Medizin Heft 02/2005

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KREBSTHERAPIE
Strahl statt Stahl: Neue
Bestrahlungstechniken
und 3D-Planung am
Computer (rechts)
ersetzen bei einigen
Krebsarten bereits das
Skalpell des Chirurgen
Strahlengewitter
Jeder zweite Krebskranke in
Deutschland wird mit Strahlen
behandelt. Um den Nutzen
neuer Technologien und einen
riesigen Zukunftsmarkt wird
noch erbittert gestritten
VON HANNO CHARISIUS; KURT GÖTHANS (FOTOS)
TECHNOLOGY REVIEW Februar 2005
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50 KREBSTHERAPIE
S
trahlenmediziner arbeiten im Bunker. Meist liegen ihre
Kliniken metertief unter der Erde, um die tödliche Strahlung abzuschirmen. Nur durch schmale Schächte dringt
etwas Tageslicht. Doch nicht nur wegen ihres unterirdischen
Daseins hat die Strahlentherapie ein Imageproblem.
„Als Strahlentherapeut steht man immer mit dem Rücken
zur Wand“, sagt Michael Molls, Leiter der Strahlenklinik am
Krankenhaus Rechts der Isar in München. Was Strahlentherapeuten tun, macht den meisten Menschen Angst: Sie zähmen
Röntgen-, Teilchen- oder radioaktive Strahlen, um sie als Waffe gegen Krankheiten, meistens Krebsgeschwüre, zu richten.
Und lange Zeit war die Angst der Patienten durchaus berechtigt. Bis in die 1970er Jahre konnte der Arzt weder den Tumor
im Körper seines Patienten sehen noch sein Strahlenwerkzeug.
Da machten Radiologen mit breitem Filzstift einen Kreis um
den Schatten auf einer Röntgenaufnahme und legten auf
Grundlage ihrer Erfahrung die Dosis fest, mit der die Geschwulst bestrahlt werden sollte.
Bis heute gilt die Strahlentherapie als gefährlich. Doch wer
bestrahlt werden muss, den hält man ohnedies meist für todgeweiht – als wäre die Behandlung die letzte Maßnahme, wenn
gar nichts anderes mehr hilft.
Dieses Image entspricht schon lange nicht mehr der Realität. Eine Folge von Detailverbesserungen und einige handfeste Innovationen haben aus den ungeschlachten Heilversuchen von einst eine bis auf den Millimeter genau operierende
Strahlenchirurgie gemacht. Während die Hoffnung auf neue
biotechnologisch hergestellte Medikamente noch vage ist, erzielen Strahlentherapeuten seit zwei Jahrzehnten kontinuierliche Fortschritte im Kampf gegen den Krebs.
Bei einigen Krebsarten, wie dem Analkarzinom, hat sie bereits das Skalpell als Mittel der Wahl vollständig verdrängt. Die
Heilungsergebnisse der brusterhaltenden Strahlentherapie bei
Tumoren, die eine bestimmte Größe nicht überschreiten, sind
heute genauso gut wie bei der radikalen Brustamputation. Mit
Strahlen ist in bestimmten Stadien eine Heilung vom Kehlkopfkrebs möglich, ohne dass die Menschen ihre Stimme verlieren; und beim Prostatakrebs bleibt nach der Strahlentherapie sogar häufig die Potenz erhalten. Jeder zweite der 400 000
jährlich neu diagnostizierten deutschen Krebspatienten wird
heute mit Strahlen behandelt, meist in Kombination mit einer
Operation und Medikamenten – und bei jedem zweiten vom
kurz gefasst
Strahlentherapie hat einen schlechten Ruf. Sie gilt
vielen als gefährlich und als letzte Chance, wenn gar
nichts anderes geholfen hat.
Bildgebende Verfahren und die Behandlungsplanung
am Computer haben aus den frühen Heilversuchen eine
hochpräzise Strahlenchirurgie gemacht.
Der Bedarf steigt mit den therapeutischen
Möglichkeiten. Die wachsende Zahl der Krebspatienten
lockt bereits private Investoren an.
Krebs Geheilten waren Strahlen beteiligt. Aufgrund der demografischen Entwicklung, so glaubt Michael Molls, könnten
künftig vor allem ältere Menschen von der Radiochirurgie profitieren, weil sie als nicht-invasive Behandlungsmethode den
Körper weniger belastet als ein operativer Eingriff.
Mit dem Alter wächst das Krebsrisiko – und mit besseren
Behandlungsmöglichkeiten steigt auch die Nachfrage danach.
Bei der Strahlentherapie geht es heute um millionenschwere
Großtechnologie und um einen riesigen Wachstumsmarkt, der
mittlerweile auch private Investoren anlockt. Im Kampf um
Umsätze und Patientenzahlen streiten Gerätehersteller und
Mediziner um die beste Methode, um Kosten und Nutzen der
neuen Technologien.
Als eigenständige Disziplin ist die Strahlentherapie jedoch
relativ jung: Erst seit Ende der 1980er Jahre gibt es den Facharzt für Radioonkologie, davor galt die Disziplin als Anhängsel der Röntgendiagnostik. Die späte Emanzipation geht auf
einen Innovationsschub zurück: Frustriert vom damaligen IstZustand taten sich Mediziner, Biologen und Physiker zusammen und entwickelten die Werkzeuge der Strahlentherapie
weiter. Moderne Bestrahlungsgeräte können auch in der Tiefe
gelegene Tumore erreichen und schonen dabei benachbarte
Organe und die Haut. Notwendige Grundlage dafür war die
Entwicklung bildgebender Verfahren.
„Mit dem Aufkommen der Röntgencomputertomografen
ging in den 1970er Jahren ein Ruck durch das Feld“, erzählt
Wolfgang Schlegel, Leiter der Abteilung Medizinische Physik
in der Strahlentherapie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. „Die Radioonkologie war das
erste medizinische Gebiet, in dem schon Mitte der sechziger
Jahre intensiv mit Computern gearbeitet wurde.“ Die Computertomografie (CT) erlaubte den Blick auf die dreidimensionale Gestalt und Lage des Tumors im Körper und lieferte
darüber hinaus Daten über die Elektronendichte des Gewebes.
Das ermöglichte die computergesteuerte Bestrahlungsplanung, die gewährleistet, dass nur krankes Gewebe mit tödlichen Dosen bedacht wird, während das umgebende Gewebe
nur so viel abbekommt, dass es sich aus eigener Kraft regenerieren kann. Bei der Planung hat der Arzt eine heikle Balance
auszutarieren, denn jeder Strahl ins gesunde Gewebe steigert
dort das Risiko, dass ein neuer Krebsherd entsteht. Bei zu
geringer Dosis droht die Gefahr eines Rückfalls. Zudem gibt es
für eine Strahlenbehandlung nur eine Chance. Für einen zweiten Versuch müsste man die Dosis drastisch hochsetzen, weil
nur solche Krebszellen überleben, die Strahlenschäden schnell
beheben können.
Das Ideal der Radiotherapie heißt tumorkonforme Bestrahlung: Das Strahlenbündel soll ausschließlich das Krebsgewebe treffen und gesundes möglichst passieren, ohne Energie abzugeben. Nur die Physik spielt dabei nicht mit. Die
massenlosen Energiequanten (Photonen) der Röntgen- und
Gammastrahlen durchdringen als elektromagnetische Wellen
zwar das menschliche Gewebe, geben jedoch einen Großteil
ihrer Energie schon auf den ersten Zentimetern ihres Weges
durch den Körper und damit bei tiefer liegenden Tumoren ans
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„Das Beste, was man mit Photonen
machen kann“: Medizinphysiker
Wolfgang Schlegel, Linearbeschleuniger (l.)
und Computertomograf (hinten)
gesunde Gewebe ab (siehe Diagramm Seite 53). Photonen aus
bündel aus vielen verschiedenen Richtungen im Tumor, wo sie
Linearbeschleunigern (auch kurz Linac genannt nach dem
sich zur Gesamtdosis aufsummieren; das Normalgewebe wird
englischen Begriff linear accelerator) geben in drei Zentimenur mit einem Bruchteil der Strahlenmenge belastet und kann
tern Tiefe die größte Dosismenge ab und verlieren danach
sich wieder erholen. Außerdem versucht man, das Bestrahkontinuierlich Energie. Noch dazu verwischt der Strahl durch
lungsfeld präzise an die Form des Tumors anzupassen. „Früher
Streuungsereignisse mit zunehmender Tiefe, sodass auch seithaben wir mit Sicherheitsrändern von fünf Zentimetern und
lich neben dem Tumor liegendes Gewebe belastet wird. Um
rechteckigen Bestrahlungsfeldern gearbeitet“, erzählt Jürgen
den Tumor im Körperinneren dennoch mit einer letalen StrahDebus, Leitender Oberarzt in der Abteilung Strahlentherapie
lendosis zu treffen, müsste die Energie des Photonenstrahls so
der Radiologischen Universitätsklinik Heidelberg. Heute gibt
hoch eingestellt werden, dass er das gesunde Gewebe auf dem
es mit dem Multileaf-Kollimator – einer zentnerschweren
Weg zum Ziel verbrennen würde.
variablen Blende aus Wolframlamellen, die im Kopf des
Seit jeher versuchen Strahlenmediziner, die prekäre Physik
Bestrahlungsgeräts montiert wird – ein Werkzeug, das den
bei der Behandlung auszutricksen. Um etwa die strahlenbeQuerschnitt des Strahlenbündels computergesteuert formt.
dingten Kollateralschäden am Gewebe möglichst gering zu
Weil jeder Tumor von verschiedenen Seiten aus betrachtet
halten, wird die Gesamtdosis in viele
Einzeldosen geteilt und über mehrere
Wochen hinweg verabreicht. Bei der SEIT JEHER VERSUCHEN DIE STRAHLENMEDIZINER,
so genannten Konvergenzbestrahlung
DIE PREKÄRE PHYSIK AUSZUTRICKSEN, DAMIT DIE
überschneiden sich schwache Strahlen- STRAHLEN KEIN GESUNDES FLEISCH VERBRENNEN
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unterschiedlich aussieht, passt das Gerät die Form des Bestrahlungsfeldes mit jeder Strahlrichtung neu an.
Ein Tumor bekommt nur selten während einer einzigen
Sitzung die gesamte letale Dosis verpasst. Deshalb muss ein
Patient bei jeder Behandlung immer wieder exakt gleich im
Bestrahlungsgerät positioniert werden. Schon das ist ein schwieriges Unterfangen, doch die Radiochirurgen müssen auch
berücksichtigen, dass Atmung, die Peristaltik des Gedärms
oder eine mal volle, mal leere Blase den Tumor ständig in Bewegung halten. Neue Systeme, etwa vom Münchner Medizingerätehersteller BrainLab, überwachen mit Infrarotkameras
die Atembewegung bei der Bestrahlung von Lungenkrebs und
schalten den Strahl nur dann ein, wenn der Tumor in seiner
Bahn liegt. Das CyberKnife des kalifornischen Unternehmens
Accuray bewegt sich mit dem Tumor: Kameras verfolgen die
Atembewegungen und geben die Positionsdaten an einen Roboterarm, der einen kompakten Linearbeschleuniger bewegt.
Optimale Lagekontrolle liefert jedoch nur eine Computertomografie unmittelbar vor der Bestrahlung. Der US-Hersteller Tomotherapy hat bereits ein Gerät auf den Markt gebracht,
das beides kann: Dreidimensionale Bilder aus dem Körperinneren aufnehmen und Tumore mit Photonen behandeln. Die
Medizintechnik-Sparte von Siemens hat ihrerseits mit Primatom ein System im Programm, das Linac und CT-Scanner in
einem Raum vereint. Der Patient braucht nicht mehr aufzustehen: Erst schiebt ihn die motorisierte Liege in die CT-Röhre und im Anschluss daran in den Linearbeschleuniger nebenan. In Zukunft könnte sich ein Linac sogar selbst lenken und
in Echtzeit korrigieren, sagt Strahlenmediziner Molls.
Allen Fortschritten im Detail zum Trotz, stoßen die gängigen
Methoden bei kompliziert geformten Tumoren an ihre Grenzen, vor allem wenn diese in der Nähe von Risikoorganen liegen, zum Beispiel an der Schädelbasis zwischen strahlenempfindlichem Hirnstamm und dem Sehnerv oder an der Prostata,
die eingeklemmt zwischen Darm und Harnblase liegt. In diesen
Fällen bessert die Intensitätsmodulierte Radiotherapie (IMRT)
die Heilungschancen bei geringeren Nebenwirkungen. Jedes
Bestrahlungsfeld wird bei diesem Verfahren mit Hilfe des
Lamellen-Kollimators in viele kleine Teilbereiche zerlegt, die
Das größte Skalpell der Welt: Am Teilchenbeschleuniger der Gesellschaft für Schwerionenforschung wurde die Ionentherapie erprobt
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BURKHARD JAKOB/GSI
Punkt für Punkt mit jeweils unterschiedlicher Intensität
bestrahlt werden. „Damit können wir selbst bei ungünstig
gelegenen Tumoren in Dosisbereiche vordringen, die vorher
undenkbar waren“, sagt Jürgen Debus, der einer der ersten
klinischen Anwender der Methode war.
Die IMRT erfordert jedoch eine völlig neue Denkweise
vom Therapeuten. Nicht mehr er ermittelt in der Computersimulation durch Herumprobieren mit virtuellen Bestrahlungsfeldern die optimale Dosisverteilung („Vorwärtsplanung“). Vielmehr gibt der Arzt dem Computer die Konturen
des Tumors und der Risikoorgane, die Solldosis im Tumor und
die Toleranzdosen der Risikoorgane vor, und der errechnet die
notwendigen Bestrahlungsfelder und Intensitätsmodulierungen, die zu einer bestmöglichen Dosisverteilung im Tumor
führen („Rückwärtsplanung“). „Die Planung einer intensitätsmodulierten Strahlentherapie ähnelt dem Lösen einer
Gleichung mit 1000 Unbekannten“, sagt Wolfgang Schlegel,
der zusammen mit Kollegen am DKFZ die Planungssoftware
Konrad (steht für Konforme Radiotherapie) entwickelt hat
und dafür 2003 mit dem Deutschen Krebspreis geehrt wurde.
Nur die Krankenkassen mögen die neue Technik nicht. Sie
trauen dem Verfahren keine Vorteile zu, die den Mehraufwand
rechtfertigen würden. Tatsächlich ist die Technik sowohl bei
den Apparaten und der Software als auch beim Personal und
dem planerischen Zeitbedarf trotz Computerhilfe anspruchsvoll und entsprechend teuer. „IMRT kostet zwei bis zweieinhalb mal so viel wie eine konventionelle Strahlentherapie“,
überschlägt Wolfgang Schlegel. Die Patienten profitieren von
der modernen Methode, das zeigen verschiedene Studien.
IMRT steigert nicht nur die Überlebensrate, indem sie eine
höhere Dosis ermöglicht und damit die Chancen auf eine
lokale Tumorkontrolle, also Heilung, steigert. Sie mindert in
vielen Fällen auch die Nebenwirkungen: Beim Prostatakarzinom sinkt die Zahl der strahlenbedingten Darmblutungen und
Inkontinenzen deutlich. Bei Brustkrebsbestrahlungen bekommen Herz und Lungen weniger Dosis ab. Bei der Bestrahlung
von Kopf-Hals-Tumoren werden die großen Speicheldrüsen
geschont und so das Risiko der dauerhaften Mundtrockenheit
vermindert. Was nur unangenehm klingt, hat tatsächlich gesundheitliche Folgen: Im trockenen Mund vermehren sich
schädliche Keime mit rasender Geschwindigkeit und zerstören
Zähne und Zahnfleisch – und produzieren neben Leid Folgekosten für Zahnersatz.
TIEF INS FLEISCH
Das Dosistiefendiagramm zeigt, welche Strahlenart
bei welcher Eindringtiefe ins Gewebe wie viel Energie
abgibt. Kohlenstoffionen und Protonen geben am so
genannten Bragg-Peak ihre maximale Energiemenge ab
Spuren der Verwüstung:
Forschern der Gesellschaft
für Schwerionenforschung
(Darmstadt) ist es gelungen,
molekulare Strahlenschäden
sichtbar zu machen. Proteine, die durch Schäden im
Erbgut aktiviert werden,
leuchten grün
und mit abnehmender Geschwindigkeit immer mehr Energie
abgeben (siehe Grafik). Im Eingangsbereich belastet also fast
keinerlei Strahlung das gesunde Gewebe. Ein an der Stelle der
maximalen Energieabgabe (Bragg-Peak) liegender Tumor absorbiert die höchste Strahlendosis, dahinter liegendes Gewebe
bekommt praktisch null Strahlung ab. Durch Steuerung dieses
Strahls kann man die Konturen des Tumors dreidimensional
abfahren und jeden Punkt einzeln mit einer passenden Dosis
bedenken. „Das ist Strahlentherapie in Vollendung“, sagt
Wolfgang Schlegel, „besser geht es aus physikalischen Gründen
nicht.“ Zu den physikalischen Vorteilen kommt die höhere
biologische Wirksamkeit der Teilchenstrahlen, sie lösen häufiger letale Doppelstrangbrüche der DNA aus als Photonen.
Noch teurer als IMRT ist eine neue Technologie, die derzeit
aus den Labors in die klinische Anwendung drängt, die so
genannte Teilchentherapie. Genauer gesagt werden die Kliniken um die neue Technologie herum gebaut.
Beschleunigt man die Atomkerne etwa von Helium, Kohlen- oder Wasserstoff auf hohe Geschwindigkeiten (bis zu
50 Prozent der Lichtgeschwindigkeit), entsteht ein scharf
begrenztes, durch Magnetfelder präzise
steuerbares Strahlenbündel mit minimaler Streuung. Die Teilchen werden
DAS ZENTRUM SOLL HERAUSFINDEN, WELCHE
auf dem Weg durchs Gewebe abgeBESTRAHLUNGSART BEI WELCHEM TUMOR DIE
bremst, bis sie zum Stillstand kommen
BESTEN HEILUNGSCHANCEN VERSPRICHT
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Und sie können eine zweite Chance eröffnen, wenn eine Photonentherapie bereits gescheitert ist.
Doch diese Vorteile müssen teuer erkauft werden: Teilchenbeschleuniger für Wasserstoffkerne (Protonen) oder
Schwerionen (Kohlenstoff oder Sauerstoff) sind riesige Anlagen und kosten schnell 100 Millionen Euro oder mehr – dabei
ist umstritten, welche Teilchentherapie die beste ist.
Im Mai vergangenen Jahres wurde der Grundstein für das
Heidelberg Ionenstrahl-Therapie Centrum (HIT) gelegt, einer
europaweit einmaligen Einrichtung, die aus der Kooperation
zwischen der Radiologischen Universitätsklinik, dem DKFZ
und der Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) hervorgegangen ist. Der Auftrag an das zukünftig von Jürgen Debus
geleitete Zentrum lautet herauszufinden, welche Bestrahlungsart – Photonen, Protonen oder ein Schwerion – für welche Tumorart die besten Heilungschancen verspricht.
Von der Fachwelt, gleich ob Photonen-, Protonen- oder
Schwerionenanhänger, wird das HIT (Kosten: circa 72 Millionen Euro, Inbetriebnahme: Ende 2006) mit seinem Forschungsanspruch begrüßt. Alle Seiten gleichermaßen sehen die
Einrichtung als eine Art Schlichtungsstelle.
Während die wissenschaftliche Gemeinschaft sich auf das
HIT freut, hat der Chirurg Hans Rinecker in München sein
Protonentherapie-Zentrum gebaut – für etwa 150 Millionen
Euro, privat finanziert. Alles ist auf Effizienz ausgelegt, man hat
sich auf 4000 Patienten pro Jahr eingerichtet. Alle Diagnoseund Planungseinheiten sind doppelt vorhanden, bestrahlt wird
14 Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche, fünf Bestrahlungsplätze wurden installiert, und zwar über der Erde, wie
Jörg Hauffe, Vorstandssprecher der Betreiberfirma ProHealth,
betont, während er durch den Wartebereich mit Glasfassade
und Blick aufs Isargrün führt. Man plant, schon im kommenden Frühjahr die ersten Patienten zu behandeln: Vom deutschakademischen Standpunkt aus eine Frechheit. Obwohl weltweit bis heute über 40 000 Patienten mit Protonen behandelt
wurden, gilt die Methode noch als experimentell und sei damit
wissenschaftlichen Studien an Unikliniken vorbehalten – also
nichts für einen Privatmann, der sich das Know-how zusammenkauft, sagen die Kritiker. Freilich: Viele von denen, die sich
so äußern, hätten selbst gern einen Protonenbeschleuniger im
Keller oder wollen Linearbeschleuniger verkaufen.
Baustelle Hoffnung: Unter Leitung von
Jürgen Debus wird in Heidelberg das
Ionenstrahl-Therapie Centrum gebaut
kommenden Wochen werde mit weiteren Kassen verhandelt,
sagt Hauffe. Und selbst ohne Kostenübernahme durch die
Protonentherapie-Projekts. Und aus der Patientenperspektive?
gesetzlichen Kassen soll sich das Konzept rentieren. ProHealth
Das ist noch unklar.
plant bereits die Expansion: Anfang Dezember war Spatenstich
Viel versprechend ist die Methode allemal, und es gibt weltfür ein Rhein Proton Therapy Center in Köln, in Leipzig soll
weit viel mehr Erfahrung mit Protonen als mit Schwerionen.
auch eins entstehen, denn das Münchner Zentrum könne
Bei ProHealth werden Kritiker daher rasch zu den Neidern in
gerade „zwei Prozent des deutschen Bedarfs decken“. Die Prodie Schublade gesteckt. Diesmal wollen sogar die Krankenkastonen-Skeptiker rechnen allerdings anders. Für die bislang von
sen zahlen. Zumindest hat das Unternehmen bereits einen
den Kassen vorgesehenen Indikationen (drei sehr seltene
Versorgungsvertrag mit der AOK Bayern abgeschlossen, in den
Tumorarten) würde ein Zentrum in Deutschland reichen.
Offenbar gibt es auch in der Strahlentherapie neben wissenschaftlichen
DAS STRAHLENCHIRURGISCHE ALLHEILMITTEL
und medizinischen weitere Interessen.
WIRD ES NICHT GEBEN. DARAN ÄNDERT AUCH
Anders ist der schwer durchschaubare
DER ANHALTENDE EXPERTENSTREIT NICHTS
Streit zwischen den Schulen kaum zu
Aus kaufmännischer Sicht spricht vieles für den Erfolg des
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haben Fehlschüsse schwere Folgen. Photonen mögen weniger
bewirken als Protonen oder Schwerionen, aber so richten sie
auch weniger Schaden an, wenn sie mal daneben gehen.
Wenn nicht sogar unerwünscht, scheint Millimeterarbeit in
vielen Fällen gar nicht notwendig zu sein, weil sich das Normalgewebe von Strahlenschäden erholen kann. So wird es eine
gesellschaftliche und gesundheitsökonomische Frage, ob man
alles technisch Machbare nutzt und bezahlt, ohne dass ein messbarer Zusatznutzen für den Patienten dabei herauskommt.
Vielleicht müssen die Strahlenmediziner aber gar nicht
derart aufwendige Großtechnologie wie die Teilchentherapie
gegen den Krebs auffahren.
Neue bildgebende Verfahren spüren Tumoren immer
früher auf. Seit kurzem benutzt zum Beispiel der Münchner
Strahlenmediziner Michael Molls die Positronenemissionstomografie (PET) in Kombination mit der Computertomografie auch für die Bestrahlungsplanung. PET liefert Informationen über biologische Prozesse, zum Beispiel über die
Stoffwechselaktivität eines Tumors. „Die Überlagerung von
PET- und CT-Bildern macht selbst kleinste Tumoren sichtbar“, sagt Molls. Zugleich gibt das CT-Bild Aufschluss über
deren genaue Lage. „Ganz kleine, noch nicht metastasierte
Tumore kann man ausschließlich mit Photonen behandeln“,
sagt der Münchner Radioonkologe. Dazu brauche man nicht
unbedingt die ausgeklügeltsten und modernsten Verfahren der
Photonentherapie oder gar eine Vorbehandlung mit Skalpell
oder Chemotherapeutika, weil die kleinen Geschwüre scharf
abgegrenzt sind. „Das Fernziel ist, mikroskopische Tumore zu
erkennen und lokal zu bekämpfen.“
Ob die neuen Bildgebungsverfahren die weitere Hochrüstung der Strahlentherapie überflüssig machen oder umgekehrt
erst neue, noch präzisere Technologien ermöglichen, wird sich
zeigen. Vielleicht leitet die biologische Sicht auf den Tumor
den nächsten radikalen Technologiesprung ein wie einst die
Computertomografie. Vielleicht bringt sie aber auch eine jener
Verbesserungen, die in der Summe die Krebsbehandlung tatsächlich revolutionieren. y
erklären. Fest steht, dass nicht eine Strahlenart und eine Technik zum radiochirurgischen Allheilmittel aufsteigen wird. Vielmehr erweitern die Neuentwicklungen das Behandlungsspektrum stetig. Denn mit Protonen und Schwerionen mag man
zwar präziser zielen können als mit Photonen, manchmal ist
es jedoch notwendig, eben nicht so haarscharf zu treffen, sondern zum Beispiel an den Rändern etwas auszufransen, weil der
Tumor schwammartig in das gesunde Gewebe hineinwächst.
Und was nützt das präziseste Gewehr, wenn sich die Schützen
nicht einig sind, worauf sie zielen sollen? Gibt man drei Therapeuten die Computertomografien eines Patienten, werden
sie drei unterschiedliche Zielvolumina einzeichnen, je nach
ihrem Erfahrungsschatz. Auch bei bewegten Zielen kommen
Partikelstrahlen nicht in Frage, denn mit der Zielsicherheit
stiegen die applizierten Dosen. Wegen dieser Dosis-Eskalation
Hanno Charisius ist Redakteur bei Technology Review.
Bei seiner Recherche begegneten ihm viele Krebspatienten.
Ihre Kraft hat ihn am meisten beeindruckt.
links + informationen
www.degro.org/aktuelles_idx.htm Positionspapiere
der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie
www.gsi.de/portrait/Broschueren/Therapie/index.html
Informationen der GSI über Schwerionentherapie
Telefonnummer des Krebsinformationsdienstes am
DKFZ, Heidelberg: 06221/41 01 21
Bamberg, Molls, Sack (Hrsg.): Radioonkologie.
Zuckschwerdt Verlag, 2003 Zweibändiges Lehrbuch
über Grundlagen und Anwendung der Strahlentherapie
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