Einführung in die Literaturwissenschaft Terminologie der Dramen-Analyse • Als erster Dramatiker kann Aischylos (525/4-456 v.Chr.) gelten, der das zuvor übliche Bühnenpersonal (Rezitator + Chor) um einen zweiten Schauspieler erweiterte und so die Basis für eine dramatische Handlung schuf. • Ein zentraler Aspekt der Dramen-Analyse ist die Frage der Informationsverteilung: Weiß das Publikum mehr als die Bühnenfiguren oder genauso viel bzw. weniger? Lessing hat in der Hamburgischen Dramaturgie dafür plädiert, Spannung durch ein Mehrwissen des Publikums zu erzeugen. • Des Weiteren ist die Frage der Motivierung bzw. Kausalität der Handlung (der Figuren) entscheidend: Über das Mittel der Motivierung lässt sich beispielsweise das Zuschauerinteresse für eine Figur steigern/mindern (Sympathiesteuerung). • Entscheidend bei der Dramen-Analyse ist die Unterscheidung zwischen der Dauer der Aufführung und der Dauer der vorgeführten Handlung. • Gustav Freytag beschreibt die abstrakte Gliederung einer Handlung im Drama in Form eines ›pyramidalen Baus‹. In Die Technik des Dramas (1863) benennt er deren Teile den fünf Akten entsprechend als 1. Exposition (Problemformulierung), 2. Steigerung (Konflikt ergibt sich) 3. Klimax (Wende-/Höhepunkt) 4. Umkehr/Peripetie (eventuell mit retardierendem Moment, Fall) 5. Katastrophe. Dies gilt im Großen und Ganzen für das sogenannte ›geschlossene‹ bzw. ›tektonische‹ Drama, das von einem stetigen Zeitablauf und der Einhaltung der Ordnung geprägt ist (als technisches Mittel steht hierbei die ›liaison des scènes‹ = Verknüpfung der Auftritte zur Verfügung). Dem entgegen steht das ›atektonische‹ bzw. ›offene‹ Drama. Gerade im postdramatischen Theater (wie z.B. von Samuel Beckett oder Heiner Müller) wird bewusst auf Kontinuität und Kausalität verzichtet (ebenso wie auf die Konstruktion von Charakteren). • Die ›aristotelischen Einheiten‹ von Ort, Zeit und Handlung (siehe Protokoll zu Sitzung IV: Antike Poetiken) sind vor allem für die Dramenproduktion des 17. bis 19. Jahrhunderts entscheidend. • Analytisches Drama: Der entscheidende Konflikt des Dramas entsteht vor der gezeigten Handlung, so dass der Ausgang von vornherein determiniert ist (Bsp.: Sophokles‘ König Ödipus und Kleists Der zerbrochene Krug). Die Dramenhandlung dreht sich in diesem Fall um das des ursprünglichen Konflikts. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 1 VIII. Terminologie der Dramen-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Synthetisches Drama: Der Konflikt entsteht in der gezeigten Entwicklung der Handlung, so dass sein Ausgang erst aus dem handlungsverlauf resultiert (Bsp.: Sophokles’ Antigone und Lessings Emilia Galotti). • Ein wichtiges Handlungsmoment im klassischen Drama ist die Anagnorisis (»Ent-ver-kennung«). Hierbei erkennen sich zwei Figuren in ihrer wahren Identität, woraus sich die Auflösung ergibt (Beispiel: Orest in Goethes Iphigenie auf Tauris III 1: »zwischen uns sei Wahrheit«). • Zu unterscheiden sind in Bezug auf den Publikumskontakt die Dramaturgie der Distanz und die Dramaturgie der Nähe. Die Dramaturgie der Nähe lässt eine Identifikation mit den Figuren zu und arbeitet dafür mit dem Mittel der Einfühlung (Empathie). Diesem Ideal entspricht insbesondere die Gattung des ›bürgerlichen Trauerspiels‹ (Bsp.: Lessings Miss Sara Sampson). Die Dramaturgie der Distanz vermeidet mittels der Be-/Verwunderung (admiratio) eine Identifikation. Diesem Vorgehen entspricht wiederum das ›heroische Trauerspiel‹ (Bsp.: Gottscheds Sterbender Cato). • In diesem Zusammenhang steht auch die Unterscheidung zwischen ›Figur‹ und ›Charakter‹: Während der Zuschauer zu einer Figur keinen direkten Kontakt aufbauen kann, ist ihm dies bei einem Charakter möglich. Da man etwas über seine Vorgeschichte u.ä. erfährt, wird das Verhalten eines Charakters psychologisch nachvollziehbar. • In der Konsequenz herrscht im Fall der Dramaturgie der Distanz der Primat der Handlung vor, im Fall der Dramaturgie der Nähe der Primat des Charakters. • ›Poetische Gerechtigkeit‹ ist dann gegeben, wenn sich das Ende eines Dramas mit geltenden moralischen Normen und Rechtsvorstellungen deckt (z.B. in Schillers Die Räuber im Unterschied zu Lessings Emilia Galotti). • Tragik oder ein tragischer Konflikt bestehen in einem unausweichlichen Konflikt zwischen zwei Rechtsprinzipien, die keine Versöhnungsmöglichkeit zulassen (Bsp.: Aischylos’ Orestie). • Botenbericht und Teichoskopie (Mauerschau) sind Mittel, schwierig Darzustellendes (z.B. Schlachten oder Brutalitäten) doch thematisch zu machen. Sie stellen ›epische‹ Momente im Stück dar und dienen im Regelfall der Affektsteigerung. Beim Botenbericht ist das Erzählte bereits geschehen, bei der Mauerschau ereignet es sich gerade. • Während das Theater seit dem 18. Jh. auf Illusion setzt und versucht die Zuschauer vergessen zu lassen, dass sie im Theater sind, arbeitet modernes Theater immer wieder mit Mitteln der Illusionsbrechung. So spielen in Bertolt Brechts Konzeption des ›epischen Theaters‹ die © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 2 VIII. Terminologie der Dramen-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft konsequente Störung der Illusion und die Vermeidung von Täuschung eine entscheidende Rolle. Mittels sogenannter Verfremdungseffekte (V-Effekte) soll stets die Theatersituation bewusst gehalten werden. Episches Theater arbeitet konsequent anti-aristotelisch. © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 3 VIII. Terminologie der Dramen-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Zitate Gotthold Ephraim Lessing – Hamburgische Dramaturgie (1767) »Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewissheit erfahren, dass Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermutet treffen muss, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.« Johann Christoph Gottsched – Sterbender Cato (1732) Zweiter Aufzug, 3. → 4. Auftritt ARSENE. Umsonst, Domitius. Doch welch ein Ungelücke! Pharnaz erscheint allhier. Verdrießliches Geschicke! Domitius geht ab. Der vierte Auftritt. Arsene. Phönice. Pharnaces. PHARNACES. Vernimm mich, Königinn, und fleuch mich nicht so sehr! ARSENE. Verfolgst du mich auch hier? und quälst du mich noch mehr? Erweckt des Bruders Tod und ein gerechtes Sehnen, Das meine Brust erfüllt, mir nicht schon tausend Thränen? Heinrich von Kleists – Penthesilea (1808) Inzwischen schritt die Königin heran, Die Doggen hinter ihr, Gebirg und Wald Hochher, gleich einem Jäger, überschauend; Und da er eben, die Gezweige öffnend, Zu ihren Füßen niedersinken will: Ha! sein Geweih verrät den Hirsch, ruft sie, Und spannt mit Kraft der Rasenden, sogleich Den Bogen an, daß sich die Enden küssen, Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt, Und jagt den Pfeil ihm durch den Hals; er stürzt: Ein Siegsgeschrei schallt roh im Volk empor. Jetzt gleichwohl lebt der Ärmste noch der Menschen, Den Pfeil, den weit vorragenden, im Nacken, Hebt er sich röchelnd auf, und überschlägt sich, Und habt sich wiederum und will entfliehn; Doch, hetz! schon ruft sie: Tigris! hetz, Leäne!. Hetz, Sphinx! Melampus! Dirke! Hetz, Hyrkaon! Und stürzt - stürzt mit der ganzen Meut, o Diana! Sich über ihn, und reißt - reißt ihn beim Helmbusch, Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt, Der greift die Brust ihm, dieser greift den Nacken, Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder! Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 4 VIII. Terminologie der Dramen-Analyse WS 09/10 Einführung in die Literaturwissenschaft Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft: Penthesilea! meine Braut! was tust du? Ist dies das Rosenfest, das du versprachst? Doch sie - die Löwin hätte ihn gehört, Die hungrige, die wild nach Raub umher, Auf öden Schneegefilden heulend treibt; Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust, Sie und die Hunde, die wetteifernden, Oxus und Sphinx den Zahn in seine rechte, In seine linke sie; als ich erschien, Troff Blut von Mund und Händen ihr herab. Friedrich Schiller – Die Jungfrau von Orléans (1801) ISABEAU (zu einem Soldaten.) Steig auf die Warte dort, die nach dem Feld Hin sieht, und sag uns, wie die Schlacht sich wendet. (Soldat steigt hinauf) ISABEAU. Was siehest du? SOLDAT. Schon sind sie aneinander. Ein Wütender auf einem Barberroß, Im Tigerfell, sprengt vor mit den Gendarmen. JOHANNA. Das ist Graf Dunois! Frisch, wackrer Streiter! Der Sieg ist mit dir! SOLDAT. Der Burgunder greift Die Brücke an. ISABEAU. Daß zehen Lanzen ihm Ins falsche Herz eindrängen, dem Verräter! SOLDAT. Lord Fastolf tut ihm mannhaft Widerstand. Sie sitzen ab, sie kämpfen Mann für Mann, Des Herzogs Leute und die unsrigen.« Bertolt Brecht – Glosse für die Bühne (zur Uraufführung von Trommeln in der Nacht an den Münchner Kammerspielen, 29. 9. 1922) »Diese Komödie wurde in München nach den Angaben Caspar Nehers vor folgenden Kulissen gespielt: Hinter den etwa zwei Meter hohen Pappschirmen, die Zimmerwände darstellten, war die große Stadt in kindlicher Weise aufgemalt. Jeweils einige Sekunden vor dem Auftauchen Kraglers glühte der Mond rot auf. Die Geräusche wurden dünn angedeutet. Die Marseillaise wurde im letzten Akt durch ein Grammophon gespielt. [...] Es empfiehlt sich, im Zuschauerraum einige Plakate mit Sprüchen wie ›Glotzt nicht so romantisch‹ aufzuhängen.« Bertolt Brecht – Über experimentelles Theater (1939) »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden, heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.« © www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de 5