Program as PDF - Staatskapelle Dresden

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SAISON 2015 2016
23. / 24. /25.10.15
3. SYMPHONIEKONZERT
Alan
GILBERT
ZIMMERMANN
Frank Peter
Ihre Premiere.
Besuchen Sie den Ort, an dem Automobilbau einer perfekten Komposition
SAISON 2015 2016
23. / 24. /25.10.15
3. SYMPHONIEKONZERT
folgt: Die Gläserne Manufaktur von Volkswagen in Dresden.
Alan
GILBERT
ZIMMERMANN
Frank Peter
+49 351 420 44 11
Besucherservice
glaesernemanufaktur.de
SEHR GEEHRTES KONZERTPUBLIKUM,
LIEBE MUSIKFREUNDE
M
it Giuseppe Sinopoli zog die Staatskapelle Dresden
1992 aus dem Großen Saal des Kulturpalastes wieder in
die Semperoper. Einer der Gründe war die schwierige
Akustik. Es mag zutreffen, wenn unter Musikern gesagt
wird, das wohl wichtigste Orchesterinstrument sei der
Raum, in dem und mit dem das Orchester musiziert.
Die musikalische und akustische Orientierung eines jeden
Orches­termusikers an seiner räumlichen Position, die Vertrautheit und
das Vertrauen in das akustische Ergebnis bilden die Grundvoraussetzung für das perfekte Verschmelzen zu einem homogenen Gesamtklang. Diesem Ideal fühlt sich die Staatskapelle seit Generationen eng
verbunden. Nicht selten klingen die großen Orchester der Welt in ihren
eigenen Sälen am besten. Die exzellente Akustik der Semperoper, auch
als Ort für symphonische Konzerte, ist ein ganz besonderer Glücksumstand, da Theaterbauten akustisch meist den Konzerthäusern
hinterher stehen.
Bei einer kürzlich erfolgten Umfrage unter unserem Konzertpublikum wurden drei Gründe am häufigsten für einen Besuch in der
Semperoper genannt: Qualität und Klang der Staatskapelle, Atmosphäre und Ambiente des Raums sowie Austausch und Begegnungen
mit anderen Konzertbesuchern. An den ersten beiden Ergebnispunkten haben wir noch einmal gearbeitet und sind mehr als glücklich, Ihnen unser neues Konzertzimmer vorstellen zu dürfen.
Dieser wunderbar gestaltete Raum wird nun unsere neue
musikalische Heimat sein und wir werden uns mit ihm und in ihm
entwickeln – und dies stets im Streben nach dem optimalen Klang
unseres Orchesters.
Im Namen der Staatskapelle sowie von Christian Thielemann
möchte ich allen danken, die ihren Anteil an diesem wunderbaren
Ergebnis haben, voran dem Freistaat Sachsen und damit auch Ihnen,
verehrtes Publikum, dass die Mittel für diese Investition zur Verfügung gestellt wurden, aber auch Jan Seeger und der gesamten Technischen Direktion unseres Hauses. Herausheben möchte ich zudem
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Dr. Kay Busch, den Projektleiter und Konstrukteur, sowie die Produktionsfirma Suono Vivo aus Padua, die ihrem Ruf als international
führendes Unternehmen mit unserem neuen Konzertzimmer alle Ehre
gemacht hat.
Nun aber zur Hauptsache, der Musik.
Wir wünschen Ihnen einen genussreichen Abend mit Alan Gilbert, Frank
Peter Zimmermann und Ihrer Staatskapelle im neuen Konzertzimmer der
Semperoper.
Jan Nast
ORCHESTERDIREK TOR DER
S Ä C H S I S C H E N S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N
3. SYMPHONIEKONZERT
3. SYMPHONIEKONZERT
FR EITAG
2 3.10.15
20 UHR
S A M STAG
2 4.10.15
11 U H R
SO N N TAG
2 5.10.15
20 UHR
PROGRAMM
S E M P ER O P ER
DRESDEN
Alan Gilbert
György Kurtág (*1926)
Dirigent
»Grabstein für Stephan« op. 15c
für Gitarre und Instrumentengruppen
Frank Peter Zimmermann
Violine
Markus Henn
Co-Dirigat (Kurtág)
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975)
Violinkonzert Nr. 2 cis-Moll op. 129
1. Moderato
2. Adagio
3. Adagio. Allegro
PAU S E
Pjotr I. Tschaikowsky (1840-1893)
Musikalische Psychogramme
Die Zeit scheint still zu stehen in jenem berückenden musikalischen
»Grabstein«, den Capell-Compositeur György Kurtág einst zum Gedenken
an einen Freund schrieb: ein Werk der Erinnerung, der leisen Wehmut,
der Trauer. In dramatische Klänge kleidet Tschaikowskys Vierte die
Schicksalshaftigkeit des Daseins, und wie diese Symphonie changiert
auch Schostakowitschs zweites Violinkonzert zwischen Fröhlichkeit und
Todesnähe – ein bekenntnishaftes wie symbolträchtiges Spätwerk.
Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36
1. Andante sostenuto – Moderato con anima
2. Andantino in modo di canzona
3. Scherzo. Pizzicato ostinato – Allegro
4. Finale. Allegro con fuoco
Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn
im Foyer des 3. Ranges der Semperoper
Aufzeichnung durch MDR Figaro
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3. SYMPHONIEKONZERT
Alan Gilbert Dirigent
S
eit 2009 ist der US-Amerikaner Alan Gilbert der Musikalische
Direktor der New York Philharmonic und in dieser Position der
erste gebürtige New Yorker. Seine weltweiten Engagements
führen ihn u. a. zu den Berliner Philharmonikern, dem Royal
Concertgebouw Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra
und dem Cleveland Orchestra, dem er sich nach seiner Zeit als Assistent
von Christoph von Dohnányi 1995 bis 1997 besonders verbunden fühlt.
Seit mehr als zehn Jahren ist er zudem Erster Gastdirigent des NDR Sinfonieorchesters Hamburg und pflegt weiterhin seinen jahrelangen engen
Kontakt zum Royal Stockholm Philharmonic Orchestra. Bei den New
York Philharmonic initiierte er mit den Residencies for Composers und
Leading Performing Artists jährlich wechselnde Reihen. In der vergangenen Spielzeit erarbeitete er in New York zudem ein »Nielsen Project«
und dirigierte immer wieder auch konzertante Opernaufführungen, u. a.
Ligetis »Le Grand Macabre«, Janáčeks »Das schlaue Füchslein« sowie
Strawinskys Ballettmusik »Petruschka«. Mit der 2009 eingeführten
Programmreihe CONTACT! legt Gilbert außerdem ein besonderes
Augenmerk auf die Förderung und Etablierung zeitgenössischer Musik
und Komponisten. Auch im Opernbereich gilt Gilbert als internationale
Größe: Regelmäßig übernimmt er die Musikalische Leitung von Inszenierungen auch jenseits des etablierten Repertoires in Amerika und
Europa, u. a. an der Los Angeles Opera, der Oper Zürich, der Königlich
Schwedischen Oper sowie an der Santa Fe Opera. An der Metropolitan
Opera debütierte er 2008 mit John Adams »Doctor Atomic« und erhielt
mit der DVD-Produktion einen Grammy Award. 2010 ernannte man ihn
zum Ehrendoktor des Curtis Institute of Music und wurde 2014 in die
American Academy of Arts & Sciences gewählt. Darüber hinaus erhielt er
2015 die Foreign Policy Association Medal. An der Juilliard School ist er
Direktor im Fach Dirigieren und Orchesterstudien und hält den William
Schuman Lehrstuhl in Musical Studies. 2015 sprach er in der Royal
Philharmonic Society in London über »Orchester im 21. Jahrhundert«.
Nach einem Gastspiel mit den New York Philharmonic im Rahmen der
Dresdner Musikfestspiele debütiert Alan Gilbert im 3. Symphoniekonzert
der Saison 2015/2016 bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
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3. SYMPHONIEKONZERT
Frank Peter Zimmermann
Violine
G
eboren 1965 in Duisburg, begann Frank Peter Zimmermann
als Fünfjähriger mit dem Geigenspiel und gab bereits im
Alter von zehn Jahren sein erstes Konzert mit Orchester.
Nach Studien bei Valery Gradow, Saschko Gawriloff und
Herman Krebbers setzte 1983 sein kontinuierlicher beruflicher Aufstieg ein. Seither gastiert er bei allen wichtigen Festivals und
musiziert mit großen Orchestern und renommierten Dirigenten weltweit.
Er brachte drei Violinkonzerte zur Uraufführung: das Violinkonzert »en
sourdine« von Matthias Pintscher mit den Berliner Philharmonikern und
Peter Eötvös (2003), das Violinkonzert »The Lost Art of Letter Writing«
(2007) mit dem Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung des
Komponisten Brett Dean, der für diese Komposition 2009 den Grawemeyer Award erhielt, sowie das Violinkonzert Nr. 3 »Juggler in Paradise«
von Augusta Read Thomas mit dem Orchestre Philharmonique de Radio
France, dirigiert von Andrey Boreyko (2009).
Neben seinen zahlreichen Orchesterengagements ist Frank Peter
Zimmermann regelmäßig als Kammermusiker auf den bedeutenden
Podien der Welt zu hören. Zu seinen regelmäßigen Kammermusikpartnern zählen die Pianisten Piotr Anderszewski, Enrico Pace und Emanuel
Ax. Gemeinsam mit dem Bratschisten Antoine Tamestit und dem
Cellisten Christian Poltéra gründete er das Trio Zimmermann. Konzerte
führen das Ensemble u. a. nach Amsterdam, Brüssel, Köln, London, Lyon,
Mailand, München, Paris und Wien sowie zu den Salzburger Festspielen,
dem Edinburgh Festival, dem Schleswig-Holstein Musik Festival und
dem Rheingau Musik Festival. Frank Peter Zimmermann erhielt zahlreiche Preise und Ehrungen, darunter den Premio del Accademia Musicale Chigiana in Siena (1990), den Rheinischen Kulturpreis (1994), den
Musikpreis der Stadt Duisburg (2002), das Bundesverdienstkreuz (2008)
sowie den Paul-Hindemith-Preis der Stadt Hanau (2010). Zudem hat er
eine eindrucksvolle Diskografie eingespielt. Er nahm nahezu alle großen
Violinkonzerte von Bach bis Ligeti sowie zahlreiche Kammermusikwerke
auf. Seine Aufnahmen wurden weltweit mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Der erste Teil seiner Aufnahme sämtlicher Violinkonzerte von
Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Kammerorchester des Bayerischen
Rundfunks erschien im Februar 2015.
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3. SYMPHONIEKONZERT
György Kurtág
* 19. Februar 1926 in Lugoj, Rumänien
DIE VERBINDUNG VON
RAUM UND ZEIT
Zu György Kurtágs »Grabstein für Stephan«
»Grabstein für Stephan« op. 15c
für Gitarre und Instrumentengruppen
G
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1978-79, revidiert 1989
Oboe, Klarinette in Es,
Bassklarinette, 3 Hörner,
2 Trompeten, 2 Posaunen,
Pauken, Schlagzeug, Harfe,
Celesta, Harmonium (auch
Cembalo), Pianino (mit Pedal
»Supersordino«), Zymbal,
Gitarre Solo, 3 Whistles
(Flatterzunge), 3 Horn-Mundstücke, 3 Peskó-duda (AlarmSignal), Streicher
U R AU F F Ü H R U N G
26. Oktober 1989 in Szeged
DAU E R
ca. 9 Minuten
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rabsteine stiften Erinnerung. Sie ragen auf im Fluss der
Zeit, sind Mahnmale des Abschieds und geben eine Ahnung
davon, wie es wäre, wenn das Diesseitige für einen kurzen
Moment vom Jenseitigen erfasst würde. Grabsteine sind
Mittler einer Raum- und Zeitgenossenschaft. Wo sie stehen,
liegen die Reste einer fortwirkenden Zeit, ist das einstmals geknüpfte
Band nicht zerrissen. Resonanzen werden frei, im Raum sich öffnende
Spuren, und machen einen Pfad kenntlich, dessen Ende nicht absehbar
ist. Die Frage nach dem Woher lässt sich aus der Perspektive der Gegenwart besonders deutlich vernehmen. Bestimmt von Schwingungen des
Vergangenen führt sie zurück, was im Entstehen bereits zerfiel. Was
kann man halten, was nicht zu halten ist? Was weiterführen, was längst
schon untergegangen ist? Zeit für einen kurzen Augenblick einzufangen,
sie anzuhalten, ist nichts als pure Illusion – eine Illusion aber, ohne die
der Mensch nicht Mensch wäre. Der Wunsch nach einem Innehalten und
Rückblick ist seiner Natur ebenso immanent wie sein Drang nach unablässigem Fortschritt. Und je schneller die Rastlosigkeit davonjagt, sich
geradezu überschlägt, desto näher scheint ein Punkt erreicht, von dem
aus Ruhe in gleichwohl reizbarer, entzündeter Intensität ausgeht. Unter
der Oberfläche des Stillstands rumort es, ist eine subkutane Spannung
spürbar, die das Verhauchen von Zeit als existentielle Erfahrung im
menschlichen Gedächtnis speichert.
»…glühend von emotionaler Intensität«
Gut möglich, dass dieser Moment im Schaffen von György Kurtág essentielle Bedeutung hat und der Punkt äußerster Konzentration und Verdichtung das Ziel ist, zu dem seine Musik hindrängt. Kurtágs Bündelung des
musikalischen Kräftestroms kennt vor allem die Bewegung hin zu einem
3. SYMPHONIEKONZERT
György Kurtág
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Fluchtpunkt, der die eingehenden Impulse zu narkotisieren scheint,
um sie auf diese Weise unterschwellig in Spannung zu halten. »Energie
ist für mich Reserve von Kraft«, hat Kurtág einer seiner Schülerinnen
einmal gesagt. Und tatsächlich, Potenz in Reserve zu halten und Kraft
noch im Augenblick ihres Vergehens nicht aufzugeben – das sind für
Kurtág entscheidende Wegmarken in seinem kompositorisch-musikalischen Verständnis. Ungewohnt eindeutig ergänzt er sein Bekenntnis:
»Mein Erzfeind ist die Dynamik«. Der Komponist lässt sich auf keine
Kompromisse ein, er entwirft ein nach innen gerichtetes Hören, dem das
Spiel in auftrumpfendem Klangrausch suspekt ist. Treffend beschreibt
Hartmut Lück seine Musik: »Sie ist zerbrechlich, schutzlos, wie unbeholfen tastend durchs Weglose, schwankend zum Rand des Verstummens
hin – aber dabei glühend von emotionaler Intensität.« Kurtágs Musik
flieht vor äußerer Zudringlichkeit, sie deutet an, umreißt, was sie ins
Visier nimmt, gleitet über in die Sphäre eingehüllter Erregung. Vor allem
entspricht sie einem Leben, das sich selbst zu einer Kette aus Impulsen
des Flüchtens fügt. Geboren in Lugoj im heutigen Rumänien, zieht es ihn
an die Liszt-Musikakademie in Budapest, um hier Béla Bartók aufzusuchen, der jedoch frühzeitig verstirbt. Dafür lernt er einen jungen Mann
kennen, dessen Verbundenheit zu ihm als Freund und Kollege ein Leben
lang währen wird: Er trifft auf György Ligeti, der sich ebenfalls in die
ungarische Hauptstadt aufgemacht hat, um Bartók zu begegnen. Ligeti
erinnert sich: »Ich traf György Kurtág zum ersten Male im September
1945, als wir beide die Aufnahmeprüfung in Sándor Veress‘ Kompositionsklasse an der Franz-Liszt-Musikhochschule in Budapest machten.
Er war 19 Jahre alt, ich 22. In jenen Tagen, nur wenige Monate nach
Kriegsende, herrschte in Budapest eine große Knappheit an Lebensmitteln und Wohnungen: Etwa drei Viertel der Häuser der Stadt lagen
in Ruinen. So war es für Leute, die von auswärts nach Budapest kamen,
fast unmöglich, ein Bett zum Schlafen zu finden – ein eigenes Zimmer
zum Studium oder gar ein Klavier waren unerfüllbare Träume.« Dennoch
zieht es beide in die ungarische Hauptstadt, wo das kulturelle Leben nach
Ende des Krieges wieder zu pulsieren beginnt, die Künste aufblühen
und sich in intellektuellen Energieschüben freisetzen. Ein schmales Zeit­
fenster öffnet sich und vermittelt eine Ahnung von Aufbruch, Freiheit und
Selbstbestimmung. Die Lücke des freien Denkens wird jedoch jäh durch
die kommunistische Diktatur geschlossen. Sie reicht indes, um sich ideologisch nicht vereinnahmen zu lassen, wie sich Ligeti entsinnt: »Kurtág
und ich waren angezogen und beeinflusst von diesem intensiven künstlerischen und literarischen Leben. Trotz der schlimmen Erfahrungen
während der Nazi-Zeit waren wir beide von jugendlichem Optimismus
erfüllt, voller Hoffnung auf eine moderne ungarische Kultur. Beide waren
3. SYMPHONIEKONZERT
an Rumänien gefallen waren, beide gingen wir in rumänisch-sprachige
Gymnasien der rumänischen Kultur, in unseren Gefühlen und künstlerischen Vorstellungen stark von Frankreich angezogen.« Zumindest
für Kurtág scheint die Liebe zur französischen Kultur den Weg vorzugeben. Nach dem Volksaufstand in Ungarn im Herbst 1956 zieht er nach
Paris und besucht Kompositionskurse bei Messiaen, Milhaud und Max
Deutsch. In jene Zeit fällt Kurtágs Auseinandersetzung mit einem Meister
des komprimierten Stils: Anton Webern. Dessen Stücke in aphoristischer
Kürze werden für Kurtág zum Modellfall kompositorischer Verknappung
und Intensivierung. Weiteren Einfluss auf seine Entwicklung in Paris
nimmt die ungarische Psychologin Marianne Stein, die ihn gleichermaßen zu Experimenten mit musikalischen Mikroformen ermuntert (»nur
zwei Töne verbinden«), ihn inspiriert und aus einer schweren Schaffenskrise herausführt.
Das Versunkene in der Sphäre der Vergegenwärtigung
Partiturseite aus »Grabstein für Stephan«
wir Bartók-Anhänger und sahen in Bartóks Musik die Grundlage für
eine weitere Entwicklung eines neuen, chromatisch-modalen musikalischen Idioms, das international sein sollte und dennoch in der ungarischen Tradition verwurzelt. Unsere Freundschaft vertiefte sich, als wir
entdeckten, dass wir nicht nur gemeinsame musikalische Ideen teilten,
sondern auch die gleichen politischen Ansichten hatten (prononciert linksintellektuelle Ansichten, doch nicht konform mit dem offiziellen kommunistischen Gedankengut) und aus ähnlichen familiären Verhältnissen
kamen: aus ungarisch-jüdischen (in Kurtágs Fall nur halb-jüdischen)
intellektuellen Familien, die an die ungarische Kultur assimiliert waren.
Gemeinsam war uns noch eine andere kulturelle Erfahrung: Beide kamen
wir aus Gegenden des alten Ungarns, die nach dem Ersten Weltkrieg
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Wenn man will, steckt in der Formel »nur zwei Töne verbinden« Kurtágs
ganzes musikalisches Glaubensbekenntnis. Der sensible Moment des
Übergangs wird für seine Musik zum neuralgischen Punkt, aus dem
der notwendige Sprung gleichsam seine geschützte Sphäre verlässt und
sich einer gefährdeten Öffnung preisgibt. »Nur zwei Töne verbinden« –
das meint auch eine kompromisslose Reduzierung hin zur kleinsten
sozial-kommunikativen Zelle, zu einer Ich-Du-Beziehung auf engstem
Raum, in der das Klima weitgehend von Vertraulichkeit bestimmt wird.
Vielleicht muss man sich in Kurtágs Beziehung zu Marianne Stein eine
vergleichsweise Konstellation vorstellen. Die Freundschaft, die aus der
Verbindung erwächst, schließt Steins Ehemann Stephan ein, an den
Kurtágs op. 15c erinnert. In einem Interview hat der ungarische Dirigent
Zoltán Peskó, der Kurtág bereits aus den Anfängen seines Musikstudiums 1953 kennt, über dessen Werk Auskunft gegeben: »›Grabstein‹
ist für Stephan Stein geschrieben, er war Sänger und der Ehemann von
Marianne Stein, die vermutlich eine der wichtigsten Personen im Leben
von Kurtág ist. Sie führte dort eine Art literarischen Salon, als er 1957
in Paris war. Marianne Stein hat Kurtág sehr geholfen, seinen Weg zu
entdecken. Jedenfalls hatten wir das Gefühl, dass Kurtág auch äußerlich
als völlig anderer Mensch aus Paris zurückgekommen ist.« Gefragt über
die ungewöhnlichen Geräuscheffekte in Kurtágs »Grabstein für Stephan«
antwortet Peskó: »Ich kam 1989 einmal an einem Sonntagnachmittag
mit Kurtág nach einer Vorstellung von ›Luisa Miller‹ aus der Mailänder
Scala – Sie wissen, dieses Finale mit Luisas Tod und dem leisen
Ausklang –, und draußen begegnete uns ein Menschenmeer aus Fans
3. SYMPHONIEKONZERT
des AC Milano, deren Mannschaft gerade den Pokal gewonnen hatte.
Es waren Tausende von Fans, mit billigen Hupen aus Plastik und Trillerpfeifen. Ihr Jubel hallte durch die große Kuppel der Galerie zwischen
dem Dom und der Scala und schwoll an bis zu einem ohrenbetäubenden,
unerträglich vulgären Geräusch. Kurtág meinte damals, dass er so etwas
gerne in eine Komposition einbauen würde, und ich habe ihm dann bei
einem fliegenden Händler drei solcher Plastik-Hupen gekauft. Deren seltsames Geräusch wurde in ›Grabstein‹ zum Zitat, die Solo-Gitarre spielt
davor und danach ganz einfache, ausklingende Arpeggi – ein größerer
Kontrast in Lautstärke und Ausdruck ist kaum vorstellbar.« Zu diesem
Zeitpunkt liegt das Werk für sechs Instrumente vor, Kurtág hat es bereits
1978 geschrieben. 1989 bearbeitet er es für größere Besetzung. Er
entwickelt eine Raummusik mit einem Wechselspiel von Nähe und Weite
auf unterschiedlichen Ebenen. Entfernung, so könnte man sagen, wird
ent-fernt, sie schmilzt zusammen, überwindet Distanzen. Was sichtbar
wird, ist ein Abstand, bei dem ein Verstorbener durchaus nah, vielleicht
sogar omnipräsent sein kann – so wie das, was von weitem tönt, nicht
unbedingt schwächer klingen muss. Das Werk für Gitarre und Instrumentengruppen ist ein um Vergänglichkeit kreisender Tombeau, der in
der Instrumentalmusik nichts weniger als einen musikalischen Grabstein bezeichnet (franz. le tombeau für Grabmal). Die Gattung ist mit der
Lautenmusik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts verbunden,
was den Einsatz der Gitarre zumindest teilweise erklärt. Das neunminütige Stück beginnt und endet mit leisen Tönen auf leeren Gitarrensaiten.
Dazwischen entwickelt sich ein ruhiger Trauermarsch im Gestus Gustav
Mahlers mit eingestreuten wütenden Aufschreien, in denen das Private
zum spektakulären Klangerlebnis sich weitet. Man hat das Gefühl, als
zerstörten die Ausbrüche als verzweifelte Schreie jegliches Musizieren
und Gedenken – und das mit voller Absicht, da man dem Geheimnis des
Lebens und Sterbens nicht anders beizukommen vermag. Am Ende steht
ein lange nachhallender Bläserton – »der schönste und tiefste Bläserklang
des Ensembles, vielleicht eine Singstimme/kann auch vom Publikum
kommen«, wie der Komponist in der Partitur vermerkt. Kurtágs Äußerung
liefert einen Hinweis, wie nahe er den instrumentalen Klang zum Schluss
an den des Menschen heranzuführen gedenkt. Die Erinnerung an einen
Menschen schwingt so tief nach, so lange der Mensch, der sich an ihn
erinnert, lebt. Erinnerung ist Leben. Sie holt das Versunkene in die
Sphäre einer Vergegenwärtigung – wenn auch nur für wenige Minuten.
Diese Zeit aber reicht aus, um sie restlos mit einer raumgreifenden
Verkörperung zu füllen, in der der Erinnerungsstrom zum Bewusstseinsstrom wird und Zeit und Raum verbindet.
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ANDRÉ PODSCHUN
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Was bleibt vom Menschen? Ein Zeichen vielleicht, das er gesetzt, eine
Botschaft, die er weitergereicht hat. Was hat er getan zeit seines Lebens?
Er hat Fragmentarisches geschaffen, er hat Spiele gespielt, wenn es hoch
kommt, Zeichen und Botschaften hinterlassen. Was bleibt uns angesichts
des Todes anderer? Wir können uns an einen Menschen erinnern, können
ihm ein Grabmal als Zeichen seiner Existenz setzen, können ihm mit einer
nachträglichen Botschaft die Reverenz erweisen.
György Kurtág schafft sein Werk vor dem Hintergrund der Vergänglichkeit, der Beschränktheit, vielleicht der Sinnlosigkeit des menschlichen
Lebens. Er prägt Zeichen, Münzen als Fährgeld für Charon. Er fixiert die
Spuren der eigenen Existenz und derjenigen anderer, Lebender und Toter.
»Zeichen, Spiele und Botschaften« heißen seine Werke, »Omaggio a Luigi
Nono«, »Drei alte Inschriften«, »Grabstein für Stephan« oder »Stele«. Relativ
klein ist sein Œuvre, ausgesprochen kurz sind zahlreiche seiner Stücke,
vorläufig Abgeschlossenes steht neben Fragmentarischem, Offenem, Weiterwucherndem. Unter der Kategorie der Ewigkeit ist ohnehin alles Stückwerk.
Die Stücke und Splitter aber bergen eine ungeheure Kraft und gleichzeitig
eine ungeschützte Sensibilität. Sie stellen sich nackt zur Schau, sie geben
auf kleinstem Raum alles, sie sind die Existenz selbst, sie verweisen auf die
fundamentale Tragik der condition humaine: »Ecce Homo«.
PETER BITTERLI
3. SYMPHONIEKONZERT
Dmitri Schostakowitsch
* 25. September 1906 in Sankt Petersburg
† 9. August 1975 in Moskau
»REDUKTION, KONZENTRATION,
ÖKONOMIE DER MITTEL«
Zu Schostakowitschs zweitem Violinkonzert
Violinkonzert Nr. 2 cis-Moll op. 129
1. Moderato
2. Adagio
3. Adagio. Allegro
»D
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1966/67
2 Flöten, 2 Oboen,
2 Klarinetten, 3 Fagotte,
4 Hörner, Pauken,
Schlagzeug, Violine,
Streicher
WIDMUNG
dem Geiger David Oistrach
ie meisten meiner Symphonien sind Grabdenkmäler. Zu
viele unserer Landsleute kamen an unbekannten Orten
um … Ich würde gern für jeden Umgekommenen ein
Stück schreiben. Doch das ist unmöglich. Darum widme
ich ihnen allen meine gesamte Musik.« Schostakowitschs
Anteilnahme am Schicksal der Menschen in der Sowjetunion liest sich
als empathisches Bekenntnis in Zeiten großer Umbrüche. Der ideologischen Parole, die Menschen in eine bessere Zukunft zu führen, steht
ein Unterdrückungsstaat entgegen, der vor nichts zurückschreckt,
um seine erklärten Ziele durchzusetzen. Auf Missstände reagiert man
lapidar mit dem Hinweis, dass in der Phase der Umwälzung das Einzelschicksal für das Wohl des Gemeinwesens zurückzustehen habe und ein
Transformationsprozess immer auch Auswüchse produziere, mit denen
man zu leben habe. Der Gedanke freilich ist in der Theorie schnell
formuliert, während er in der Praxis oftmals verheerende Folgen zeitigt.
Die Willkür der Machthaber macht Andersdenke gefügig und führt
diese in perfider Weise ihre Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit vor
Augen. Was zählt für einen Zyniker schon ein Menschenleben, wenn es
um eine menschheitliche Idee geht? Vor diesem Hintergrund stellt sich
die Frage nach dem Tod nicht nur von der kreatürlich hinfälligen Seite,
ist Schostakowitsch überzeugt: »Lebenswichtig war etwas anderes. Wie
gefällt dein Opus dem Führer? Ich betone: lebenswichtig. Denn es ging
buchstäblich um Leben oder Tod, nicht etwa im übertragenen Sinne.
Das muß man festhalten.«
U R AU F F Ü H R U N G
26. September 1967 mit David
Oistrach, der Moskauer Philharmonie und dem Dirigenten
Kirill Kondraschin im Großen
Saal des Moskauer Konservatoriums
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DAU ER
ca. 30 Minuten
Aufbruch in eine neue Zeit
Aus eigner Nähe erlebt Schostakowitsch die epochalen Umwälzungen
seines Landes, die in nachrevolutionärer Zeit vor allem mit einem
Namen verbunden sind: Josef Stalin. Viele der Kollegen und Freunde
Schostakowitschs fallen dem Zwang zu Kollektivierung und Industria­
lisierung zum Opfer, als es unter Einsatz von Millionen Menschen
3. SYMPHONIEKONZERT
darum geht, eine neue Zeit aufzubauen. Die Befürchtung, nach einem
falschen Wort von den Schergen des »großen Gärtners« in Straflager
verschleppt, gefoltert und getötet zu werden, schafft eine Atmosphäre
der Einschüchterung und des Misstrauens, die von einem allgegenwärtigen Terror noch befeuert wird. Der Kampf »gegen Bürokratismus
und Parteihierarchie, für die Forderung auf Einblick und demokratische Kontrolle, für das Mitwirken der Arbeitenden in der Politik und
für die Fortsetzung der kulturellen Revolution« (Peter Weiss) ist längst
verloren – errichtet stattdessen eine Erziehungsdiktatur, deren Kult um
eine Führergestalt vielleicht ihr spektakulärstes Merkmal ist. Jene aber,
die eine Heiligsprechung Stalins maßgeblich deshalb betreiben, um das
System zu stützen, bezahlen paradoxerweise oft mit ihrem Leben, und
nicht selten blendet sie ihr Idealismus noch in den letzten Stunden – für
Schostakowitsch gewiss eine seiner bittersten Erfahrungen. Stalin, so
der Komponist in seinen Erinnerungen, sei eine Spinne gewesen, die
jeden, der in die Nähe ihres Netzes geriet, umbrachte. Spätestens mit
dem unsignierten Leitartikel »Chaos statt Musik«, der am 28. Januar
1936 in der Prawda erscheint, ist auch Schostakowitsch existenziell
gefährdet. Seine Oper »Lady Macbeth von Mzensk« beleidige das
Publikum mit Lärm und Kakophonie, Gepolter und Gekreische, muss er
dort lesen: Alles sei grob, primitiv und trivial, eine »degenerierte, grelle
und neurasthenische Musik«. In Zeiten der Säuberungen reicht das aus,
um in die Keller der gefürchteten Lubjanka geworfen zu werden, deren
Mauern alle Geräusche dämpfen. Noch 1948 wütet das Zentralkomitee
der Kommunistischen Partei in einer Resolution gegen die Ästhetik
der »bürgerlichen Dekadenz«, gegen »formalistische, volksfremde
Tendenzen«, und nennt als deren Exponenten unter anderem auch
Schostakowitschs Namen. Bedrohlich ist diese ideologische Rhetorik
allemal. Tichon Chrennikow, einer der berüchtigtsten Bluthunde Stalins
im Komponistenverband, brüllt während eines Vortrages über sowjetische Komponisten, man werde Schostakowitsch mit dem Daumennagel
zerquetschen wie eine Wanze. Der »Gottesnarr«, wie Solomon Wolkow
ihn nennt, bewegt sich auf dünnem Eis. Zudem machen seine Erfolge im
Westen Stalin und seine Handlanger nur noch nervöser.
»Beim Komponieren dachte ich an Sie«
Dmitri Schostakowitsch Dresden 1960
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Schostakowitschs erstes Violinkonzert steht im Schatten der Ereignisse
des Jahres 1948. Begonnen im Juli 1947 zieht sich die Komposition
bis zum März 1948 hin – und fällt genau in die Zeit, als sich Schostakowitschs Gefährdung durch die Resolution des Zentralkomitees der
Kommunistischen Partei vom 10. Februar 1948 neuerlich zuspitzt.
3. SYMPHONIEKONZERT
David Oistrach, dem das Werk
zugeeignet ist, rät von einer
Aufführung ab. Und so bleibt
das Stück sieben Jahre liegen,
bis es am 29. Oktober 1955 in
Leningrad vom Widmungsträger
und den Leningrader Philharmonikern unter der Leitung von
Jewgeni Mrawinsky uraufgeführt
wird – gut zweieinhalb Jahre
nach Stalins Tod und kurz vor
Ende der Tauwetter-Periode.
Schostakowitschs Verbundenheit
zu dem Geiger David Oistrach
reicht indes bis in das Jahr 1935,
Dmitri Schostakowitsch und
als beide in einer Delegation
David Oistrach Moskau 1969
russischer Künstler die Türkei
bereisen. Aus anfänglicher Bekanntschaft entwickelt sich eine Freundschaft, die zwölf Jahre nach der Uraufführung des ersten Violinkonzerts
an Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung zunimmt. 1967 ist
Oistrach an der Uraufführung der »Sieben Romanzen nach Worten von
Alexander Blok« beteiligt und zeigt sich von der Musik tief beeindruckt.
Auch umgekehrt könnte der Respekt nicht größer sein, wenn Schostakowitsch im gleichen Jahr an den Geiger schreibt: »Lieber Dodik! Ich
habe ein neues Violinkonzert beendet. Beim Komponieren dachte ich
an Sie … Obwohl es mir furchtbar schwer fällt zu spielen, möchte ich
Ihnen allzugern das Konzert vorführen. Wenn dieses Konzert bei Ihnen
keinen Widerspruch hervorruft, werde ich sehr glücklich sein. Und
wenn Sie es selbst spielen werden, dann wird mein Glück so groß sein,
dass es weder ein Märchen fassen noch eine Feder beschreiben kann.
Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Ihnen das Werk widmen.«
Gedacht ist Schostakowitschs Ansinnen als Geschenk zu Oistrachs
60. Geburtstag, doch verrechnet sich der Komponist um ein Jahr, da
der Widmungsträger erst 59 wird. Der Irrtum beschert dem Geiger ein
Jahr später Schostakowitschs Sonate für Violine und Klavier G-Dur
op. 134, nun ganz offiziell »zu Ehren des 60. Geburtstages von D[David]
F[Fedorowitsch] Oistrach«. Der Geiger ist von der Partitur des zweiten
Violinkonzerts ergriffen, worauf ihm Schostakowitsch mitteilt: »Ich
danke Ihnen für Ihre Postkarte mit der für mich so erfreulichen Nachricht. Mit Ungeduld erwarte ich das Treffen mit Ihnen. Für mich ist es
ein sehr großes Glück, dass Sie das Konzert schon einstudiert haben.«
Bei allem Überschwang der Dankbarkeit ist Schostakowitschs Briefen
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eine gewisse Zerbrechlichkeit anzumerken. Ihr spürbar gedämpfter
Ton deutet nicht zuletzt auf gravierende gesundheitliche Probleme des
Komponisten. Ende der fünfziger Jahre zeigen sich erste Lähmungserscheinungen an den Fingern, die erst später als Symptome einer
Rückenmarksentzündung diagnostiziert werden. Im Herbst 1960 stürzt
er während der Hochzeit seines Sohnes Maxim und bricht sich ein Bein,
was einen längeren Krankenhausaufenthalt nötig macht und zur Folge
hat, dass ihm fortan das Gehen schwerer fällt. Bitter resümiert er: »Ein
Leben lang hat mich die Partei gelehrt, nach vorn zu schauen, ich aber
hätte vor meine Füße blicken sollen.« Gleichzeitig nimmt die Muskelschwäche in den Händen zu. Seinem Freund Isaak Glikman schreibt
er: »Sehr langsam und nur mit Mühe, indem ich Note auf Note aus mir
herauspresse, schreibe ich ein Violinkonzert.« Im Mai 1966 erleidet
er einen Herzinfarkt, der ihm das Komponieren unmöglich macht.
Weitere Krankenhausaufenthalte werden unumgänglich, sie fallen unter
anderem in die Zeit der Uraufführung des zweiten Violinkonzerts am
26. September 1967, doch kann er immerhin die Rundfunkübertragung
des Konzerts am 19. November verfolgen, wie er Oistrach mitteilt:
»Mein Konzert klang in Ihrer Darbietung wunderbar. Ich hatte sehr
viel Freude daran. Ihnen meinen herzlichsten Dank! … Oft spiele ich
die Aufnahme meiner Blok-Lieder und das zweite Konzert ab. Und ich
denke viel daran, welch großes Glück es für mich ist, solche Interpreten
wie Sie zu haben. Ich würde Sie sehr gern recht bald sehen und im
lebendigen Klang hören, nicht über Radio oder Tonband.«
Ein Gebäude geheimnisvoller Chiffren
Die Entstehung des Werkes fällt in die Zeit des 50. Jahrestages der
Oktoberrevolution. Von den Komponisten verlangt man affirmative, bekenntnishafte Stücke, die dem Anlass Rechnung tragen. Der
Uraufführung mit Oistrach, der Moskauer Philharmonie und Kirill
Kondraschin – der übrigens vierzehn Jahre zuvor, in Stalins Todesjahr
1953, bei der Staatskapelle Dresden debütiert – ist kein großer Erfolg
beschieden. Das ist bei weitem keine Überraschung, denn die Musik
»lebt aus ihren Mikrostrukturen – darunter bleibt der Boden düster
und rätselhaft«, wie Detlef Gojowy hervorhebt. Außerdem entspricht
das Werk keineswegs den feierlichen Erwartungen der offiziellen Seite,
deren Doktrin auf Massentauglichkeit und kollektive Aufwallung setzt.
Mit seinem zweiten Violinkonzert, so Detlef Gojowy weiter, habe Schos­
takowitsch »die gebahnten Wege der damaligen Neuen Musik weit
hinter sich gelassen und sich in ein eigenes Gebäude geheimnisvoller
Chiffren zurückgezogen, deren Botschaft am Ende etwas Zeit- und
3. SYMPHONIEKONZERT
Situationsgebundenes hat: hauptsächlich in Ländern des ›realen Sozia­
lismus‹ wurde auf diesem Weg – etwa von Edison Denissow – weiterkomponiert. Zitate und Embleme wollen dabei entschlüsselt sein – auch
in der Kadenz des dritten Satzes begegnet nochmals ein Bach-Zitat, am
Schluss des zweiten Satzes wird die Stilwelt Wagners evoziert.«
Das zweite Violinkonzert leitet mit den »Sieben Romanzen zu
Gedichten von Alexander Blok« Schostakowitschs Spätwerk ein. Stilis­
tisch ist die Phase gekennzeichnet durch »Reduktion, Konzentration,
Ökonomie der Mittel: aus minimalem Material ein Großes hervortreiben. Ferner: Verzicht auf alle klangliche Opulenz, Sparsamkeit bis
zur Kargheit« (Gottfried Eberle). Im Vergleich zu seinem ›freundlicheren‹ Vorgänger, dem weitaus häufiger gespielten ersten Violinkonzert, folgt es einem introspektiven Weg, auf dem »wenn nicht Pessimismus, so doch mindestens eine gewisse Freudlosigkeit und Todesahnungen aufscheinen« (Helge Grünewald). Eine herbe, hochverdichtete
Linearität durchzieht das Werk, das ohne programmatische Spurenlegung auskommt. Der von Krankheit gezeichnete Komponist ist auf der
Suche nach Orientierung. Die körperliche Schwächung setzt ihn einem
eingeschränkten Bewegungsradius aus, in dem er nach Halt tastet.
Schostakowitsch verortet sich innerhalb der bekannten, jedoch fragilen
Bewegungsmuster neu. Zu diesem Schluss könnte man gelangen, wenn
man im einleitenden Moderato die düster klingende Achtelbewegung
der tiefen Streicher vernimmt, die von der Solovioline expressiv aufgegriffen wird – ein gleichsam bedächtiges, sich in der Folge trotzig steigerndes Treten auf unsicherem Grund. Dem eingeengten Bewegungsradius entspricht die kammermusikalisch zurückgenommene, Binnenräume ausleuchtende Orchesterbehandlung. Im Adagio, »mit seinem
schreitenden Air-Charakter ein Vorbild musikalischer Gedankenlyrik«
(Karl Schumann), beginnen die Bässe in liegenden Tönen, über denen
die Violine sich ihren Weg bahnt. Rätselhaft ist der dritte Satz, der als
Rondo angelegt ist. Trotz seiner burlesken, beschwingten Züge ist ihm
ein Agieren ohne Netz und doppelten Boden eigen. Wie oft bei Schostakowitsch übertüncht die demonstrativ zur Schau gestellte Ausgelassenheit das Gefühl ohnmächtiger Ausweglosigkeit, erscheint der geöffnete
Horizont in den Unter- und Zwischentönen gleichwohl merklich verengt.
Eine ins Positive gewendete Auflösung ist dieser Dialektik von Anfang
an nicht möglich. Das Wechselspiel von Ideologie und Individuum, von
Kollektivierung und Vereinzelung bestimmt Schostakowitschs Musik
in herausragender Weise. Der Bruch, der sich daraus ergibt, bildet die
Signatur einer ganzen Epoche.
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Michail Jurowski, einer der maßgeblichen Schostakowitsch-Interpreten weltweit, steht im Zentrum einer berühmten Musikerdynastie.
In Gesprächen mit Michael Ernst erinnert sich der 1945 in Moskau
geborene Kosmopolit, der regelmäßig am Pult der Sächsischen
Staatskapelle steht, an seine frühen Begegnungen mit den Größen
des sowjetischen Kulturlebens, an den Alltag in der Diktatur und
den Neuanfang im Westen.
Zu beziehen über die Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch
www.schostakowitsch-tage.de
ANDRÉ PODSCHUN
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3. SYMPHONIEKONZERT
Pjotr I. Tschaikowsky
* 7. Mai 1840 in Wotkinsk, Russland
† 6. November 1893 in Sankt Petersburg
»DAS BESTE, WAS ICH
GESCHRIEBEN HABE«
Tschaikowskys vierte Symphonie f-Moll
Symphonie Nr. 4 f-Moll op. 36
1. Andante sostenuto – Moderato con anima
2. Andantino in modo di canzona
3. Scherzo. Pizzicato ostinato – Allegro
4. Finale. Allegro con fuoco
»W
ENTSTEHUNG
BESETZUNG
1876 / 77
Piccoloflöte, 2 Flöten,
2 Oboen, 2 Klarinetten,
2 Fagotte, 4 Hörner,
2 Trompeten, 3 Posaunen,
Tuba, Pauke, Triangel,
Becken, Große Trommel,
Streicher
WIDMUNG
Tschaikowskys Gönnerin
Nadeshda von Meck
U R AU F F Ü H R U N G
10. Februar 1878 in Moskau
unter dem Dirigat von Nikolai
Rubinstein
26
27
DAU ER
ca. 45 Minuten
as wohl dieser Symphonie bevorstehen mag? Wird sie
in Vergessenheit geraten, nachdem ihr Schöpfer vom
Erdboden verschwunden ist? Ich weiß nicht, ich weiß
nicht, aber mit der blinden Liebe, deren auch manche
Eltern fähig sind, vermag ich in meinem letzten ›Sprößling‹ keine Schwächen zu entdecken«, vertraut sich Pjotr I. Tschaikowsky
am 30. Dezember 1877 seiner Gönnerin und Freundin Nadeshda von
Meck an, der Witwe eines vermögenden Eisenbahningenieurs. Seit
einiger Zeit schon befinden sich die Schreibenden in einem intensiven
Austausch, der die großen Themen des Lebens nicht ausspart, sie vielmehr mit aufrichtigem Ernst und allem Nachdruck berührt. Stellvertretend für ihre offene Kommunikation ist eine Frage Nadeshda von
Mecks, die sie nur wenige Tage nach Tschaikowskys Zeilen an ihn richtet:
»Haben sie jemals geliebt?« – um die Antwort gleich selbst zu geben: »Ich
glaube nicht. Sie lieben die Musik zu sehr, als dass Sie eine Frau lieben
könnten.« Es dauert, bis Tschaikowsky zehn Tage später darauf reagiert:
»Meine liebe Freundin, Sie fragen mich, ob ich die irdische Liebe kenne.
Ja und nein. Stellt man die Frage etwas anders, das heißt, fragt man, ob
ich die Fülle des Glücks in der Liebe erlebt habe, so antworte ich: Nein,
nein, nein!!! Übrigens glaube ich, dass meine Musik die Antwort darauf
gibt. Fragen Sie mich jedoch, ob ich die Macht, die unerschöpfliche Kraft
der Liebe kenne, so antworte ich: Ja, ja, ja! Unzählige Male habe ich mich
bemüht, die Qualen und die Seligkeit der Liebe in meiner Musik zum
Ausdruck zu bringen. Ob mir das gelungen ist, weiß ich nicht, das mögen
andere entscheiden. Ich teile Ihre Ansicht, die Musik sei nicht fähig, die
allumfassende Kraft der Liebe wiederzugeben, nicht. Ich bin vom Gegenteil überzeugt: Nur die Musik vermag es. Sie sagen, das könne nur in
3. SYMPHONIEKONZERT
Worten geschehen. O nein! Gerade dazu bedarf es nicht der Worte. Wo
sie versagen, erklingt die Fülle einer mächtigeren Sprache: die Musik.«
Liebe und Musik, zwischen beiden Lebenspunkten wird sich Tschaikowsky zeitlebens in emotionaler Verausgabung in einem Spannungsfeld
bewegen – und sich der einen Sphäre restlos öffnen, wo ihm die andere
den Zugang erschwert. Dabei ist es gerade die Unerfülltheit in der Liebe,
die ihn zu den intensivsten Ausdrucksmöglichkeiten in seiner Musik
verhilft. 1877 kommt es in Tschaikowskys Leben zu einem Krisenjahr.
Eine romantische Liebesbeziehung zu Josef Kotek, einem ehemaligen
Schüler am Konservatorium in Moskau und Musiker bei Nadeshda von
Meck, bahnt sich an, worauf Tschaikowsky im Januar 1877 gegenüber
seinem Bruder Modest zu sprechen kommt: »Ich bin so verliebt, wie ich
es lange nicht war … ich kenne ihn schon seit sechs Jahren. Ich habe
ihn immer gemocht und war einige Male dabei, mich zu verlieben …
Jetzt habe ich den Sprung gemacht und mich unwiderruflich ergeben.
Wenn ich stundenlang seine Hand halte und mich quäle, ihm nicht
zu Füßen zu fallen, ergreift mich die Leidenschaft mit übermächtiger
Wucht, meine Stimme zittert wie die eines Jünglings und ich rede nur
noch Unsinn.« Indes bildet die amour fou lediglich den Auftakt für weitreichende Verwicklungen, die für Tschaikowsky schließlich unerträglich
werden. Im Frühsommer 1877 erhält er Briefe von der ihm unbekannten
Frau Antonia Miljukowa, die schließlich mit Selbstmord droht, falls er
nicht zu einem Treffen mit ihr bereit ist. Das Verhängnis nimmt seinen
Lauf: Tschaikowsky gibt ihrem Drängen nach und geht sogar so weit, sie
im Juli 1877 zu heiraten, vermutlich um seine homosexuelle Neigung
durch die Ehe mit einer Frau nach außen hin zu verbergen. Doch wird
seine Situation dadurch immer prekärer. Es dauert nicht lange, bis das
Verhältnis nach drei Monaten so zerrüttet ist, dass Tschaikowsky keinen
anderen Ausweg weiß, als in das nächtliche Wasser der Moskwa zu
steigen. Schenkt man der Anekdote Glauben, kehrt er allerdings wieder
zurück und erklärt seinen Zustand mit einem versehentlichen Fall in den
Fluss. Vor allem scheint Tschaikowsky an der Ausweglosigkeit seiner
Lage zu leiden, sie verlangt ihm ein gehöriges Maß an Selbstverleugnung
ab. In einem späteren Brief gesteht er: »Kaum war die Trauung vollzogen,
kaum war ich mit meiner Frau allein geblieben und kaum hatte ich
erkannt, dass uns das Schicksal untrennbar verbunden hatte, da begriff
ich plötzlich, dass ich nicht einmal Freundschaft, sondern im wahrsten
Sinne des Wortes Widerwillen gegen sie empfand. Der Tod schien mir
der einzige Ausweg, doch Selbstmord kam nicht in Frage.« Tschaikowsky fühlt sich im Bann des Schicksals; ihm wird klar, dass er seinem
Verhängnis nicht entrinnen kann – was sich auch darin äußert, dass seine
Ehe nie geschieden wird.
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Pjotr I. Tschaikowsky um 1888
3. SYMPHONIEKONZERT
Tschaikowsky (rechts) und sein Schüler Josef Kotek, Moskau 1877
Die Flucht in eine bürgerliche Entscheidung
Mit der Komposition der vierten Symphonie beginnt er im Winter
1876 / 77. Vieles spricht dafür, das Werk als Echo seiner düsteren
Konstitution zu deuten. Tschaikowsky selbst gibt einen Hinweis darauf:
»Vorigen Winter, als diese Symphonie geschrieben wurde, war ich
sehr schwermütig, und sie ist ein Widerhall dessen, was ich damals
empfunden habe.« Bei Beethoven hatte das Schicksal in der Fünften
noch angepocht und sich ankündigt, bevor es eintrat. Bei Tschaikowsky
scheint es über den Komponisten regelrecht hereinzubrechen, ohne
sich vorher in irgendeiner Weise mitzuteilen. Was im Fall der Fünften
von Beethoven im Bereich der Legende angesiedelt ist, kann zumin-
30
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dest bei Tschaikowsky nicht gänzlich von der Hand gewiesen werden,
denn wie ist es anders zu erklären, dass er später seine Heirat mit
Antonia Miljukowa so vollkommen überstürzt und kopflos eingeht? Das
unausweichliche Fatum – es muss für Tschaikowsky eine eigene Macht
besessen haben. Folgerichtig eröffnet es die Symphonie mit seiner
bezwingenden Prägnanz in den Hörnern und Fagotten. Allein Nadeshda
von Meck öffnet sich Tschaikowsky und geht in einem längeren Brief
auf einzelne Abschnitte des Werkes ein. Zur Einleitung der Symphonie
schreibt er: »Das ist das Fatum, die verhängnisvolle Macht, die unser
Streben nach Glück verhindert und eifersüchtig darüber wacht, dass
Glück und Frieden nie vollkommen und wolkenlos werden, eine Macht,
die wie ein Damoklesschwert über unserem Haupte schwebt und unsere
Seele unentwegt vergiftet. Sie ist unbesiegbar, nie wird man sie überwältigen. Es bleibt nicht, als sich damit abzufinden und erfolglos zu
klagen.« Zwischen den Zeilen kann man so etwas wie einen Amor fati
herauslesen, den Tschaikowsky als Triebfeder eines nachgerade schöpferischen Gestaltungsprozesses
nutzt. Der Komponist bemerkt:
»Die Einleitung ist das Samenkorn der ganzen Symphonie und
zweifellos der Hauptgedanke.«
Das Motto kann Wagners Einfluss
nicht verschweigen und erinnert an Tschaikowskys Besuch
der Bayreuther Festspiele im
August 1876 als Kritiker der
Russischen Nachrichten. Der
»Ring des Nibelungen« überzeugt ihn zwar nicht, doch wird
die idiomatische Ähnlichkeit des
Beginns der Vierten mit Wagners
Nibelungenmotiv durch den
Tschaikowsky und seine
charakteristischen Rhythmus und
Frau Antonia Miljukowa,
die fallende Terz mehr als deutMoskau im Juli 1877
lich. Auch wenn Tschaikowskys
Symphonie kein ausgewiesenes Programm vorgibt, so arbeitet sie mit
musikdramatischen Versatzstücken. Im Verlauf der Introduktion klingt
in der markig abwärtsgeführten Linie das Vertragsmotiv aus Wagners
»Ring« an. Mit der Verstrickung des Individuums in ein rechtliches
Ordnungssystem, so scheint es, ist sein bürgerliches Schicksal besiegelt. Zudem: Was nach der Introduktion folgt, ist Wagners »unendlicher
Melodie« nicht unähnlich und nimmt als Hauptthema weite Strecken ein.
3. SYMPHONIEKONZERT
Das später einsetzende Seitenthema mit seinen burlesken und gesanglichen Elementen bleibt dagegen Episode, wird in den Mittelsätzen
allerdings idiomatisch weitergeführt. Bis es dazu kommt, fährt das
Motto immer wieder als letztes Mittel der Steigerung dazwischen. Der
langsame zweite Satz ist in der Art einer Canzone gehalten (»in modo
di canzona«). Im Scherzo kommt es zu einer konsequenten Gegenüberstellung der Instrumentengruppen: »Zuerst spielen nur die Streicher,
und zwar durchweg gezupft; im Trio setzen dann die Holzbläser ein und
spielen ebenfalls allein; es folgt dann das Blech, wieder allein. Am Ende
antworten alle drei Gruppen einander mit kurzen Phrasen. Ich erwarte
davon eine interessante Wirkung«, hebt Tschaikowsky hervor. Auch hier
stecken im Hauptthema Andeutungen, die im Finale weiter ausgeführt
werden. Einsam auf einem ausgelassenen Volksfest zieht der Held seine
Bahn – so beschreibt Tschaikowsky die Eingangsszene des Finalsatzes.
Dem Treiben ist eine Melodie aus einem Volkslied eingeflochten, das
von tanzenden Mädchen erzählt. Sie huldigen einer jungen Birke, die
im slawischen Raum für Fruchtbarkeit steht, brechen Zweige, flechten
Kränze und werfen sie anschließend ins Wasser. Diejenige, deren Kranz
schwimmt, heiratet innerhalb eines Jahres. Geht der Kranz jedoch unter,
stehen die Zeichen vorerst auf Ehelosigkeit. Mit der Niederschrift des
Finales beginnt Tschaikowsky vier Tage nach seinem Eheversprechen.
Da liegt es nahe, auf Überschneidungen von Kunst und Leben hinzuweisen, zumal diese aufgrund der Wasser-Metaphorik nur noch zwingender erscheinen. In dieser Zeit kommt es in Tschaikowskys Leben zu
einer eigentümlichen Verdichtung. Zur Erinnerung: Seine Vermählung
mit Antonia Miljukowa findet im Juli 1877 statt. Nur zwei Monate vorher
spricht die Opernsängerin Yelizaveta Lavrovskaya mit dem Komponisten
über eine mögliche Vertonung von Alexander Puschkins Versroman
»Eugen Onegin« und stößt bei Tschaikowsky auf wachsende Begeisterung. In vielen Punkten setzt ihm das Sujet einen Spiegel vor, der Puschkins Drama der verpassten Chancen und impulsiven Entscheidungen als
Tragödie falsch gefasster Entschlüsse eines Außenseiters ins Licht rückt.
Tschaikowsky zieht daraus seine eigene Folgerung. Man gewinnt den
Eindruck, als ob er mit seiner übereilten Heirat eine Antwort finden will
auf das unglückliche Agieren der Figuren in Puschkins Roman. Onegins
und Tatjanas Unfähigkeit eines erfüllten Zusammenkommens scheint
ihn in die Flucht einer bürgerlich sanktionierten Entscheidung zu
drängen. Dass er sich auf diese Weise erst recht in die Fänge des Schicksals begibt, könnte geradezu Puschkins epischer Feder entflossen sein.
»Die vierte Symphonie ist meinem Wesen entsprungen und
mit echter Inspiration vom Beginn bis zum Ende geschrieben. Mit
Liebe und glühender Begeisterung. Es ist darin kein Strich, der nicht
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meinen aufrichtigsten Gefühlen
entstammt«, schreibt er an
Nadeshda von Meck, der das Werk
mit den Worten »Meinem besten
Freund« widmet ist. Die Uraufführung am 10. Februar 1878 in
Moskau unter Nikolai Rubinsteins
Leitung verfolgt Tschaikowsky
aus der Ferne. Wenige Tage später
verfasst er in Florenz einen Brief
an seine Freundin: »Gestern früh
erhielt ich Ihr Telegramm und
war sehr glücklich darüber. Ich
war sehr besorgt, einmal, ob Ihr
Gesundheitszustand Sie nicht
daran hindern würde, dieses
Nadeshda von Meck
Konzert zu besuchen, und zum
anderen, ob Ihnen die Symphonie gefallen würde oder nicht. Es hätte
sehr leicht möglich sein können, dass Sie, auch wenn sie Ihnen nicht
besonders gefallen hätte, mir aus Herzensgüte und freundschaftlicher
Anteilnahme doch irgendeinen Glückwunsch geschickt hätten; aus dem
Ton des Telegramms und aus der Art seiner Abfassung wurde mir aber
klar, dass Sie mit dem Werk, das für Sie geschrieben wurde, zufrieden
sind. Ich bin in tiefster Seele noch immer davon überzeugt, dass es das
Beste ist, was ich geschrieben habe … In Gedanken war ich im Konzert,
hatte bis auf die Minuten berechnet, wann die Einleitung erklingen
musste, und verfolgte dann jeden Ton, bemüht, mir den Eindruck vorzustellen, den meine Musik hervorrief.« Die Reaktion seiner Briefpartnerin
fällt alles andere als überschwänglich aus, kann ihn allerdings zufrieden
stellen: »Die Symphonie ist vom Publikum sehr gut aufgenommen
worden, vor allem das Scherzo. Der Beifall war stark, und nach Beendigung des Konzertes verlangten die Zuhörer nach Ihnen. Es war wohl
Rubinstein, der erschien, doch habe ich ihn nicht gesehen, da ich bereits
fortging.« Das Werk fährt einen Achtungserfolg ein, mehr nicht. Dementsprechend knapp fällt das Echo in den Moskauer Nachrichten aus: »Auch
dieses Mal hat Tschaikowsky sich seines Rufes als Symphoniker durchaus
würdig erwiesen.« Seine Vierte, die viel von ihm preisgibt, lässt etwas
von dem Hiatus erahnen, dem Tschaikowsky sich immer mehr in seinem
Leben ausgesetzt sieht. Dass sie vom Uraufführungspublikum nicht
verstanden wird, spricht nicht gegen sie – und auch nicht, dass sie im
Repertoire schnell einen festen Platz fand.
ANDRÉ PODSCHUN
3. SYMPHONIEKONZERT
3. Symphoniekonzert 2015 | 2016
Orchesterbesetzung
1. Violinen
Kai Vogler / 1. Konzertmeister
Michael Eckoldt
Thomas Meining
Federico Kasik
Michael Frenzel
Christian Uhlig
Volker Dietzsch
Brigitte Gabsch
Barbara Meining
Birgit Jahn
Wieland Heinze
Anett Baumann
Roland Knauth
Anselm Telle
Yoriko Muto
Ga-Young Son
2. Violinen
Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister
Annette Thiem
Stephan Drechsel
Jens Metzner
Olaf-Torsten Spies
Alexander Ernst
Beate Prasse
Mechthild von Ryssel
Elisabeta Schürer
Kay Mitzscherling
Martin Fraustadt
Yewon Kim
Hannah Burchardt**
Ewa Helmers*
Bratschen Gerd Grötzschel*/ Solo
Stephan Pätzold
Anya Dambeck
Michael Horwath
Uwe Jahn
Zsuzsanna Schmidt-Antal
Juliane Böcking
Uta Scholl
Björn Sperling
Tilman Baubkus*
Kerstin Beavers*
Raimund Eckertz*
Violoncelli
Gregorio Robino / Konzertmeister
Simon Kalbhenn / Solo
Tom Höhnerbach
Andreas Priebst
Bernward Gruner
Johann-Christoph Schulze
Jörg Hassenrück
Matthias Wilde
Titus Maack
Stefano Cucuzzella**
Kontrabässe
Andreas Wylezol / Solo
Razvan Popescu
Helmut Branny
Christoph Bechstein
Fred Weiche
Reimond Püschel
Thomas Grosche
Pawel Jabłczyński
Flöten
Andreas Kißling / Solo
Cordula Bräuer
Jens-Jörg Becker
Oboen
Céline Moinet / Solo
Sibylle Schreiber
Klarinetten
Wolfram Große / Solo
Jan Seifert
Martin Möhler*
Fagotte
Philipp Zeller / Solo
Erik Reike
Andreas Börtitz
Hörner
Erich Markwart / Solo
Andreas Langosch
Harald Heim
Manfred Riedl
Miklós Takács
Miho Hibino
Trompeten
Mathias Schmutzler / Solo
Gerd Graner
Posaunen
Wolfram Arndt* / Solo
Guido Ulfig
Lars Zobel
Tuba
Hans-Werner Liemen / Solo
Pauken
Manuel Westermann / Solo
Schlagzeug
Christian Langer
Simon Etzold
Jürgen May
Stefan Seidl
Yuka Maruyama**
Oliver Mills*
Alexej Bröse*
Johann-Georg Baumgärtl*
Harfe
Markus Thalheimer**
Harmonium/Cembalo
Johannes Wulff-Woesten
Celesta
Ellen Rissinger
Pianino
Thomas Cadenbach
Gitarre
Uwe Fink
Zymbal
Olga Mishula
* als Gast
** als Akademist / in
34
35
3. SYMPHONIEKONZERT
Vorschau
international
Freunde
Wunderharfe
unterstützen
patron
engagement begeistern
network
verbinden
gewinnen Staatskapelle
tradition
Dresden
junge Menschen fördern
friends
Netzwerk
Gesellschaft
close
hautnah
2. Kammerabend
als Matinee
S O N N TAG 1.11.15 11 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Kammermusik der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Jörg Faßmann Violine
Sebastian Herberg Viola
Michael Pfaender Violoncello
Alfred Schnittke
Trio für Violine, Viola und Violoncello (1985) WV 1671
Wolfgang Amadeus Mozart
Divertimento Es-Dur für Violine, Viola und Violoncello KV 563
4. Symphoniekonzert
S O N N TAG 2 9.11.15 11 U H R
M O N TAG 3 0 .11.15 2 0 U H R
D I E N S TAG 1.12 .15 2 0 U H R
S E M P ER O P ER D R E S D E N
Donald Runnicles Dirigent
Karen Cargill Mezzosopran
GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER
S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N E . V.
KÖNIGSTRASSE 1
01097 DRESDEN | GERMANY
I N F O @ G F S K D D . D E | W W W. G F S K D D . D E
Sergej Rachmaninow
»Die Toteninsel« op. 29
Edward Elgar
»Sea Pictures« für Mezzosopran und Orchester op. 37
Jean Sibelius
Symphonie Nr. 1 e-Moll op. 39
Aufzeichnung durch MDR Figaro
Wir freuen uns auf Sie!
Come and join us!
3. SYMPHONIEKONZERT
IMPRESSUM
Sächsische
Staatskapelle Dresden
Künstlerische Leitung/
Orchesterdirektion
Sächsische Staatskapelle Dresden
Chefdirigent Christian Thielemann
Spielzeit 2015 | 2016
H E R AU S G E B E R
Sächsische Staatstheater –
Semperoper Dresden
© Oktober 2015
R E DA K T I O N
André Podschun
G E S TA LT U N G U N D L AYO U T
schech.net
Strategie. Kommunikation. Design.
DRUCK
Union Druckerei Dresden GmbH
ANZEIGENVERTRIEB
Juliane Stansch
Persönliche Referentin
von Christian Thielemann
Jan Nast
Orchesterdirektor
Tobias Niederschlag
Konzertdramaturg,
Künstlerische Planung
André Podschun
Programmheftredaktion,
Konzerteinführungen
Matthias Claudi
PR und Marketing
Agnes Monreal
Assistentin des Orchesterdirektors
EVENT MODULE DRESDEN GmbH
Telefon: 0351 / 25 00 670
e-Mail: [email protected]
www.kulturwerbung-dresden.de
Elisabeth Roeder von Diersburg
Orchesterdisponentin
B I L D N AC H W E I S E
Agnes Thiel
Dieter Rettig
Notenbibliothek
Matthias Creutziger (S 3); Chris Lee (S. 7);
Harald Hoffmann/haenssler CLASSIC (S. 8);
Universal Music Publishing Editio Musica Budapest/Judi Kurtág (S. 12, 17); Editio Musica Budapest (S. 14); SLUB Dresden (S. 20); Krzysztof
Meyer, Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk,
seine Zeit, Bergisch Gladbach 1995 (S. 22);
E. Bieber, Hamburg (S. 29); David Brown,
Peter I. Tschaikowsky. Im Spiegel seiner Zeit,
aus dem Englischen von Tobias Döring, Zürich
und Mainz 1996 (S. 30, 31, 33)
T E X T N AC H W E I S E
Die Einführungstexte von André Podschun
sind Originalbeiträge für dieses Programmheft.
Der Text von Peter Bitterli stammt aus »Und
immer wieder Abschiede. György Kurtágs
Botschaften«, in: Beckmesser. Die Seite für
Neue Musik und Musikkritik (2001).
Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht
werden konnten, werden wegen nachträglicher
Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus
urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet.
W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E
38
Christian Thielemann
Chefdirigent
Matthias Gries
Orchesterinspizient
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