Ausgabe Nr. 26 – Stückemarkt - Theater und Orchester Heidelberg

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THEATER-MAGAZIN
Ausgabe Nr. 26 – Stückemarkt
2
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
WILLKOMMEN!
Hochverehrtes Publikum!
Zuerst
kurz
das Wichtigste: 24 Gastspiele
sind
eingeladen,
18 Uraufführungen
gibt
es zu sehen,
9
Lesungen
zu hören, 5
Preise
können gewonnen
werden, 2 Partys werden gefeiert. Noch Fragen? Ich finde: ja.
Der 34. Heidelberger Stückemarkt setzt sich mit der Frage
auseinander, was Theater in beunruhigenden Zeiten kann und
darf – anhand von ausgewählten
Inszenierungen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz
und dem diesjährigen Gastland,
der Ukraine. Die beispielhaften Aufführungen bringen das
Weltgeschehen auf die Bühne
und reflektieren gesellschaftliche und politische Bedingungen. Angestoßen werden dabei
Diskurse zu Freiheit und Demokratie, aber auch zu Flucht
und Radikalisierung. Das gegenwärtige Theater ist dabei
nicht nur ein Raum der Kunst,
sondern auch der Politik. Regisseurinnen und Regisseure finden dafür oft eine neue Ästhetik und setzen besonders häufig
auf dokumentarische Formen, in
denen sie reale Gegebenheiten
und Lebensgeschichten zum Gegenstand ihres künstlerischen
Schaffens machen. Beobachten
lässt sich dieser Umgang mit
der Aktualität sowohl an den
eingeladenen deutschsprachigen Gastspielen als auch an den
Inszenierungen aus der Ukraine. Neben dem Abendspielplan
sind beim diesjährigen Heidelberger Stückemarkt wieder Inszenierungen für junges Publikum dabei. Und natürlich ist
auch der Stückemarkt 2017 ein
Ort der Begegnung und Diskussion. In Nachgesprächen stehen die Autoren, Dramaturgen,
Regisseure und Schauspieler
dem Publikum Rede und Antwort. Ich freue mich auf Ihre
Fragen. Herzlich willkommen
zum Heidelberger Stückemarkt!
Ihr Holger Schultze
IMPRESSUM
Das Theater-Magazin ist eine
Sonderveröffentlichung der
Rhein-Neckar-Zeitung.
Titelfoto: Theater und Orchester
Heidelberg
Redaktion: Laura Guhl
Gestaltung: Lisa Hellmuth
Anzeigen: A. Miltner (verantw.)
Druck:Heidelberger Mediengestaltung HVA GmbH
10 Gebote – Eine Recherche
Ein Gastspiel aus Berlin zur Eröffnung
Welche Aktualität haben sie noch für uns? Die „10 Gebote“ vom Deutschen Theater Berlin. Foto: Arno Declair
von Jürgen Popig
Fünfzehn Autorinnen und Autoren
– Maxim Drüner (K.I.Z), Juri Sternburg, Sherko Fatah, Nino Haratischwili, Navid Kermani, Bernadette
Knoller, Anja Läufer, Claudia Trost,
Dea Loher, Clemens Meyer, Rocko
Schamoni, Jochen Schmidt, Jan Soldat, Mark Terkessidis und Felicia Zeller – schreiben zusammen ein Stück.
Wie soll das gehen? Eine von vornherein leicht größenwahnsinnige Recherche („für neun Schauspielerinnen und
Schauspieler sowie 1 Schaf“) stellt
das am Eröffnungsabend gezeigte
Gastspiel „10 Gebote“ vom Deutschen
Theater Berlin dar. Es fragt: Was bedeuten die biblischen Gebote heute –
sind sie Provokation, Reibungsfläche,
aus dem Bewusstsein verschwunden
oder fordern sie uns immer noch auf,
eine Haltung einzunehmen? Im Angesicht dessen, was gerade in Europa
geschieht – sei es die Flüchtlingskrise,
das Erstarken von rechtspopulistischen Parolen und Parteien und ein
öffentlicher Diskurs, der zunehmend
von Hass und Undifferenziertheit geprägt ist – hat das Deutsche Theater
Berlin die oben genannten 15 Autorinnen und Autoren gebeten, sich zu
je einem Gebot zu verhalten. Die Regisseurin Jette Steckel bringt auf die
Bühne, was an Szenen, Songs und
Kurzfilmen dabei entstanden ist: ganz
aktuelle, zeitgenössische Texte, die
diesen Moment in unserer Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven
befragen und diskutieren. „Interessant zu sehen, wie sich die Autoren
und aufgeweckten DT-Spieler an dem
Missverhältnis zwischen moralischem
Prinzip und seiner doppelmoralischen
Wirklichkeit abarbeiten“, fand die
Berliner Zeitung. In der Tat!
>E
röffnung Heidelberger Stückemarkt
28. April, 19 Uhr, Alter Saal
> Gastspiel „10 Gebote“
28. April, 19.30 Uhr, Marguerre-Saal
Ein Abend gegen die Angst
„Point Of No Return“ beschäftigt sich mit dem Münchner Amoklauf
lg. Die israelische Regisseuden Amoklauf reagieren.
rinYael Ronen lebt seit knapp
So geht es in „Point of No
vier Jahren in Deutschland
Return“ um individuel– bereits zwei Einladungen
le Reaktionen. Was haben
zum Berliner Theatertreffen,
Ronens Schauspieler in der
dem wichtigsten KritikerNacht der mörderischen
Schüsse erlebt, gedacht
preis der Republik, hat sie
und – vor allem – gefühlt?
in dieser Zeit erhalten. Im
Welche
psychologischen
Juli 2016 arbeitete sie an den
Reaktionen laufen nach
Münchner Kammerspielen
einer solchen Attacke vor
an einem neuen Stück. Um
Beziehungen im Zeitalter
dem Hintergrund terrorisder Digitalisierung sollte es Ob Reden hilft? Das Ensemble der Münchner Kammerspiele. Foto: tischer Anschläge in Eurogehen, um Dating-Apps und David Baltzer
pa ab? Und wie wird Angst
Cyber-Sex, als im Einkaufsinstrumentalisiert? Yael
zentrum des Münchner Olympiaparks den Tätern. Der öffentliche Nahverkehr Ronen und ihr Ensemble ermöglichen
ein Jugendlicher Amok lief. Die ganze stand still. Das Ereignis übte eine so kluge Einsichten in das Innenleben
Stadt war in Aufruhr.Von einem Terror- dramatische Wirkung auf alle Betei- westlicher Gesellschaften.
anschlag war die Rede, von möglicher- ligten der Produktion aus, dass schnell > „Point Of No Return“
weise noch in der Stadt herumlaufen- klar war: Der Theaterabend muss auf
3. Mai, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal
3
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Das Gesicht des Neuen Europa
Der gefeierte Theatermacher Milo Rau mit „Empire“
Vier Schauspieler und ihre Lebensgeschichten ganz nah: „Empire“ von Milo Rau und IIPM. Foto: Marc Stephan
von Laura Guhl
Milo Rau gilt als der aufregendste Vertreter einer neuen Generation von Dokumentartheatermachern. Jüngst wurde
der Schweizer Regisseur mit dem 3satPreis ausgezeichnet. Seine Inszenierungen sind in diesem Jahr auf allen wichtigen Festivals vetreten: dem Berliner
Theatertreffen, dem Schweizer Theatertreffen, den Mülheimer Theatertagen
– und dem Heidelberger Stückemarkt.
Internationales Aufsehen erregte der
Regisseur mit dem Nachinszenieren be-
von Barbara Behrendt
tags“ – in den Mittelpunkt
ihrer Arbeit stellt.
„Empire“ ist eine eben
solche Arbeit. Sie bildet den
Abschluss von Milo Raus
Europa-Trilogie, in der er
von Krieg, Vertreibung und
Migration berichtet. Über
die Form des autobiografischen Erzählens nähert er
sich der Geschichte Europas. Vier Schauspieler berichten: Da sind der Grieche Akillas Karazissis und
die Rumänin Maia Morgenstern als Vertreter des alten
Europas: Karazissis kam
in den 1970er Jahren nach
Heidelberg und entdeckte
hier das Hippieleben und
das Theater für sich. Die
Rumänin Maia Morgenstern
ist eine gefragte Schauspielerin. Sie spielte bereits in
der „Passion Christi“ von
Mel Gibson und in Filmen
von Theodorus Angelopoulos. Aktuell ist sie Intendantin in Bukarest. Und da sind
die beiden jungen syrischen
Schauspieler Rami Khalaf,
der in Paris für ein syrisches
Radio arbeitete und der
Kurde Ramo Ali, der mehrere Monate
in Assads Militärgefängnissen verhört
wurde. Beide sind in den letzten Jahren
nach Deutschland und Frankreich gekommen. Im Erzählen fragt der Abend
nach den kulturellen Wurzeln Europas,
seiner imperialen Vergangenheit und
zeichnet behutsam das Portrait eines
Kontinents, dessen Zukunft momentan
ungewisser denn je scheint.
deutsamer historischer Situationen, so- eine wichtige Strömung im deutschen
genannter „Reenactments“, in denen er Gegenwartstheater ab. Denn: Die Tenbeispielsweise eine zum Genozid aufru- denz, die sogenannte Wirklichkeit
fende Radioshow in Ruanda („Hate-Ra- in dokumentarischen Formen auf
dio“, 2011) oder russische Gerichts- dem Theater abzubilden, hat Hochkonjunktur. Seit
prozesse gegen
Künstler
und Politisch relevant, bewegend und Ende der 1990er
Kuratoren („Die
Jahre kann man
Moskauer Pro- äußerst bildstark ist sein Theater. eine neue Welle
des Dokumentazesse“, 2014),
nachstellte. Politisch relevant, bewegend rischen Theaters beobachten, welches
und äußerst bildstark ist sein Theater.
nicht das Dokument, sondern Protago- > „Empire“
Mit der Einladung von Milo Rau nisten, die aus ihrem Leben berichten
29. April, 20.30 Uhr,
bildet der Heidelberger Stückemarkt – Zeitzeugen oder „Experten des AllMarguerre-Saal
Unterm und überm Radar
Araber! charmante Bars!), trifft auf einen inspirierten Spielplan wie jenen in
Als Kuratorin des Nachspielpreises Ingolstadt und ein spannendes Ensembreist man unterhalb des Radars. Trifft le wie das in Braunschweig.
man an den großen Umsteigebahnhöfen
wie Mannheim oder Hannover auf Kollegen, die für andere Festival-Jurys nach
Frankfurt, München oder Stuttgart unterwegs sind, ist bei denen die Ratlosigkeit groß: Kaiserslautern, Gießen,
Tübingen? Beruflich? Die Entdeckungstouren für „Nachgespielt“ können nach
Wilhelmshaven oder Salzburg führen,
nach Graz oder Solothurn ... Der Grund:
Auch die neuen Stücke, sind sie erst einmal uraufgeführt, reisen fast immer unter dem Radar weiter. Hatten sie Glück, Barbara Behrend kuratiert als Jurorin
durften sie auf den Großstadtbühnen die Reihe „Nachgespielt“ beim Heidelzum ersten Schaulaufen antreten – da- berger Stückemarkt. Der zweite Blick
nach aber geht’s schnurstracks ab in auf neue Stücke ist für sie oft der spandie Provinz. Nichts gegen die Provinz! nendere. Foto: Mika Redeligx
Es sei jedem Theaterkritiker empfohlen,
einmal im Leben den Nachspielpreis
Vor allem aber lernt man ein junges
zu kuratieren. Man lernt unterschätzte Theaterstück ganz neu kennen. Es ist
Städte wie Solothurn lieben (schönstes wie ein gemeinsamer Wochenend-Trip
Nacht-Panorama! bester Fast-Food- nach dem ersten Date: Wie verhält sich
der neue Bekannte in fremder Umgebung? Auf einer anderen, womöglich
kleineren Bühne? Wozu hat er den Regisseur inspiriert? Was kitzelt er aus
den Schauspielern heraus? Welche Visionen beim Bühnenbildner? Wie kommt
er bei seinen neuen Zuschauern an? Im
besten, aber unwahrscheinlichen Fall
sieht man all das verwirklicht, was man
dem Stück ohnehin zugetraut hat und
weshalb man die Reise unternommen
hat. Fast noch erfreulicher aber sind
die Situationen, in denen das Stück
plötzlich Eigenschaften entwickelt,
die man bisher an ihm kaum bemerkt
hat: Wer hätte gedacht, dass Benjamin
Lauterbachs „Chinese“ noch besser ins
Schweizer Alpenpanorama passt als
nach Berlin? Wer würde beim Lesen auf
die Idee kommen, Ferdinand Schmalz’
„Herzerlfresser“ in einem Wiener Wald
aus lauter Glitzergirlanden morden zu
lassen? Wer konnte wissen, dass Falk
Richters Recherchestück über schwule
Großstädter in Karlsruhe mithilfe von
Puppen zünden würde?
Nachspiele sind voller Überraschungen, die jedem Kritiker die Frage
abverlangen, ob er beim ersten Lesen
und Schauen vor dem Stück bestanden hat – und nicht nur das Stück vor
ihm. 2017 wird der Nachspielpreis
zum sechsten Mal verliehen, und es
gibt Erfreuliches zu berichten: Eine
der Reisen führte die Kuratorin in
diesem Jahr zum „Herzerlfresser“ an
die Wiener Burg. Zuvor war das Stück
schon am Deutschen Theater in Berlin
nachinszeniert worden, die Uraufführung hatte Leipzig besorgt. Von Leipzig an die großen Häuser in Berlin und
Wien – vielleicht fliegen neue Dramen
künftig ein bisschen länger auf oder
überm Radar?
Nachgespielt:
> „Der Chinese“
30. April, 18.30 Uhr, Zwinger1
> „Small Town Boy“
3. Mai, 18 Uhr, Zwinger1
>„
Der Herzerlfresser”
5. Mai, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal
4
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Alte Meister vom Berliner Ensemble
Brillantes Schauspiel aus Claus Peymanns letzter Spielzeit
von Lene Grösch
Der Blick von Berlin über Göttingen
nach Krefeld und Mönchengladbach
zeigt, wie eindrucksvoll Autorinnen
und Autoren, Regieteams und vor
allem starke Ensembles politische
Themen aufgreifen und zu intensiven
Theaterabenden verdichten.
Diese Spielzeit ist die letzte von
Claus Peymann als Intendant des Berliner Ensembles. Er ist zweifelsohne
einer der wichtigsten Theatermacher
des 20. und 21. Jahrhunderts. Berühmt
wurde er als Regisseur. In die Theatergeschichte ging er vor allem als Intendant des Wiener Burgtheaters ein, an
das er Regisseure wie Hans Neuenfels
und Peter Zadek holte. Uraufführungen wie von Peter Handke, Peter
Turrini und später auch von Elfriede
Jelinek bildeten für ihn immer einen
Schwerpunkt seiner Arbeit. Nun ist
ihm am Berliner Ensemble mit „Die
Griechen“ ein neuer Theatercoup gelungen. Gleich zwei Altmeister sind
hier beteiligt: Regisseur Manfred
Karge gehört zu den prägenden Persönlichkeiten des deutschen Theaters
und hat zeit seines Lebens an Häusern
gearbeitet, von denen wichtige und
systemkritische Impulse ausgingen.
Das Stück, mit dessen Inszenierung
er nach Heidelberg eingeladen wird,
stammt von keinem Geringeren als
Volker Braun, der neben Peter Hacks
und Heiner Müller als bedeutendster Dramatiker der DDR gilt. In „Die
Griechen“ wird die Schuldenkrise
Griechenlands mit der attischen Antike zusammengebracht – inklusive
Chor und Versen: Brillantes und pures
Schauspiel, das man sich auf keinen
Fall entgehen lassen sollte.
Die Griechen mit leeren Händen. Foto: Thomas Eichhorn
„Kein schöner Land“ von Lothar
Kittstein und Hüseyin Cirpici beruht
auf einer Zeitungsmeldung: Eines
Tages klopfte am Tegernsee in Bayern ein Flüchtling aus Nigeria an die
Tür eines Männerchors und fragte, ob
er mitsingen dürfte. Daraus entstand
ein Theaterabend, der von der spannenden Begegnung eines Chors mit
einem Fremden erzählt, vom Aufeinanderprallen verschiedener Welten:
Eine Geschichte mit offenem Ausgang.
Was diesen dokumentarischen
Theaterabend abhebt von vielen anderen der letzten Monate zum Thema
Flucht? Er zeigt echte Geschichten,
die das Autorenteam gefunden hat
– in Zeitungen, sozialen Netzwerken, in Gesprächen mit Geflüchteten.
Aber: Lothar Kittstein ist ein kluger
Autor, der seine Dialoge fiktionalisiert. Dem Risiko des Zoo­
effekts
geht der Abend erfolgreich aus dem
Weg, indem er nicht alle Laien samt
Fluchtgeschichte auf die Bühne
zerrt. Alle Darsteller des Abends sind
Schauspieler, wenn auch in manchen
Fällen mit eigenen Erfahrungen: Den
Flüchtling spielt ein Schauspieler
und „Experte des Alltags“: Jubril
Sulaimon floh einst aus Nigeria nach
Deutschland, ist jedoch längst ein
etablierter Theaterkünstler.
> „Die Griechen“
30. April, 20.30 Uhr, Marguerre-Saal
>„
Kein schöner Land“
1. Mai, 20.30 Uhr, Alter Saal
Achtung unromantisch! Nichts für Kinder, umso mehr für Erwachsene:
Drei Grimmsche Märchen aus heutiger Perspektive „Weil sie nicht gestorben sind“ vom Deutschen Theater Göttingen
lg. Die Regisseurin Brit Bartkowiak
ist in Heidelberg bereits eine gute Bekannte: Nach „Unschuld“ 2015 inszenierte sie zuletzt „Woyzeck“ im Alten
Saal – jetzt ist sie das erste Mal mit
einer ihrer Inszenierungen zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen.
„Weil sie nicht gestorben sind“, eine
Uraufführung von Hannah Zufall,
erzählt mit „Allerleirauh“, „Brüderchen und Schwesterchen“ und „Die
sieben Raben“ gleich drei Grimmsche Märchen. Warum es trotzdem
weit über das reine Nacherzählen
der altbekannten Geschichten hinausgeht, beschreibt Regisseurin Brit
Bartkowiak persönlich: „Märchen
sind ja nicht von den Brüdern Grimm
erfunden, es sind Geschichten aus
dem französischen und italienischen
Raum, die nach Deutschland geschwappt sind, immer weitererzählt
wurden, bis die Grimms angefangen
haben, diese Märchen zu sammeln.
Wir sprechen von dem Zeitraum um
1848 mit der großen Sehnsucht, deutsche Identität zu greifen oder zu stif-
an, diese Märchen entsprechend zu
bereinigen und zu vereinfachen. Sexuelle Andeutungen und Brutalität
wurden verharmlost und unsere Autorin Hannah Zufall geht genau diesen offenen Lücken auf die Spur: Was
stand ursprünglich drin? Und in welchem Sinne wurde es schon gedeutet?
Der Abend ist auch ein Prozess der
Emanzipation: Von der Erkenntnis
der Figuren, dass sie Märchenfiguren
sind über den Wunsch, die eigene Geschichte umzuschreiben und damit zu
Regisseuren der eigenen Geschichte
zu werden – bis hin zu der Frage, wie
man letztlich damit umgeht, wo das
eigene Selbst bleibt, wenn die eigene
Geschichte zu Ende erzählt ist. Kann
man überhaupt ausbrechen? Es sind
wunderbare Geschichten und groMärchenfiguren unter sich. Brit Bartkowiaks Inszenierung von „Weil sie nicht ge- ße Figuren für die Schauspieler: Wer
Lust auf Schauspiel hat, auf Energie,
storben sind“. Foto: Thomas Müller
auf Verausgabung, auf Märchenstoffe,
ten, deshalb haben die Grimms auch ‚Kinder– und Hausmärchen‘ war ir- der ist bei uns genau richtig!“
ein bisschen geflunkert, indem sie sie reführend, weil diese Märchen dann
als typisch deutsche Märchen ausge- doch nicht ganz kindergerecht wa- > „Weil sie nicht gestorben sind“
geben haben. Die erste Ausgabe, die ren und deshalb fingen die Grimms
4. Mai, 18.00 Uhr, Alter Saal
5
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Lieblingsstücke
Sechs Theatertexte im Wettbewerb um den AutorenPreis
Das Herz des Heidelberger Stückemarkts ist der Autorenwettbewerb.
Aus 92 Einsendungen hat die Dramaturgie des Theaters Heidelberg
ihre 6 Favoriten bestimmt, die dieses
Jahr um den mit 10.000 Euro dotierten AutorenPreis konkurrieren. Am
ersten Festivalwochenende werden
die Texte in szenischen Lesungen von Das Festivalteam stellt seine LiebSchauspielern des Heidelberger En- lingsstücke vor.
sembles präsentiert. Aber was macht > T
ermine: 29. + 30. April,
die ausgewählten Texte besonders?
jeweils 13 Uhr, Alter Saal
„Anfall und Ente“
von Sigrid Behrens
„Anfall und Ente“ ist ein leises, poetisches Stück über den Tod, die Vergänglichkeit und das Nichts. Die Autorin
lässt ihre Figuren in einer Kunstsprache
sprechen – dadurch erhalten die Dialoge eine Einfachheit und zugleich aber
auch eine spannende Kompliziertheit.
Das passt sehr schön zu dem Thema,
das nie auf eine platte Weise verhandelt
wird. Behrens nimmt so ihre Figuren
und die Zuschauer – Kinder wie Erwachsene – mit ihren Vorstellungen und
Ängsten zum Thema Tod ernst. Außerdem gibt es wunderbare Figurennamen:
Kissenschlacht, Pfannkuchen, Trüddelschmopf – das beflügelt die Fantasie!
„Wiegenlied für Baran“
von Joël Lázló
Joël Lázlós Dialoge sind rasant, seine
Pointen treffsicher und sein Blick auf
die bürgerliche Mittelschicht entlarvend. In „Wiegenlied für Baran“ geht
es um nicht weniger als den Anspruch
an das eigene politische Handeln –
und den Graben, der sich dann bis zur
Wirklichkeit auftut. Der Graben ist im
„Wiegenlied“ eine Küche, in der Lázlós
Figuren Pierre, Sybille und Robert alias
Samahadi die Nächte durch philosophieren und darüber streiten, ob es eine
gute Idee war, den kurdischen Flüchtling Baran bei sich aufzunehmen. Denn
vielleicht war es doch nur „irgendetwas
zwischen Feigheit und Völkerschau“?
Viktoria Klawitter,
Dramaturgin Junges Theater
Laura Guhl,
Dramaturgieassistentin
„Eine Post-Sowjetische
Dramolett-Trilogie“
von Marjana Gaponenko
Gibt es das? Die Verarbeitung der Wirklichkeit auf dem Theater? Das, was man
früher so anspruchsvoll Aufklärung
nannte? Marjana Gaponenko kann das,
auf ihre eigene Weise. Sie spielt mit
fossilen Resten der Geschichte und erweckt sie zum Leben. Aber zu was für
einem! Das Groteske wird zur höheren
Ausdrucksform der Wahrheit. Was hier
zum Vorschein kommt, ist so komisch,
dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Und wie schrecklich erst
die Vorstellung, welche posttrumpschen
Fossilien wohl unsere Nachfahren auf
amerikanischem Boden entdecken werden ... Dürrenmatt hatte seinerzeit ganz
recht: eine Geschichte ist erst dann am
Ende, wenn sie die schlimmstmögliche
Wendung genommen hat. Oder meinte
er nicht vielleicht sogar die Geschichte?
„Schlaraffzahnland“
von Nicole Kanter
In einem Land, das von einer riesigen
Mauer aus süßem Brei umgeben ist,
Rumkugeln an den Bäumen hängen
und Milch und Honig fließen, scheint es
die Hamstergesellschaft nicht weiter
zu stören, wenn hin und wieder einer
ihrer Artgenossen spurlos verschwindet. Als jedoch Fridolins Verlobte einen
Tag vor der Hochzeit unauffindbar ist,
begibt er sich auf die Suche und gründet zusammen mit seinen ungleichen
Freunden eine Widerstandsbewegung.
Kanter schreibt eine spannende Abenteuergeschichte und ein phantasievolles Plädoyer für eine gerechtere Welt.
Unterhaltung und Gesellschaftskritik
für die ganze Familie!
„Nord West 59“
von Lorenz Langenegger
„Nord West 59“ kann man sich sofort
auf der Bühne vorstellen. Es hat kurze
schnelle Szenen, die immer alles sagen
und zugleich Raum lassen für das Spiel
und die Fantasie einer Theaterinszenierung. Und Langenegger hat tolle Rollen für Schauspieler geschrieben. Die
Figuren sind verschroben, schräg, aber
zugleich sympathisch. Ob es der gerade
entlassene Häftling Mika ist, der nur
aus einem großen Missverständnis heraus gesessen hat, oder die Flüchtlingsfamilie, die ein besseres Leben sucht.
Jeder von ihnen sucht nur ein kleines
Stück vom großen Glück und jeder begeht Fehler. Und die Geschichte nimmt
dabei einige überraschende Wendungen.
Katrina Mäntele,
Produktionsleiterin
Sonja Winkel, Geschäftsführende
Dramaturgin Schauspiel
„Kluge Gefühle“
von Maryam Zaree
Ein Stück wie ein Strudel. Mutter und Tochter in der Zentrifuge
der Wirklichkeit. Eine hyperaktive
Anwältin, die einen afghanischen
Flüchtling vor der Abschiebung bewahrt, gleichzeitig in therapeutischer Behandlung ist und qua Internet einen Mann zu finden versucht.
Sie sorgt sich um ihre Mutter, die
plötzlich verschwunden ist – und gerade in dem Moment hat sie Handtasche und Telefon in einem Taxi liegen
lassen. Vielzuviel, was da auf sie (und
auf uns) einstürzt? Keineswegs. So ist
die Welt. In diesem Fall eine Tiefenbohrung in die Geschichte Irans. Sie
endet in einem Gefängnis, in dem die
Anwältin einst zur Welt kam.
Michael Propfe,
Gast-Dramaturg
6
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Spielplan Stückemarkt
Fr
28.04.17
Sa
29.04.17
So
30.04.17
Marguerre-Saal
Alter Saal
19.30 Uhr
10 GEBOTE
von 15 Autoren und Autorinnen,
Ensemble und einem Schaf
Deutsches Theater Berlin
Regie Jette Steckel
19 Uhr
ERÖFFNUNG DES
HEIDELBERGER STÜCKEMARKTS
20.30 Uhr
EMPIRE
von Milo Rau und IIPM International Institute of Political Murder
DEUTSCHSPRACHIGER AUTORENWETTBEWERB
1. TAG
13.00 Uhr
KLUGE GEFÜHLE
von Maryam Zaree
14.00 Uhr
SCHLARAFFZAHNLAND
von Nicole Kanter
15.30 Uhr
WIEGENLIED FÜR BARAN
von Joël László
Ab 22.30, Party
EIN STÜCK VOM GLÜCK NO. 1
18.30 Uhr
BEBEN
von Maria Milisavljevic
Theater und Orchester Heidelberger
Regie Erich Sidler
AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2016
20.30 Uhr
DIE GRIECHEN
von Volker Braun
Berliner Ensemble
Regie Manfred Karge
DEUTSCHSPRACHIGER AUTORENWETTBEWERB
2. TAG
13.00 Uhr
EINE POST-SOWJETISCHE
DRAMOLETT-TRILOGIE
von Marjana Gaponenko
14.00 Uhr
ANFALL UND ENTE
von Sigrid Behrens
15.30 Uhr
NORD WEST 59
von Lorenz Langenegger
18.30 Uhr
DER CHINESE
von Benjamin Lauterbach
Theater Orchester Biel Solothurn
Regie Max Merker
[Nominierung NachSpielPreis]
20.30 Uhr
KEIN SCHÖNER LAND
von Lothar Kittstein und Hüseyin Michael Cirpici
Theater Krefeld und Mönchengladbach
Regie Matthias Gehrt
18.00 Uhr
BILDER VON UNS
von Thomas Melle
Theater Bonn
Regie Alice Buddeberg
Mo
01.05.17
Zwinger1
11 Uhr
DER GOLDENE RONNY
von Daniel Ratthei
Schleswig-Holsteinische Landestheater
Regie Nora Bussenius
[12+, Nominierung JugendStückePreis]
20.30 Uhr
DIE SCHWARZE FLOTTE
von Anne-Kathrin Schulz
Theater Dortmund
Regie Kay Voges
Mi
03.05.17
20.30 Uhr
POINT OF NO RETURN
von Yael Ronen und Ensemble
Münchner Kammerspiele
Regie Yael Ronen
11.00 Uhr
DJIHAD PARADISE
von Anna Kuschnarowa
Thalia Theater Halle
Regie Ronny Jakubaschk
[14+, Nominierung JugendStückePreis]
18.00 Uhr
SMALL TOWN BOY
von Falk Richter
Badisches Staatstheater Karlsruhe
Regie Atif Mohammed Nour Hussein
[Nominierung NachSpielPreis]
Do
04.05.17
20.30 Uhr
DER BLAUE WÜRFEL
von David Gieselmann
Theater und Orchester Heidelberg
Regie Christian Brey
18.00 Uhr
WEIL SIE NICHT GESTORBEN SIND
von Hannah Zufall
Deutsches Theater Göttingen
Regie Brit Bartkowiak
15.00 Uhr
ALL ABOUT NOTHING
von pulk fiktion
Regie Hannah Biedermann
und Eva von Schweinitz
[12+, Nominierung NachSpielPreis]
20.30 Uhr
LESBOS – BLACKBOX EUROPA
von Gernot Grünewald und Ensemble
Deutsches Theater Berlin
Regie Gernot Grünewald
Fr
05.05.17
20.30 Uhr
DER HERZERLFRESSER
von Ferdinand Schmalz
Burgtheater Wien
Regie Alexander Wiegold
[Nominierung NachSpielPreis]
11.00 Uhr
HIMMEL UND HÄNDE
von Carsten Brandau
Theater der Stadt Aalen
Regie Winfried Tobias
[4+, Austauschgastspiel Mülheimer
Theatertage]
18.30 Uhr
LESBOS – BLACKBOX EUROPA
von Gernot Grünewald und Ensemble
Deutsches Theater Berlin
Regie Gernot Grünewald
Sa
06.05.17
20.30 Uhr
HAUS DER HUNDE
von Vladislav Troitskyi
Dakh Theater Kiew
Regie Vladislav Troitskyi
So
07.05.17
15.30 Uhr
HAUS DER HUNDE
von Vladislav Troitskyi
Dakh Theater Kiew
Regie Vladislav Troitskyi
22.30 Uhr
DAKH DAUGHTERS
Musikalisch-theatrales Freak-Kabarett | Konzert
Dakh Theater Kiew
Regie Vladislav Troitskyi
Im Anschluss Party
EIN STÜCK VOM GLÜCK NO. 2
13.00 Uhr
ERÖFFNUNG GASTLANDPROGRAMM UKRAINE
INTERNATIONALER AUTORENWETTBEWERB:
UKRAINE
13.30 Uhr
LORA
von Oksana Sawtschenko
14.30 Uhr
DAS NORDLICHT
von Wolodymyr Snihurtschenko
16.00 Uhr
ÖKÖ-BALLADE
von Olga Mazjupa
18.30 Uhr
DER GETREIDESPEICHER
von Natalia Vorozhbyt
Erstes Kinder- und Jugendtheater Lwiw
Regie Andrij Prychodko
21.00 UHR
PREISVERLEIHUNG
Sprechzimmer
20 Uhr Premiere
BEBEN
von Maria Milisavljevic
Theater und Orchester Heidelberg
Regie Erich Sidler
AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2016
18.30 Uhr
BEATE UWE UWE SELFIE KLICK
von Laura Linnenbaum, Gerhild Steinbuch
Die Theater Chemnitz
Regie Laura Linnenbaum
Di
02.05.17
Zwinger3
18.00 Uhr
Dokumentarisches Theater in der Ukraine
RUSSISCH AUF UKRAINISCH
von Anton Romanov
PostPlayTeatre Kiew
WO IST OSTEN?
von Natalia Vorozhbyt und Alik Sardarian
Theatre of Displaced People Kiew
Regie Georg Genoux, Alik Sardarian
15.30 Uhr
RUHM DEN HELDEN
von Pavlo Arie
Theater Goldenes Tor Kiew
Regie Stas Zhyrkov
11.00 Uhr
END OF IMITATION 2.0
Post Residency Theatre Group
Regie Pavel Yurov
13.00 Uhr
THEATERLUNCH
Gespräch über das Theater in
der postrevolutionären Ukraine
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
7
Alles so bunt hier
Theater in der postrevolutionären Ukraine
Der Maidan in Kiew 2015. Foto: Katja Herlemann Die Fotos von Katja Herlemann entstehen auf ihren zahlreichen Reisen. Ihr Gebrauch von Einwegkameras hat mit
einem Misstrauen gegenüber grenzenloser Bilderproduktion zu tun, aber auch mit bewusster Abgabe von Kontrolle an das Material. Das Auge des Fotoapparats streift
die Orte dabei im besten Fall nur wie zufällig. Katja Herlemann gehörte von 2013-2016 zum Leitungsteam des Heidelberger Stückemarkt. Ihre Fotos von Kiew wurden
im November 2015 im Rahmen einer Theaterreise aufgenommen. kakoshka.tumblr.com
Katrina Mäntele und Jürgen Popig Maidan untergebracht – in dem Hotel, gefallen. Für die Doku-Theatergruppe
unterhalten sich über das Gastland wo während der Maidan-Proteste Ver- Theatre of Displaced People, die sich
des 34. Stückemarkts.
letzte versorgt und Tote aufgebahrt ganz auf Flüchtlingsthemen konzentwurden. Angeblich sollen sich auch riert, war eine eigene Halle reserviert,
> Jürgen: Wir sind ja nicht zusammen Scharfschützen in den Hotelzimmern wo man an jedem Tag etwas anderes
nach Kiew gereist, sondern ich war verschanzt haben, und der sechste sehen konnte: Theater, Performance,
im September beim Gogolfest, und Stock war während der Ausschrei- Film, Diskussion, das fand ich toll.
du warst im November bei der Woche tungen für Journalisten aus aller Welt Den größten Kontrast dazu bildeten
der jungen Dramatik. Ich war total reserviert. Der Blick aus meinem Ho- die Dakh Daughters, ein Heavy-Meüberrascht davon, dass alles so bunt telzimmerfenster war also der, den tal-Mädels-Punk-Kabarett, das auch
ist. Ich hatte mir die
die mediale Öffent- in Berlin oder Paris cool wäre. Beide
Ukraine irgendwie
„Kaum zu glauben, dass lichkeit eingenom- Gruppen sind beim Stückemarkt verschwarzweiß vorgemen hatte. Mit ei- treten. Dazu ein Stück unseres Scouts
stellt. Oder grau. In dieses Land im Krieg ist.“ nem entscheidenden Pavlo Arie: „Ruhm den Helden“ kenWirklichkeit knallte
Unterschied. Drei ne ich noch nicht, aber du hast es in
die Sonne runter, ich hatte natürlich Jahre später war der Platz leer und Kiew gesehen. Was erwartet uns da?
nicht daran gedacht, Sonnenschutz- aufgeräumt. Keine protestierenden > Katrina: Uns erwartet die Gecreme mitzunehmen. Auf dem Spiel- Menschenmengen, keine brennenden schichte von zwei ehemaligen Helden
und Rummelplatz vor dem Gelände, Autoreifen, keine Ukraine-Flaggen des Zweiten Weltkriegs, die aber auf
wo das Gogolfest stattfand, tobten waren zu sehen. An einem Abend unterschiedlichen Seiten gekämpft
die Kinder unbeschwert und fröhlich. spielte sogar eine Band auf dem Mai- haben. Nun, am Ende ihres Lebens,
Der Autor Pavlo Arie, unser Scout, dan, und die Bemüssen sie ein
mit dem ich dort war, sagte: „Kaum sucher
teilen,
tanzten,
In der neuen Dramatik wer- Sterbebett
zu glauben, dass dieses Land im Krieg trotz Kälte und
und dabei breden der Krieg im Osten und chen alte Konist.“ Genau. Das Wissen um die nicht Regen. Im Alltag
enden wollende Krise, in der sich die scheint der Krieg
auf. Schaut
die Beziehung zu Russland flikte
Ukraine befindet, war mit dieser aus- nicht sehr präman eine Inszeimmer wieder thematisiert. nierung und vergelassenen Festtagsstimmung schwer sent zu sein. Bei
zusammenzubringen. Und wie wars den
Lesungen
steht die Sprache
im November?
und Theaterbesuchen hatte ich jedoch nicht, nimmt man Bühnen- und Kos> Katrina: Als wir in Kiew ankamen, einen anderen Eindruck. In der neuen tümbild, Requisiten oder Lichtstimwar es schon dunkel, und während Dramatik werden der Krieg im Osten mungen viel stärker wahr. Spannend
der Fahrt vom Flughafen zum Hotel und die Beziehung zu Russland immer war für mich auch, die Emotion des
sahen wir nicht viel. Umso faszinier- wieder thematisiert.
Publikums zu beobachten. Während
ter war ich von meinem Blick aus dem > Jürgen: Beim Gogolfest hat mir die im ersten Teil sehr viel und sehr laut
Hotelzimmer. Wir waren direkt am Bandbreite und Vielfalt des Gezeigten gelacht wurde, hat man nach der Pau-
se geschluchzt und geweint.
> Jürgen: Kannst du sagen, was charakteristisch ist für das Theater der
Ukraine?
> Katrina: Während der Recherche
für den Stückemarkt ist mir aufgefallen, dass erstaunlich viele der
jüngeren Theatermacher auf dokumentarische Formen zurückgreifen.
Wir haben daher auch gleich zwei
Theater eingeladen, die mit ihrer Arbeit versuchen, die Wirklichkeit zu
dokumentieren. Das Theatre of Displaced People repräsentiert Stimmen
aus dem besetzten Osten der Ukraine, das PostPlayTeatre stellt in einer Installation die Erfahrungen der
Krim-Annektierung aus.
> Jürgen: Es kommen ja auch Experten. Was für welche?
> Katrina: Der Journalist Thomas Irmer eröffnet das Gastlandprogramm
mit einem sachkundigen Vortrag.
Und dann gibt es ein Podiumsgespräch über Theater in der postrevolutionären Ukraine. Da diskutiert
Thomas Irmer mit Irene Podolak,
einer Kulturpolitikerin, mit Oleg
Verhelis, einem renommierten Theaterwissenschaftler und Publizist, mit
Den Gumenniy, dem künstlerischen
Leiter des PostPlayTeatre und mit
Pavlo Arie. Ist das ausreichend, oder
brauchen wir noch mehr Text?
> Jürgen: Das dürfte reichen. Vielen
Dank.
8
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Der Geist der Revolution
Aufrüttelndes dokumentarisches Theater aus der Ukraine
„Wo ist Osten“ vom Theatre of Displaced People. Foto: Anastasia Vlasova
von Lene Grösch
Die Darsteller des Theatre of Displaced People sind keine Berufsschauspieler. Die meisten von ihnen sind
Binnenflüchtlinge aus dem Donbass,
aber auch ehrenamtliche Helfer und
Soldaten. Auf der Bühne erzählen
sie ihre eigenen Lebensgeschichten
– und werden zur Stimme von Hunderttausenden Vertriebenen aus der
Ostukraine, die sonst nur wenig Gehör finden. Mit (zunächst) unerwartetem Erfolg: „Viele Zuschauer stammen aus dem Donbass. Besonders am
Anfang war das so. Am ersten Abend
haben wir zwei Aufführungen hintereinander gespielt. Es kamen so viele
Menschen, dass der Platz nicht reichte. Ich habe ‚gespielt‘ gesagt, obwohl
es eigentlich gar kein Schauspiel ist:
Wir spielen nicht, wir erzählen unsere Geschichten“, so Darstellerin
Anastassija Pigatsch über ihre erste
Premiere „Wo ist Osten?“ des Theatre of Displaced People, ein Stück, mit
dem die Bühne der Binnenflüchtlinge
beim diesjährigen Festival Gogolfest
in Kiew eröffnet wurde.
Das Leitungsteam besteht aus
dem Regisseur Georg Genoux, der
Dramatikerin Natalya Vorozhbit und
dem Militär-Psychologen Aleksei
Karachinsky – die gemeinsam mit
ihren Darstellerinnen und Darstellern auf Dialog als beste Garantie für
Frieden setzen und darum kämpfen,
Traumata zu überwinden, indem sie
Geschichten teilen. Nach Heidelberg
kommen mit „Wo ist Osten?“ zwei
Monologe dieser außergewöhnlichen
Kompagnie.
Auch das PostPlayTeatre Kiew wirft
kritische Blicke auf aktuelle Ereignisse in
der Ukraine – und nutzt dabei ebenfalls
dokumentarische Formen. Die Gruppe
wurde 2014 aus der Maidan-Revolution
geboren und besteht aus Künstlerinnen
und Künstlern aus der gesamten Ukraine, die in Kiew leben und arbeiten.
Der 31-jährige Regisseur und Schauspieler Anton Romanov war Leiter des
Zentrums für zeitgenössische Kunst in
Simferopol, bevor 2014 Russland die
Krim annektierte und er gezwungen
wurde, seine Heimat zu verlassen. Seitdem hat er sich dem PostPlayTeatre in
Kiew angeschlossen, ist weiterhin politisch aktiv und unterstützt die Krim.
Für den Heidelberger Stückemarkt hat
Romanov eine szenische Installation
entwickelt, die kaleidoskopisch Erinnerungen an die Annektierung der Krim
zusammenstellt, die das PostPlayTeatre
gesammelt und arrangiert hat.
Gefördert durch Szenenwechsel,
einem Programm der Robert Bosch
Stiftung und des Internationalen Theaterinstituts ITI, eröffnen diese beiden
hochspannenden
dokumentarischen
Projekte des PostPlayTeatres und des
Theatre of Displaced People als Doppelabend bzw. -installation quer durch
den Zwinger Einblicke in die explosive
Gesellschaft der postrevolutionären Ukraine – und sorgen für provozierende,
humorvolle und sehr menschliche Theatermomente.
>„
Russisch auf Ukrainisch“ und
„Wo ist Osten?“
6. Mai, 18.00 Uhr, Zwinger1
In ukrainischer und russischer
Sprache mit deutschen Übertiteln
Ukraine-Tipp: „Der Getreidespeicher“ von Natalia Vorozhbyt
Zum ersten Mal auf Gastspiel!
jp. Die Handlung spielt vor dem
Hintergrund der größten Tragödie
der ukrainischen Geschichte des 20.
Jahrhunderts: Infolge von Zwangskollektivierung in der Stalinära kam
es Anfang der 1930er Jahre in der
Ukraine zu einer künstlich herbeigeführten Hungersnot, die unzählige
Menschenleben kostete und als nationales Trauma bis heute fortbesteht.
Trotz der zeitlichen Distanz beschäftigt sich das Stück mit aktuellen Fragestellungen. „Der Getreidespeicher“
ist die erste Theater-Koproduktion
in Lwiw (Lemberg), die zeigen soll,
dass die Zusammenarbeit zwischen Erstes Kinder- und Jugendtheater Lwiw. Foto: Marianna Pavliuk
staatlichen Kulturinstitutionen und
freien Künstlerinnen und Künstlern
möglich ist.
Eine Möglichkeit, die Autorin des
„Getreidespeichers“ Natalia Vorozhbyt als Schauspielerin zu erleben,
gibt es in dem dokumentarischen
Theaterstück „Wo ist Osten?“ über
den Konflikt in der Ostukraine.
>„
Wo ist Osten?“
6. Mai 2017, 18.00 Uhr, Zwinger
>„
Der Getreidespeicher“
7. Mai 2017, 18.30 Uhr,
Alter Saal
In ukrainischer Sprache mit
deutschen Übertiteln
9
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Die Dakh Daughters überwinden Grenzen
Musikalische Höhepunkte des Rahmenprogramms
Die Töchter des Theaters „Dach“. Foto: Maxim Dondyuk
von Laura Guhl
Das Dakh Theater („Theater auf dem
Dach“) ist ein einzigartiges Phänomen in der Ukraine: 1994 als Zentrum für zeitgenössische Kunst von
Vladislav Troitskyi gegründet, entwickelte es sich schnell zu einem Ort für
experimentelle künstlerische Ansätze
– und ist heute nicht nur das älteste,
sondern auch das einzige unabhängige nichtkommerzielle Theater der
Ukraine. Mehr als ein guter Grund,
die Dakh-Theater-Produktion „Haus
der Hunde“, die schonungslos auf die
politischen Ereignisse in der Ukraine vor und nach dem Maidan blickt,
zum Heidelberger Stückemarkt einzuladen.
Eines der künstlerischen Mittel,
derer sich das Dakh bedient, ist die
traditionelle ukrainische Musik, die
eine große Rolle in ihren Inszenierungen spielt und mittlerweile zum
festen Bestandteil ihrer ganz eigenen
Bühnensprache geworden ist. Ungewöhnlich begabt sind die Schau-
lg. „Vordergründig scheint sich das
ukrainische Theater seit der Zeit der
Sowjetunion kaum verändert zu haben. Viele Häuser sind abhängig von
der machthabenden Politik und zeigen wenig Interesse an aktuellem Gegenwartsgeschehen.“ schreibt Pavlo
Arie – ukrainischer Theatermacher,
Intendant und diesjähriger Scout des
Gastlands über das Theater in seinem
spielerinnen der Avantgardebühne
auch in musikalischer Hinsicht, so
dass aus den eigenen Reihen des
Theaterkollektivs das Frauenbandprojekt Dakh Daughters (frei übersetzt: Töchter des Theaters „Dach“)
entstand. Als künstlerisch-skurriles,
musikalisch-theatrales Freak-Kabarett bezeichnen sie sich selbst und
singen auf mehreren Sprachen von
Utopie und postsowjetischer Tragödie, von besetzten Kriegsgebieten in
der Ostukraine und der vielschichtigen Identität ihres Landes.
In einem Mix aus ukrainischer
Folklore, Punk, Prog-Rock, Klassik
und Sprechgesang sprengen die sieben Frauen virtuos jede musikalische,
sprachliche und kulturelle Grenze. In
ihren Texten bedient sich das Kollektiv bei Autoren wie Charles Bukowski und William Shakespeare. Größere
Aufmerksamkeit erlangten sie durch
ihren Auftritt im Rahmen der Proteste auf dem Maidan in Kiew 2013
als sie vor den Augen der bewaffneten ukrainischen Miliz auftraten.
Mittlerweile stehen die Dakh
Daughters weltweit auf der
Bühne. Besonders freut sich
auf seinen Auftritt deswegen
auch Janeck Altshuler, aka offbeatterrorist, der im Anschluss
an das Konzert auflegen wird.
Selbst gebürtiger Ukrainer
bringt er ansonsten die Clubgänger Wiesbadens bei der im
Rhein-Main-Gebiet legendären Balkan-Party-Reihe „La
Bolschevita“ im Schlachthof
Wiesbaden zum Tanzen. Freuen
kann sich deswegen das Publikum auf seine energiegeladene Mischung aus Balkan- und
elektronischen Beats.
>„
Dakh Daughters –
Musikalisch-theatrales
Freak-Kabarett“
5. Mai, 22.30 Uhr, Alter Saal
> I m Anschluss: „Ein Stück
vom Glück No. 2“ mit DJ
Janeck aka offbeatterrorist
Eintritt frei!
Im „Haus der Hunde“, Dakh Theater.
Foto: Tatiana Vasylenko
Wie weiter nach der Revolution?
Ukrainische Theatermacher sprechen über ihre Arbeit
Heimatland. Aber unter der Oberfläche brodelt es: Der Geist der Revolution hat auch die Ukraine und seine Theatermacher getroffen. Immer
mehr beschäftigt sich das Theater
mit der Gegenwart, wird zeitbezogener und aktueller. Auch Machtstrukturen werden aufgebrochen und Produktionsstrukturen verändern sich.
Aber unter welchen Bedingungen ar-
beiten Theatermacher in der Ukraine
momentan? Was sind die Themen, die
sie umtreiben? Und welche Ästhetiken spielen eine besondere Rolle im
zeitgenössischen ukrainischen Theater? Gemeinsam mit dem Theaterkritiker und Publizisten Oleg Verhelis,
der ukrainischen Politikerin Irene
Podolak und dem Autor Den Gumenniy vom PostPlayTeatre spricht Pavlo
Arie über diese Fragen. Moderiert
wird das Gespräch von Thomas Irmer, Theaterkritiker u.a. für Theater
heute sowie Experte für die ukrainische Theaterlandschaft.
>T
heaterlunch
Gespräch über das Theater in
der postrevolutionären Ukraine
7. Mai, 13.00 Uhr, Sprechzimmer
10
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Von Armut, Radikalisierung und Identitätsfindung
Existenzielle Themen stehen bei den Jugendgastspielen auf dem Programm
„All about Nothing“ von pulk fiktion. Foto: Christoph Wolff
von Viktoria Klawitter
Mit Beginn der Intendanz von Holger
Schultze in Heidelberg wurde der JugendStückePreis eingeführt. So wird
der Preis seit 2012 an eine herausragende Uraufführung eines Jugendtheatertextes verliehen. In diesem Jahr
feiert der Preis also seinen 6. Geburtstag! Nominiert sind Daniel Ratthei für
„Der Goldene Ronny“ in einer Inszenierung des Schleswig-Holsteinischen
Landestheaters, „All about Nothing“
der freien Theatergruppe pulk fiktion
und die Romanbearbeitung „Djihad
Paradise“ von Anna Kuschnarowa
vom Thalia Theater Halle und Regisseur Ronny Jakubaschk auf die Bühne
gebracht. Drei sehr unterschiedliche
Geschichten und Bühnentextvorlagen.
„Djihad Paradise“ erzählt von Julian und Romea, die den Islam entdecken und Halt in der Religion finden.
Julian lässt sich immer tiefer in eine
radikale Gruppe hineinziehen. Das
Thema Radikalisierung ist nicht nur
in den Nachrichten präsent – auch in
Jugendmedien spielt es eine wichtige
Rolle. Viele Romane erscheinen und
das Theater nimmt sich diesem Thema
– nicht nur in Halle – ebenfalls an.
Auch „All about Nothing“ greift
ein politisches Thema auf: Kinderarmut. Das pulk fiktion-Team hat sich
gemeinsam auf Recherche begeben
und ein berührendes Stück entwickelt.
„Man hat echte Menschen direkt vor sich“
Josefine Scholl über die Arbeit der Jugendjury
> Was macht die Jugendjury eigentlich?
Die Jugendjury bekommt vorab ein
Skript von jedem Stück, dass für
den JugendStückePreis nominiert
ist. Das lesen wir und tauschen uns,
bevor wir die Stücke sehen, darüber
aus. Dann sehen wir die Inszenierungen. Nachdem wir alle Nominierten gesehen haben, setzen wir
uns für eine längere Besprechung
zusammen und diskutierten. Wenn
wir uns geeinigt haben, schreiben
wir eine Rede, die wir bei der Preisverleihung vortragen.
> Was war als Juror das Aufregendste in Deinem ersten Jugendjuryjahr beim Heidelberger
Stückemarkt 2016?
Ich mag es sehr, mich mit anderen
über Theaterstücke zu unterhalten. Man tauscht Meinungen und
Gedanken aus und erkennt dadurch
noch ganz andere Facetten. Es war
cool, die Möglichkeit zu haben, mit
den Darstellern und Regisseuren reden zu können. Das ist etwas, was ich
am Theater, im Vergleich zum Film,
sehr schätze. Man hat echte Menschen direkt vor sich, die sich mehrere Monate mit dem Stück auseinandergesetzt haben, mit ihren Rollen
Kinder und Jugendliche kommen
gleichberechtigt neben harten Fakten
zu Wort. Und dennoch gelingt es den
Performern eine Leichtigkeit herzustellen, die das alles erträglich macht.
In „Der Goldene Ronny“ begegnet
man Leah und Leo, die trotz großer
Unterschiede mehr Ähnlichkeiten haben als angenommen. Daniel Ratthei
gehört mit seinen rasanten, komischen
Stücken zu den aufkommenden Stimmen des Jugendtheaters. Drei Gastspiele die es wert sind, genauer angeschaut zu werden!
> „Der Goldene Ronny“
ab 12 Jahren
2. Mai, 11 Uhr, Zwinger3
> „Djihad Paradise“
ab 14 Jahren
3. Mai, 11 Uhr, Alter Saal
> „All about Nothing“
ab 12 Jahren
4. Mai, 15 Uhr, Zwinger1
Carsten Brandau
erneut mit
Kinderstück zu Gast
Josefine Scholl (rechts) und die Jugendjury bei der Preisverleihung 2016. Foto:
Susanne Reichardt
vk. Letzte Spielzeit war Carsten
Brandau mit einem Kinderstück im
Rahmen des Austauschgastspiels mit
den Mülheimer Kinderstücken beim
Stückemarkt zu Gast:
Er hatte 2015 für „Dreier steht Kopf“
den KinderStückePreis in Mülheim
erhalten – und ein Jahr darauf gleich
noch einmal für „Himmel und Hände“. Dieses Stück ist gemeinsam mit
dem Theater der Stadt Aalen entstanden. Erzählt wird von A und O, die
gemeinsam die Welt entdecken – eine
Geschichte der Gegensätze mit hoher
literarischer Qualität!
und mit der Inszenierung und einem mitentscheiden zu lassen. Jugendlideswegen fast alles darüber sagen che schauen sich schließlich später
können.
die Stücke an. Auch wenn die Profis
auch einmal Jugendliche waren, ist
> Warum ist es wichtig, eine Jugend- doch jede Generation irgendwie anjury für den JugendStückePreis
ders und hat andere Dinge, die sie
mitentscheiden zu lassen?
beschäftigen. Außerdem ist es gut,
Es würde überhaupt keinen Sinn ma- nicht nur Leute Stücke bewerten zu > „
Himmel und Hände“
chen es „JUGENDStückePreis“ zu lassen, die sich tagtäglich mit Theaab 4 Jahren
5. Mai, 11 Uhr, Zwinger1
nennen und dann keine Jugendlichen ter beschäftigen.
11
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Wir. Wer immer und wie viele wir auch sind
Komplexes Zeitbild im Preisträgerstück von Maria Milisavljevic
Jurorin Andrea Vilter, Preisträgerin Maria Milisavljevic und Intendant Holger Schultze bei der Verleihung des Autorenpreises 2016. Foto: Annemone Taake
von Sonja Winkel
„Beben“ gewann im Frühjahr als einer von sechs neuen Theatertexten
den AutorenPreis des Heidelberger
Stückemarkts.
Aber macht was ihn eigentlich zu einem Theatertext? Dass die Autorin
ihn für das Theater geschrieben hat?
Er ist nicht leicht zu lesen. Sie verzichtet auf Figurenauszeichnungen
und benennt nur vage, dass es um ein
uns geht, „wer immer und wie viele
wir auch sind“. Und dennoch wird
der Leser oder Hörer bald Figuren
folgen und sehr bald in starke Geschichten hineingesogen.
Da ist der Mann an der Kante von
Ulro, dessen Erzählung frei nach dem
englischen Romantiker William Blake
ein gewaltiges Epos von Macht und
einer gewaltigen Brüder-Beziehung
entwirft. Wie in einem Götter-Epos
entwirft dieser Mann seine Welt,
setzt Menschen auf sie und entwirft
ein System der Gier und der Gewalt.
Eine Welt, die parabelhaft ein Abbild
der unseren geben könnte. Da ist die
unglaubliche Geschichte eines Soldaten, der im Kriegsgeschehen ein Kind
erschießt, weil seine Einheit überzeugt ist, der Junge trüge eine Bombe unter seinem T-Shirt – die Befehle
anzuhalten konnte der Kleine nicht
hören, denn er war taub. Da ist die
Mutter des Jungen, die nun, trotzdem
ihr das Wichtigste, das Teuerste, was
eine Mutter besitzen kann, genommen wurde, vergeben will. Und da
ist die Generation, die den Krieg und
die Gefahr nur aus den Nachrichten
oder den Computerspielen kennt. Milisavljevic porträtiert humorvoll ihre
Gleichaltrigen, die immer über alles, wenigstens halb informiert sind,
nur noch schnell den Level zu Ende
spielen müssen, bevor sie sich zuhören können. Sie attestiert ihnen nicht
unpolitisch zu sein; im Gegenteil, es
gibt ein hohes Bewusstsein für Ökologie, für Spenden und die Ungerech-
tigkeit der Welt, aber die Bedeutung
der Themen steht gleichauf mit der
Lieblingsserie, dem Erfolg in virtuellen Welten und dem „Gossip“ über
die schräge Alte von gegenüber. Die
Jury aus Regisseuren, Kritikern und
Dramaturgen hat dieser Text überzeugt, vor allem, weil er eine Herausforderung an das Theater darstellt. Er
fängt die Gegenwart ein und ist doch
mehr als ein einfaches Abbild.
> „Beben“
Premiere 28. April, 20 Uhr,
Zwinger1
>W
eitere Vorstellung:
29. April, 18.30 Uhr, Zwinger1
Social Fiction: Der blaue Würfel
Im Rahmenprogramm zeigt das Theater Heidelberg ein Auftragswerk von David Gieselmann
jp. Das Stück spielt in einer vermutlich nicht allzu fernen Zukunft. Dass
es sich nicht um die heutige Zeit
handelt, erzählt sich weniger durch
technische Errungenschaften, sondern durch die offensichtliche Abwesenheit gesellschaftlicher Probleme,
die sich in einer privilegierten Oberschicht breit gemacht hat.
Livia und Cedric von Horst samt
Tochter Nicole haben es geschafft:
Sie gehören dazu. Dank einer Erbschaft können sie sich ein Leben leisten, von dem sie bisher bloß geträumt
haben. Doch das hat seine Tücken: In
ihrer neuen, hermetisch abgeschlossenen und durch Security gesicher-
ten Umgebung ist jede falsche Bewegung fatal. Also wird eine Maklerin
engagiert, um ein absolutes Top-Objekt zu finden. Und nicht bloß das,
sondern auch eine Stilberaterin für
alle möglichen Belange: „Inneneinrichtung. Wohnungssuche. Eheklima.
Styling. Social Skills. Kultur. Sex.
Erziehung. Suchtberatung. Weinkeller. Umfassend. Twentyfourseven.“ In
diese schöne neue Welt bringt ein geheimnisvoller blauer Würfel Kunde
aus einer anderen Zeit: der unseren.
Was für einige Unruhe sorgt.
David Gieselmann, geboren 1972
in Köln, studierte von 1994 bis 1998
Szenisches Schreiben in Berlin. In
der Folge spezialisierte er
sich auf Komödien. Seit einigen Jahren verbindet ihn eine
Zusammenarbeit mit dem Regisseur Christian Brey. Beim
Heidelberger
Stückemarkt
2015 war ihre Uraufführung
„Container Paris“ zu sehen.
Bereits 2013 war David Gieselmann mit dem Jugend­
StückePreis des Heidelberger
Stückemarkts ausgezeichnet
worden.
>„
Der blaue Würfel“
4. Mai, 20.30 Uhr,
Marguerre-Saal
Die Nachbarschafts-Security sieht dich an.
Kostümentwurf von Anette Hachmann.
12
THEATER-MAGAZIN – STÜCKEMARKT 2017
Der 34. Heidelberger Stückemarkt
Der Heidelberger Stückemarkt stellt
zum 34. Mal aufstrebende Autorinnen
und Autoren vor und präsentiert einundzwanzig deutschsprachige und internationale Gastspiele, die sich durch
ihre innovativen Regiehandschriften
und spannenden Themensetzungen
auszeichnen. Künstlergespräche und
die Stückemarkt-Partys machen das
Festival zum Ort der Begegnung, des gemeinsamen Nachdenkens und Feierns.
Aus dem deutschsprachigen Raum
präsentiert das Theater Heidelberg herausragende Gastspiele von Stadt- und
Staatstheatern sowie aus der freien Szene. Auch für seine 34. Ausgabe stellt der
Heidelberger Stückemarkt drei nachgespielte Inszenierungen zeitgenössischer
Stücke vor und setzt damit ein Zeichen
im Sinne nachhaltiger Autorenförderung. Kuratiert wird die Reihe von der
Theaterkritikerin Barbara Behrendt.
Der Heidelberger Stückemarkt hat
in diesem Jahr die Ukraine zu Gast. Wie
reflektieren Theatermacherinnen- und
macher mitten im Ost-West-Konflikt
ihre Lage? Wir stellen dem Heidelberger
Publikum drei ukrainisch und russisch
schreibende Autoren und Autorinnen
vor und präsentieren Gastspiele inter-
national renommierter sowie junger
Theatermacher, die sich in ihren Arbeiten aus verschiedenen Perspektiven den
Themen Unrecht, Unterdrückung und
Befreiung widmen.
Deutschsprachiger Autorenwettbewerb
„Kluge Gefühle“ von Maryam Zaree
Tara ist Anwältin für Asylrecht und hat
alles im Griff – bis ihre Mutter Shala
verschwindet, um etwas öffentlich zu
machen, wovon nicht einmal ihre Tochter wusste. Im Internet stößt Tara auf
den Livestream, in dem Shahla über
ihre Folterung als schwangere Frau im
iranischen Gefängnis aussagt.Von da an
muss Tara stehen bleiben, zurückschauen und lernen, die Gegenwart mit neuem Blick wahrzunehmen.
„Schlaraffzahnland“ von Nicole Kanter
Wenn Fridolin, Maulwurf und der beste Freund von Biberdame Bober, seine Hamsterfreundin heiratet, dürfen
natürlich Bober und Tunk, der Eisbär,
nicht fehlen. Aber irgendetwas stimmt
nicht in der Hamsterstadt, die hinter
einer riesigen Mauer liegt. Hier gibt es
Milch und Honig im Überfluss – aber in
regelmäßigen Abständen verschwinden
Hamster. Nur Wohin? Nicole Kanter ge-
lingt es wunderbar, Gesellschaftskritik
mit Unterhaltung zu verbinden.
„Wiegenlied für Baran“ von Joël László
Nachts am Küchentisch: Sibylle und
Pierre können nicht schlafen. Auf ihrem Sofa schläft dagegen der kurdische
Flüchtling Baran mit beeindruckender
Ausdauer. Und während Baran schläft,
wälzen die Übernächtigten Gedanken
hin und her: War die Aufnahme Barans
in die eigenen vier Wänden eine gute
Idee? Joël Lászlós Text erzählt klug von
Zuschreibungen und Ängsten und vermisst den Raum zwischen Ideal und
Wirklichkeit politischen wie privaten
Handelns.
„Eine Post-Sowjetische Dramolett-Trilogie“ von Marjana Gaponenko
Was beginnt, als wärs ein Stück von
Tschechow, erweist sich schnell als
makabres Panorama der Zersetzung
aller (Un-)Gewissheiten, auf die sich
das herrschende Weltbild der heutigen
Gesellschaft stützt: in der Ukraine, der
Heimat der Autorin, wie in Russland. In
drei ebenso grotesken wie präzisen Mini-Dramen erzählt Marjana Gaponenko
von der heutigen post-sowjetischen Gesellschaft. Übertragbarkeit nicht ausgeschlossen.
„Anfall und Ente“ von Sigrid Behrens
Was ist wohl vor einem Anfang da? Bevor das Ende nicht in Sicht ist? Und
wenn das Ende plötzlich da ist? Anfall
und Ente sitzen gemütlich auf einer
kleinen Wiese und überlegen. Vielleicht
geht man dann einfach zurück ins Weltall? Aber wo ist eigentlich Hundi, das
Kuscheltier von Ente, das schon immer
da war? Sigrid Behrens hat ein poetisches und skurriles Stück über den Tod
geschrieben, das die Fragen und Ängste
von Kindern – und Erwachsenen – sehr
ernst nimmt.
„Nord West 59“ von Lorenz Langenegger
Ein verurteilter Schlepper kommt aus
dem Gefängnis. Doch so sicher wie
die Beweislage vor Gericht – fünftausend Euro im Handschuhfach, eine
Flüchtlingsfamilie im Laderaum des
Transporters bei der Fahrt über die
Grenze – ist die Wahrheit nicht auszumachen. Der Marionettenspieler Mika
weiß einfach nicht, wie die drei Personen in sein Auto und das Geld ins
Handschuhfach kamen. Sensibel erzählt Lorenz Langenegger von seinen
Figuren, ihren Sehnsüchten und ihrer
Verzweiflung, die sie schließlich alle
schuldig werden lassen.
Heidelberger Stückemarkt – Preise und Ermäßigungen
Eintrittspreise
Ermäßigung
1 Autorentag Gastspiele im Zwinger1
und Zwinger3
23 € 11,50 € erm.
14 €
7 € erm. Kinder- und
3 Autorentage Jugendtheater-Gastspiele
Einlass zu Beginn jeder Lesung
17 € 8,50 € erm.
33 € 16,50 € erm. Festivalpass 140 €
70 € erm. Schülergruppen-Preise
ab 5 €
Im Vorverkauf und an der Abendkasse er- ab 10 Personen
Einlass zu Beginn jeder Lesung
halten Sie gegen Vorlage des Festivalpasses nach Verfügbarkeit je eine Freikarte
für alle Veranstaltungen des Heidelberger
Stückemarkts.
Gastspiele im Alten
und Marguerre Saal
ab 17 €ab 8,50 € erm.
Schüler, Auszubildende, Studierende,
Schwerbehinderte, Bundesfreiwilligendienstleistende sowie Inhaber des
Heidelberg-Passes+ erhalten gegen
Vorlage eines entsprechenden Ausweises bereits im Vorverkauf 50 %
Ermäßigung.
Informationen und Karten unter
www.theaterheidelberg.de/festival/
heidelberger-stueckemarkt/
oder an der Theaterkasse:
Partys Eintritt frei! [email protected]
Konzert Dakh Daughters 7€ 5€ erm. ✆ 062 21 / 58 20 000
Besuchergruppen ab 10 Personen
15% Ermäßigung
Besuchergruppen ab 30 Personen
25% Ermäßigung
Theaterstr. 10
Öffnungszeiten: Mo – Sa, 11 – 18 Uhr
Abendkasse eine Stunde vor Vorstellungsbeginn am Veranstaltungsort!
Service für Schulgruppen unter
[email protected]
✆ 062 21 / 58 35 780
Service für Besuchergruppen unter
besuchergruppen@
theater.heidelberg.de
✆ 062 21 / 58 35 353
Veranstaltungsorte
Theater und Orchester Heidelberg Alter Saal und Marguerre-Saal, Theaterstraße 10, 69117 Heidelberg
Sprechzimmer Friedrichstraße 5, 69117 Heidelberg
Zwinger1 und Zwinger3 Zwingerstr. 3 – 5, 69117 Heidelberg
Es besteht eine Medienpartnerschaft mit Die deutsche Bühne sowie eine Kooperation mit nachtkritik.de.
Wir bedanken uns bei allen Förderern, Unterstützern, Kooperations- und Medienpartnern sowie Beratern:
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