Wie wird aus einer Krise eine lebensbedrohliche Verzweiflung und Einengung Dr. med. Conrad Frey IPSILON Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Fallbeispiel Adoleszentenkrise Ausweglos !? Am Übergang in das Erwachsenenleben verlor der persönlich und familiär belastete Jugendliche seinen Halt und Tritt. Im Affekt versuchte er sich umzubringen. Mögliche Ursachen? Suizidale Entwicklung? Eine freie Entscheidung? Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 1 Anamnese Persönliche Anamnese 17j. männlich; IQ normal; Realschule mit Verhaltensproblemen. Aktuell 2. Jahr handwerkliche Berufslehre. Die Lehrstelle ist wegen Passivität, fehlender Verbindlichkeit und Unzuverlässigkeit gefährdet. ADHS mit Konzentration Impulsivität (stationäre Therapie in der Kinderpsychiatrie; aktuell Behandlung u.a. mit Stimulanzien) Regelmässiger Cannabis-Konsum gemeinsam mit Gleichaltrigen depressive Stimmungsschwankungen, Schlafprobleme, (passive) Suizidphantasien Familienanamnese Eltern geschieden und beide psychisch belastet. Die Mutter hat Depressionen, der Vater ist IV-Rentner mit Alkoholproblemen. Die Eltern sind bemüht, kooperativ und affektiv unterstützend. In der Erziehung jedoch wenig konsequent, rasch überfordert und mit fehlender wachsamen Sorge. Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Fallbeispiel verändert! 2 Aktuelle Situation • Behördliche Massnahme mit Übertritt in eine therapeutische Wohngemeinschaft • Nach anfänglich positivem Verlauf vermehrte Regelverstösse wegen Cannabiskonsum Time-Out in einer Partnerfamilie angeordnet • Suiziddrohung und Weglaufen, vermutlich in Rauschzustand Konnte durch die Polizei bei der «Hohen Brücke» angehalten werden • Äusserte u.a. bei der Exploration, «da er sowieso allen zur Last falle, wäre sein Tod wohl kaum gross betrauert worden» Wie frei war der Jugendliche in seiner Willensentscheidung? Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Fallbeispiel verändert! 3 „Hot-Spot“ Die „Hohe Brücke“ über die Melchaa-Schlucht Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 4 Gliederung Einleitung und Fallbeispiel (Jugend) • Suizid – eine freie Entscheidung? • Krisen- und Krankheitskonzept • Risikogruppen • Fallbeispiel (Alter) • Suizidale Entwicklung • Einschätzung der Suizidalität Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 5 Suizid – eine freie Entscheidung? • Ethisch und philosophisch kontrovers diskutierte Frage • Persönliches Recht auf Suizid vs. verordneter Schutz bei Gefährdung • Bedeutsam für die eigene Haltung in der Beziehung zu suizidalen Menschen (Prävention, Krisenintervention) • Verschiedene Erklärungsmodelle für suizidales Verhalten stellen die freie Entscheidung in Frage – Medizinisches Modell – Soziologisches Modell – Kommunikationstheoretisches Modell Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 6 Medizinisches Modell Suizidale Handlungen werden durch krankhafte psychische u./o. körperliche Leiden hervorgerufen. Diese setzen bei Belastungen die üblichen Mechanismen zur Abwehr und Bewältigung sowie zum Selbstschutz ausser Kraft. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, fehlende Zukunftsperspektiven etc. Psychische Störungen bei Suizid (Hawton & van Heeringen, 2000) - Alle Psychiatrischen Erkrankungen Affektive Erkrankungen (Depression, Angst) Abhängigkeit und Sucht (Alkohol, Drogen) Persönlichkeitsstörungen (emotional instabile PS / Borderline) > 90% 40-70% 25-50% 30% Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 7 Soziologisches Modell Suizid ist weniger das Ergebnis einer persönlichen Entscheidung, sondern das Resultat von gesellschaftlichen Kräfte die einwirken. kollektive oder gesellschaftliche Zwänge zum Suizid (Emile Durkheim, 1897) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 8 Nachahmung von Suizid ..."Und dann, so eingeschränkt er [der Mensch] ist, hält er doch immer im Herzen das süsse Gefühl der Freiheit, und dass er diesen Kerker verlassen kann, wann er will". J.W. v. Goethe: Die Leiden des jungen Werthers Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 9 Kommunikationstheoretisches Modell Suizidales Handeln kann als Kommunikationsstrategie interpretiert werden, als „Hilferuf“ nach Anerkennung, Aufmerksamkeit oder um damit eine Veränderung im Umfeld zu bewirken. (Edwin Shneidman & Norman Farbrow, 1957) Neue Herausforderungen durch elektronische Medien und virtuelle Welt! • Beziehungskonflikte finden im halböffentlichen Raum statt • Cyber-Mobbing • Suizidankündigungen • Suizidforen Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 10 Ausgangsbedingungen Biopsychosoziale Faktoren Lebensgeschichte Existentielle Verankerungen Belastungen Ressourcen Krisen- und Krankheitskonzept Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 11 Wichtige existentielle Verankerungen • Sicherheitsgefühl – die Gewissheit, in einer rechtlichen Ordnung zu leben, in der die eigene physische und psychischen Integrität geschützt wird. • Gerechtigkeitssinn – ein ideelles Gefühl für Gerechtigkeit und die unantastbare Würde des Menschen. • Zugehörigkeitsgefühl – die soziale Integration in ein Netzwerk, das Zugehörigkeiten schafft und durch soziale Beziehungen gefestigt ist • Selbstwertgefühl – die persönliche Verankerung durch soziale Rollen, die ein kohärentes Selbstbild und eine stabile Identität ermöglichen • Lebenssinn – ein Norm- und Wertesystem im Zusammenhang mit existentiellen Fragen, das dem Leben Bedeutung und Sinnhaftigkeit verleiht. (Moser & Frey, 2007; Silove et al. 2001) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 12 Krise Wendepunkt Altgriechisches Verb krínein = trennen; (unter-) scheiden. Lateinisch crisis Übergänge markieren die Trennung, indem sie verbinden (Hans Ulrich Bänziger) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 13 Krise… Veränderung Trauma Kränkung Krise Bedeutsame emotionale / existentielle Ereignisse oder Veränderungen der Lebensumstände Emotionaler Ausnahmezustand in welchen jede Person geraten kann Keine psychiatrische Diagnose oder Krankheitseinheit Wird von den Betroffenen als bedrohlich angesehen Überfordert deren Möglichkeiten zur Bewältigung Führt zu einer schwankenden Gemütslage und beeinträchtigt das Selbstwertgefühl Das akute Geschehen kann sich… chronisch verfestigen ungünstiges Coping mit u.a. sozialem Rückzug, Suchtentwicklung oder sich gefährlich hochschaukeln Selbst- und Fremdaggression Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 14 Ausgangsbedingungen Biopsychosoziale Faktoren Lebensgeschichte Existentielle Verankerungen Belastungen Ressourcen Krisen- und Krankheitskonzept Krise «Psychisch gesund» Selbstdestruktives Coping Auslöser Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Krise mit Suizidalität Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 15 Krise «Psychisch gesund» Selbstdestruktives Coping Auslöser Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Krise mit Suizidalität Ausgangsbedingungen Biopsychosoziale Faktoren Lebensgeschichte Existentielle Verankerungen Belastungen Ressourcen Krisen- und Krankheitskonzept Psychische Krankheit (ICD-10) Verlauf und Psychopathologie begünstigen Suizidalität Auslöser Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Psychische Krankheit (akut / chron.) mit Suizidalität Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 16 Ausgangsbedingungen Biopsychosoziale Faktoren Lebensgeschichte Existentielle Verankerungen Krise Psychische Krankheit (ICD-10) «Psychisch gesund» Selbstdestruktives Coping Auslöser Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Krise mit Suizidalität Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Belastungen Ressourcen Krisen- und Krankheitskonzept Verlauf und Psychopathologie begünstigen Suizidalität Einengung Auslöser Denken und Fühlen Verhalten Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Psychische Krankheit (akut / chron.) mit Suizidalität Mod. nach Neuner & Schneider, 2012 17 Psychopathologie und Suizidgefährdung • • • • • • • • • Ausgeprägte Hoffnungslosigkeit und Resignation Schwere Schuld- und Versagungsgefühle Wertlosigkeitserleben, Selbsthass Imperative Stimmen Ängstigende und bedrohlich erlebte Wahninhalte Zunehmende Einengung auf suizidale Gedanken Quälende und anhaltende Schlafstörungen, Unruhe, Spannungen Chronische Leidens- und Schmerzustände (Hoffnungslosigkeit ↑) Panikzustände Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 18 Gliederung Einleitung und Fallbeispiel (Jugend) Suizid – eine freie Entscheidung? Krisen- und Krankheitskonzept • Risikogruppen • Fallbeispiel (Alter) • Suizidale Entwicklung • Einschätzung der Suizidalität Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 19 Risikogruppen für Suizid - Psychische kranke Menschen - Depression (LZP 3%-4%)1 / Sucht / Alkohol (LZP 7%)2 / Schizophrenie (LZP 5%)2 - Persönlichkeitsstörung (Borderline-Störung LZP 5-10%)3 - Ältere Menschen - Alleinstehend, einsam, mit gesundheitlichen Einschränkungen - Nach Verlusterfahrung - Verwitwete 1./Jahr (m / w): Suizidrate 189 / 42 auf 100’000 (allg. 28 / 11 / auf 100’000)4 - Männliches Geschlecht (Jugendliche und junge Erwachsene) - Sozial benachteiligte Gruppen - mit Hoffnungslosigkeit und eingeschränkten Lebensperspektiven - Arbeitslose, Gefängnisinsassen, Migranten - chronische, schmerzhafte, behindernde u./o. terminale Krankheiten - Beihilfe zum Suizid (Assistierter Suizid) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden ¹ Wittchen et. al. 2011 ² Nat. Suizid Präventionsprogramm BRD 2015 ³ Jerschke 4 et al. 1998 Ajdacic-Gross et al. 2008 20 Suizidbeihilfe (Art. 15 StGB) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 21 Fallbeispiel Alterspatient • 75 j. vorgealterter Mann; verheiratet und kinderlos • Zuweisung durch Notfallstation nach 1. Suizidversuch bei depressiver Störung – Medikamente (Benzodiazepine), Badewanne, Pulsadern • Aktuelle Situation – Schleichende depressive Entwicklung (Wochen) – Multiple körperliche Beschwerden • Gastrointestinal (Bauchschmerzen, Obstipation) • Neurologisch (Gangunsicherheit, Schwindel, Tremor DD Parkinson?, Medikation?) – Angst vor Autonomieverlust (Autofahren) und Abhängigkeit (der Frau zur Last fallen) – Gefühl der Wertlosigkeit – Äussert Wunsch nach Suizidbeihilfe bzw. Kontakt mit Exit (keine Patientenverfügung) Fallbeispiel verändert! Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 23 Anamnese • Persönliche Anamnese – ängstlich-hypochondrische und «unbewegliche» Persönlichkeit – Psychiatrische Vorgeschichte unauffällig, keine Substanzabhängigkeit – St. nach Myokardinfarkt • Familienanamnese – Durch verschiedene und ähnlich durchgeführte Suizide belastet – Ehefrau wurde dadurch vermehrt ängstlich und kontrollierend – Durch Suizidversuch und Wunsch nach Suizidbeihilfe nun zusätzlich verunsichert Fallbeispiel verändert! Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 24 Therapeutisches Vorgehen • Sorgfältige medizinische Abklärung, Information und Behandlung (z.B. Obstipation) • Stationäre integrierte psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung – Einzel- und Systemgespräche, Antidepressiva, Spezialtherapien (Ergotherapie, Gestaltung) • Körperliche und soziale Aktivierung – Förderung Autonomie und Eigenverantwortung, Stärkung Selbstwert • Einbezug der Ehefrau – Psychoedukation und Information (betr. Psychiatrischer Patientenverfügung und Suizidbeihilfe) • Termin bei Pro Senectute vor der Entlassung (u.a. Patientenverfügung) • Weitere ambulante Begleitung durch Hausarzt und psychiat. Ambulatorium Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 25 Ausgangsbedingungen Biopsychosoziale Faktoren Lebensgeschichte Existentielle Verankerungen Krise Psychische Krankheit (ICD-10) «Psychisch gesund» Selbstdestruktives Coping Auslöser Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Belastungen Ressourcen Krisen- und Krankheitskonzept Verlauf und Psychopathologie begünstigen Suizidalität Einengung Auslöser Denken und Fühlen Verhalten Situative «Antreiber» Verfügbarkeit der Mittel Psychische Krankheit (akut / chron.) mit Suizidalität Krise mit Suizidalität Suizidale Entwicklung Psychiatrie Obwalden/Nidwalden Mod. nach Neuner & Schneider, 2012 26 Das Eisberg-Paradigma bei suizidalen Krisen Suizide Suizidversuche Selbstschädigung (Affektregulation) Suizidversuche (unerkannt) Suiziddrohungen Suizidvorbereitungen Suizidpläne Suizidgedanken (aktiv, passiv) Todes- und Ruhewünsche Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 27 Suizidale Entwicklung (Kontinuitätsmodell nach Wolfersdorf, 1997) Passive Suizidalität Pause, Unterbruch im Leben, Weglaufen Todeswunsch «lieber tot sein als so weiterleben» Suizidgedanke Suizidabsicht mit / ohne Plan mit / ohne Ankündigung Suizidhandlung Psychiatrie Obwalden/Nidwalden vorbereitet durchgeführt geplant impulshaft Aktive Suizidalität Suizid als Erwägung Impuls (spontan Zwang Handlungsdruck Wunsch nach Ruhe 28 Gefühlswelt der suizidalen Menschen • Unabhängig vom Grundproblem ist die Gefühlslage geprägt von der Trias – Hilflosigkeit – Hoffnungslosigkeit – Verzweiflung • Auf der Ebene von Denken, Fühlen und Handeln besteht häufig eine erhöhte – Ambivalenz – Impulsivität – Rigidität Wunsch zu leben vs. Wunsch zu sterben kurzschlüssiges Handeln Einengung, Schwarz-Weiss-Denken P. Eich, 2011; WHO (Preventing Suicide, 2000) Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 29 Einschätzung der Basissuizidalität Aufgrund der Vorgeschichte keine Hinweise auf aktuelle Gefährdung • Frühere Suizidversuche (10% Rezidiv) – während einer stationären psychiatrischen Behandlung? • • • • • • • • Schwerwiegendes selbstschädigendes Verhalten Suizide / Suizidversuche bei nahen Angehörigen (Bezugspersonen) Kritische Jahrestage (Ereignis, Datum) Traumata, Verluste Störung der Impuls- und Aggressionskontrolle Abhängigkeitserkrankung Männliches Geschlecht Zugehörigkeit zu einer Risiko- und Randgruppe Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 30 Einschätzung der aktuellen Suizidalität Dynamische, prozesshafte Analyse der aktuellen Gefährdung • Vorliegen einer akzentuierten Krise - Veränderungskrisen: Beziehungsprobleme, Trennung und Partnerverlust - Traumatische Krisen - Existenzbedrohende Situation • Kritische Phasen bei psychischen Erkrankungen (Rezidiv, Urlaub, Entlassung) • Vorliegen von passiven bzw. aktiven Suizidtendenzen – Gedankliche Beschäftigung mit Ruhewünschen, Sterben, Tod, Suizid – Rollenvorbilder in prägenden sozialen Gruppen • Zugang zu Suizidmitteln (mit Bezug auf die Suizidphantasien) • Suizidversuche in der unmittelbaren Vorgeschichte • Erhöhte Suizidalität durch spezifische Psychopathologie Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 31 Kontakt: Dr.med. Conrad Frey Psychiatrie OW/NW Kantonsspital 6060 Sarnen 041 666 43 11 [email protected] Psychiatrie Obwalden/Nidwalden 32