielfach entstehen positive oder negative Beispiele im konkreten
militärischen Alltag (und Einsatz) eines Verbandes. Hier geht es für
den Ausbilder und die Führungsperson darum, diese Situationen zu
erkennen und anschliessend mit den Betroffenen zu thematisieren.
Daher sollen primär die militärischen Führungspersonen und Ausbilder befähigt werden, Militärethik auszubilden. Sie leben mit der
Truppe.
Vorbilder tragen durch Nachahmung zur Tugendbildung bei. Dies ist
wichtig. Es besteht aber die Gefahr, dass die Nachahmung als ein
„Gleichwerden wie“ missverstanden wird. Es geht vielmehr auch hier
um die Art und Weise und die Struktur des vorbildlichen Handelns
und Verhaltens, die nachahmenswert sind, die aber der eigenen Persönlichkeit und Situation angepasst werden müssen.
24. Vgl. Joas, H., Die Entstehung der Werte, Frankfurt a. M. 1999.
25. Vgl. Canadian Defence Academy (Ed.), Ethics in
the Canadian Forces: Making Tough Choices,
2006.
b) Zweitens sollen in einem praxisintegrierten Ansatz in rechtsstaatlichen Armeen in erster Linie bestehende Reglemente und Vorschriften als Basis für die militärethische Ausbildung verwendet werden.
Die ethischen Grundprinzipien und Grundwerte sollen aus den bestehenden Reglementen „gefiltert“ und besprochen werden. Dadurch
kann wieder darauf verwiesen werden, dass ethische Fragen nicht
einen Zusatz zur militärischen Ausbildung darstellen, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil des soldatischen Selbstverständnisses sind. Um die menschenrechts- und grundrechtsbasierten
Prinzipien in der Führung, Ausbildung und Erziehung auszubilden,
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
31
eignen sich beispielsweise in der Schweizer Armee neben der Verfassung vor allem das „Dienstreglement“ sowie die Reglemente
„Grundschulung“, „Rechtliche Grundlagen für das Verhalten im
Einsatz“, „Methodik der Verbandsausbildung“ und „Ausbildungsmethodik“.
Das „Militärstrafgesetz“ sowie die „Disziplinarstrafordnung“ verweisen ebenfalls auf ethische Grundsätze, indem sie definieren, welches
Verhalten in der Armee rechtlich sanktioniert ist. In diesem Bereich
geht es darum zu erklären, wieso ein entsprechendes Verhalten nicht
akzeptiert wird und welche Werte, Prinzipien und Güter dahinterstehen.
Es ist Aufgabe der Militärethiker und Militärethikerinnen, diese Reglemente und Vorschriften sporadisch kritisch zu sichten und auf ihre
Kompatibilität in Bezug auf die reflektierten ethischen Grundprinzipien (z.B. Menschenwürde) zu überprüfen.
Vier-Stufen-Methodik:26 Zur Bestimmung der militärethisch geforderten
Haltung und Handlungen können idealtypisch vier Stufen unterschieden werden, innerhalb derer die Handlungs- und Verhaltensanweisungen zunehmend konkreter, kontext- und situationsbezogener werden.
Entlang diesen Stufen können und sollen auch verschiedene methodische Ansätze gewählt werden.
1. Stufe: (meta-)ethische Theorien zur Plausibilisierung und Rechtfertigung des Moralprinzips. Auf dieser Ebene geht es zentral um das
Welt- und Menschenbild, das heisst um die Fragen, wie der Mensch
und die Gesellschaft gesehen werden, was aus der Anthropologie für
ein Gerechtigkeitskonzept folgen soll, was dem Menschen entspricht
und wieso er sich letztlich moralisch verhalten soll.
Mögliche Methoden: Auf dieser Stufe sind Ausbildungssequenzen
zur Entstehung der bestehenden gesellschaftlichen und institutionellen Moral, zur Entstehung und Bedeutung der Menschenrechte
sowie vor allem der UN-Charta mit der zu Grunde liegenden Vorstellung von Armeen, militärischen Einsätzen und dem Menschenbzw. Soldatenbild denkbar. Dazu eignen sich unter anderem Lehrvorträge, Diskussionen, Exkursionen zu wichtigen Institutionen und
Orten oder auch Studienaufträge mit Referaten.
2. Stufe: die Bestimmung und Diskussion der grundlegenden Werte,
moralischen Prinzipien und Maximen ausgehend vom Welt- und Menschenbild der Stufe 1, die sich durch einen hohen Allgemeinheitsgrad auszeichnen. Sie dienen in erster Linie der Orientierung und Verinnerlichung der Ausrichtung der Grundhaltung.
Mögliche Methoden: Dazu geht es in der Ausbildung um Gewissensbildung, offene Diskussion über Werthaltungen, Grundprinzipien der Verfassung, das Soldatenbild im Dienstreglement, das Bild des
militärischen Gegners, der Gegenseite oder von Zivilpersonen entsprechend dem humanitären Völkerrecht. Zu integrieren sind auch
Fragen, als was sich die Institution Armee verstehen will, mit dem
Ziel einer Akkulturation und Sozialisation in dieses Selbstverständnis. Hier kann unter anderem auf Methoden der „Werteklärung“
(values clarification) zurückgegriffen werden.27
32
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
26. Vgl. dazu Bayertz, K., Praktische Philosophie als
angewandte Ethik, in: Ders. (Hrsg.), Praktische
Philosophie. Grundorientierungen angewandter
Ethik, Reinbek 1991, 12; Gillner, M., Praktische
Vernunft und militärische Professionalität, Bremen 2002, 23f.; Baumann, D., Militärethik – Was
sonst? 52-54.
27. Diese Methode ist jedoch nicht unumstritten,
vgl. Oser, F., Althof, W., Moralische Selbstbestimmung, Stuttgart 1992, 475-516; Köck, P.,
Handbuch des Ethikunterrichts, Donauwörth
2002, 160-163; Pfeifer, V., Didaktik des Ethikunterrichts, Stuttgart 2. Auflage 2009, 316-318; Standop, J., Werte-Erziehung, Basel 2005.
3. Stufe: Formulierung von konkreten Regeln, Normen, Gesetzen, Kodizes und Handlungsanweisungen, die in Form prima facie gültiger
Strukturierungen der Wirklichkeit das Handeln und Verhalten von Soldaten leiten und ihnen Handlungs- und Entscheidungssicherheit geben
sollen, indem sie zwischen vorgeschriebenem, gebotenem, verbotenem, erlaubtem oder wünschenswertem Handeln und Verhalten differenzieren.
Mögliche Methoden: Auf dieser Stufe ist einerseits die Rechtsbildung
zentral, das heisst die Kenntnisse des Militärgesetzes, des Dienstreglements und des Militärstrafgesetzes mit Hilfe von Fallstudien. Andererseits beinhaltet diese Stufe die Vermittlung der militärischen Grundprinzipien, wie sie beispielsweise in der Grundschulung oder der
Taktischen Führung vorliegen, durch praktische Übungen und Trainings, sowie drittens die konkrete Ausbildung von Einsatzregeln und
entsprechenden Taschenkarten.
4. Stufe: das singuläre und adäquate moralische Urteil in einer konkreten Situation. Allgemeine Regeln, Normen und Gesetze können den
konkreten Einzelfall nicht bestimmen, da die Situationsumstände
immer einmalig sind. Zur Applikation der Prinzipien und Grundsätze
braucht es die ethische Urteilskraft und die moralische Intuition.
Mögliche Methoden: Zum Training der moralischen Urteilskraft dienen neben anderem Fallbeispiele28 (mit oder ohne Dilemmacharakter), historische oder aktuelle Praxisbeispiele sowie Filmausschnitte.
Mögliche Methoden sind a) „Entschlussfassungsübungen“ anhand
der militärischen Führungstätigkeiten (s. oben) und/oder b) eine Art
„Fünf-Schritt-Verfahren“ [1. Schritt: Konfrontation mit dem Fall (oder
Dilemma), 2. Schritt: spontaner Entscheid / erste Stellungnahme,
3. Schritt: Diskussion in Gruppen. 4. Schritt: Präsentation im Plenum
und Schlussdiskussion, 5. Schritt: Ableiten von Konsequenzen].29 Die
Schulung der Urteilskraft soll aber auch durch einen c) praxisintegrierten Ansatz unterstützt werden, wie er oben skizziert wurde.
Abb. 5:
Vier-Stufen-Methodik.
28. Als Auswahl: Canadian Defence Academy (Ed.),
Rubel, R., Lucas, G. (Ed.), Case Studies in Military Ethics, Boston 2005; Stockdale J. (Ed.),
Ethics for the Junior Officer, Annapolis 2001;
International Society for Military Ethics:
http://isme.tamu.edu/Cases/casesindex.html
(Stand: 14. August 2010); Curcio, G.-P., Verantwortungsmotivation, Berlin 2008; Zwygart, U.
29. Vgl. z.B. Pfeifer, V., 182; Lind, G., Moral ist
lehrbar, München 2. Auflage 2009, 83-85;
Köck, P.,167-169.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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Gefahren in der militärethischen Bildung: Der Stellenwert der Militärethik
und der ethischen Bildung in den Streitkräften steigt nach meiner Wahrnehmung an. Trotzdem, oder gerade deshalb, dürfen die Gefahren der
militärethischen Bildung nicht ausgeblendet werden. Militärethische Bildung ist immer eine Gratwanderung, weil sie auf die Grundhaltung und
somit auf das Gewissen der Soldatinnen und Soldaten zielt. Abschliessend daher stichwortartig einige Felder, die kritisch im Auge behalten
werden müssen.
a) Die Hauptherausforderung besteht darin, sicherzustellen, dass
militärethische Ausbildung nicht zu einer Indoktrination oder Manipulation verkommt, gerade durch „falsche“ Vorbilder oder eine Überhöhung der Institution Armee bzw. der eigenen Nation. Deshalb gehört
das reflexive, kritische und universelle Moment der Ethik zur
militärethischen Ausbildung zwingend dazu.
b) Es darf zu keiner falschen Trennung zwischen militärischem Handwerk und ethischer Ausbildung kommen. Soldatisches Handeln kann
absichtlich oder unbewusst missbraucht werden und richtet im Einsatz auch Schaden an. Daher sind ethische Fragen in den militärischen Alltag, in das militärische Denken und Handeln zu integrieren,
beispielsweise in die militärischen Führungstätigkeiten.
c) Ethik, Recht und Politik können und dürfen nicht voneinander getrennt
werden. Soldatisches Tun beinhaltet immer ethische, rechtliche und
politische Aspekte und es reicht nicht aus, ein „guter“ Soldat oder
eine „gute“ Soldatin in einer „schlechten“ Organisation oder in einem
„falschen“ Einsatz zu sein. Sie müssen erkennen, dass sie in einem
Gesamtkontext handeln und teilweise strategisch-politisch denken
müssen. Ein verkürztes „Ich übernehme dann schon die Verantwortung“-Denken verhindert gerade das Akzeptieren des Spannungsfeldes, einerseits als Individuum für die eigenen Handlungen verantwortlich zu sein und andererseits gleichzeitig in einem Kollektiv für
eine Gemeinschaft zu handeln.
d) Militärethische Ausbildung bezieht sich vielfach auf „extreme“ Beispiele und steht dadurch in der Gefahr, die „Alltagsmoral“ (wie z.B.
Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, wachsam-kritische Loyalität) zu vernachlässigen. Mit „Dilemmatrainings“ kann auch suggeriert werden,
dass der Soldat oder die Soldatin vielfach vor die Wahl gestellt sind,
das kleinere Übel zu wählen. Es gab und wird immer wieder „tragische“ Situationen für Soldaten und Soldatinnen geben. Darauf hat
man sie auch ganzheitlich vorzubereiten. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es viele Situationen gibt, die sich nicht
durch eine Dilemmastruktur auszeichnen (oder man mit einer entsprechenden Vorbereitung das Entstehen einer solchen Struktur verhindern kann), sondern wo es klar ist, wie nach den gültigen ethischen und rechtlichen Prinzipien gehandelt werden sollte (oder sogar
gehandelt werden muss). Wenn immer nur von Extremen gesprochen wird, wird das Extreme plötzlich normal, und das kann gleichgültig oder sogar zynisch machen.
e) Militärethik kann den teilweise aus der Erziehung und Bildung fehlenden moralischen „Grundhumus“, den es für die Verankerung der
ethischen Überzeugungen im Gewissen benötigt, nur bedingt entstehen lassen.
34
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
f) Militärethik sollte nicht hauptsächlich von „Ethik-Experten“ ausgebildet werden, sondern von den verantwortlichen Führungspersonen
und Ausbildern. Militärethik ist eine Sache der Vorgesetzten. Diese
sollen ihrerseits durch Fachpersonen geschult werden.
g) Wertelisten (core values) helfen mit, allgemeine Grundsätze und das
Selbstverständnis einer Institution darzustellen. Werden solche Listen
aber absolut gesetzt oder die entsprechenden Werte als Schlagwörter missbraucht, verlieren sie ihren Sinn. Werte können nicht befohlen werden, sondern nur eingesehen und anerkannt.
h) Ethische Grundprinzipien sollen in einer religionsneutralen Armee
nicht religiös begründet werden, sondern müssen mit „säkularen“
Argumenten plausibel gemacht werden.
7. Ein Kodex zum Schluss
Als was also soll sich nun ein heutiger Soldat verstehen ("Sehen als")
und entsprechend identifizieren? Dazu abschliessend folgender Vorschlag eines Kodex. Die umfassende Version beinhaltet 52 Punkte und
ist im Buch „Militärethik“ publiziert:30
Als Soldat einer rechtsstaatlichen Armee …
a) diene ich nur in einer rechtsstaatlichen, von nationalen politischen Behörden und (inter-)nationalen Gerichten kontrollierten
Armee.
b) erfülle ich diszipliniert, eigenverantwortlich und zuverlässig meine soldatischen Pflichten in allen legalen und legitimen Einsätzen. Dazu gehört, dass ich mir ein hohes (fachliches und körperliches) Können und Wissen in meiner Funktion aneigne.
c) wende ich physische und im Extremfall tödliche Gewalt nur wenn
notwendig sowie immer verhältnismässig an.
d) respektiere und achte ich im Einsatz, in der Ausbildung und im
Zusammenleben die unveräusserliche Würde und elementaren
Menschenrechte jedes Menschen.
e) halte ich mich an das humanitäre Völkerrecht sowie das Landesrecht, verweigere anders lautende Befehle und informiere
meine Vorgesetzten über entsprechende widerrechtliche Handlungen und Anordnungen.
f) verhalte ich mich gegenüber meinen Vorgesetzten, Kameraden
und Unterstellten integer, kameradschaftlich und loyal.
g) führe ich meine Unterstellten mit einer auftragszentrierten und
menschenorientierten Führung.
h) unternehme ich nichts, das dem Ansehen der Armee schadet.
30. Vgl. Baumann, D., Militärethik, 569-573.
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Moralisches Urteilen, Entscheiden und Handeln –
zur W irksamkeit der Ethikausbildung in den Streitkräften:
Ein Beitrag aus (truppen-) psychologischer Sicht
Als Leitgedanke des Beitrags ist wohl nichts geeigneter als der Ausspruch von Antoine de Saint-Exupéry: „Um klar zu sehen, genügt oft
ein Wechsel der Blickrichtung“.
Uwe Drews
Von dem diesjährigen Konferenzthema der Gesprächsreihe „Sachstand
der ethischen Bildung in den Streitkräften“ ausgehend, wird versucht,
das Thema aus der Sicht der Psychologie zu beleuchten. Und da dieses
möglichst zielgerichtet auf militärische Aspekte angewendet werden
soll, handelt es sich somit um eine zusätzliche Fokussierung auf truppenpsychologisch relevante Aspekte.
Die Diskussion darüber, ob komplexe geistige Prozesse wie das moralische Urteil mit quantitativen Methoden überhaupt adäquat erfasst
werden können, ist in der wissenschaftlichen Forschung nach wie vor
virulent, wobei offenere Erhebungs- und Auswertungsmethoden der
qualitativen Sozialforschung nunmehr im Vordergrund stehen. Als Beispiel sei hier auf die Analyse autobiographischer Erzählungen auf Basis
narrativer Interviews mit dem Ziel einer Rekonstruktion der Eigenperspektive moralischer Erfahrungen im Kontext des Erzählenden verwiesen. Ein anderes Beispiel ist das Gruppendiskussionsverfahren.
Auf die „Wirksamkeit der Ethikausbildung“, also die empirisch ausgerichtete Fragestellung von Messbarkeit, wird bei diesem Vortrag
nicht näher eingegangen, denn um dieser komplexen Thematik der Wirksamkeit auch nur annähernd gerecht zu werden, würde es einer eigenständigen Betrachtung bedürfen. Zudem erscheinen die Aussagefähigkeit früherer einschlägiger Überlegungen, z.B. zu den Kohlberg-Dilemmata
mit Rasch- und Mokken-Analysen, für diese Tagung wenig horizonterweiternd und wohl auch zu spezifisch.
Mit diesem Vortrag Beitrag ist vielmehr die Hoffnung, – oder mehr
militärisch ausgedrückt: die Absicht – verbunden, einen Impuls zu geben,
Einzelaspekte aus einer ganz spezifischen Perspektive zu betrachten und
so einen Beitrag zur Gesamtthematik zu liefern.
1. Moralpsychologie
Eine der ältesten Fragen der Philosophie ist die nach „gut“ und „böse“,
nach „richtig“ und „falsch“. Da diese Frage nicht nur Philosophen
bewegt, sondern – mehr oder weniger – für jeden Menschen von Interesse ist, hat sich auch die Psychologie dieser Kernfrage angenommen.
„Moralpsychologie“ ist ein Sammelbegriff für verschiedene Teilbereiche der Psychologie, die sich mit ethischem bzw. moralischem Verhalten beschäftigen, z.B.
쐌 mit der moralischen Entwicklung und Urteilsfähigkeit,
쐌 der Umsetzung von moralischer Urteilsfähigkeit in moralisches
Handeln,
쐌 mit den Faktoren, die moralisches Verhalten ermöglichen und beeinflussen, sowie
쐌 Möglichkeiten der Moralerziehung.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
37
Dass die psychologische Forschung hierbei nicht zu unumstrittenen, allgemein akzeptierten Ergebnissen gekommen ist, liegt wohl nicht nur in
der Tatsache begründet, dass es sich bei den Akteuren um Psychologen
handelt. Je nach prägend vorherrschendem Menschenbild kommen
unterschiedliche Sichtweisen auch zu verschiedenen Ergebnissen, um
die z.T. – auch das scheint typisch für die wissenschaftliche Diskussion
zu sein – heftig gestritten wird.
Aktuelle moralpsychologische Streitfragen sind z.B.
– ob von einem universalen Stufenmodell moralischer Entwicklung
ausgegangen werden kann oder
– ob moralische Standards kulturell bedingt sind, sowie
– geschlechtsspezifische Unterschiede, und auch
– das Phänomen von Regressionen auf frühere Stufen der Moralentwicklung.
Innerhalb der Moralpsychologie waren es vor allem die entwicklungspsychologischen Wissenschaftler, die Theorien zur Erklärung der Genese moralischer Vorstellungen entwickelten. In diesem Zusammenhang sind als die beiden wesentlichen Personen Jean Piaget und
Lawrence Kohlberg zu nennen. Jean Piagets Schwerpunkt der Forschung
widmete sich insbesondere dem Vorhandensein moralischer Regeln
einerseits und dem tatsächlichen menschlichen Verhalten andererseits.
Dazu postulierte er Stufen oder Phasen moralisch-kognitiver Entwicklung. Lawrence Kohlbergs Arbeiten basieren auf den Ergebnissen
Piagets. Er verfeinerte dessen Stufenschema und indem er versuchte,
moralische Urteilskompetenz zu messen, begründete er einen neuen
Ansatz moralpsychologischer Forschung, nämlich die Untersuchung
der Beziehung zwischen theoretischen moralischen Idealen und moralischen Wertvorstellungen von Individuen.
2. Jean Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung
Allgemein wird Jean Piaget heute als einer der grossen Vordenker der
Entwicklungspsychologie gewürdigt. Er war Inspirator vielfältiger Forschungen. Seine umfangreichen Publikationen gelten als schwer lesbar.
John Flavell, ein amerikanischer Piaget-Kenner, mag als Beispiel gelten,
indem er davon spricht, dass ihm „Kürze, Klarheit und Richtigkeit irgendwie unvereinbar“ mit dem Versuch einer Darstellung von Piagets Theorie erscheinen (Kognitive Entwicklung, Stuttgart 1979, Seite 18). Jean
Piagets Wissenschaftstheorie bzw. Erkenntnistheorie setzt sich dezidiert
von dem zu Anfang des 20. Jahrhunderts dominierenden klassischen
Behaviorismus ab. So kritisierte Piaget in seinen Publikationen oft das im
Zentrum des klassischen Behaviorismus stehende Reiz-Reaktionsschema sowie die Konzeption des Lernens als Konditionierung und Habituation.
Zeitlebens vertrat Piaget eine andere Position als die etablierte Psychologie. Er hielt den Gebrauch von Statistiken und auch standardisierten Untersuchungsmethoden für kontraproduktiv und vollzog seine
Untersuchungen hauptsächlich an seinen drei eigenen Kindern und lei-
38
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
tete auf dieser sehr schmalen Forschungsbasis seine Erkenntnisse über
Kinder im Allgemeinen ab.
Für Piaget sind zwei komplementäre funktionale Prozesse von Bedeutung: Assimilation auf der einen und Akkomodation auf der anderen
Seite. Beide sind für ihn Aspekte der kognitiven Anpassung, also Adaption des Individuums an seine Umwelt. Bei der Assimilation erfolgt eine
Anpassung der Umwelt an den Organismus, bei der Akkomodation hingegen passt sich der Organismus den Umweltgegebenheiten an. Aus
Sicht Piagets ist der Mensch ein „offenes System“. Darunter versteht
er einen Organismus, der sich wandelt, auf Einflüsse der Umwelt reagiert, sich anpasst und die Umwelt selbst beeinflusst. Somit gliedert der
Mensch seine Welt.
Bekannt geworden ist vor allem Piagets Entwicklungsmodell der unterschiedlichen Stadien der kognitiven kindlichen Entwicklung, wobei charakteristisch für sein Modell ist, dass die vier einzelnen Stadien aufeinander folgen und ein Stadium erst durchlaufen sein muss, bevor das
nächste folgen kann. Zudem sah er dieses Modell als universell gültig
an, also in allen Kulturen gleichermassen vorkommend. In den Stadien
wird durch die Prozesse der Assimilation und der Akkomodation eine
bessere Anpassung des Individuums an die durch die Umwelt bedingten Gegebenheiten angestrebt (Adaption). Akkommodation geschieht,
wenn, initiiert durch neue Erfahrungen, ein Ungleichgewicht zwischen
den bereits aufgebauten kognitiven Strukturen und realen Situationen
festgestellt wird. Diese beiden Prozesse werden durch Reifung, Erfahrung und durch Erziehung angeregt, was wiederum zum Durchlaufen
der einzelnen kognitiven Stadien führt.
Weit weniger bekannt als seine Forschungen zur Entwicklung des logischen Denkens sind Piagets Untersuchungen zum „Moralischen Urteil
beim Kinde“ (Erstveröffentlichung 1932).
Erst durch die Weiterführung der Arbeiten Piagets durch Lawrence Kohlberg erhielten diese Theorien Piagets einen grösseren Bekanntheitsgrad. Piagets Arbeit zur Moralentwicklung liegen Interviews und Verhaltensbobachtungen von etwa 100 Schweizer Kindern, überwiegend
im Vor- und Grundschulalter, zugrunde. Eine Hauptschwierigkeit in der
Analyse der kindlichen Moral besteht nach Piaget darin, dass das Kind
im Alltag mit den Regeln einer „fertigen“ Erwachsenenmoral konfrontiert wird, die auf seine Bedürfnisse und seinen jeweiligen Entwicklungsstand keine Rücksicht nimmt. Dabei ist es schwer zu unterscheiden, inwieweit das Kind die Regeln tatsächlich berücksichtigt, sozusagen
„an sich“, oder ob es sich lediglich der elterlichen Autorität fügt. Aufgrund seiner Beobachtungen und der Befragungen der Kinder kam Piaget zu dem Schluss, dass es im Wesentlichen zwei unterschiedliche
Moralitätstypen gibt: die heteronome und die autonome Moral. Die
heteronome Moral beruht auf dem moralischen Zwang der Erwachsenen und bewirkt beim Kind einen moralischen Realismus. Damit hält
das Kind jede Handlung, die im Einklang mit den Regeln der Erwachsenen steht, für gut und jede die Regeln verletzende Handlung für
schlecht. Der Interpretationsspielraum wird hierbei von Piaget als recht
eng gedeutet. Die autonome Moral beruht demgegenüber auf Zusam-
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
39
menarbeit und Kooperation der Kinder untereinander. Die einseitige
Achtung elterlicher Autorität wird abgelöst durch die gegenseitige
Achtung der Kinder.
Wenn die gegenseitige Achtung stark genug ist, im Individuum das
Bedürfnis auszulösen, andere so zu behandeln, wie es selbst behandelt
sein möchte, gelingt der Übergang zur autonomen Moral.
Die Arbeiten Jean Piagets forderten dazu heraus, sie sowohl theoretisch
wie auch empirisch einer Überprüfung zu unterziehen, wobei insbesondere die Vermutung vorgebracht wurde, dass Piagets Ergebnisse
möglicherweise Kunstprodukte seiner Befragungsmethode seien. Der
New Yorker Entwicklungspsychologe Thomas Lickona hat eine ausführliche Übersicht relevanter empirischer Untersuchungen zur moralischen Urteilstheorie von Piaget gefertigt. Als bestätigt bzw. gesicherte Erkenntnis kann demzufolge angesehen werden, dass das moralische
Urteil sich in Abhängigkeit vom Alter und der Erfahrung sowie von der
sozialen und kulturellen Umgebung entwickelt.
Hier möchte ich eine erste, provokante Frage stellen:
Ausgehend nicht von Defiziten im Bereich der kognitiven Entwicklung,
wohl aber der mangelnden Erfahrung in einer sehr komplexen und vor
allem stark dominierenden Umgebung, stellt sich die Frage, ob es denkbar ist, dass bei jungen, unerfahrenen Soldaten aufgrund der spezifischen militärischen situativen Rahmenbedingen eine Regression im Sinne eines Atavismus als Art Parallelität zu der kindlichen Situation auftritt,
die bei der Ethikausbildung in den Streitkräften berücksichtigt werden
sollte.
3. Lawrence Kohlbergs Modell der Entwicklung des
moralischen Urteils
Die Ergebnisse einiger zur Kategorie der „klassischen psychologischen
Experimente“ gehörenden Forschungen (z.B. das Stanford-Prison-Experiment, das „Gefängnisexperiment“ von Haney, Banks und Zimbardo,
1973) haben verdeutlicht, dass menschliches Verhalten einer klaren Trennung von „Gut“ und „Böse“ zuwiderlaufen kann. Seit den Experimenten von Milgram (1982) wissen wir, dass selbst brave Bürger zu brutalen Folterungen bereit sind, wenn sie von Autoritätspersonen dazu
aufgefordert werden.
Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg hat sich insbesondere für die Gründe interessiert, die Menschen dazu veranlassen, etwas
als gerecht oder ungerecht zu bewerten. Kohlbergs Modell der moralischen Entwicklung des moralischen Urteils hat nach wie vor eine zentrale Bedeutung für nahezu alle Arbeiten zur moralischen – und auch
religiösen! – Entwicklung, sowohl in der Fortführung seiner Untersuchungen wie auch in der kritischen Auseinandersetzung damit. Kohlberg orientierte sich an John Deweys Überlegungen zur moralischen
Erziehung und entwicklungspsychologisch am strukturgenetischen
Ansatz von Jean Piaget. Er ging davon aus, dass sich die moralische
Entwicklung in Anlehnung an Piagets Konzeption der kognitiven Ent-
40
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
wicklung als Stufenabfolge beschreiben lässt, indem das Individuum
auf jeder Stufe ein organisiertes und auch in sich konsistentes Denksystem ausbildet, das sich in einer Art „Gleichgewicht“ mit den Anforderungen der umgebenden Aussenwelt befindet. Neue Erfahrungen,
die das Individuum bei der aktiven Auseinandersetzung mit seiner
Umwelt macht, stören zunehmend das gewonnene Gleichgewicht und
führen so zur Herausbildung einer neuen Organisation auf einer höheren Ebene. Die Stufen folgen invariant aufeinander, und jede Stufe integriert die Denkstrukturen der darunter liegenden. Aufgrund der egozentrischen Orientierung am eigenen Wohlbefinden, erfordert jede
höhere Stufe somit eine Erweiterung der sozialen Perspektivübernahme.
Kohlberg, der seine Untersuchungen in den 50er-Jahren des Jahrhunderts begann und sein ganzes Leben diesem Forschungsbereich widmete, verweigerte sich in seinen Arbeiten – im Gegensatz zu Piaget –
nicht einer empirischen Begründung. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das er „bootstrapping“ nannte, ein Ineinandergreifen von Theorie und Empirie.
Kohlberg führte u.a. eine 20-jährige Längsschnittstudie an amerikanischen Jungen und auch zahlreiche kulturvergleichende Untersuchungen durch. Die zentrale Untersuchungsmethode aller Studien Kohlbergs
und seines Mitarbeiterstabes besteht aus halbstrukturierten Interviews
zu verschiedenen moralischen Dilemmata (moral judgment interview).
Moralische Dilemmata sind konstruierte Szenarien über Konfliktsituationen, in denen sich der Protagonist zwischen zwei Wertebereichen
entscheiden muss (z.B. zwischen dem Schutz von Eigentum und dem
Erhalt von Leben). Ein Dilemma ist eine Zwangslage, in der eine Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten gefordert wird, die beide etwas
Negatives beinhalten, also einen Aversions-Aversions-Konflikt darstellen. Das bekannteste von Kohlbergs genutzten Dilemmata ist das sog.
„Heinz-Dilemma“, in dem ein Mann vor der Entscheidung steht, ober
er ein lebensrettendes Medikament für seine Frau, für das er das Geld
nicht aufbringen kann, durch einen Einbruch in die Apotheke beschaffen soll. In Interviews werden Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene zunächst gefragt, wie die handelnde Person sich entscheiden sollte.
Daran anschliessend wird eine ausführliche Begründung erbeten. Für
die Auswertung der Interviews ist nicht der Inhalt des moralischen
Urteils, also die konkrete Handlungsentscheidung, von Bedeutung, sondern die Struktur des moralischen Denkens, die in der Begründung des
Urteils zum Ausdruck kommt.
Kohlbergs Modell gliedert sich in drei Ebenen: Auf der präkonventionellen Ebene ist das moralische Urteil an den Autoritäten des unmittelbaren sozialen Umfeldes orientiert. Auf der konventionellen Ebene
erfolgt die Orientierung an den Konventionen und Erwartungen des weiteren sozialen und gesellschaftlichen Umfelds, und auf der postkonventionellen Ebene an übergeordneten Prinzipien. Jede Ebene ist
nochmals in zwei Stufen unterteilt, mithin eine Gesamtzahl von sechs
Stufen. Wobei allerdings anzumerken ist, dass die letzte, die sechste
Stufe, empirisch kaum belegbar ist; sie hat einen eher theoretischen
Charakter. Die Unterschiede zwischen den Stufen des moralischen Urteils
bestehen weniger in zunehmendem Wissen um moralische Normen,
sondern liegen in qualitativ anderen Denkweisen über moralische Pro-
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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bleme. Nach Kohlberg nimmt die Situationsgebundenheit moralischen
Denkens von Stufe zu Stufe ab: Aus der Perspektive einer höheren Moralstufe werden moralisch relevante Unterschiede auf den Denkniveaus
der niedrigeren Stufen als irrelevante Situationsmerkmale gedeutet. Der
strukturelle Unterschied zwischen den Stufen korrespondiert mit der
Erkenntnis, dass handlungsrelevante Merkmale eines moralischen Problems auf der nächsthöheren Stufe als situative Variationen eines moralischen Grundproblems gedeutet werden können. Sie stellen gleichsam
nur die Einkleidung des moralischen Kerns dar, der von Stufe zu Stufe
deutlicher wird. Dabei wird nicht die Auffassung vertreten, dass das
moralische Handeln allein vom moralischen Urteilsniveau bestimmt
wird. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine für richtig gehaltene
Entscheidung nur dann in die Tat umgesetzt wird, wenn man sich in
einer Situation subjektiv verantwortlich fühlt und bestimmte „nichtmoralische“ Fähigkeiten der Ich-Kontrolle die Ausführung der Handlung
unterstützen. Zu diesen „nicht-moralischen Fähigkeiten“ werden kognitive Fähigkeiten wie Intelligenz, Aufmerksamkeit und auch die Fähigkeit
zum Belohnungsaufschub (z.B. um einen einmal gewählten Entschluss
beharrlich verfolgen zu können) gerechnet.
Dieses Handlungsmodell lehnt sich an ein Vier-Komponenten-Modell
der Entstehung moralischen Verhaltens von dem 1999 verstorbenen
Direktor des „Center for Ethical Development“ der University of Minnessota, James R. Rest, an. Aus der Vielzahl von interessanten Einzelaspekten zu Kohlbergs Erkenntnissen soll hier kurz auf die Fixiertheit in
einer Denkstruktur eingegangen werden: Es spricht viel für die Vermutung, dass Personen, die fest in den Denkstrukturen ihrer Stufe verankert sind, gegenüber dissonanten Informationen weniger offen sind als
Personen, deren Denkstrukturen sich weiterentwickeln.
Neu gewonnene Informationen können ein einmal erreichtes Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt gefährden, gleichzeitig aber
auch zu einer Akkomodation im Sinne der Erreichung eines neuen Gleichgewichts auf einer höheren Stufe führen. Ein Indiz für die Fixiertheit des
Denkens an eine Stufe könnte möglicherweise in der Entschiedenheit
liegen, mit der ein moralisches Urteil gefällt wird. Wer in Bezug auf komplexe moralische Probleme für sich selbst genau weiss, was richtig oder
falsch ist, scheint gegenüber neuen Informationen weniger aufgeschlossen zu sein als derjenige, der sich seines Urteils nicht so sicher ist.
Hier möchte ich einen zweiten Einschub in Form einer offenen Frage
vornehmen:
Alle militärischen Führer, insbesondere diejenigen, die über reichlich
Ausbildungserfahrung verfügen, wissen, dass Soldaten nach klaren Aussagen streben, nach „Kochrezepten“ verlangen. Transferleistungen
werden nur ungern als Herausforderung angenommen. Gilt es in der
didaktischen Konzeption bei der „Ethikausbildung“ von Soldaten diesbezügliche Schlüsse aus den Erkenntnissen Kohlbergs zu ziehen – und
wenn ja: Wie können wir individuell geformtes Wissen über „richtig“
und „falsch“ in Bezug auf militärische Dilemmata vermitteln? Oder nehmen wir – bewusst – in Kauf bzw. intendieren sogar, dass Soldaten im
Kontext von Kohlbergs Modell ein einmal erreichtes Gleichgewicht zwischen Individuum und Umwelt gefährden?
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
4. Kritik und Weiterentwicklung an und von Kohlbergs
Arbeiten
Obwohl Kohlberg seine Stufenhierarchie zeitlebens immer wieder überarbeitet, verfeinert bzw. ergänzt hat, ist an seinem Modell vielfach Kritik geübt worden. Hinsichtlich der methodischen Grundlagen reagierte
Kohlberg mit einer geradezu akribischen Präzisierung der Erhebungsund Auswertungsmethode.
Aus feministischer Perspektive wurde in den 80er-Jahren insbesondere von Kohlbergs ehemaligen Mitarbeiterin Carol Gilligan, der späteren
Gründerin des „Harvard Center on Gender and Education“, geforscht.
Nach Kohlbergs Modell argumentieren Frauen eher auf der Stufe 3,
Männer hingegen auf der 4. Stufe. Gilligan kritisierte die zentrale Bedeutung der Gerechtigkeitsperspektive (ethic of justice), die für Männer
dominierend sei. Neben dieser gäbe es aber auch eine Fürsorgeperspektive (ethic of care), an der sich eher Frauen orientierten. Mit dem
Postulat von zwei Moralarten geschlechtsspezifischer Art wurden eine
umfassende Diskussion und weitere, detaillierte Forschungen ausgelöst.
Als Resultat kann festgestellt werden, dass die bestimmende Frage, ob
es eine geschlechtsspezifische Moral gebe, heute eher verneint wird.
Ob sich jemand bei moralischen Dilemmata eher an konkreten Bedingungen und zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. lieber an Gesetz
und Ordnung oder aber an übergeordneten Prinzipien orientiert, scheint
weniger eine Frage des biologischen Geschlechts als vielmehr des Inhalts
des Dilemmas zu sein. Wenn sich Frauen und Männer zwar nicht in ihrem
moralischen Denken unterscheiden, so doch in Bezug auf konkrete, rollenbezogene Entscheidungen, bei denen grosse Meinungsdiskrepanzen zwischen den Geschlechtern feststellbar sind. Die Wechselwirkung
zwischen moralischer Kompetenz und situativer Betroffenheit erweist
sich weit bedeutsamer als das Geschlecht.
Weit mehr umstritten ist auch heute noch der Zusammenhang zwischen
moralischem Urteil und moralischem Handeln. Kohlberg selbst kam aufgrund empirischer Untersuchungen zu dem Schluss, dass eine Übereinstimmung zwischen moralischem Urteil und moralischem Handeln
mit der Höhe der Stufe des moralischen Urteils zunimmt. Dennoch
erlaubt das moralische Urteil keine konsistente Vorhersage moralischen
Handelns in konkreten Situationen, weil dieses neben der Situationsbewertung auch die Selbstzuschreibung der Verantwortlichkeit und der
erforderlichen Handlungskompetenzen erfordert. Hierbei auf die zwar
sehr interessanten aber auch äusserst komplexen Themen, die mit den
Stichworten „Selbsttäuschungsstrategien“ sowie „Selbstunaufmerksamkeit“ verbunden sind, einzugehen, würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen und scheint mir einer ggf. gesonderten Einzeldarstellung vorbehalten zu sein. Es ist aber mit einer gewissen Zuversicht
anzunehmen, dass die Intensität des Denkens sich nicht immer direkt
auf die Handlungsentscheidungen auswirkt. Weiterhin gibt es ein „intuitiv richtiges“ moralisches Verhalten, das vom Handelnden nicht weiter
begründet werden kann. Wollte man daraus folgern, anstatt das
Gespräch über moralische Dilemmata lieber das moralische Verhalten
zu untersuchen, so ist dem entgegen zu halten, dass beobachtetes Ver-
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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halten in seiner Tiefenstruktur erst dann zugänglich ist, wenn man es
als intentional und damit als Handlung rekonstruieren kann. Und hierzu wird die Selbstauskunft des Handelnden benötigt.
Ein weiterer Kritikpunkt richtet sich gegen die Vernachlässigung der
emotionalen Dimension in Kohlbergs theoretischer Konzeption. Die Entwicklung moralischer Gefühle wie z.B. Schuldgefühle oder moralische
Empörung finden bei Kohlberg keine systematische Berücksichtigung.
Die Frage, ob sich Kognition und Emotion aber tatsächlich unabhängig
voneinander entwickeln, ist bis heute ungeklärt. Die Antwort hängt dabei
auch davon ab, wie Kognitionen und Emotionen theoretische konzipiert
werden. Es spricht einiges dafür, dass zumindest höhere, also komplexere Emotionen als kognitiv konstruiert betrachtet werden können. So
kann beispielsweise moralische Empörung erst dann entstehen, wenn
eine gegebene Situation kognitiv entsprechend wahrgenommen und
bewertet wird.
Der Konstanzer Georg Lind, der mit Kohlberg zusammengearbeitet hatte, hat die Methoden im Rahmen eigener Interventionsstudien
und Lehrerfortbildungsprogramme weiter ausgearbeitet. Der „Moral
Judgment Test“ (MJT) hat inzwischen eine grosse Verbreitung gefunden und wurde auch in zahlreichen Studien eingesetzt. Besonders zu
nennen ist hier das schulpraktische Erprobungsprojekt „Demokratie und
Erziehung in der Schule“, im Zeitraum 1985 –1991 in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Obwohl diesem Test eine hohe Reliabilität und
Validität bescheinigt wird, gilt die Kritik vor allem, dass er eher die
Präferenz eines Probanden für ein vorgegebenes Verhalten misst als
das aktive moralische Urteilen.
Generell lässt sich feststellen, dass im Zusammenhang mit der Methode der Dilemma-Diskussion die Fragen nach den genauen Wirkungsfaktoren und wie sich diese noch weiter verbessern lassen noch nicht
vollständig geklärt sind. Auf der Grundlage vieler Studien und Erprobungsprojekte hat Lind eine Revision der Kohlberg-Methode entwickelt,
die „Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion“ (KMDD). Diese ist
vielseitig anwendbar, objektiv evaluierbar und auch relativ leicht vermittelbar. Ihre beiden zentralen Prinzipien – Unterstützung und Herausforderung sowie demokratische Moral – haben erste empirische Evidenz gefunden.
Dass einige mit Emotionen befasste Teile des Gehirns bei der Beschäftigung mit „persönlichen“ Szenarien deutlich aktiver sind als bei „unpersönlichen“ Szenarien belegen erste hirnphysiologische Experimente,
die zu Beginn des neuen Jahrtausends ein Team aus Philosophen, Psychologen und Hirnforschern mit Hilfe der neuen bildgebenden Verfahren an der Princeton-University durchgeführt haben. Noch sind wir weit
davon entfernt, die hirnphysiologischen Vorgänge zu erklären, die sich
bei der Beschäftigung mit „Moral“ abspielen, aber weitere neuen
Erkenntnisse sind gerade auf diesem Gebiet zu erwarten, insbesondere was Funktionen des limbischen Systems betreffen.
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Literaturverzeichnis
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In: Oser, F., W. Althof und D. Graz (Hg.).
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(Seiten 20 - 41).
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Der Sinn und Zweck berufsethischer Bildung
aus der Sicht betroffener Soldaten1
1. Einleitung
Andreas Kastberger
Für die Berufsethische Bildung (BeB) der österreichischen Unteroffiziere gibt es seit 2006 ein strukturiertes Konzept, das in die Curricula aller
Ausbildungsgänge eingearbeitet ist. Seit 2008 ist auch eine Dienstprüfung auf der dritten Ebene der Ausbildung (zum Stabsunteroffizier) vorgesehen.
Auf diese juristisch-organisatorische Basis aufbauend, erstellte das Team
der Unterrichtenden an der Heeresunteroffiziersakademie (HUAk) in Enns
Unterrichtsmaterialien, die sowohl den militärischen Notwendigkeiten
als auch dem Alter sowie der Erfahrung der Kursteilnehmer entsprechen.
Unbeantwortet blieb allerdings bis jetzt die Frage, wie die Kursteilnehmer selbst diesen Teil ihrer Ausbildung einschätzen, worauf sie mehr
oder weniger Wert legen bzw. in welcher Weise ihnen Fortbildung sinnvoll und anstrebenswert erscheint.
Das vorliegende Projekt von Andreas Kastberger und Stefan Gugerel
sollte dieser dritten Säule der BeB beim Österreichischen Bundesheer
(ÖBH), nämlich den betroffenen Soldaten, nachspüren.
Stefan Gugerel
2. Der Verlauf der Untersuchung
Karl Novak
76 Teilnehmer am Lehrgang Militärische Führung 3 (MilFü3) haben von
der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach Ablegung der Dienstprüfung
Berufsethik freiwillig und anonym einen Fragebogen auszufüllen. Dieser enthielt neben einfach zu beantwortenden Entscheidungsfragen auch
Fragen, die Raum für eigene Meinung und Wünsche boten.
Die Auswertung erfolgte durch einen Projektmitarbeiter, der in den beiden befragten Lehrgängen weder als Unterrichtender noch als Prüfer
auftrat.
3. Der erste Fragenkomplex: Möglichkeit und Sinn
moralischer Erziehung/berufsethischer Bildung
1
Der Begriff „Soldat“ wird im folgenden Beitrag
für männliche und weibliche Soldaten
geschlechtsneutral verwendet.
98 % der Befragten halten die BeB von Unteroffizieren für sinnvoll (66
„Ja“, 32 „Ja, eher schon“), 2 % für „Nein, eher nicht“. Kein einziger Teilnehmer wählte die Option „Nein“. In Gesprächen während den Unterrichtspausen bzw. auch in Diskussionen wird man öfter mit Erstaunen
konfrontiert, warum auch Unteroffiziere mit Ethik befasst werden, sie
seien ja „bloss ausführende Organe“. Ein nicht unwesentlicher Nebeneffekt der BeB ist vor allem im Rahmen der höheren Unteroffiziersausbildung die Weckung eines Nachdenkens über den eigenen Stellenwert
und die eigenen Möglichkeiten.
Das Anvertrauen von Verantwortung für das eigene Handeln gehört zu
den Kerninhalten des Unterrichts, die Präsentation verschiedener Handlungsbegründungsmöglichkeiten wird daher als Unterstützung und interessanter Denkanstoss wahrgenommen. Die hohe Zustimmung zum
Gesamtkonzept kann aber in mehrerlei Hinsicht interpretiert werden:
– Sinnvoll, weil brauchbar für den Dienst
– Sinnvoll, weil bisher unbekannt
– Sinnvoll, weil gute Abwechslung zu rein innermilitärischen Inhalten
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Eine spätere Untersuchung könnte dieses Zuschreiben von Sinn näher
unter die Lupe nehmen, besonders darauf hin, ob verstärkter Bedarf
nach BeB durch mehr und mehr fehlende Verhaltensprägung durch
Familie, Freundeskreis, Gesellschaft bzw. militärische Tradition entsteht.
Um in einer solch unübersichtlichen Zeit die Brücke zwischen liberalen
Arbeits- und Loyalitätsvorstellungen der Gesellschaft und einem unhinterfragt anspruchsvollen Anforderungsprofil des Militärs zu schlagen,
könnte die BeB mit ihren historischen (z.B. Entstehung der Menschenrechte, unterschiedliche Beurteilung von Sklaverei oder Folter) und kulturübergreifenden (z.B. Soldatenethos in Buddhismus, Christentum,
Islam, Kommunismus oder Utilitarismus) Darstellungen interessante
neue Konzepte bieten.
Die bewusst an zweiter Stelle platzierte Frage, ob moralisch richtiges
Handeln durch Bildungsmassnahmen erlernt werden könne, beantworteten wiederum 97 % mit „Ja“ bzw. „Ja, eher schon“.
Die Allgemeinheit der Frage lässt offen, welche Bildungsmassnahmen
geeignet und sinnvoll eingesetzt werden. Die Bandbreite geht von der
Vermittlung von Sachinhalten als Entscheidungsgrundlage, über Rollenspiele und Übungen bis zum simplen Androhen von Strafe.
Wenn man unter Moral auch die Summe der vorgeprägten und übernommenen Vorstellungs- und Verhaltensweisen versteht, so ist das
Militär von seinem inneren Wesen her zutiefst moralisch, hat es doch
einen sehr speziellen (meist impliziten) Kodex von Umgangs- und Entscheidungsformen, die neu hinzukommenden Soldaten auf jeden Fall
beigebracht werden müssen, bevor diese vollwertige Mitglieder des
Systems sein können.
4. Der zweite Fragenkomplex:
Die Kommandantenbeurteilung
Die nächsten Fragen lauteten „Beschäftigen sich die Kommandanten
des ÖBH Ihrer Ansicht nach ausreichend mit Fragen der ethischen Dimensionen Ihres Handelns?“ und „Fühlen sich Ihrer Ansicht nach die Kommandanten ausreichend über das bestehende Bildungsangebot zur ethischen Bildung für Soldaten informiert?“.
Etwa zwei Drittel der Befragten (13 % „Ja“ und 47 % „Ja, eher schon“)
haben den Eindruck, dass österreichische Kommandanten nicht nur die
militärische Relevanz und die technischen Umstände ihres Handelns
bedenken, sondern auch die ethische Dimension, also die Frage nach
dem Guten im eigenen Handeln. Dies ist insofern wichtig, als Absolventen des Militärischen Führungslehrgangs 3 auch als Zugskommandanten eingesetzt werden, das heisst: Auch für ihr eigenes Handeln wird
die Berücksichtigung der ethischen Dimension ein wichtiger Bestandteil sein.
Umso mehr verwundert, dass über 50 % der Befragten angaben, Ihrer
Ansicht nach seien die Kommandanten nicht ausreichend über das berufsethische Fortbildungsprogramm informiert. Wenn einerseits bewusst ethische Massstäbe für das Handeln massgeblich gemacht werden,
zugleich aber wenig Kenntnis über das Fortbildungsangebot besteht,
könnte das einerseits bedeuten, dass Vertiefung ethischer Grundlagen
in Eigeninitiative erfolgt, oder aber, dass ein mit Abschluss der Ausbil-
48
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
dung erreichter Kenntnisstand für die gesamte spätere Dienstzeit als
ausreichend eingeschätzt wird, weshalb keine Weiterbildung notwendig wäre.
Wohlwollend gelesen stellt das Ergebnis eine Forderung nach besserer
oder flächendeckender Beteiligung mit Information dar. Man kann ja
nicht gleichzeitig von der Wichtigkeit des Sachverhaltes sprechen und
keine Massnahmen ergreifen, um diesen Bereich weiter auf- und auszubauen.
5. Der dritte Fragenkomplex: Die eigene Situation
Da nun aber – auch das ist ja ein Inhalt der BeB – die Verantwortung für
die Fortbildung nicht allein bei den Vorgesetzten gesucht werden kann,
setzte der abschliessende Teil direkt bei den Lehrgangsteilnehmern an:
Die Frage, ob sie selbst gut über Weiterbildungsangebote informiert
seien, beantworteten je 38 % mit „Ja, eher schon“ und „Nein, eher
nicht“.
Das verwundert, weil zugleich 74 % ein besseres Angebot an Fortbildungsveranstaltungen wünschen. Man kann nun davon ausgehen, dass
jemand, der sich für die Sache interessiert, auch selbst nach Angeboten sucht. Daraus ergeben sich angesichts der beiden Ergebnisse zwei
Fragen: Gibt es genug Angebot und ist dieses Angebot ausreichend
bekannt? In besonderer Weise wurden Exkursionen und verstärkter Praxisbezug gewünscht, ist es doch immer leichter, vom Konkreten zum
Allgemeinen zu kommen, als umgekehrt einen ethischen Grundsatz philosophisch einwandfrei darzustellen und dann den Kommentar zu hören:
„Das funktioniert nur in der Studierstube!“.
Dabei ist auch festzustellen, dass manche Interessierte aufgrund ihrer
dienstlichen Unabkömmlichkeit nicht die Möglichkeit geboten bekommen, an weiterführenden Veranstaltungen teilzunehmen, besonders in
jüngeren Jahren und niedrigeren Dienstgraden. Für andere besteht kein
militärinterner Fortbildungsbedarf, weil sie durch eigene Bemühungen
Informationen sammeln und sich extern weiterbilden wollen.
6. Die Rückschlüsse
Der bisherige BeB-Teil des MilFü3 versuchte schon, auf frühere Feedbacks hin, das Kurskonzept „vom Kopf auf die Beine“ zu drehen. Der
Ausgang wird in jedem der drei Module „Menschenrechte“, „Internationale Einsätze“ und „Grundlagen“ von konkreten Einsätzen (nach
Möglichkeit des ÖBH) genommen, mit historischen und ausserösterreichischen Inhalten ergänzt und dann wiederum im dritten Schritt in
konkreten Spezialfällen angewandt. Damit bleibt Raum, eigene (Auslands-)Erfahrung einzubringen und trotzdem auch die eigene Sicht
anhand der zusätzlichen Information neu zu justieren.
Dass trotzdem noch mehr Praxisbezug gewünscht wird, liegt wohl nicht
zuletzt daran, dass der grössere Teil dieser Ausbildung im Lehrsaal stattfindet und damit gerade nicht einen sehr praktischen Eindruck erweckt.
Zeitgenössische Filme der Populärkultur zur Illustration in Ausschnitten einzusetzen oder anhand pädagogisch wertvoller Spiele humorvoll
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auf den Weg des kritischen Nachdenkens zu führen, sind Methoden, die
Enge des Klassenraums aufzubrechen.
Exkursionen sind gleich eine mehrfache Unterstützung: Erstens tritt bei
Exkursionen die Klasse als Militär in ziviler Öffentlichkeit auf, die Abstimmung aufeinander, die Rücksichtnahme auf zivile Gepflogenheiten
und auch das Aushalten von Unverständnis, wenn zum Beispiel die
Euthanasiegedenkstätte Hartheim bei Linz von Uniformierten besucht
wird, lassen Formen von Ausgrenzung und Unbehagen am eigenen
Leib spüren. Wer das einmal so wahrgenommen hat, wird sich in Zukunft
anders verhalten, wenn er eine Position innehat, von der aus er andere
ausgrenzen oder lächerlich machen könnte.
Zweitens konfrontieren Exkursionen mit konkreten Zeugnissen konkreter Ereignisse, die nun abschreckend oder beispielhaft sein können wie
zum Beispiel das Benediktiner-Kloster Melk in der Wachau, das nicht
nur zum Weltkulturerbe gehört, sondern seit Jahrhunderten Hort der
Wissenschaften, auch des interkulturellen und überzeitlichen Zusammenarbeitens ist.
Drittens bieten Exkursionen die Möglichkeit, Spezialisten zu bestimmten Themen direkt zu befragen, etwa Vertreter der Österreichischen
Buddhistischen Gesellschaft oder der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich.
7. Gefragte Themen:
Religionen, Menschenrechte, Folter
Zu den Themen, zu denen man am meisten Zusatzinformation wünscht,
gehören einerseits die Religion, vor allem in ihrem Verhältnis zur Gewaltlegitimierung und -anwendung. Das beruht vielleicht auf dem verbreiteten Phänomen, jeden gewaltsamen Konflikt mit Religionsunterschieden begründen zu wollen. Besonders Vertreter von Buddhismus und
Islam können hier durch eine Fülle an historischem und gegenwärtigem
Detailwissen den eigenen Horizont massiv weiten. Auch Darstellungen
des Christentums aus der Perspektive der evangelischen und katholischen Militärseelsorge trägt diesem Anliegen Rechnung.
Die Frage der Menschenrechte, vor allem ihrer Durchsetzung, berührt
Soldaten insofern, als im eigenen System und bei Auslandseinsätzen
im Rahmen humanitärer Interventionen ganz besonders darauf geachtet wird, wie die Einsatzkräfte selbst mit den Rechten umgehen, die sie
zu schützen beauftragt sind. In Zeiten, in denen die Handlung jedes „kleinen Mannes“ – mit Handy aufgenommen und im Internet verbreitet –
einen ganzen Einsatz desavouieren kann, muss jeder nicht nur über
die konkreten Einsatzregeln Bescheid wissen, sondern auch selbstbewusst und kompetent die dahinterstehenden Grundsätzen benennen
und begründen können.
Das Beispiel der Folter als absolut verbotener Handlung ruft immer wieder Fragen hervor, ob es nicht doch begründete Ausnahmefälle gäbe
bzw. ob man nicht Gleiches mit Gleichem vergelten können muss, sei
es auch nur im Sinn der Abschreckung. Zugleich erschüttern täglich neu
nicht nur die Meldungen aus weit entfernten Krisenregionen, sondern
auch von exzessiver Gewaltanwendung vor der eigenen Haustüre bzw.
in Schulen und Familien. Am Beispiel der Folter, zu der oft und heftig
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
diskutiert wird, lassen sich auch verschiedene ethische Begründungsmodelle gut durchexerzieren.
8. Resümee
Die Befragung von 76 angehenden Stabsunteroffizieren des ÖBH ergab,
dass der berufsethischen Bildung ein hoher Stellenwert zukommt, dass
sie für Dienst und Persönlichkeitsentwicklung förderliche Inhalte vermittelt und damit sinnvoll ist.
Die zukünftige Gestalt der Weiterbildung wird einerseits in qualifizierter Weise auf die konkret angefragten Themen abgestimmt sein müssen, anderseits sollten bestehende und neue Kanäle der Information
über entsprechende Veranstaltungen effizient genutzt werden.
Abkürzungsverzeichnis
BeB
HUAk
MilFü 3
ÖBH
Literaturverzeichnis
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militärwissenschaftliche Perspektiven (Theologie und Frieden Bd. 36);
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Berufsethische Bildung
Heeresunteroffiziersakademie
Lehrgang Militärische Führung 3
Österreichisches Bundesheer
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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52
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Ausbildungshilfe, Ausbildungsthema
Die ZDv 10/4 (zE) „Lebenskundlicher Unterricht“
S e l b s t v e r a n t w o r t l i c h l e b e n – Ve r a n t w o r t u n g f ü r a n d e r e
übernehmen können
1. Einführung und Anmerkungen
Mathias Wilke
Die geänderten Anforderungen an die Bundeswehr, die Zunahme von
Auslandseinsätzen, die Notwendigkeit der durchgehenden Einsatzbereitschaft erfordern auch eine Stärkung der ethischen Kompetenzen der
Soldatinnen und Soldaten. Ausgehend von dem Leitbild „Staatsbürger
in Uniform“ ist die Entwicklung und der Ausbau berufsethischer Elemente in der Ausbildung und im Handeln der Soldatinnen und Soldaten erforderlich.
Es wird immer offensichtlicher, dass in den derzeitigen und zukünftigen
Einsätzen hohe Anforderungen an die ethische und moralische Kompetenz unserer Soldatinnen und Soldaten gestellt werden. Diese Befähigung sollten die militärischen Vorgesetzten und Führer – wenn immer
möglich – in einer umfassenden Ausbildung erwerben.
Dafür ist es erforderlich, dass jeder Soldat und jede Soldatin, vor allem
im Einsatz, ein Mindestmass an ethischem Grundwissen besitzen, welches den Ansprüchen seiner bzw. ihrer Aufgabe als Angehöriger bzw.
Angehörige der Bundeswehr und Vertreter bzw. Vertreterin Deutschlands gerecht wird.
Darüber hinaus soll jeder Soldat und jede Soldatin Handlungssicherheit
erwerben, um situationsgerecht moralisch begründete Urteile fällen und
sich korrekt verhalten zu können.
Vorgesetzte sollen mit Hilfe ethischer Unterrichtung darin unterstützt
werden, bei ihren Unterstellten Vertrauen in ihre Vorgesetzten und
Gefolgschaft aus Einsicht zu fördern.
Grundsätzlich ist zu beachten: Ethisches Denken und moralisches Handeln kann nicht „befohlen“ werden. Vielmehr handelt es sich hierbei
um einen lebenslang andauernden Lern- und Anwendungsprozess, der
auf eine nachhaltige Verhaltensänderung abzielt und bei jeder einzelnen Person unterschiedlich verläuft. Dem ist in der Ausbildung Rechnung zu tragen. Die Lerninhalte sind nicht vergleichbar mit digitalen,
technischen oder kybernetischen kognitiven Lerninhalten, welche – einmal vermittelt – immer richtig angewendet werden können. Wiederholungen von Unterrichten oder Lernabschnitten im ethischen und moralischen Kontext leisten einen entscheidenden Beitrag zur Förderung der
bewussten Aufmerksamkeit und zur Festigung der Handlungssicherheit.
Diesen Sachverhalt zu negieren bedeutet, den Soldaten und die Soldatin in seiner bzw. ihrer menschlichen Natur nicht wahrzunehmen.
2. Didaktische und methodische Hinweise
2.1 Formale Anmerkungen zur Ausbildungshilfe
Das Thema „Die ZDv 10/4 (zE) Lebenskundlicher Unterricht“ – Selbstverantwortlich leben – Verantwortung für andere übernehmen ist eine
wesentliche und unverzichtbare Ergänzung zur moralischen Urteilsbildung, welcher verschiedene Anwendungsbereiche der Inneren Führung
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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in besonderer Weise verpflichtet sind (ZDv 10/1 Ziff.508.509 vgl. ZDv10/4
103). Der Lebenskundliche Unterricht leistet bei der Entwicklung berufsethischer Kompetenz eine unverzichtbare Ergänzung. In diesem Verständnis wirkt er auf die Persönlichkeitsbildung in den Bereichen „Individuum und Gesellschaft“, „Persönliche Lebensführung und soldatischer
Dienst“ sowie „Moralische und psychische Herausforderungen des soldatischen Dienstes“ (Anlage 3).
„Der Lebenskundliche Unterricht ist ein Ort freier und vertrauensvoller
Aussprache und lebt von der engagierten Mitarbeit der Soldatinnen und
Soldaten“ (ZDv 10/4 Nummer 104). Ein solches Gesprächsklima ist nur
möglich, wenn sich alle Beteiligten verantwortlich für das Gelingen des
LKU wissen.
2.2 Zielgruppe und Teilnahme von Vorgesetzten
Die Zielgruppe der Ausbildung ist von Fall zu Fall unterschiedlich.
Folgende Faktoren bestimmen die Zielgruppe:
–
–
–
–
Grösse (optimal 15 – 25 Personen)
Lebensalter
Vorkenntnisse, Bildungs- und Ausbildungsstand,
Soziale Struktur der Gruppe (Zusammenhalt, Klima, Rollen, Positionen)
Im Ergebnis bedeutet dies, dass jeder Unterricht anders abläuft und
auch die Ziele in unterschiedlicher Ausprägung erreicht werden.
Vorgesetzte, die sichtbar für ihr Handeln Verantwortung übernehmen,
wirken als Vorbild in Haltung und Pflichterfüllung und bauen Vertrauen
bei ihren Unterstellten auf. In diesem Zusammenhang hat die Vorgesetztenförderung eine Schlüsselfunktion in der Verbreitung richtigen
Verhaltens in der Truppe. Die Teilnahme von Vorgesetzten am LKU ihrer
Unterstellten trägt dazu bei, ihre Einstellungen und ihr Führungsverhalten für die Unterstellten transparenter zu machen.
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Nehmen Vorgesetzte nicht am LKU teil, so drückt dies nicht automatisch
ihr Desinteresse aus. Vielmehr kann es hilfreich sein, wenn Vorgesetzte bewusst auf eine Teilnahme am LKU verzichten, weil dadurch nicht
selten das offene Gespräch innerhalb der Teilnehmergruppe gefördert
wird.
2.3 Lernziele und Kontrolle
Die Teilnehmenden am LKU sollen
– ausgewählte theoretische ethische Konzeptionen kennen,
– eigene und fremde Wertesysteme kennen und unterscheiden können,
– sich ihrer individuellen Situation bewusst werden und sie beschreiben können,
– lernen, eigene Emotionen und die ihrer Kameraden bewusster wahrzunehmen,
– Entscheidungen bei Pflichtenkollisionen entwickeln können,
– Konsequenzen ihres Handelns aufzeigen können,
– bereit sein, werteorientiert zu handeln.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass
– der LKU die Bereitschaft der Bundeswehrangehörigen gefördert werden soll, im Sinne der übergeordneten Führung und des Auftrages
zu denken und zu handeln,
– die Teilnehmenden am LKU ihre Rolle und ihre Funktion in der Bundeswehr in der rechten Weise einordnen und die an sie gestellten
Erwartungen anerkennen.
Die Vermittlung von Inhalten dient vor allem dazu, die situative Wahrnehmung der Teilnehmenden zu fördern und die praktische Anwendbarkeit moralischen Verhaltens einzuüben.
Da es sich hierbei nicht nur um kognitive, sondern vor allem um affektive Ziele handelt, ist es besonders anspruchsvoll, das Erreichen dieser
Lernziele zu überprüfen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass eine
Kontrolle in diesem Bereich niemals als manipulativ, überwältigend 1,
bevormundend oder indoktrinierend empfunden werden darf, um zu
verhindern, dass der Lern- und Erkenntniserfolg ins Gegenteil verkehrt
wird.
2.4 Ausbildungsinhalte und Ausbildungsverfahren
Ausbildungsinhalte des LKU sind die zwölf Themen, die durch BMVg
Fü S I 3 in Zusammenarbeit mit EKA und KMBA entwickelt wurden und
die in der Anlage 3/1 der ZDv 10/4 (zE) aufgeführt sind.
Ausbildungsverfahren sollten sich an den Gegebenheiten der Zielgruppe
orientieren (Argumentationsbereitschaft, Vorkenntnisse, Grösse der
Gruppe etc.).
1
Hier gilt das Gleiche wie das im
Beutelsbacher Konsens für die Politische
Bildung Geschriebene.
Als Ausbildungsverfahren eignen sich insbesondere
– das Lehrgespräch mit den Vorteilen, dass die Ausbildungsgruppe
aktiviert wird, Lernvorgänge vertieft werden und eine ständige Kontrolle möglich ist,
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– die Gruppenarbeit, in der praktisches Lernen und Lösen von Problemen eingeübt wird. Dies ist ein erwachsenengerechtes Verfahren,
welches trotz seines grösseren Zeitaufwands nach Möglichkeit angewendet werden sollte, da mit ihm Selbständigkeit gefördert wird,
– Moderierte Diskussionen und Rollenspiele, in denen Entscheidungssituationen mit Pflichtenkollisionen durchgespielt werden. Sie haben,
wenn sie realistisch durchgeführt werden, in der Praxis einen hohen
Wiedererkennungswert und sollten wenn immer möglich angewendet werden.
Jedes Verfahren, das die Beteiligung aller Lernenden ermöglicht, ist zu
bevorzugen.
2.5 Ausbildungsmittel und Organisatorische Bedingungen
Schwerpunkt der Ausbildungshilfe sind die Themenblätter, welche die
Ausbildungsthemen der Anlage 3/1 erschliessen. Diese Themenblätter
werden in Kapitel 3 dieser Ausbildungshilfe im Detail vorgestellt.
Weiter sind Powerpoint-Präsentationen beigefügt. Die Folien sind nicht
weiter versiegelt oder anderweitig geschützt, um den Durchführenden,
die diese Präsentationen verwenden, die Möglichkeit zu geben, die
Folien nach den jeweiligen Erfordernissen vor Ort zusammenstellen zu
können.
Dabei bleiben nur diejenigen Fassungen allgemein verbindlich, die unverändert dieser Ausbildungshilfe entnommen sind.
Die Organisatorischen Bedingungen (z.B.: Infrastruktur, Lärmbelästigung, Beleuchtung, Klima) richten sich nach den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort. Die Ausbildungszeit sollte so gelegt werden, dass die
Teilnehmenden nicht unter physischen Belastungen leiden (Müdigkeit,
Stress).
Im Übrigen wird an dieser Stelle auf die Methoden und Verfahren hingewiesen, die in der ZDv 3/1 „Grundsätze der Ausbildungslehre“ –
insbesondere Kapitel 7 Ausbildungsformen /Ausbildungsverfahren niedergelegt sind.
Da sich der LKU hauptsächlich an den Verstand, die Einsicht und die
emotionale Intelligenz der Teilnehmenden wendet, sind vor allem
Verfahren zielführend, bei denen die Teilnehmenden sich beteiligen
können.
3. Die 12 Themen des Lebenskundlichen Unterrichts
Die Themen des LKU sind durch die ZDv 10/4 (zE), Anlage 3 verpflichtend vorgegeben. Inhaltlich sind die Themen in drei Themenfelder gegliedert:
1. Individuum und Gesellschaft (5 Themen)
2. Persönliche Lebensführung und soldatischer Dienst (3 Themen)
3. Moralische und psychische Herausforderungen des soldatischen
Dienstes (4 Themen)
Darüber hinaus hat Fü S I 3 die Themen folgenden drei Abschnitten
zugeordnet:
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Abschnitt Grundausbildung (Farbe: rot):
Themen:
1.1 Unser Menschenbild im Einklang mit dem Grundgesetz sowie
andere Menschenbilder
1.3 Freiheit, Gewissen und Verantwortung
Abschnitt Laufbahnlehrgänge sowie Vollausbildung und Grundbetrieb
(Farbe: blau):
Themen:
1.2 Identität und Toleranz
1.4 Religion in Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland
2.1 Mensch / Familie und Dienst
2.2 Verantwortung übernehmen
3.2 Zugänge zu Friedens- und Konfliktethik aus dem europäischen
Wertekanon
3.4 Umgang mit Konflikten, belastenden Situationen und Extremsituationen
Abschnitt Einsatzausbildung (Farbe: grün):
Themen:
1.5 Religion in Staat und Gesellschaft anderer Länder
2.3 Leben und Tod
3.1 Einführung in Kultur und Religionen / Ethos Weltreligionen
3.3 Einsatzbelastung: Verantwortung und Schuld
3.1 Themenblätter
Die Ausbildungshilfe stellt für die 12 Unterrichtsthemen Themenblätter
zur Verfügung, welche die Inhalte für die 12 Unterrichte erschliessen.
Dies erfolgt in vier logisch aufeinander aufbauenden Schritten:
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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Schritt 1: Grundlagen / Sachstand / Impulse / Hintergründe.
Hier geht es darum, den Durchführenden Materialien und Quellen
zur Verfügung zu stellen bzw. darin zu unterstützen, den Lernenden Wissen zu vermitteln und eine gemeinsame Diskussionsplattform herzustellen.
Schritt 2: Fragestellungen:
Dieser Schritt definiert den Abholpunkt der Teilnehmenden. Er wird
durch die folgenden Fragen gefunden:
„In welcher Situation wird der Soldat mit diesem Thema konfrontiert?“
„Wo begegnet dem Soldaten dieses Thema?“
„Wo steht der Soldat?“
In einer Stoffsammlung, bei der auch ggf. die Erfahrungen der einsatz erfahrenen Soldaten genutzt werden, entwickelt sich ein beispiel- und
lageorientierter Diskussionsaufbau.
Schritt 3: Fragestellung:
„Welche Erwartungen werden an den Soldaten gestellt?“
Mit dieser Frage nach dem Rollenverständnis/-verhalten/-erwartungen
durch Vorgesetzte – Kameraden – Familie – Gesellschaft – Selbstbild
kann die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas weiter vertieft
werden. Diese Frage arbeitet, indem sie auf die persönliche Betroffenheit der Teilnehmenden aufmerksam macht, den Praxisbezug des
Themas heraus. Dabei gilt es immer wieder festzustellen, dass es
keine falschen Lösungen gibt.
Schritt 4: Fragestellungen:
„Welche Handlungsmöglichkeiten hat der Soldat in Bezug auf das
konkrete Thema?“
„Welche Gestaltungsräume werden dem Soldaten ermöglicht?“
„Was ist zu tun“
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Durch die Formulierung von ethischen Einzelfalllösungen kann das
Bewusstsein weiter trainiert werden. Auch ist es wichtig, die ethischen,
politischen und militärischen Konsequenzen des soldatischen Handelns
herauszustellen. Die Bedeutung des „Strategic Corporal“; die Wirkungen und Einflüsse einer medienbeeinflussten Gesellschaft müssen verstanden werden.
Die Anwendung der hier vorgestellten vier Schritte hat didaktisch die
Aufgabe, die Durchführenden bei ihren Vorbereitungen zu unterstützen.
Sie entfaltet in Verbindung mit den 12 Themen eine Matrix (siehe Abbildung).
Neben diesem methodischen Konzept soll durch die ständige Wiederholung der vier logisch aufeinander aufbauenden Schritte bei den Teilnehmenden erreicht werden, dass bei ihnen diese Betrachtungs- und
Behandlungsweise von Situationen dazu beiträgt, auch in ungewohnten Umgebungen mit unbekannten Parametern Sicherheit in Wahrnehmen, Denken und Handeln zu erlangen.
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Er f a h r u n g e n a l s M i l i t ä r s eelsor ger bei der Tr uppenbegleitung
von Soldatinnen und Soldaten von ISAF (International
Security Assistance Force)1
Stefan Jurkiewicz
Seit Sommer 2001 versehe ich meinen Dienst als evangelischer Militärseelsorger bei der Bundeswehr. Nach Verwendungen auf Bataillonsebene, begleitete ich 2004 Soldatinnen und Soldaten der KFOR (Kosovo
Force) – Mission für sechs Monate in Prizren, im Südwesten des Kosovo. Seit Februar 2005 versehe ich meinen Dienst beim EvMil (evangelisch militärisches) Pfarramt Koblenz III, wo ich neben der seelsorgerlichen Tätigkeit auch dem Grundlagenbereich des ZINFÜ (Zentrum
Innere Führung) als evangelischer Theologe zugeordnet bin und dort
vor allem die Weiterentwicklung der berufsethischen Bildung in den
Streitkräften verfolge. In diesem Zusammenhang bin ich auch in den
Spiess-, Chef-, Kommandeurlehrgängen engagiert, sowie in den Seminaren der Interkulturellen Kompetenzentwicklung, den Trauerbegleitseminaren, den Öffentlichkeitsarbeitsseminaren sowie den Lehrgängen
der Zentralen Führerausbildung im Rahmen der einsatzvorbereitenden
Ausbildung. Von März 2009 bis Juli 2009 begleitete ich als Seelsorger
die Soldatinnen und Soldaten des 19. Deutschen Einsatzkontingents
ISAF nach Afghanistan.
Meine Einsatzorte waren Mazar-e-Sharif (MeS; mein Hauptaufenthaltsort), wo sich der Stab des RC North (Regional Command North) befindet, der Strategische Luftumschlagsplatz Termez in Usbekistan und das
Hauptquartier (HQ) in Kabul, sowie das Camp Spann, wo sich die ISAFAusbilder der ANA (Afghanische Nationalarmee) befinden.
Gemäss dem Militärseelsorgevertrag führe ich keine Waffe und trage
keinen Dienstgrad. Mein als Schutzanzug deklarierter Fleckentarnanzug
ist lediglich mit den Schulterklappen der Militärseelsorge gekennzeichnet. Mir stehen im Einsatz Infrastruktur in Form von Büro und Besprechungszimmern zur Verfügung. Personell ist mir ein Pfarrdienstfeldweibel zugeordnet, der infanteristische Schutzfunktion, organisatorische,
administrative und persönliche Unterstützungsfunktionen wahrnimmt.
Vor dem Einsatz durchlaufe ich weitestgehend die vollständigen, einsatzvorbereitenden Ausbildungsmassnahmen inklusive der Impfungen
und der sanitätsdienstlichen Anteile. Von besonderem Wert war die Teilnahme an einer Stabsrahmenübung bei der ich das militärische Schlüssel- und Führungspersonal kennenlernen konnte, einschliesslich dem
Kontingentführer, dem ich zur direkten Zusammenarbeit zugeordnet bin.
1
Die Äusserungen geben die persönliche Meinung und Erfahrung des Autors wieder.
Das Camp Marmal in der Nähe der afghanischen Grossstadt Mazar-eSharif gelegen, bildet personell, infrastrukturell und aufgabenmässig
eine extrem komplexe und weitläufige Situation ab. Das Lager mit seinen Ausmassen 2 km mal 1 km und seinen unterschiedlichen in sich
selber umfangreich und eigenständigen Teilen, stellt eine besondere
Herausforderung an die konzeptionelle Arbeit in quantitativer und qualitativer Hinsicht dar. So lassen sich unter anderem folgende Grossverbände mit je unterschiedlichen militärischen Binnenkulturen und jeweils
eigens abgebildeten Führungsgrundgebieten und oft einer eigenen
Stabs- und Versorgungskompanie identifizieren:
– LogUBtl (Logistik Unterstützungs Bataillon) – rund 600 SoldatInnen
– EG MeS (Einsatzgeschwader Mazar-e-Sharif) – rund 800 Personen mit
drei Waffen – bzw. Flugsystemen, einem Flughafen mit Passagier
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(PAX)- und Frachtbereich, mit drei Organisationsbereichen [Einsatz
Kräfte (Flug) – Einsatz Unterstützung (Technik) – Objektschutz (Infanterie)]
– Stab – rund 280 (international) – alle Führungsgrundgebiete und
Gesamtverantwortung für die AOR (Areas of Reponsibility) des RC
North
– SanEinsVerband [eigener Stab – Klinik – SanBewegl – Medevac (Medical Evacuation)]
– EinsatzWehrVerwaltung – inklusive den Handwerkern des technischen
Betriebsdienstes und des umfangreichen und stark auftragsbelasteten Baubüros, da das Camp sich in einem Prozess des ständigen Ausbaus und Aufwuchs befindet.
All dies zusammen schlägt sich unter anderem in folgenden zwei
anschaulichen Zahlenbeispielen nieder. So besteht die Spiesse Runde
aus 27 Spiessen und die Gemeinschaft der Vertrauenspersonen aus
nahezu 60 SoldatInnen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass MeS in Grösse und Umfang
sich mit einer voll funktionsfähigen politischen Gemeinde in Dorfgrösse vergleichen lässt. Es gibt dort ein Krankenhaus, einen Flughafen,
einen Bauhof, Handwerker, Polizei, ein Bürgermeisteramt, eine Stadtverwaltung, eine Post, ein Geschäft mit einem Umsatz von 2,5 Mio €
Umsatz, eine Radiostation, ein Bistroviertel, zwei Sport – bzw. Fitnesshallen, eine Kirche und eben Militär. Und dieses komplexe und umfangreiche Gebilde wechselt bei laufendem Betrieb alle vier Monate 90 %
seiner Menschen und Bediensteten. Dass dies alles so reibungslos von
statten geht, sollte uns mehr wundern als das Aufkommen von Problemen, auf die noch zu sprechen gekommen wird.
Zu den regelmässig wiederkehrenden Veranstaltungen gehören die
montäglichen Kinoabende im Rahmen der allgemeinen kulturellen Freizeitbetreuung, die wöchentlichen Chorproben, die Abendmeditationen
im Rahmen der Verkündigung, die sonntäglichen Gottesdienste, die
Radiobeiträge bei Radio Andernach, die Teilnahme an Briefings des Stabes, die „INFÜ (Innere Führung)- bzw. „Seelenrunde“, bei der sich Vertreter der Psychologie, der Psychiatrie, der Sanität, der Militärseelsorge und der militärischen Führung regelmässig über die aktuelle
Stimmungslage des Kontingents austauschen.
Neben der Unterstützung des Kontingents bei der notwendigen Gestaltung von diversen Besuchsprogrammen anlässlich der zahlreichen Besuche durch teils sehr hochrangige Repräsentanten aus dem Bereich der
Politik (Kanzlerin, Aussenminister, parlamentarische Staatssekretäre,
Wehrbeauftragter der Deutschen Bundestages), der Kirche (Besuch des
Militärbischofs), des Militärs (u.a. Besuch des Generalinspekteurs, des
Beauftragten für Erziehung und Ausbildung) und der Presse (ZDF, ARD,
Spiegel, taz, FAZ, BILD, …) bildete natürlich die Seelsorge den Hauptanteil meines Auftrags.
Ein Charakteristikum der seelsorgerlichen Kontakte im Auslandseinsatz
liegt sicherlich darin, dass sie häufig unter der Hand, unvermittelt, mit-
62
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ten im Alltagssmalltalk oft geradezu eruptiv aufbrechen um dann manchmal am Ende des Gesprächs wieder genauso unvermittelt im Alltagssmalltalk zu verebben.
Nichtsdestotrotz entwickeln sich aus vielen Erst- und Einzelgesprächen
notwendige Folgegespräche mit den Betroffenen selber oder auch mit
vielen am Rande oder Unbeteiligten. Diese Gespräche dienen dazu das
Lagebild zu verdichten oder um ein Netzwerk der Hilfe zu errichten. Die
Gründe warum man als Seelsorger das Vertrauen erhält und zum Teil
mit sehr intimen Lebensproblemen konfrontiert wird, sind:
– das Herausgenommen- und Herausgehobensein aus der militärischen
Hierarchie mit ihren spezifischen Meldezwängen
– das Seelsorgegeheimnis unter dem der eigene Berufsstand steht
– die einsatzspezifische Balance zwischen Intimität und Anonymität
Als weitere Rahmenbedingung der emotionalen und psychischen
„Grosswetterlage“ in einem Einsatzkontingent möchte ich auf die Beobachtung eines Regressionsmechanismus hinweisen. Meines Erachtens
gibt es einen Zusammenhang zwischen den typischen repressiven Rahmenbedingungen des Alltagslebens im Lager mit all seinen autoritären
Regularien und unserer seelischen Erinnerung. Wann sind wir das letzte mal so reguliert und bevormundet worden? Wahrscheinlich in der
Zeit unserer Adoleszenz bzw. Pubertät. Anscheinend ist daran ein Mechanismus gekoppelt, dass Menschen dann ihr Sozialverhalten, das ebenfalls aus dieser Phase ihrer Entwicklung stammt, reaktivieren. So erlebe ich manche Verhaltensweisen als eine Art von Renaissance der
Adoleszenz. Das heisst die Pubertät feiert im Einsatz fröhliche Urstände. Dies schlägt sich unter anderem in folgenden charakteristischen Phänomenen nieder: Peergroup Verhalten, Gruppenidentitäten, Pachkult,
Flirt-, Imponier und Partygehabe, Körperkult, Kräftemessen, Blödeleien, Kompensationsversuche in Witzen, Satiren und Sarkasmen, Versuche der Rebellion gegen vorgesetzte und vorgefundene Autoritäten und
ihre Entscheidungen.
Im Rückblick lassen sich unschwer vier unterschiedliche Seelsorgeschwerpunkte identifizieren, die sich ebenso ungezwungen den vier
Quartalen des Kontingents zuordnen lassen und damit eine Art innere
Dramaturgie eines Kontingents beschreiben.
Phase 1: erster Monat – „langer Schatten von zu Hause“ oder „keiner
geht mir belastet in den Einsatz“
Während für die Masse der Kontingentteilnehmer die ersten Wochen
bestimmt sind durch angespannte Neugier und das Gefühl, dass es jetzt
nach langen, manchmal nervenaufreibenden Wochen der Vorbereitung,
dienstlich und privat, endlich losgeht und die Uhren endlich wieder
für einen ticken, wird eine qualifizierte Minderheit von Menschen von
ihren kalkulierbaren Alltagsproblemen eingeholt, weil sie der gewiss
gutgemeinten aber natürlich auch naiven Mahnung ihrer Vorgesetzten,
dass keiner belastet in den Einsatz gehen soll, keinen Glauben geschenkt
haben und statt dessen den menschlich verständlichen Weg der
Flucht vor berechenbaren Problemen in den Einsatz eingeschlagen
haben.
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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„Die Zeitbomben“ bzw. „Altlasten“, die diese Personen vermeintlich in
der Heimat hinter sich gelassen haben, erweisen sich als hartnäckiger
und nachhaltiger als vermutet. Sie schlagen in Form von Dienst- bzw.
Familienkonstellationen, Wirtschaft- bzw. Gesundheitsproblemen dann
im Einsatz auf, schränken dort die Dienstfähigkeit ein und machen unter
Umständen ein Repatriierungsverfahren notwendig, da Menschen mit
einem solchen Hintergrund auch Kräfte im Kameradenkreis binden und
die gesamte Einsatzfähigkeit im schlimmsten Fall einer ganzen Abteilung schwächen.
Phase 2: zweiter Monat „heartbreak hotel“
In diesem Zeitraum treten die meisten Beziehungsprobleme auf. Sowohl
die Partner in der Heimat als auch die Partner im Einsatz haben vielleicht zum ersten Mal seit Langem so viel Zeit sich unbeeindruckt und
unbeeinflusst vom jeweiligen Partner Gedanken zu machen über die
„wirkliche Qualität“ und den „wirklichen Zustand“ ihrer Beziehung. So
muss ich immer wieder Verlassende und Verlassene trösten, begleiten
und beraten. Ein nicht zu unterschätzender Faktor bildet dabei auch die
Tatsache der räumlichen Distanz. Viele trennungswillige Partner beugen sich ihrer „Feigheit“ und nutzen die räumliche Entfernung um sich
unberechenbaren psychischen, physischen und sozialen Reaktionen zu
ersparen und hoffen, dass in den verbleibenden zwei Monaten die spontane Erregung und die damit verbundenen unberechenbaren Wogen
der Emotionen und Reaktionen etwas abgeklungen sind. Ein nicht geringer Anteil dieser Beratung nimmt die Frage nach dem richtigen Kommunikationsmedium, dem richtigen Tonfall und dem angemessenen
Stil ein. Selbstredend bilden Fragen der Schuld, der Angst, der Scham
ebenso wichtige Anteile dieser oft bewegenden Gespräche ein.
Phase 3: dritter Monat – „Mobbing – bossing - staffing“ – „Wir werden
dünnhäutig“
Während in den ersten Wochen das Selbstbewusstsein vieler SoldatInnen geprägt ist von dem Gefühl, dass „ohne sie hier gar nichts läuft“,
und die ungewohnte Nähe und das durch die Uniformen gleichgeschaltete Lebensgefühl mit einer Euphorisierung der Kameradschaft
einhergeht, kippt nach dem „Bergfest“, das die Einsatzhalbzeit markiert,
häufig die Stimmung. Die berühmt berüchtigte „Haut wird dünner“, der
vielfach zu Recht beschworene „gläserne Vorgesetzte und Untergebene“ wird zur belastenden Wirklichkeit. Kein Mensch kann sich vier Monate lang rund um die Uhr verstellen. Die Masken fallen unwillkürlich. Es
wird schmerzhaft offenbar, dass jeder Mensch aus einer Mischung von
Stärke und Schwächen besteht. Es wird deutlich, dass vor allem die jüngeren Kontingentteilnehmer als Einzelkinder in einer durchindividualisierten Multioptionsgesellschaft mit scheinbar unendlichen Freiheiten
sozialisiert wurden. Über Vorfälle, über die man acht Wochen lang
gelacht und geschmunzelt hat, werden nun Beschwerden, Eingaben und
Klagen geführt. Die Zahl der Disziplinarmassnahmen geht in die Höhe
und die Stimmung wird zunehmend gereizter. Die Seelsorgegespräche
nehmen immer mehr den Charakter von Beichtgesprächen an. Daneben werden immer häufiger Vermittlungs- und Mediationskompetenzen beim Seelsorger nachgefragt. Es muss immer wieder um die Möglichkeiten und Chancen eines Perspektivwechsels geworben werden.
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MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
Gerade hier ist ein kooperatives Verhältnis zu den psychologischen Fachkräften im Einsatz unabdingbar. Auch hilft hier ein inzwischen hoffentlich stehendes Vertrauensnetzwerk zu den militärischen Hierarchien, da
gerade bei diesen Fällen eine Verdichtung des Lagebildes dringend erforderlich ist.
Phase 4: vierter Monat – „Bilanzierungskrisen“ – „Abschiedsblues“
Bevor im letzten Monat die Heimat erneut ihren Schatten auf den Einsatz vorauswirft, sorgen die Streitkräfte durch ihr System der Dienstbeurteilungen für innere und äussere Unruhe. Fasst jeder möchte am
Ende seiner Zeit eine Bilanz ziehen und die unterscheidet sich nicht selten von der Bilanz, die unter anderem der Vorgesetzte bezüglich der
erbrachten Leistung gezogen hat. Wie so oft klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung weit auseinander. Oft höre ich Sätze, die diese Bewertungsdiskrepanz schmerzhaft beklagen und manchmal zu tiefen Selbstwert- und Motivationskrisen führen. Hinzu kommt, dass viele jetzt
besonders müde und am Rande des Ausgebrannt seins sind und damit
um so mehr auf vermeintlich mangelnde Wahrnehmung und Wertschätzung reagieren. Nie höre ich Klagen der fehlenden Wahrnehmung
häufiger und bitterer als gerade jetzt.
Die Stimmung in den Abschiedstagen und -stunden ist durch eine seltsam anmutende Wehmut und Melancholie geprägt, die sich manchmal
auch durchaus tränenreich äussert.
Vielen wird plötzlich gewahr, dass sie das Kontingentleben mit dem
wirklichen Leben verwechselt haben und dass sie das wirkliche Leben
mit seinen viel komplexeren und viel realeren Problemen gerademal für
nur drei Monate vergessen durften. Umso härter wirkt nun die Wirklichkeit, die auf die Soldaten zu Hause wartet. Mal ist es mehr die dienstliche Welt, mit ihrem leider unverändert unzufriedenstellenden Arbeitsund Dienstbedingungen, mal ist es mehr die private Welt mit ihren komplexen Unwägbarkeiten und nicht zu vergessen der unvermeidliche Spagat den die Vereinbarkeit von Privatleben und Dienst mit sich bringt.
Das Herstellen einer oft beschworenen „work-life-balance“ wird oft als
beängstigende, nur schwer zu bewältigende Herausforderung gesehen.
Es ist dieser Negativfond vor dem dann auch die Nähe, die immer auch
eine bedrückende Enge im Einsatz ist, oft vorschnell und unreflektiert
zur sentimentalen „Kameradschaft“ verklärt wird.
Ein weiterer bedrückender Faktor ist die antizipierte Ahnung, dass die
Heimat im Grossen wie im Kleinen mit relativ wenig Verständnis für das
Erlebte und Geleistete im Einsatz zu Hause auf die Soldatinnen und Soldaten warten wird. Das reicht von der kritischen veröffentlichen Meinung in den Medien, bis zu den niederschmetternden Meinungsumfragen bezüglich der Akzeptanz für den ISAF-Einsatz, bis hin zu öffentlicher
Missachtung in Alltagssituation oder genervter Gereiztheit im persönlich-familiären Umfeld, die vorerst mal nichts oder nichts mehr „über
Afghanistan“ hören wollen. Die Fallstricke der Reintegration in die Situation der entsendenden Gesellschaft und der heimatlichen Beziehungsgeflechte sind vielfältig und die Ahnung davon so bedrückend, dass der
Abschied oft nachhaltig davon geprägt ist.
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Tod und Verwundung – die unübersehbare neue
Einsatzwirklichkeit
Am 29. April 2009 ist der erste Deutsche Soldat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefallen. Seitdem ist die neue Einsatzqualität mit ihrer
unübersehbaren folgenreichen Qualität auch nicht mehr aus der medialen und politischen-gesellschaftlichen Diskussion wegzudenken. Töten
und Getötet werden ist seither weder eine Theorie noch eine erwähnenswerte Ausnahme, sondern es gehört nun fast zur täglichen Dienstroutine.
Es folgten drei Gefallene am 23. Juni 2009, die folgenreiche Anforderung eines Close-Air-Support-Schlags durch Oberst Klein am 04. September 2009, die Gefallenen vom 1. April 2010 und vom 15. April 2010
und eine nicht abreissende Kette von zur Routine gewordenen täglichen
Gefechten mit an Leibe und Seele verwundeten Kameraden.
Die neue Einsatzqualität findet unter anderem ihren Niederschlag in verarbeitenden selfmade-blogs und youtube-Sequenzen, in Podiumsdiskussionen, in auf dem Buchmarkt publizierten Erfahrungsberichten, in
Kriegsreportagen, ja sogar in belletristischen deutschsprachigen Neuerscheinungen hat die in Vergessenheit geratene Figur des „Veteranen“
ebenso Einzug gehalten wie in die Drehbücher von zur Primetime ausgestrahlten Unterhaltungssendungen des Deutschen Fernsehens.
Insgesamt musste ich während meines Einsatzzeitraumes neunmal an
Särgen von gefallenen ISAF – Soldaten stehen.
Jeder Gefallene und jeder verwundete Kamerad stellt eine besondere
Herausforderung dar. Hier muss sich das Miteinander des oben erwähnten psychosozialen Netzwerkes bewähren, hier kommt in besonderer
Weise die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den Betreuungskräfte mit Ihren „Softskills“ mit den militärischen Führungskräften zum
Tragen.
Aufmerksam und sensibel wird über die Professionalität, die Wahrhaftigkeit und die Sensibilität der Ausführenden durch die unvermeidliche
Öffentlichkeit des Kontingents gewacht.
Die Organisation und Durchführung der Trauerappelle leistet durch die
Ritualisierung einen unschätzbaren Beitrag zur kollektiven Bewältigung
dieser für die Mitglieder der postheroischen Gesellschaft als heftige Herausforderung empfundene Krise. Der Ablauf muss funktionieren, die
Worte müssen passen und sitzen, die grosse Zahl der unmittelbar mit
den Gefallenen und Verwundeten konfrontierten Kameraden und Helfer darf nicht aus den Augen verloren werden und last but not least muss
der Auftrag fortgeführt werden, muss der dienstliche Alltag wieder weitergehen.
Die besondere homiletische Herausforderung für den Prediger besteht
in dem theologischen und politischen wahr- und ernst nehmen der
tatsächlichen Situation. Was bedeutet die Botschaft von Kreuz und Auf-
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erstehung für die hier versammelte bzw. angetretene Gemeinde aus
Nichtchristen und Christen, aus Jungen und Älteren, aus Offizieren und
Nichtoffizieren, aus Männern und Frauen, aus Deutsch und internationalen Soldaten, aus Menschen, die den Verstorbenen nicht kannten und
Menschen, die einen Verstorbenen kannten, aus Männern und Frauen,
die ihren Auftrag fortsetzen müssen, die aus Gesellschaften kommen,
deren Parlamente bzw. Regierungen sie entsenden und deren Bevölkerung nichts bzw. wenig über den Auftrag weiss oder wissen will, für eine
Streitkraft, deren Soldatenbild auf dem Prüfstand des scharfen Gefechtes inmitten eines sogenannten asymmetrischen Konflikts steht um dessen korrekte Bezeichnung zuhause eine heftige Debatte entbrannt ist?
Es ist ein Balanceakt den richtigen Punkt auszutarieren zwischen den
Extremen der „Wehrkraftzersetzung“ auf der einen Seite und ebenso
unverantwortlichen „Durchhalteparolen“ auf der anderen Seite ohne
dabei in die Falle der belanglosen, politisch und theologisch korrekten
Allgemeinplätze zu tappen.
Auch muss ich hier daran erinnern, dass die unerwartete schwere Erkrankung oder der (plötzliche) Tod eines Angehörigen oder nahen Menschen
in der Heimat mit Rückgriff auf die im Kontingent befindlichen Kompetenzen „bearbeitet“ werden muss. Dies reicht von der angemessenen
Überbringung dieser „schlechten Nachrichten“ bis zum Vorhalten von
Trauerritualen in Abwesenheit des Sarges und der professionellen Begleitung der anstehenden individuellen Trauerprozesse.
Gerade hier kommt es wieder auf ein abgestimmtes interdisziplinäres
Vorgehen im psychosozialen Netzwerk an. Wobei es immer wieder notwendig ist für eine notwendige Einzelfallbetrachtung jedes menschlichen Schicksals zu werben und notfalls zu kämpfen um vorschnellen
Standardisierungen und Automatismen entgegenzuwirken.
Ausblick
Abschliessend will ich darauf hinweisen, dass der Begriff und das Phänomen der „Beziehung – Freundschaft – Kameradschaft – Geschwisterschaft auf Zeit“ einer Durchdringung und Reflexion bedarf, damit
sie nicht voreilig moralisch abwertend diffamiert wird.
Zumal einige begonnene Vertrauensbeziehungen ungeachtet der räumlichen Trennung bis weit über den Einsatzzeitraum hinaus den seelsorgerlichen Begleiter verfolgen und in vielen heimatlichen (Telefon)
Gesprächen, Mailkontakten, Briefen, Besuchen und kirchlichen Amtshandlungen ihre Fortsetzung finden.
Abrunden will ich diesen fragmentarischen Überblick über meine Einsatzerfahrungen als begleitender Militärseelsorger mit einem Bild und
einem spirituellen Bekenntnis.
Der Einsatz und das Leben und Wirken mit der Einsatzgemeinde gleicht
einer grossen brechenden Welle, deren Tosen äusserst real und absolut bestimmend und einnehmend ist. Doch muss man gewahr bleiben,
MILAK Schrift Nr. 10 – 2011
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dass, wenn die Welle verebbt und die Sonne einen Augenblick auf den
Strandabschnitt der eben noch tosenden Welle scheint, es so aussieht
als ob sie nie da gewesen wäre.
So fordert und fördert jedes pastorale Engagement im Einsatz die Tugend
der Demut und tiefen Dankbarkeit, trotz der fehlenden Garantie auf Erfolg
oder gar Nachhaltigkeit im Bemühen die Nachfolge Christi zu beschreiten, nicht nachzulassen.
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Autoren
Dieter BAUMANN
Dr. theol., Jahrgang 1973, Studium der Theologie in Bern, Ausbildung
zum Generalstabsoffizier, seit 2006 Berufsoffizier der Schweizer Armee,
2001–2006 Wissenschaftlicher Assistent an der Militärakademie an der
ETH Zürich. Militärische Verwendungen als Kompanie- und Bataillonskommandant, als Ausbilder in der Offiziersschule sowie als Generalstabsoffizier.
Uwe DREWS
Jahrgang 1954, Oberstleutnant, Studium der Pädagogik, Psychologie,
kathol. Theologie und Religionswissenschaften in Bonn und Hamburg.
Postgraduate Studies (Psychotherapie) an der Universität Hamburg und
den USA. Ausbildung in Gesprächspsychotherapie, Hypnotherapie und
Transaktionsanalyse.
In der Bundeswehr Verwendungen u.a. in der Panzeraufklärungstruppe, in der Öffentlichkeitsarbeit (Jugendoffizier) sowie im Psychologischen Dienst. Seit 2009 Lehrstabsoffizier Sozialwissenschaften am Zentrum Innere Führung in Koblenz.
Andreas FISCHER
Jahrgang 1981, Rekrutenschule bei der mittleren Flugabwehr in Emmen
(LU), Ausbildung zum Radarsoldat, ab 2002 Studium der Sozial- und
Rechtspsychologie, des Strafrechts und der Kriminologie an der Universität Bern, seit 2008 wissenschaftlicher Projektmitarbeiter der Militärakademie an der ETH Zürich (Dozentur für Führung und Kommunikation), Forschungsprojekt „Zur Ausbildung von Führungsverantwortung
bei Offizieren – Urteilen und Entscheiden in moralischen Konfliktsituationen“, seit 2009 an der Dissertation im Bereich Moralpsychologie.
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Stefan GUGEREL
Jahrgang 1979, Studium der Theologie, Religionspädagogik und Religionswissenschaft in St. Pölten, Linz und Wien; Grundwehrdienst ab 10
2004 zuerst bei Panzerartilleriebatallion 3, dann im Bundesministerium
für Landesverteidigung als Kraftfahrer; ab 2005 Militärpastoralassistent
und ab 2006 Militärdiakon in Wien; ab 2007 Militärpfarrer in Oberösterreich; gesamtösterreichische Vertretung der Militärdiözese in der ökumenischen Kommission der Bischofskonferenz bei der Kontaktstelle für
Weltreligionen; Referent für Religionswissenschaft beim Theologischen
Fernkurs; seit 2009 an der Heeresunteroffiziersakademie in Enns mit der
Ethikausbildung betraut.
Stefan JURKIEWICZ (geb. Werdelis)
Jahrgang 1961. Studium der ev. Theologie in Mainz/Rhein von 1980 – 86.
Vikariat. Ordination zum Pfarrer der evangelischen Landeskirche der
Pfalz. Dorfpfarrer – Stadtpfarrer – Schulpfarrer – Lehrbeauftragter Fachleiter an einem staatl. Studienseminar – Fundraising Ausbildung –
Geschäftsführer eines Kirchbauvereins – 2001 Eintritt in die Bundeswehr
als Militärseelsorger – BtlEbene – 2004 sechsmonatiger Einsatz bei KFOR
Prizren / Kosovo – Versetzung als Militärdekan ans EvMilPfarramt Koblenz III am Zentrum Innere Führung Koblenz – dort Mitarbeit im Grundlagenbereich – Schwerpunkt Entwicklung und Vermittlung Berufsethischer und sozialethischer Fragen – Mitglied in mehreren internationalen
Militärethik-Netzwerken – 2009 Einsatz als Militärseelsorger bei ISAF 19
in Mazar-e-Sharif – Kabul – Termez.
Andreas KASTBERGER
Jahrgang 1968, Ausmusterung an der Theresianischen Militärakademie
1990, bis 1998 Verwendungen als Zugs- und Kompaniekommandant im
Ausbildungsbetrieb des Bundesheeres in Salzburg, Studium der Pädagogik und Politikwissenschaft an der Universität Salzburg, seit 1999 Referatsleiter für Pädagogik an der Heeresunteroffiziersakademie, Auslandseinsätze als CIMIC-Offizier Brigade bei KFOR im Jahr 2002 und Leiter
der Medienproduktionsstelle von PSYOPS KFOR im Jahr 2009, pädagogischer Projektleiter für die Einführung der berufsethischen Bildung für
österreichische Unteroffiziere im Zeitraum 2005 – 2006 sowie langjähriger Leiter von berufsethischen Fortbildungsseminaren an der Heeresunteroffiziersakademie.
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Karl NOVAK
Jahrgang 1959, Ausmusterung an der Theresianischen Militärakademie
1985, Absolvent der Universitätslehrgänge „Wehrpädagogik“ und „Bildungsmanagement“, Auslandseinsätze bei UNFICYP 1993 als Kompaniekommandant und ISAF 2002 im Stab einer deutschen Brigade, in den
letzten Jahren Dienstverwendungen in verschiedensten Stabs- und
Führungsfunktionen in der Unteroffiziersaus- und Weiterbildung an der
Heeresunteroffiziersakademie, seit 2008 als Leiter des Instituts 3 unter
anderem Veranstalter der Berufsethischen Fortbildungsseminare für
Unteroffiziere im Österreichischen Bundesheer.
Stefan SEILER
Dr. phil., Leiter der Dozentur für Führung und Kommunikation an der
Militärakademie an der ETH Zürich. Forschungsschwergewichte: Leadership, interkulturelle Führung, moralische Entscheidungsfindung, Konfliktmanagement und Human Capital Management. Leitet Führungsseminare für zivile und militärische Führungskräfte und ist Gastdozent
an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland. Von 2010 – 2011
Visiting Professor an der Nanyang Business School in Singapur. Von
2002 – 2006 Mitarbeiter bei der Credit Suisse in Zürich und New York,
zuletzt als Mitglied der Direktion. Studium der Pädagogik und Psychologie an der Universität Freiburg (CH) und an der University of Leeds
(GB). Mitglied der Militärwissenschaftlichen Arbeitsgruppe des Kommandanten Heer im Range eines Majors (Miliz). Vormals stellvertretender Kommandant eines Festungspionier-Bataillons.
Carl Mathias WILKE
Jahrgang 1955, Eintritt in die Bundeswehr 1975, Studium der Wirtschaftsund Organisationswissenschaften (WOW) an der Bundeswehruniversität in München. Mehrere Verwendungen in Stäben und in Luftwaffeneinsatzverbänden, von 1999 – 2001 Inspektionschef an der Unteroffizierschule der Luftwaffe. Seit 2002 Lehrstabsoffizier Pädagogik am
Zentrum Innere Führung, seit 2010 ebenda Leiter der Zentralen Ansprechstelle für die militärische Ethikausbildung (Zetha).
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Schweizerische Eidgenossenschaft
Confédération suisse
Confederazione Svizzera
Confederaziun svizra
Schweizer Armee
Moralisches Urteilen, Entscheiden und
Handeln – Zur W irksamkeit der Ethikausbildung
in den Streitkräften
Herausgeber
Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf ZH, 2011
Verantwortlich für diese Nummer: Dr. Stefan Seiler, lic. phil. Andreas Fischer, BSc Sibylle Vögtli
Stefan Seiler, Andreas Fischer und Sibylle Vögtli (Hrsg.)
Gestaltung, Satz und Druck
Höhere Kaderausbildung der Armee (HKA), Multimedialer Dienst (MMD)
Bildmaterial
Titelseite, ETH Zürich, Fotograf: J. Tissot
Titelseite, Treppenhaus MILAK, Signaletik: Bringolf Irion Vögeli GmbH; Fotograf: W. Mair
Militärakademie an der ETH Zürich
© 2011 Militärakademie an der ETH Zürich, 8903 Birmensdorf/ZH
Schriftenreihe
ISBN: 978-3-9523186-3-8
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