So starben die römischen Kaiser

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Ute Schall
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So starben die
römischen Kaiser
Historische Erzählungen
ACABUS
Ute Schall
So starben die
römischen Kaiser
Historische Erzählungen
Schall, Ute: So starben die römischen Kaiser. Historische Erzählungen,
Hamburg, ACABUS Verlag 2013
Originalausgabe
PDF: ISBN 978-3-86282-238-6
ePub: ISBN 978-3-86282-239-3
Print: ISBN 978-3-86282-237-9
Lektorat: Claudia Müllerchen, ACABUS Verlag
Korrektorat: Melanie Hahn, ACABUS Verlag
Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag
Umschlagmotiv: www.pixabay.com
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______________________________
© ACABUS Verlag, Hamburg 2013
Alle Rechte vorbehalten.
http://www.acabus-verlag.de
Meinen Freunden
Alexander und Marie B. gewidmet
Inhaltsverzeichnis
Vorwort...........................................................................................7
Die Julisch-Claudische Dynastie: Von Caesar bis Nero.............9
Der Griff nach den Sternen – Gaius Iulius Caesar...............................9
Könige des Ostens – Antonius und Kleopatra...................................16
Prinzentod – Drusus...........................................................................20
Vom Sterben des Kaisers Augustus....................................................24
Der alte Mann von Capri – Tiberius...................................................29
Gaius Caesar, genannt Caligula.........................................................35
Ein Trottel namens Claudius..............................................................39
„… wenn er nur herrscht!“ – Der Tod Iulia Agrippinas.....................45
Das gefährliche Dampfbad – Octavias qualvolles Sterben................50
Seneca oder Der Weisheit Höhepunkt................................................54
„Seht, das ist Treue!“ Kaiser Neros mühsames Sterben....................57
Das unrühmliche Dreikaiserjahr: Galba, Otho und Vitellius.. 61
Nur ein gichtiger Greis – Servius Sulpicius Galba............................61
Der Kaiser, der besser starb als er herrschte. Marcus Salvius Otho...65
Vitellius, der Vielfraß.........................................................................68
Das Flavische Kaiserhaus: Vespasian und seine Söhne............72
Der merkwürdige Kaiser Vespasian...................................................72
Titus – Das Entzücken des Menschengeschlechts.............................76
„Es ist genug!“ Domitian...................................................................81
Adoptivkaiser und Antonine: Von Nerva bis Commodus........86
Nerva..................................................................................................86
Der Zweck heiligt die Mittel. Trajan..................................................89
Das Ende des Regenbogens – Antinoos.............................................93
Der den Frieden liebte und doch Krieg führen musste
– Publius Aelius Hadrianus................................................................99
Der fromme Antoninus ...................................................................106
Lucius Verus.....................................................................................109
Der letzte Aufbruch. Marc Aurel......................................................112
Der missratene Sohn – Commodus..................................................116
Die aus der Fremde kamen: Die afrikanischen und
syrischen Kaiser. Von Pertinax bis Alexander Severus..........120
Wer, bitte, ist Pertinax?....................................................................120
Didius Iulianus.................................................................................123
„Gibt es noch etwas zu tun?“ Kaiser Septimius Severus.................126
Trauer muss Augusta tragen. Getas Tod...........................................129
Caracalla...........................................................................................132
Der als Kaiser nie nach Rom kam – Macrinus.................................135
Ein feenhafter Priesterknabe. Elagabal............................................138
Ein Geschenk der Götter. Alexander Severus..................................141
Die Soldatenkaiser: Von Maximinus Thrax bis Carus...........145
Maximinus Thrax. Ein Thraker und andere Emporkömmlinge ......145
Gordianus´ III. früher Tod................................................................149
Der finstere Araber. Philippus Arabs . .............................................151
Undank ist der Welten Lohn. Decius...............................................153
Gallus...............................................................................................156
Die Pest und die Perser. Valerian ....................................................159
Der verhinderte Gutmensch. Gallienus............................................163
Claudius Gothicus und andere Thronräuber....................................166
Aurelian und die Königin von Palmyra...........................................168
Tacitus und seine Nachfolger...........................................................172
Carus und wer nach ihm kam...........................................................175
Die Tetrarchie und die Constantinische Dynastie:
Von Diocletian bis Julian Apostata...........................................177
C. Aurelius Valerius Diocletianus und der Verzicht auf die Macht..177
Flavius Valerius Constantius............................................................182
Constantin & Co. – Die Nachfolger Diocletians..............................184
Das späte Bekenntnis des Maximinus Daia.....................................192
Licinius’ Tod....................................................................................194
Constantin II., Constans & Co.........................................................196
Constantius II. .................................................................................202
„Du hast gesiegt, Galiläer!“ – Julian, genannt Apostata..................206
Die Kaiser des späten vierten Jahrhunderts:
Von Jovian bis Theodosius........................................................ 211
Iovianus............................................................................................211
Flavius Valentinianus.......................................................................212
Flavius Valens. Der im Schatten seines Bruders stand....................216
Gratianus..........................................................................................218
Die ungleichen Kollegen: Maximus und Valentinian II...................220
Eine Marionette auf dem Thron. Eugenius......................................222
Der den Christengott liebte – Theodosius . .....................................223
Das Ende: Von Arcadius bis Romulus Augustulus..................225
Die ungleichen Brüder. Flavius Arcadius .......................................225
Honorius, das Kind..........................................................................227
Ein weiterer Kindkaiser – Theodosius II.........................................229
Valentinianus III...............................................................................231
Der Herr der 70 Tage – Petronius Maximus....................................233
Eparchius Avitus...............................................................................235
Der Mann, der im Osten herrschte – Flavius Marcianus.................237
Maiorianus – Ein letzter Versuch.....................................................239
Der Schattenmann. Flavius Libius Severus.....................................241
Anthemius, der Glücklose................................................................242
Flavius Anicius Olybrius..................................................................245
Glycerius..........................................................................................247
Iulius Nepos.....................................................................................248
Romulus, das Kaiserlein..................................................................249
Das Ende des Weströmischen Reiches.....................................251
Karte: Überblick über die erwähnten Orte.............................253
Glossar: Lateinische Zitate und Begriffe.................................254
Vorwort
Lang ist die Reihe der römischen Kaiser, die mit der Alleinherrschaft Gaius
Iulius Caesars knapp fünfzig Jahre vor der Zeitenwende begann, und gering die Zahl derer, die die Bühne des Weltgeschehens auf natürlichem
Weg wieder verließen. Von vielen von ihnen, die oft nur Tage oder Wochen
regierten, haben die Annalen kaum mehr als die Namen bewahrt. Und es
war eigenartig: Obwohl sich ein jeder Anwärter auf die höchste Würde, die
Rom zu vergeben hatte, ausmalen konnte, dass seine Regentschaft nicht
lange währen und er wahrscheinlich eines gewaltsamen Todes sterben
würde, herrschte nie ein Mangel an Bewerbern. Bis zum Ende Westroms
(476 n. Chr.) blieb das dortige Herrscheramt begehrt, hoffte jeder Thron­
inhaber, ihm würde das Schicksal mehr gewogen sein als den meisten seiner Vorgänger.
„So lebten die römischen Kaiser“ hat vor einigen Jahrzehnten Ivar Lissner seine Sammlung populärwissenschaftlicher Kurzbiografien der römischen Herrscher von Caesar bis zu den Soldatenkaisern genannt. Das vorliegende Werk versucht, daran anzuknüpfen, und die mehr oder weniger gut
dokumentierten Todesfälle dem interessierten Leser in verständlicher Form
näher zu bringen. Dabei werden alle Kaiser des Weströmischen Reiches
berücksichtigt, beginnend bei Caesar und endend bei Romulus Augustulus.
Wo die alten Quellen schweigen oder nur unzureichend berichten, sprechen
die Sterbenden, auf ihr Leben zurückblickend, selbst. So etwa Marc Aurel,
der sich noch auf dem Krankenlager kurz vor seinem Tod ganz seinen philosophischen Betrachtungen hingab, oder Diocletian, der, wohl einzigartig
in der römischen Kaisergeschichte, auf die Macht verzichtete und sich in
seinen letzten Lebenstagen damit begnügte, Gemüse zu züchten …
Je kürzer und sachlicher die Berichte über die einzelnen Herrscherpersönlichkeiten werden, desto mehr nähert sich Rom seinem Untergang.
Schon die ungewöhnlichen Namen der Kaiser der letzten beiden Jahrhunderte in Westrom und die rasche Abfolge der Throninhaber zeigen den Verfall des Reiches.
Mit Romulus hatte nach dem Glauben der Alten die glorreiche römische Geschichte begonnen, mit Augustus ihren Höhepunkt erreicht. Und
mit Romulus Augustulus ging sie schließlich – vorerst freilich nur für
Westrom – zu Ende. Schon die Republik war, vor allem in ihren letzten
Jahrzehnten, nie frei von Gewalt gewesen. Durch die über fünfhundertjährige Kaiserzeit aber zieht sich eine ununterbrochene Blutspur, die mit der
Ermordung Caesars an den Iden des März im Jahre 709 a.u.c. begann und
7
mit der Vertreibung des „Kaiserleins“ 476 n. Chr. ein unrühmliches Ende
fand.
Auch einigen „Nebenfiguren“, die eng mit dem Kaiserhaus verbunden
waren, wurde das eine oder andere Kapitel gewidmet. So etwa Neros Erzieher Seneca oder Antinoos, der als Freund und enger Vertrauter Kaiser
Hadrians auf mysteriöse Weise während einer Nilkreuzfahrt ertrank.
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Die Julisch-Claudische Dynastie:
Von Caesar bis Nero
Der Griff nach den Sternen – Gaius Iulius Caesar
100–44 v. Chr.
Unmittelbar bevor ihm jener Stich versetzt wurde, von dem die Ärzte später behaupten sollten, dass es von 26 der einzige tödliche war, sah Caesar auf und schaute mit schreckgeweiteten Augen in die Gesichter seiner
Feinde, die er noch bis vor wenigen Minuten für seine Freunde gehalten
hatte. Dann entfernte sich in der kurzen Zeit, die ihm der Tod noch gewährte, der tränenverschleierte Blick, und er erkannte sich im Feldherrnmantel, ein strahlender Held, vor dem sie ehrfurchtsvoll das Knie beugten.
Noch einmal ritt er durch die Weiten Galliens, setzte über in die unheimlichen Wälder der germanischen Völker, überschritt, alles auf eine Karte setzend, den Rubikon und entdeckte sein Spiegelbild in den Wellen des Nils,
dessen Grün den Augen der Königin glich, Kleopatras, der einzigen Frau,
die in der Lage gewesen war, ihm wenigstens vorübergehend die Sinne zu
rauben.
Ein letztes Mal kostete er den Geschmack der Macht, der ihm jetzt jedoch bitter erschien, sodass ein leises Seufzen seiner gemarterten Kehle
entfuhr. „Auch du, mein Sohn?“, wunderte er sich, als er Brutus gewahr
wurde, dem er so lange wie ein Vater gewesen war. Nein, dachte er, nein.
So viel Aufhebens hätte es nicht bedurft. Wisst ihr Narren denn nicht, dass
ich aus dem Partherkrieg nicht mehr heimgekehrt wäre, dass das Schicksal
meine Tage gezählt hatte, ohnehin?
Dann griff er nach seiner blutbesudelten Toga und zog sie sich über den
Kopf. Niemand sollte sagen können, ein Gaius Iulius Caesar, der große
Caesar, verstünde nicht, mit Würde zu fallen. Sterbend umfing er die Statue des Pompeius, als suche er Halt an dem Mann, der sein Freund und
sein Feind gewesen war. Und ein augurenhaftes Lächeln umspielte seinen
schmallippigen Mund.
Der volle Mond streute ein diffuses Licht durch den hauchdünn geschliffenen Travertin der Fenster des ehelichen Schlafgemachs. Das Jahr war noch
jung, und dennoch lastete schon eine fast sommerliche Schwüle über dem
hohen Raum. In wenigen Tagen würden sie das Fest der Liberalia feiern,
und zahllose Knaben würden ihre Kinderkleider ablegen und die toga virilis empfangen, um in den Kreis der erwachsenen und wehrfähigen Männer
aufgenommen zu werden.
9
Calpurnia schreckte hoch aus wirrem Traum. Hatte sie überhaupt ein
Auge zugetan? Sie wusste es nicht. Erinnerte sich nur, dass ihr gewesen
war, als halte sie, die liebte, ohne wiedergeliebt zu werden, den blutüberströmten Gatten leblos in den Armen. Aber nein, da war nichts. Sie setzte
sich auf und sah zu ihm hinüber. Sein Atem ging gleichmäßig, doch seine
Züge umspielte ein leidender Ausdruck, und Schweißperlen glänzten auf
der hohen gelichteten Stirn. Liebevoll strich sie ihm über die feuchtwarme Haut. „Gaius Iulius Caesar“, flüsterte sie. Sie hatte ihr Glück kaum
fassen können, als er bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte, er,
nach dem sich die Schönen Roms in langen Nächten verzehrten, heimlicher
König des Reiches und mächtigster Mann seiner Zeit, der Rom eine Welt
zu Füßen gelegt hatte. Warum sorgte sie sich nur so sehr? Warum war ihr,
als hätten sie schon lange Abschied von einander genommen? Wovor diese
doch sicherlich unbegründete Furcht?
Hatte er nicht bislang allen Gefahren getrotzt? Den Nachstellungen Sullas in früher Jugendzeit, der Geldgier der Piraten, die ihn auf hoher See
aufgebracht und dann, wie er meinte, gegen ein viel zu geringes Lösegeld
wieder freigelassen hatten. Den gallischen Kriegern, die auf seinen Kopf
ein Preisgeld ausgesetzt hatten. Der Missgunst schließlich eines Pompeius
Magnus, der lange sein Freund und Schwiegersohn, zuletzt jedoch sein erbittertster Gegner gewesen war.
Aus jeder Gefahr war er gestärkt hervorgegangen, sodass der Volksmund
mit einer gewissen Berechtigung verbreiten konnte, ihm hafte das Glück an
wie vielen anderen erkaltetes Pech. Aber ruft nicht so viel göttliche Gunst
auch manchen Neider auf den Plan?
Schwerfällig erhob sich die edle Frau, zog die neben der Bettstatt bereit liegende palla über, trat ans Fenster und öffnete leise den Seitenflügel,
der den Blick auf das weitläufige säulenbestandene Atrium freigab, das im
hellen Mondlicht verführerisch glänzte. Die würzige Frühlingsluft vertrieb
für einen Augenblick die schweren Gedanken. Sie legte den Kopf in den
Nacken und schloss die Augen. Dann tat sie einige Schritte hinaus in die
unbekannte Nacht.
Bäume und Sträucher warfen gespenstische Schatten, und silbern spielte das Mondlicht auf der glatten Fläche des Teichs. Frösche quakten. Das
Murmeln des Brunnens klang wie aus weiter Ferne, aus einer anderen
fremden Welt. Wie friedlich doch alles erscheint, dachte Calpurnia, doch
sie wusste, dass die Idylle trog. Es lag etwas Lauerndes und Warnendes in
der Luft, Bedrohung, Veränderung, Verrat und Angst. Sie schleppte sich
zurück zu ihrem Gatten, betrachtete aufmerksam sein eingefallenes Gesicht, die hohen Wangenknochen und die Haut, die die Spuren des Alters
vorwegnahm. Und plötzlich war ihr, als blicke sie in die fahle Maske eines
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Toten. Erschaudernd bettete sie sich auf ihr Lager und fiel erneut in einen
schweren, schweißtreibenden Traum.
Die Zeichen der Zeit standen schlecht. Angst lähmte die siebenhügelige
Stadt. Menschenleer dehnte sich das Forum selbst in den lichtdurchfluteten
Tagesstunden. Nachts aber machten vermummte Gestalten und zweifelhaftes Gelichter die Straßen unsicher. Ein Ausgeraubter hier, ein Erschlagener
dort. Hilferufe, die ungehört in der Dunkelheit verhallten. Morgens gräss­
lich entstellte Leichen nackt im Tiber treibend, gesichts- oder kopflos, das
Gedärm nach außen gekehrt. Köpfe, die tränenlos und unbewimpert von
den Gemonien rollten. Schnödes Verbrechen blieb ungesühnt.
„Weißt du es schon? Hast du es auch gehört?“ In Etrurien wurde ein Kalb
mit drei Köpfen geboren. Hafer wuchs dort aus den Kronen der Bäume. Eigenartige Vögel, für die niemand einen Namen kannte, kreisten über Dörfern und Städten. Man sah eine Schlange, die sich vom Schwanz her selbst
verzehrte. In Capua gar stießen Siedler beim Bau ihrer Hütten auf uralte
Gräber. In einem fand sich eine eherne Tafel. In den gestelzten Lettern
einer vielhundertjährigen Schrift stand darauf geschrieben:
„Unbekannter, der du die Gebeine des Capys entdeckest,
melde in Rom, ein Enkel des sagenumwobenen Gründers
werde dort durch verwandte Hand heimtückisch fallen.
Das aber werde Italien mit großer Heimsuchung büßen.“
Düstere Zeiten kündigten sich an, Zeiten, die die Menschen verstummen
ließen. Nur einer achtete der ungünstigen Omina nicht: Gaius Iulius Caesar, der sein Geschlecht auf Iulus, den legendären Vorvater, und damit auf
die Göttin Venus selbst zurückführte.
„Hüte dich vor den Iden des März!“, hatte ihm erst kürzlich Spurinna im
Senat zugerufen, der Seher, der blind war und doch mehr als andere sah.
Aber der heimliche König Roms, Diktator auf Lebenszeit, hatte darüber
nur gelacht. „Es liegt im Interesse der Allgemeinheit, dass ich am Leben
bleibe. Wenn mir nämlich etwas zustieße, würde das Rom erneut in blutige
Bürgerkriege stürzen.“
Doch dann auch bei ihm Träume, immer wieder diese Träume: Da war
der Zaunkönig, der, einen Lorbeerzweig im Schnabel, zur Kurie des Pompeius flog. Doch sollte er sie nicht erreichen. Denn schon unterwegs stürzte
sich ein Schwarm von Raubvögeln auf ihn, um ihn zu zerreißen. Wie er,
Caesar, sich in Gesichten über Wolken schwebend wiederfand und Jupiter
die Hand reichte. Und dann Calpurnia, die schlafwandelnd durch Gemächer, Hallen und Flure schlich, die nachts schrie und um sich schlug, ohne
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sich morgens daran zu erinnern. Wie sie sich drehte und wand, wenn sich
das kalte Mondlicht auf ihr Antlitz legte! Dann wieder lag sie ruhig neben
ihm, als sei sie in den ewigen Schlaf gesunken.
Wie von Geisterhand angestoßen springen Türen und Fenster auf. „Wer
da?“, will Caesar wissen, doch eine Antwort erhält er nicht.
Und er schüttelt sie, wortstark beschwört er sie, zu sich zu kommen.
Aber erst anderntags soll er erfahren, dass ihr gewesen war, als halte sie
den Gatten ermordet in den Armen.
„Ich beschwöre dich, heute nicht in den Senat zu gehen“, fleht sie ihn
an. Darf denn nicht auch Caesar einmal krank sein? Händeringend wirft
sich die stolze Römerin vor ihm zu Boden und umfängt seine Knie. Nur
diesen einen Wunsch möge er ihr noch erfüllen. Dann werde sie nichts
mehr erbitten.
Aber der Gatte schüttelt sie unwirsch ab. „Ich bitte dich, Frau, reiß dich
zusammen! Was soll die Dienerschaft denken? Ist dir die Fassung abhan­
dengekommen?“ Vergeblich ihre Tränen. Was gibt der große Diktator auf
Weibergeschwätz!
Einen Augenblick lang sieht er sie an. Und er schaut in Augen, die Ratlosigkeit, nein, Verzweiflung widerspiegeln, schattenumrandet über eingefallenen, fast hohlen Wangen. In einer Nacht scheint sie ihm um Jahrzehnte
gealtert zu sein. Dünn spannt sich über Knochen gelbe Haut, und unter dem
durchsichtigen Gewand bebt eine magere Brust.
Da dauert sie ihn. „Nun“, verspricht er, „ich werde, ehe ich gehe, noch
die Auguren befragen. Damit du beruhigt sein kannst.“ Dabei drückt er ihre
knochige Hand. Als er dann seinem Herzen tatsächlich einen Stoß gibt und
die von Roms Männern kundigsten zu Rate zieht, können auch sie, das Gesicht nach Süden gewandt, wie es den uralten ungeschriebenen Gesetzen
entspricht, kopfschüttelnd und achselzuckend nur Zeichen von rechts, also
von der Seite des Sonnenuntergangs und damit des Unheils erkennen. Und
als sich sogar die heiligen Hühner weigern zu fressen, da wird auch Roms
stärkster Mann für einen Augenblick schwach. Täte er doch gut daran, die
Warnungen seiner Frau ernst zu nehmen? Heißt es nicht, Frauen hätten mitunter das zweite Gesicht?
Aber die Verschwörer haben vorgesorgt. Sie haben Decimus Brutus, einen
der Ihren, ins Haus des Diktators geschickt. Er hat den strengen Auftrag,
ihn heute, koste es, was es wolle, in die Kurie zu schleppen. Zu umfangreich sind die Vorbereitungen für diesen Tag gewesen, einen Triumphtag
für die Res Publica, wie man glaubt. Die Nerven liegen allenthalben blank.
Denn längst ist der geplante Anschlag kein Geheimnis weniger Eingeweih12
ter mehr. Schon pfeifen ihn die Spatzen von den Dächern. Es gibt zu viele
Mitläufer, Mitwisser und potentielle Verräter.
Decimus Brutus ist ein redegewandter Mann. Nicht zufällig ist die Wahl
auf ihn gefallen. Oft genug hat er die Kunst des Redens und Überredens vor
den versammelten Vätern bewiesen, und auch jetzt macht er seine Sache
geschickt:
„Seit wann, mein Feldherr, achtest du auf das Geschwätz einer Frau?
Du selbst hast für heute den Senat einberufen. Was werden die Väter denken, wenn sie erfahren, sie sollen nach Hause gehen und wiederkommen,
wenn Calpurnia besser geträumt hat? Schöne Genugtuung für deine Feinde! Caesar, werden sie sagen, der große Caesar, dem wir für den Partherfeldzug sogar das Königsdiadem angeboten haben, fürchtet sich vor den
Hirn­­­­gespinsten eines einfältigen Weibes. Ich höre schon ihr schadenfrohes
Lachen. Aber wenn du die Sitzung durchaus verschieben willst, nun, dann
ist es wohl das Beste, wenn du es den versammelten Vätern selbst sagst.“
Die triumphierenden, lachenden Gegner: Ein Argument, das auch einen
Caesar überzeugt. Freilich sind nicht alle Bedenken zerstreut. Aber darf er
sich ohne Not eine Blöße geben, sich dem öffentlichen Gerede aussetzen?
Nicht für alle Calpurnias der Welt! Die Tränen seiner Frau missachtend,
verlässt er das Haus, um als Lebender nicht wiederzukehren.
Auf der Straße dann das gewohnte Bild: Man belagert ihn, man bedrängt ihn. Aufdringliche Bittsteller begleiten die Sänfte. Aber das ist man
als Caesar gewohnt. Kaum vermögen die Liktoren, einen Weg durch die
drängende Menge zu bahnen. Einem der Verfolger, er heißt Artemidorus
und ist ein griechischer Gelehrter, gelingt es, ihm eine kleine Papyrusrolle
in die Hand zu drücken. Sein Anliegen, keucht er, sei besonders dringend.
„Lies!“, beschwört er ihn, „aber bitte lies bald! Der Inhalt ist für dich von
größter Bedeutung.“
Aber Caesar kommt nicht zum Lesen. Er lehnt sich entspannt zurück.
Wie angenehm ist doch das Bad in der Menge! Gleich einem Fischschwanz
zieht eine anschwellende Menschenschar hinter ihm her. Hat er es nicht
schon immer verstanden, die Massen für sich zu begeistern? Jubelrufe.
Ave! Es lebe Gaius Iulius Caesar!
Im Senat dann lächelt er spöttisch zu Spurinna hinüber. „Du siehst, Alter,
die Iden des März sind gekommen!“
„Sie sind gekommen. Aber vorüber sind sie noch nicht“, gibt der alte
Mann warnend zurück.
Alles ist ruhig, gewiss. Nur die Verschwörer können wissen, dass der
Tag nicht halten wird, was der Morgen verspricht.
Dann die übliche Begrüßung: ein Kopfnicken zur Linken, ein Handgruß nach rechts. Ehrerbietig erheben sich die Senatoren, weniger vor dem
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Mann als vor dem Amt, das er auf schmächtigen Schultern trägt. Nichts
deutet auf etwas Ungewöhnliches hin, im Gegenteil. Brutus und seine
Freunde sind heute besonders zuvorkommend, geleiten den Diktator sogar
zu seinem Sitz. Nur einige Plätze in der ersten Reihe sind leer. Aber Caesar
fällt das nicht einmal auf. Da tritt, wie auf ein verabredetes Zeichen hin,
Tillius Cimber an Caesar heran.
Draußen indes hat Trebonius, einer der Verschwörer, Caesars Freund
Marcus Antonius in ein Gespräch verwickelt. Denn bei Antonius weiß man
nie. Manche Schlacht hat er mit dem Imperator geschlagen, längst wird er
schon als dessen Nachfolger gehandelt. Es steht zu befürchten, dass der erfahrene General, hielte man ihn nicht auf, die Pläne der Attentäter noch im
letzten Augenblick durchkreuzte und seinem Freund zu Hilfe eilte. Zudem
verfügt er über eine stattliche Anhängerschaft im Senat.
Schon hat Cimber den noch immer Ahnungslosen an der purpurverbrämten Toga ergriffen. Er bittet um Gnade für seinen verbannten Bruder,
den er so lange nicht gesehen hat, greift nach Caesars Händen, bedeckt ihm
Haupt und Brust mit verräterischen Küssen. Der Bedrängte springt auf.
Von Gnade will er heute nichts wissen. Da reißt ihm der Bittsteller die Toga
vom Leib. „Was zögert ihr, Freunde?“ Es ist ein gewisser Casca, der mit
gezücktem Dolch hinter dem Opfer auftaucht und den ersten Streich führt.
Aber die Waffe prallt an einem Halswirbel ab. „Das ist ja Gewalt!“, wehrt
sich der Angegriffene, sticht seinerseits zu und durchbohrt Cascas Arm mit
einem Schreibgriffel. Versucht auch noch tapfer, die anderen Attentäter
zurückzudrängen. Aber zu viele haben ihre Messer gewetzt. Das scharfe
Eisen gräbt sich in sein müdes, verdorrendes Fleisch … Ein schmerzhafter Stich trifft die Seite, und Caesar sucht sterbend Halt am Bildnis jenes
Mannes, der wie kein zweiter seinen Weg schicksalhaft begleitet hat: als
Verbündeter, als Freund, als Schwiegersohn und schließlich als Gegner im
Bürgerkrieg, der große Pompeius. Fest hält er die ihm von Artemidorus
zugesteckte Rolle in der Hand. Zum Lesen ist er nicht gekommen. Das
Schriftstück enthält einen Abriss der Verschwörung und die Namen aller,
die in sie verstrickt sind …
In Windeseile war die Kunde von Caesars Fall aus dem Senatsgebäude
gedrungen. Das Rad der Weltgeschichte stand für Augenblicke still. Angst
lähmte das siebenhügelige Rom. Ein jeder stürzte Hals über Kopf ins Freie.
Leerer als sonst gähnten die Straßen. Wer sollte das Ungeheuerliche erfassen? Was sollte nun werden? Ungehört verhallten die Rufe von Freiheit und
Republik. In dieser Lage hätte wohl auch einem Cicero, dessen fast sprichwörtliche Beredsamkeit sogar einen Catilina ans Messer geliefert hatte,
das Wort im Munde gestockt. Mit Bedacht jedoch hatten die Köpfe der
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Verschwörung den alten Zauderer nicht in ihre blutigen Pläne eingeweiht.
Später freilich sollte er ihnen vorhalten, man habe ihn nicht zum Festmahl
geladen …
Niemand vermag zu sagen, wie lange der Ermordete in seinem Blute lag.
Stunden der Ungewissheit vergingen. Die Dunkelheit senkte sich schon
über Rom, als sich drei von Caesars Sklaven – der vierte war in der allgemeinen Verwirrung geflohen – des blutüberströmten Leichnams erbarmten.
Vorsichtig hoben sie ihn auf und betteten ihn auf die Sänfte, mit der sie den
Lebenden am Morgen in den Senat gebracht hatten. Ein Arm des Getöteten baumelte lässig herab. Wer es sah, wandte den Blick erschaudernd zur
Seite.
Dann wankte die kleine Gruppe heimwärts, um Calpurnia ihren Mann
zurückzubringen oder das, was von ihm geblieben war.
15
Könige des Ostens – Antonius und Kleopatra
+ 31 v. Chr.
Noch nie hatte sie sich derart alt gefühlt. Und gedemütigt. Nichts würde ihr
mehr nützen. Nicht ihre Schönheit, die einst legendär gewesen war. Nicht
ihr wacher Geist, der manchen Mann in seinen Bann gezogen hatte. Und
auch nicht die Tatsache, dass sie eine überaus gebildete Frau war, die zwölf
Sprachen in Wort und Schrift beherrschte und ihre Gegner im wahrsten
Sinne des Wortes immer verstand.
Sie war zu klug, um es nicht zu begreifen: Sie hatte das große Spiel um
Macht und Leben verloren. Sie hatte ihn mit keinem ihrer Argumente zu
überzeugen vermocht. Nicht mit ihrer sprichwörtlichen Verführungskunst,
der seine beiden großen Vorgänger blind erlegen waren, nicht mit Tränen
und Kniefall, mit denen sie vergeblich an sein Mitleid appelliert hatte, nicht
mit dem Versprechen einer gemeinsamen Herrschaft über ihr Reich, das
alte Land am Nil. Er würde sie ohnehin an sich reißen, die Macht. Auch
ohne sie. Ihr Versuch, das Königtum für sich und ihre Kinder zu retten, war
kläglich gescheitert. Mit seinen grauen Augen hatte er sie angesehen, Gaius
Octavius, der große Rächer seines Adoptivvaters Caesar, und er hatte mit
eiskalter Vernunft jedes Wort, mit dem sie sich hatte rechtfertigen wollen,
widerlegt. Sie hatte sich nur lächerlich gemacht. Umsonst das golddurchwirkte verführerische Untergewand und das aufgelöste Haar. Umsonst
alles, umsonst.
Es gab keine Rettung mehr. Aber sie würde nicht seinen Triumphzug in
Rom krönen wie einst ihre Schwester Arsinoe den des später gemeuchelten Juliers gekrönt hatte. Dieser Elendsgang kam für sie nicht in Frage.
Sie würde sterben, wie es sich gehörte. Sie würde die Todesart wählen, die
einer Königin vom Nil und letzten Vertreterin einer großen hellenischen
Epoche, der Erbin des großen Alexander, würdig war.
Wäre Octavian auf sein Angebot eingegangen, wer weiß? Aber er hätte
es sich denken können: Caesars für seine Feigheit berühmter Nachfolger
ließ sich auf derartige Spielchen nicht ein. Ein Zweikampf mit ihm, einem
gestandenen Soldaten und grandiosen Feldherrn! Ein Zweikampf um ein
Weltreich! „Marcus Antonius“, sagte er zu sich selbst, „wo lebst du denn?
Erinnerst du dich nicht, dass er nie selbst gekämpft hat, sondern immer andere die Kastanien aus dem Feuer holen ließ? Weißt du nicht mehr, dass er
sich vor jeder Schlacht schlotternd in die Büsche schlug und erst wieder
zum Vorschein kam, wenn die Gefahr vorüber war? Ganz Rom verspottete
ihn dafür. Aber es störte ihn nicht.“
16
Niederlage, Unglück und Verrat hatten Caesars einst so stolzem General schwer zugesetzt. Da waren die jahrelangen Beleidigungen und Verleumdungen Octavians, denen er zum Schluss nichts mehr entgegengesetzt
hatte, weil er des ständigen Streitens müde geworden war. Da war die Niederlage bei Actium, als ihn sogar seine königliche Gemahlin im Stich gelassen hatte, da waren die einstigen Kameraden, die sich nicht gescheut
hatten, ins gegnerische Lager überzulaufen. Nur wenige waren geblieben,
die bereit waren, mit ihm unterzugehen.
Verzweifelt flüchtete sich Marc Anton in Ironie, in ahnungsvolle Reden.
Er ergab sich einer Melancholie, die einem römischen Offizier schlecht anstand. Noch einmal wanderte im Kreise seiner Getreuen der Becher: Wer
wisse schon, was der nächste Tag bringe? Wo würden dann seine Diener
stehen? Bei ihm, bei einem anderen, während er selbst vielleicht schon tot
war.
Am Morgen nach dem Trinkgelage forderte er seinen Waffendiener Eros
auf, ihn zu töten. Doch so bereitwillig ihm der himmlische stets zu Diensten gewesen war, der irdische verweigerte ihm seinen Beistand und zog den
Selbstmord vor.
„Das hast du fein gemacht, Eros. Du hast mir gezeigt, was ich zu tun
habe.“
Und ehe ihn seine Freunde daran hindern konnten, raffte er sich auf und
stieß sich das Schwert in den Unterleib.
Doch sogar zum Selbstmord taugte der verzweifelte Mann nicht mehr.
Blut schoss aus der Wunde. Er krümmte sich vor Schmerzen, flehte die
Anwesenden an, diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu machen, winselte um die Gnade des Todes, wie andere um ihr Leben betteln. Aber niemand eilte ihm zu Hilfe. Der unwürdige Anblick des gefallenen Römers,
der einer der größten seiner Zeit gewesen war, schlug auch den letzten Anhänger in die Flucht.
Oben, im turmartigen Überbau ihres Palastes, ist Kleopatra mit den Vorbereitungen ihres eigenen Abgangs beschäftigt. Sie hat von dem Ungeschick
ihres Geliebten gehört. Wenn sie ihn ob seines Unglücks auch verachtet,
in der Aussichtslosigkeit ihrer beider Lage will sie aller Welt zeigen, was
sich für eine ägyptische Königin gehört. Sie bittet den Hofbeamten Diomedes, den tödlich verwundeten Gatten zu holen. Längst hat sie sich in ihrer
sicheren Festung ihr Sterbezimmer eingerichtet, von der Welt Abschied
genommen und sich mit ihren Dienerinnen hierher zurückgezogen. Diese
letzte Bleibe will sie mit dem Mann teilen, der viele Jahre ihres Lebens so
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schicksalhaft begleitet hat, als Freund, als Geliebter, als Gemahl und Vater
ihrer Kinder.
Er kauert am Fuße der Festung in einem Korb. Und sie selbst hilft bei der
Bedienung des Seils, das ihn, vorbei an dem geschlossenen Unter­geschoss
des Bauwerks, in ihrer beider letzte Wohnung emporhebt.
Als die Königin den blutüberströmten Körper erblickt, zerreißt sie ihre
Kleider, zerkratzt sich die Brüste, beschmiert ihr Gesicht mit dem Blut
des Geliebten und nennt ihn immer wieder ihren Gemahl, ihren Herrn und
König. Jetzt ist sie es, die Trost braucht. Mit schon brechendem Blick rät
ihr Antonius, mit Octavian Frieden zu schließen, und er bittet sie, ihn selbst
nicht zu beweinen. Groß und glücklich sei er gewesen, und es sei nicht
unehrenhaft, von einem Römer besiegt zu werden. Dann haucht er in den
Armen der Königin sein Leben aus, ein letztes Bekenntnis zum Römertum
auf den Lippen: „De mortuis nil nisi bene.“ Später werden viele Historiker
sagen, nicht Octavian habe Marc Anton auf dem Gewissen, er sei vielmehr
sich selber erlegen …
Dann ist auch Kleopatras letzte Stunde gekommen. Und noch einmal erweist sie sich von königlicher Größe. Dienerinnen lassen ihr ein wohlriechendes Bad ein. Die Königin benötigt Entspannung. Sie frühstückt in altgewohnter Pracht und lässt sich danach ein goldenes Gewand anlegen. Es
gilt, dem Tod würdig entgegenzutreten. Inzwischen hat ein Bauer einen
Korb mit Feigen gebracht. Er hat, ohne den Argwohn der römischen Wachen zu erregen, die an den Toren aufgestellt sind, die innere Grabkammer
erreicht …
Die „Erbin“ Alexanders starb am Biss der Uräusschlange, die unter den
Früchten verborgen war. Und noch im Tode triumphierte sie über ihre Bezwinger. Denn sie starb als Pharaonin mit dem Anspruch auf Unsterblichkeit, die ihr das Gift des Tieres nach dem Glauben der Alten verhieß.
Man fand sie auf goldenem Lager, in königlicher Pracht und
Herrlichkeit.
Als sich die Kunde von ihrem Tod verbreitet hatte, verblassten in Rom das
glorreiche Ende der Schlacht von Actium und die Vernichtung des größten
Gegners Marc Anton. „Fatale monstrum“ hatte sie der römische Pöbel in
Nachahmung seiner Führer genannt, da er es nicht besser wusste. „Nunc
est bibendum“, freute sich Horaz. Aber auch Bewunderung war zu hören:
„Non humilis mulier“, kein gemeines Weib, habe sich da selbst gerichtet.
Nicht einmal der Hass ihrer Feinde konnte umhin, das zuzugeben. Doch
niemand konnte ahnen, dass die noch im Tode stolze Königin über mehr
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als zwei Jahrtausende lang Künstler und Poeten in hohem Maße inspirieren sollte.
Bis auf den heutigen Tag geistert sie durch unsere Phantasie als wahre
Siegerin jener welthistorischen Epoche, eine Erbin, die sich wie nur wenige ihrer großen Vorfahren würdig erwies.
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„… denn das Ende deines Leben und deiner Taten ist gekommen.“
Prinzentod – Drusus
39–9 v. Chr.
Wenn ich an Drusus denke, taucht sein Bild vor mir auf aus den Tiefen
einer vergangenen Zeit. Das ebenmäßige, fast schöne Gesicht eines jungen Mannes kommt mir in den Sinn, tiefliegend die rätselhaften Augen, die
immer ein wenig lauernd blicken und das Feuer einer unterdrückten Leidenschaft ahnen lassen. Ich sehe den Kranz der üppigen aschblonden Locken, die seine Züge umrahmen, dunkel die dichten Brauen, gerad­linig die
Nase mit dem schmalen Rücken, von samtener Weiche die Lippen, die stets
ein geheimnisvolles Lächeln umspielt, ein sanft geschwungener Bogen
über einem markanten, energischen Kinn. Ich erinnere eine hoch aufgerichtete, doch feingliedrige Gestalt, die majestätisch durch die weitläufigen
Gänge meines Vaterhauses schritt, sehe ihn freundlich bald zur einen, bald
zu anderen Seite grüßen, beiläufig, ohne die Überheblichkeit, die man bei
einem Menschenkind, das die Natur mit so vielen Vorzügen gesegnet hat,
im Allgemeinen erwartet.
Ich habe auch sie vor mir, die ungezählten Mädchen Roms, die in ihrem
Staunen erstarren, wenn er auf seinem schwarzen Hengst vorübersprengt,
Mensch und Tier scheinen eins, die ihn mit schmachtendem Herzen verfolgen, ehe sie ohnmächtig zu Boden sinken, wenn sie ein zufälliger Blick aus
seinen strahlenden Augen streift.
Er ist es, dem Roms Jugend zujubelt, dem Blumen, Geschenke und
Heilsrufe zufliegen, auch manche Aufforderung zu geheimem Treff. Einmal nur, ach schöner Drusus, es braucht ja auch niemand zu wissen.
Aber auch dieses Bild steigt auf aus dem tiefen Brunnen der Vergangenheit:
Ich erlebe einen der traurigsten Tage in der vielhundertjährigen Geschichte
der erhabenen Roma. Vor mir ein unüberschaubarer Leichenzug, der sich
dunkel und schweigend durch die Porta Flaminia zwängt und stadteinwärts
Richtung Marsfeld wälzt. Nirgendwo ist ein Durchkommen. Hoffnungslos
verstopft sind Plätze, Märkte und Gassen, Menschen wie Ameisen, die sich
eingefunden haben, den allzu früh verlorenen Sohn zu beweinen. Aber kein
Laut ist zu hören. Selbst die Hufe der Pferde sind mit dicken Wolltüchern
umwunden, damit ihr Klappern die Totenstille nicht störe.
Wo immer der sechsspännige Leichenwagen auftaucht, drängt die
Menge ehrfurchtvoll heran. Ein jeder versucht, wenigstens einen Zipfel des
golddurchwirkten Purpurtuchs zu berühren, das den vornehmen Leichnam
vor allzu neugierigen Blicken verhüllt.
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Voran schreitet gesenkten Hauptes Tiberius, die Augen vom Wein und
von Tränen gerötet, als schmerze auch ihn dieser für Rom so herbe Verlust.
Dabei haben die Römer längst über seine Schuld oder Unschuld am Unglück des Bruders ihre eigenen Geschichten gesponnen.
Alte Männer weinen leise vor sich hin. Frauen haben sich mit spitzen
Nägeln Gesichter und Brüste zerkratzt. Schmerzverzerrt schreien stumm
ihre Mienen. Viele der Trauernden haben verzweifelt die Arme zum Himmel emporgerissen, als klagten sie die Ungerechtigkeit der Himmlischen
an. Aber jeder leidet still vor sich hin, als wage er nicht, die Würde des Augenblicks durch ein wie auch immer geartetes Geräusch zu entweihen.
Wenn ich an Drusus denke, läuft es mir eiskalt den Rücken hinab. So habe
ich zuletzt bei den heiligen Opferhandlungen empfunden, als mir der Glaube der Kindheit noch nicht abhandengekommen war. Die Anziehungskraft
kommt mir in den Sinn, die schon der Jüngling auf Menschen und Massen
ausübte, und die Geschicklichkeit, mit der er ihnen, unbewusst und ohne
dass sie es merkten, seinen Willen aufzwang.
Wann immer ich an Drusus denke, denke ich an den Tod.
Rom, das stolz auf mehr als sieben Jahrhunderte zurückblickt. Rom, der
Nabel der Welt, auf den sich die Blicke aller Völker richten. Rom, dessen
Macht das Mittelmeer zu einem Binnensee degradiert, dessen Frieden sich
über die ganze bekannte zivilisierte Welt gebreitet hat.
Vor wenigen Jahren erst sind Tiberius und Drusus, Stiefsöhne des römischen Kaisers Augustus, mit ihren Truppen siegreich bis zur Donau vorgestoßen und haben der Weltmacht einmal mehr einen Gebietszuwachs beschert. Aber zufrieden ist der erste römische Princeps noch nicht. Träume,
immer wieder Träume: von einem Rom, das weit bis zu den Ufern der Elbe
reicht, von einem Reich, das sich vom grimmen Nordmeer bis zu den Donauauen erstreckt. Rom, das im Norden und Süden, im Osten und Westen
von natürlichen Grenzen umgeben ist, Grenzen, die es erlauben, von nur
wenigen Soldaten geschützt zu werden, da sie für die Barbaren nur schwer
oder gar nicht zu überwinden sind. Rom, das keinen Rivalen neben sich
duldet, das es für einen göttlichen Auftrag hält, allen noch nicht bekehrten
Völkern der Welt seinen Frieden aufzuzwingen, was immer man im Zentrum der Macht darunter versteht.
Immer wieder dringen germanische Stämme in das Reichsgebiet ein.
Immer wieder werden Roms ureigenste Interessen durch solche Dreistigkeit verletzt. Längst hat der Princeps beschlossen, der barbarischen Kühnheit in einer groß angelegten Offensive die Stirn zu bieten. Geht es doch
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nicht an, sich durch bloße Verteidigung vor aller Welt ständig lächerlich
zu machen. Drusus fällt die ehrenvolle Aufgabe zu, den geplanten Feldzug
ins feindliche Germanengebiet zu leiten. Im anschaulichen Bericht des Geschichtsschreibers Dio Cassius weht uns noch heute ein Hauch jenes Grauens entgegen, das die römischen Legionäre stets befiel, wenn es in Germaniens unheimliche Wälder ging.
Chatten und Sueben hat der Stiefsohn des Kaisers bezwungen, wenn
auch in einer Art Pyrrhussieg, denn seine Verluste wiegen den Gewinn
nicht auf. Dann durchquert er das Cheruskerland, überschreitet, kühn geworden, die Weser und erreicht schließlich die Gestade der Elbe, verbrannte Erde hinter sich zurücklassend. Ein mächtiger Strom liegt vor ihm, ein
Fluss, der von fernen Bergen kommt und sich in den nördlichen Ozean ergießt. Sehnsüchtig blickt Roms tüchtiger Feldherr an das jenseitige Ufer,
wählt Mutige aus, die mit ihm das große Abenteuer wagen wollen, den
Fluss zu überschreiten bereit sind. Dichter Nebel verhüllt seinen Blick. Da
taucht plötzlich aus den undurchdringlichen Schwaden eine hohe Gestalt
auf, ein übergroßes Germanenweib, das sich ihm und seinem Ansinnen entschieden entgegenstellt. Und er vernimmt eine raue Stimme: „Wohin willst
du, unersättlicher Drusus? Kehre um! Es ist dir nicht beschieden, das jenseitige Land zu schauen. Denn das Ende deiner Taten und deines Lebens ist
gekommen.“ Und wie er gleichsam aus dem Nichts erschienen ist, fällt der
Spuk in sich zusammen.
Verunsichert ist Roms begnadeter Feldherr. Viel halten sich er und seine
Zeitgenossen auf ihre Vernunft zugute, und dennoch lassen sie sich durch
Wunderzeichen und allerlei Vorhersagen immer wieder verstören. Man lebt
in einer abergläubischen Zeit. Ein jeder hätte gehandelt wie er. Er gehorcht
der unheimlichen fremden Seherin sofort. Haben nicht auch zu Hause schon
Zeichen, Unheil verheißende Omina, vor allzu großer Kühnheit gewarnt?
Dennoch: Es gilt, vor aller Welt Roms Besitzanspruch auf dieses Gebiet zu
bekunden. In aller Eile schlägt er deshalb seine Siegeszeichen auf, um sogleich den Rückmarsch an den schützenden Rhein anzutreten. Nur Roms
unsterbliche Götter können wissen, dass er ihn nie erreichen wird.
Zutiefst in seinem Selbstbewusstsein erschüttert, verfolgt von Hexenbann und Zauberspruch, reitet er, die unheilvolle Prophezeiung im Ohr,
womöglich unvorsichtiger, als es durch das unwegsame Gelände geboten
ist. Irgendwo zwischen Saale und Rhein behindert eine unbekannte Kraft
seinen Weg. Hoch auf steigt das erschrockene Ross. Der geübte Reiter
stürzt vom Pferd. Er fällt so unglücklich, dass er sich einen offenen Bruch
des Oberschenkels zuzieht. Die besten Feldärzte werden zu Rate gezogen.
Aber sie schütteln nur verzweifelnd den Kopf. An eine Fortsetzung des
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Ritts ist nicht zu denken. Müde und traurig schlagen die Legionäre das
Nachtquartier auf.
Langsam siecht Roms Hoffnungsträger, das Idol seiner Jugend, dahin.
Wölfe umstreifen heulend das Lager. In der Ferne ist weibliches Klagegeschrei zu vernehmen, und vom Himmel herab regnet es blutige Sterne.
Endgültig verdüstert sich der germanische Himmel. Ein Mond ist über
dem schrecklichen Unfall vergangen. Die Soldaten beten und opfern, bis
ihre Kraft zu Ende geht. Einige bieten den Himmlischen ihr eigenes Leben
für das ihres Feldherrn an. Aber Roms Götter erweisen sich als nicht so
gnädig. Sie wollen den billigen Ersatz nicht.
Vor Drusus läuft noch einmal das Leben ab, die Kindheit im Hause des
Stiefvaters unter Livias strengem Blick, seine eigene Familie, die in Rom
als vorbildlich gilt, die Feldzüge, die er zum Ruhme des Vaterlands unternommen hat. Dann schließt der Liebling der Römer für immer die Augen.
Er ist erst 30 Jahre alt. Man schreibt das Jahr 744 a.u.c. Christliche Autoren
werden vom Jahr 9 vor Beginn der neuen Zeitrechnung sprechen.
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„Und dankend lasst uns alle dann nach Hause gehen.“
Vom Sterben des Kaisers Augustus
31 v.–14 n. Chr.
„Ja, ist es denn möglich?“, wunderte sich der Greis, der grau und ganz klein
in seine Kissen gesunken war. „Es scheint, als neige sich mein Leben nun
tatsächlich zum Ende, und die Vorzeichen, die es mir so unmissverständlich angezeigt haben, behielten zum Schluss doch Recht. Aber ist es nicht
gut so? Befürchtete ich doch schon, der Tod hätte mich vergessen. Mehr als
fünf Jahrzehnte mühevollen Regierens haben mich müde gemacht, meinen
Körper ausgemergelt und meinen Geist verbraucht. Aber ich blicke dankbar zurück. Und auch ein wenig stolz. Habe ich nicht eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden und sie zu einer aus Marmor gemacht? Habe ich nicht die
Waffen beiseitegelegt und meinen Zeitgenossen eine Ära des Friedens, des
Wohlstands und Glücks beschert? Schon beginnen sie, vom augusteischen
Zeitalter zu sprechen. Und sie lieben mich. So bin ich sicher: Man wird
noch meiner gedenken, wenn unsere Knochen schon Staub sind, die Berge
abgeschliffen und die Flüsse und Seen ausgetrocknet. Gelassen und heiter
gehe ich Charon entgegen, dem Fährmann, der mich von der Last des Lebens befreien und sicher über den Styx begleiten wird in jene andere Welt,
in der die Ahnen meiner schon harren.“
Vielfach hatte sich Octavian Augustus, Kaiser des Römischen Reiches,
Vater des Vaterlandes, der sich bescheiden nur Princeps nannte, der Erste
unter Gleichen, der Tod angekündigt. Da hatte etwa, während er opferte,
ein Blitzstrahl eine der Statuen getroffen, die ihm ein dankbares Volk in
Rom und anderswo so zahlreich errichtet hatte, und das „C“ seines Namens Caesar hinweggeschmolzen. Die Seher waren mit der Deutung dieses
Omens rasch zur Hand: „C“, so meinten sie, entspräche dem Buchstaben
für hundert, also habe er noch hundert Tage zu leben. Und der Rest des Namens, „aesar“, bedeute in der Sprache der Etrusker „Gott“ …
Und hatte er nicht selbst das Ende vorausgesagt? Unbewusst zwar, und
doch! Er hatte beabsichtigt, Tiberius, den Nachfolger und Adoptivsohn,
nach Illyrien zu schicken und ihn bis Benevent zu begleiten. Aber immer
neue Gerichtsfälle hielten ihn in der Hauptstadt fest. Da rief er ungehalten
aus, er werde nun nicht länger in Rom bleiben, auch wenn sich alles gegen
ihn verschworen habe. Allen Widrigkeiten zum Trotz begab er sich auf die
Reise, die er, ganz gegen seine Gewohnheit, auch bei Nacht nicht unterbrach. Aber sein geschundener Körper spielte nicht mehr mit. Eine heftige
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Durchfallerkrankung befiel ihn, und er wusste wohl am besten, dass sie der
Anfang vom Ende war.
Der römische Sommer stand hoch. Auf den Dächern der Millionenstadt
brütete die Hitze, und von der Subura, der schmuddeligen Unterstadt, stieg
ein mächtiger Gestank zum Palatin hinauf. Kaum vermochte ein Gesunder,
die stickige Luft zu ertragen, die auch vom Tiber her über dem vornehmsten Hügel waberte. Schon seit den Tagen der längst verlorenen Republik
hatte es sich Roms Nobilität zur Gewohnheit gemacht, die heiße Jahreszeit
am Meer zu verbringen, bevorzugt am Golf von Neapel, wo eine frische
Brise stets für Abkühlung sorgte. Aber man liebte die Gegend, die man
liebevoll nur Campania, das Land, nannte, nicht nur wegen des heilsamen
Klimas und der warmen Quellen. Seit Jahrzehnten hatte eine der lieblichsten Landschaften des gesamten Reiches die Vornehmen der Hauptstadt angezogen. So hatte Cicero in Puteoli einen feudalen Landsitz besessen und
auch Vergil im nördlichen Teil des Golfes seine letzte Ruhestätte gefunden.
In den berühmten Grotten hauste die geheimnisvolle Wahrsagerin Sibylle,
die im Epos des größten römischen Dichters Unsterblichkeit erlangt hatte.
Und es befand sich hier ein Eingang zur Unterwelt …
Der Kaiser stand nachdenklich am Fenster seines Arbeitszimmers und
beobachtete das Treiben auf dem Circus unterhalb seines Palastes. „Ich
muss von Rom weg“, murmelte er vor sich hin. „Die Götter haben meine
Tage gezählt. Wie leicht könnte mein Ableben hier Unruhen auslösen, ehe
Tiberius verständigt werden und nach Rom zurückkehren könnte, um die
Dinge in die Hand zu nehmen. Wenn ich anderswo sterbe, wird sich mein
Tod länger geheim halten lassen, und es ließe sich der Übergang leichter
regeln. Weine nicht, kleines Mädchen!“, wandte er sich an die Kindsklavin,
die soeben ins Zimmer getreten war, um ihm seine Mittagsmahlzeit, einen
Kanten trockenen Brots und eine Handvoll Feigen, zu bringen. „Das ist
eben der Lauf der Natur. Alles ist im Fluss, wie schon Heraklit sagte. Alles
ist von der Schöpfung zum Wandel, zur Veränderung bestimmt. Auch wir,
Mädchen, auch wir. Denke nur an die Metamorphosen meines Freundes
Ovid! Ob er noch lebt? Ich sehe an deinem erstaunten Blick, du kennst ihn
nicht. Wie solltest du auch? Kann doch kaum ich mich noch an sein Gesicht
erinnern. Es ist gut. Du kannst gehen. Es ist gut.
Cum subit illius tristissima noctis imago
qua mihi supremum tempus in Urbe fuit,
cum repeto noctem, qua tot mihi cara reliqui,
labitur ex oculis nunc quoque gutta meis“,
erinnerte er sich des einstigen Freundes.
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In Begleitung von Tiberius, dem düsteren Claudiersohn, segelte er die campanische Küste entlang. Von überall her strömten die Menschen herbei, um
ihm zuzujubeln. Auch Matrosen und Passagiere eines Schiffes, das soeben
aus Alexandria eingetroffen war, alle weiß gekleidet und blumenbekränzt,
riefen ihm Glückwünsche und Danksagung zu. Nur durch ihn und seine
umsichtige Herrschaft könnten sie Leben, Freiheit und Wohlstand genießen. Noch einmal sonnte sich der bedeutendste Mann des Imperiums in der
allgemeinen Verehrung. Er war gerührt und beschloss, sich für die wenigen
Tage, die das Schicksal ihm noch ließ, gegen jedermann freundlich und
großzügig zu erweisen. So verteilte er Gold und wertvolle Gewänder. Noch
einmal besuchte er Capri, das sonnendurchflutete Eiland, das er einst – es
schien ihm wie in einem fernen früheren Leben – von Neapolis gegen das
weniger reizvolle Ischia getauscht und seinem Privatvermögen einverleibt
hatte. Dort verteilte er Körbe mit Delikatessen, wie sie die Inselbewohner
selten gesehen und nie zuvor gekostet hatten. Und in ausgelassener Fröhlichkeit verfolgte er die sportlichen Wettkämpfe der griechischen Jünglingsvereine und dachte voll Wehmut daran, dass ihm, dem damals gerade
18-Jährigen, die Verantwortung für ein Weltreich zugefallen und eine ähnliche Unbeschwertheit nie vergönnt gewesen war.
Vor langer Zeit schon hatte er seinen Palast auf Capri zum Lieblingsaufenthaltsort für die Sommermonate erkoren, aber nur selten hatte er dort
längere Zeit verbracht. Die Sorge um das Imperium gestattete private Neigungen nicht.
Vom Speisesaal aus blickte der Kaiser ein wenig neidisch zu einer nahen
Insel hinüber, auf die sich einige seiner Höflinge zurückgezogen hatten, um
der süßen Muße zu frönen. „Apragopolis“ nannte Augustus sie, Nichtstuerstadt. Unter den vornehmen Aussteigern hatte sich auch ein gewisser Masgaba befunden, ein Günstling des Kaisers, der im Jahr zuvor gestorben und
auf der Insel begraben worden war. „Ktistes“, Gründer, hatte ihn Augustus
ein wenig spöttisch genannt, als wäre er der Entdecker des Eilands gewesen. Menschen mit Fackeln besuchten gerade sein Grab. Masgaba war bei
den Inselbewohnern offensichtlich sehr beliebt gewesen.
„Das Grab des Gründers seh’ ich ganz in Flammen stehen“, zitierte der
Princeps einen griechischen Vers. Verwundert sah ihn Trasyllos, sein ahnungsloser Begleiter, an, und sogleich fuhr der Kaiser fort: „Siehst du der
Fackeln Glanz zu Ehren Masgabas?“ Aber der Grieche konnte sich auf die
Worte seines Herrn keinen Reim machen.
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Zeitlebens war, wie gesagt, der Princeps um seine schwächliche Gesundheit besorgt gewesen, hatte er sich jede Beschränkung auferlegt, um das
Ende möglichst lange hinauszuzögern. Jetzt, im Angesicht des Todes, zeigte er einen verblüffenden Leichtsinn. Er kümmerte sich nicht um seinen
angegriffenen Zustand, als ginge ihn dieser nichts an. In erstaunlicher Gelassenheit verbrachte er mehrere Tage in seinem Palast. Wieder und wieder
wandelte er durch Gänge und Zimmerfluchten, um Abschied zu nehmen,
und ließ sich endlich, den Blick sehnsüchtig rückwärtsgewandt, wieder
aufs Festland übersetzen, um dort noch manche Stadt mit seinem Besuch
zu erfreuen.
Zum letzten Mal riefen ihn die Pflichten des Staatsoberhaupts. Sein
Darmleiden hatte sich verschlimmert, und doch wohnte er, als wäre alles
gut, den gymnastischen Spielen in Neapolis bei, die dort alle vier Jahre zu
seinen Ehren veranstaltet wurden. Dann endlich konnte er daran denken,
seinen „Sohn“ Tiberius, wie versprochen, nach Benevent zu begleiten. Von
dort aus gedachte er nach Rom zurückzukehren. So es dem Willen der Götter entsprach.
Aber er kam nur bis Nola, Nola in Campanien, wo sich sein Elternhaus befand. Von Stunde zu Stunde verschlechterte sich jetzt sein Zustand.
Besorgt rief Livia, Augustus’ langjährige Gefährtin, die wahre Herrscherin Roms, ihren Sohn Tiberius zurück. Doch hat er den Stiefvater wirklich
noch lebend angetroffen? Darüber streiten seit 2.000 Jahren die Gelehrten.
Der Nachfolger sei zu spät gekommen, behauptet Tacitus. Aber Livia
habe das vor Hofstaat und Volk geschickt verheimlicht. In weiser Voraussicht nämlich habe sie Straßen und Haus stark besetzen lassen, um den Tod
des einen und die Nachfolge des anderen gleichzeitig bekannt zu geben.
Sueton hingegen, der Skandalreporter der frühen Kaiserzeit, ist ganz sicher, dass zwischen Vater und Sohn noch jenes letzte klärende Gespräch
stattfand, nach dem Augustus das arme römische Volk bedauert habe, das
nun von so langsamen Kinnbacken zermalmt würde.
War es diese Version, die auch der offiziellen Hofberichterstattung entsprach? Konnte sich Tiberius auf diese Weise nicht auf geheime Anordnungen seines Vorgängers berufen und sie jeder Nachprüfung entziehen, wenn
es unliebsame Maßnahmen zu treffen galt? Denn gerade an ihnen sollte
zumindest zu Beginn seiner Herrschaft kein Mangel sein.
Auch in Campanien flirrte der Sommer. Der 19. August war angebrochen.
Man schrieb das 766. Jahr nach Gründung der Stadt. Spätere Geschlechter
würden vom Jahr 14 der neuen Zeitrechnung sprechen.
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Augustus, der merkwürdige Greis, ist sich bis zuletzt treu geblieben. Er ist
jetzt 76 Jahre alt, und das Wunder seines vom Schicksal reichlich bemessenen Lebens wird von jedermann im Reich bestaunt. Nahezu alle seine Weggefährten hat er überlebt. Jetzt endlich wartet der Tod auch am Bett dieses
Kranken, den jener so lange vergessen zu haben scheint.
Sanft schlummert der alte Mann auf demselben Lager, auf dem vor
Jahrzehnten sein Vater gestorben ist, seinem Ende entgegen. Auf einmal
schrickt er auf und beklagt sich, er werde von 40 Jünglingen weggetragen.
„Haben sich vor dem Haus schon viele versammelt?“, will er von der Frau
an seiner Seite wissen, die er wie keine andere gehasst und geliebt hat.
Dann verlangt er einen Spiegel. Er bittet, ihm das Haar zu kämmen und
die Wangen zu heben. Auch dem Tod, dem letzten aller Feinde, muss man
würdig gegenübertreten. Bei den Freunden, die sein Sterbelager umstehen,
erkundigt er sich, ob er die Komödie seines Lebens gut gespielt habe.
Und, wie es auf der Bühne Brauch ist, fügt auch er, der große Schauspieler, die Schlussformel hinzu:
„Wenn es euch gefallen, gewähret Beifall diesem Spiel.
Und dankend lasst uns alle dann nach Hause gehen.“
Dann verabschiedet er sich von allen und wendet sich sterbend der Frau
zu, die mehr als 50 Jahre an seiner Seite verbracht und sein Leben schicksalhaft begleitet hat:
„Livia, bleibe immer unserer glücklichen Ehe eingedenk und lebe
wohl!“
Jetzt erst darf Augustus tot sein. Tiberius hat die Nachfolge angetreten,
der düstere Claudier, der Menschenfeind. Stafettenreiter werden hinaus ins
Reich eilen und die Nachricht allen verkünden. Und in Rom wird auf dem
Marsfeld bald der Scheiterhaufen lodern, und Numerius Atticus, ein ehemaliger Prätor, wird bei Eid aussagen, er habe die Seele des Verstorbenen
hinauf in den Himmel fahren sehen (und von Livia dafür eine stattliche Belohnung erhalten). So sind Augustus Tempel und göttliche Ehren gewiss.
Der neue Erbe, der, wehmütig beschworen, vor Menschengedenken von
den Göttern herabgestiegen war, ist endgültig in seine himmlischen Sphären zurückgekehrt.
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Der alte Mann von Capri – Tiberius
14–37 n. Chr.
Als der junge Agrippa Postumus begriff, dass es kein Entrinnen gab, dass
die Henkersknechte des verhassten Alten im fernen Rom kein Erbarmen
kannten und niemals seinem Zauber erliegen würden, beschwor er mit ermattenden Kräften alle Flüche des Schicksals auf Tiberius’ blutbeflecktes
Haupt herab. Er sagte ihm den schrecklichsten aller Tode voraus, weissagte
ihm jahrelange Einsamkeit und Menschenangst und schließlich den langsamen Fall von geduldiger Mörderhand.
„Ich sehe Tiberius“, hauchte er, „er wünscht zu sterben und wird nicht
sterben können. Und doch hat er Angst vor dem Tod. Ich sehe ihn, von
weit her kommend, vor den Toren Roms verharren und auf verschlungenen
menschenleeren Pfaden um die Mauern der Ewigen schleichen, vom Ort
seiner gemeinsten Verbrechen angezogen und abgestoßen zugleich. Sehe
ihn zitternd vor Furcht auf immerwährender Flucht.
Flüstern höre ich das Volk der entsetzten Quiriten: Biberius nennen sie
ihn, den Trinker. Selbst der Tod fürchtet sich vor ihm, sagen sie, selbst der
Tod. Unbeweint wird er in das Reich der unterirdischen Schatten eingehen.
Und mancher wird fordern, den faulenden Leib in der schlammigen Flut
des Tibers zu versenken, ‚Tiberium in Tiberim‘, auf dass er, im Leben umgetrieben vor Angst, auch im Jenseits keine Ruhe fände.“
Er weigere sich im Übrigen zu glauben, schleuderte der Junge seinen
Mördern entgegen, sein Großvater, der weise Augustus, habe diesen Tod
gefordert. Denn bei aller Strenge sei dieser doch nie so weit gegangen,
einen Angehörigen seiner Gens vorzeitig den Geistern der Unterwelt zu
weihen. Zumal auch vor einigen Wochen erst zwischen Augustus und ihm
jene klärende Aussprache stattgefunden habe, die man zu Recht als Versöhnung werten könne.
Schwer lastete der Septemberhimmel über der Gefangeneninsel Planasia.
Früher als sonst hatte der Herbst seine Vorboten geschickt, stundenlange
Regenfälle und Sturm, der die ausladenden Kronen der Schirmpinien wanken ließ. Der Gesang der Zikaden war schon lange verstummt. Die Natur
hatte sich längst zur Ruhe begeben.
Mit dem Mut der Verzweiflung war Postumus, der so genannt wurde,
weil er erst nach dem Tod seines Vaters zur Welt gekommen war, seinen
Henkern entgegengetreten. Er hatte in die Augen von Männern geschaut,
deren wahre Heimat das Schlachtfeld war, der graue Himmel Germaniens
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oder die Steinwüsten an Illyricums zerklüfteter Küste. Er hatte gesehen
und begriffen.
Also beugte Augustus’ tapferer Enkel das lockengekrönte Haupt, sodass
er nicht ohne Würde von dannen ging.
Schon haben diejenigen, die Zeugen dieses Trauerspiels geworden sind
oder auch nur davon vernommen haben, dem neuen Kaiser ewige Rache
geschworen. Schon ruft der Senator Lucius Scribonius Libo alle aufrechten Römer zum Umsturz auf. An jeder Mauer, an jedem Stein finden sich
Schlagworte von Freiheit und Republik. Selbst unter den Soldaten, die in
den entferntesten Reichsteilen stationiert sind, brechen Unruhen aus, deren
Nachhall das Imperium in seinen Grundfesten erschüttert.
Allenthalben aber geistert nächtens der ruhelose Jüngling umher, das bluttriefende Haupt unter den rechten Arm geklemmt, eine schauerliche Erscheinung und doch in seiner Unschuld Mitleid heischend, und ruft Jung
und Alt auf, für das ihm widerfahrene Unrecht Vergeltung zu üben und sein
unschuldig vergossenes Blut zu rächen, wie es Römerbrauch ist.
Blumenbekränzt prangen des Morgens seine Standbilder, taubenetzt und
von der Sonne erwärmt, ein jugendlicher Heros und Gott, während man des
Kaisers griesgrämig blickende Konterfeis besudelt und zerschlagen findet.
Hunde verrichten daran ihre Notdurft. Knaben treten achtlos auf den zerstreuten Trümmern herum. Als man neulich gar auf dem Kopf einer Statue des Augustus-Nachfolgers ein umgestülptes (benutztes!) Nachtgeschirr
entdeckte, brach Rom darüber in offene Heiterkeit aus. Seitdem freilich
hat der Herr vom Palatin die nächtlichen Sicherheitskontrollen verschärft.
Aber die Römer kennen viele Wege, dem verhassten Mann dennoch ihre
Verachtung zu zeigen. Was niemand wissen kann: Rom wird noch manche
Jahre auf sein Ableben warten müssen.
Zu weiteren Schritten kann sich der erste Mann im Staate im Augenblick nicht durchringen. Angstgelähmt von den heftigen Reaktionen, die
Agrippas heimtückische Ermordung ausgelöst haben, zieht er sich ins Innere seines Palastes zurück, sodass schadenfrohe Zungen behaupten, schon
beginne der Fluch des kaiserlichen Enkels zu wirken …
Noch hatte sich der Winter nicht endgültig auf das gebirgige Festland zurückgezogen. Schon in wenigen Tagen würden sie drüben das Fest der Liberalia feiern, und die Römer würden ihren herangewachsenen Knaben in
feierlicher Zeremonie die Männertoga anlegen und sie in den Kreis der erwachsenen und damit wehrpflichtigen Männer aufnehmen. Aber das würde
er wohl nicht mehr erleben, denn, nun ja. Es war offensichtlich: Die Götter
hatten seine Tage gezählt. Und das war gut so. Hatte nicht sein berühm30
ter Vorfahr Gaius Iulius mit dem Beinamen Caesar kurz vor seinem Tode
gesagt, sein Leben sei lang genug gewesen, sowohl an Jahren als auch an
Ruhm? Was die Jahre betraf, konnte er, Tiberius aus dem berühmten adelsstolzen Geschlecht der Claudier, mehr als mithalten, sogar mit seinem Vorgänger, dem vergöttlichten Augustus, dessen Leben ebenfalls nie zu enden
schien. Beim Ruhm freilich …
Der alte Mann stand sinnend am Fenster der Villa Jovis auf Capri und
blickte auf das türkisgrüne Wasser hinab. Viele Jahre waren vergangen, seit
sein Schiff dort unten angelegt hatte, der einzigen Stelle der Insel, die es
erlaubte, Menschen an Land zu lassen. Wie viele Jahre? Er erinnerte sich
nicht. Verwundert hatte damals das Volk der Quiriten seinen Weggang von
Rom verfolgt. Aber ein Vorwand für die Reise, eine Reise ohne Wiederkehr,
wie nur er selbst ahnte, war schnell zur Hand: Galt es doch, in Capua einen
Jupitertempel einzuweihen und im campanischen Nola einen für Augustus, der dort gestorben war. Dann der Entschluss, nach Capri überzusetzen,
dem sonnigen Felsen, den sein Vorgänger einst gegen das weniger reizvolle
Ischia von Neapel eingetauscht hatte. Nur er und die unsterblichen Götter
konnten damals wissen, dass er nie mehr nach Rom zurückkehren würde.
Hatte er nicht Inseln schon geliebt, als er noch nicht Princeps war? Waren
sie, meerumspült und felsenbewehrt, nicht die einzigen Orte, die ihm Abstand und Sicherheit boten und ihn vor den Menschen schützten, an denen
ihm immer weniger lag, an denen er immer mehr litt?
Freunde? Er hatte nie welche gehabt. Früher mochte das nur an seinem unnahbaren Wesen gelegen haben, später auch an der Tatsache, dass er
Princeps war, Kraft der ungeschriebenen römischen Verfassung über allen
anderen stand und schon durch seine einzigartige Stellung zu lebenslanger Einsamkeit verdammt war. Die Götter allein wussten, wie sehr er sich
manchmal wünschte, dass alles anders wäre.
Es war Zeit, dieses nie zu enden scheinende Leben zu überdenken. Er wusste, dass man ihm seit langem Gift verabreichte, Gift in kleinen Dosen, das
auch seine Existenz in kleinen Dosen vernichtete, Geist, Seele und Leib.
Stunde um Stunde starben sie ein wenig mehr. Aber stirbt der Mensch nicht
ohnehin mit dem Augenblick seiner Geburt, ja, wenn man gewissen Philosophen folgen wollte, sogar mit der Zeugung im Mutterleib?
Der alte Mann lächelte gequält. Was spielten solche Spitzfindigkeiten
jetzt noch für eine Rolle? In wenigen Tagen würde er zum letzten Mal
aufs Festland übersetzen, und er würde nicht mehr an seinen Zufluchtsort
zurückkehren. Auch bis Rom würde er als Lebender nicht mehr kommen,
ohne freilich darüber unglücklich zu sein. Verband er doch mit der Stadt
seiner Geburt, seiner Siege und mehr noch seiner Niederlagen nicht die an31
genehmsten Erinnerungen. Die Unbeliebtheit beim Volk, die starke Mutter,
die nie aufgehört hatte, sich in sein Leben einzumischen, der Stiefvater, der
ihm über so viele Jahre nichts als Verachtung entgegengebracht hatte. Das
Andenken an die Frau schließlich, die er als einzige in seinen 78 Jahren
wirklich geliebt hatte: Vipsania Agrippina, von ihm preisgegeben, ja geopfert zu Gunsten einer zweifelhaften Staatsräson.
Nein, er sehnte sich wahrhaftig nicht nach der vielgerühmten Roma,
nach dem Geschrei ihrer Gassen, dem Gestank ihrer Märkte und der Arroganz ihrer senatorischen Oberschicht. Wie klug war es doch von ihm gewesen, wenigstens ihnen, den stets auf ihren Vorteil bedachten Stadtvätern,
gelegentlich zu zeigen, wer der eigentliche Herr im Hause war. Er hatte die
Prozesse wegen Majestätsbeleidigung erfunden, und es hatte sich gezeigt,
dass viele Patrizier sich dieses Verbrechens schuldig gemacht hatten.
Der Kaiser ließ den Blick über das ruhige Meer schweifen, einen wehmütigen Blick voll Sehnsucht und verhaltener Trauer.
Es galt also, für immer Abschied zu nehmen von all diesen Stätten, die
ihm auf dem Felsen teuer geworden waren, den schroffen Schluchten, die
viele seiner Feinde verschlungen hatten, den blühenden Gärten, die sein
Herz erfreut, und den dunkelgrünen Orangenhainen, deren Düfte seine
Sinne berauscht hatten. Er würde sie nicht wiedersehen. Er würde sie hinter sich lassen, wie er das Rauschen des Meeres hinter sich ließ, den unermüdlichen Gesang des Windes und alle Gerüchte, die sich um seine Person
rankten, seinen angeblich unersättlichen Geschlechtstrieb, seine zum Himmel schreiende Wollust und die angeborene Grausamkeit.
Ja, was glaubten sie denn? Hatte er, Kaiser des mächtigsten Reiches, das
die Welt jemals sah, es nötig, ausgerechnet im Alter jenen perversen Lastern zu verfallen, die ihm die Römer nur allzu bereitwillig andichteten? Was
hätte er davon, Knaben als „Fischlein“ abzurichten und Scharen von nackten Mädchen und Lustknaben in seiner Anwesenheit miteinander schlafen
zu lassen, wo doch seine, des Kaisers Manneskraft längst erschlafft war? Er
war kein Idiot. Er wusste sehr genau, dass ihn noch so lüsterne Spielchen
nicht zum Jüngling gemacht hätten. Er trug sein Alter, wenn auch so, wie
er sein ganzes Leben getragen hatte: wie ein Kreuz.
Die Grausamkeit, gewiss. Er war nicht mehr und nicht weniger grausam, als es seine Vorgänger gewesen waren, war es nur, um sich und das
Reich zu schützen vor Unruhe, Umsturz und zerstörerischem Verrat.
Und dennoch würden die Geschichtsschreiber kein gutes Haar an ihm
lassen. Er würde nicht, wie weiland der vergöttlichte Augustus, sein ungeliebter Stief-, Adoptiv- und Schwiegervater, in den römischen Götterhimmel aufsteigen, denn schwerlich würde sich einer von Roms Noblen
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dazu herablassen, den Aufstieg der Seele des Verstorbenen unter Eid zu
bezeugen.
Aber ein Unglück wäre auch das nicht. Er kam aus dem Unbewussten,
dem Nichts, und er würde wieder dorthin zurückgehen – immerhin in der
Gewissheit, endlich Ruhe zu finden, auch die vor sich selbst.
Die Hafenstadt Misenum hatte dem ersten Mann des Reiches einen kühlen
Empfang bereitet.
Nirgendwo hatten sich Menschen zu seiner Begrüßung eingefunden.
Nur ein paar Stadtväter waren erschienen, den Kaiser in ihren Mauern willkommen zu heißen, wie es ihre Pflicht war.
Wie gut, dachte Tiberius, dass ich meinen ursprünglichen Plan im letzten Moment geändert habe, so kurz vor dem Ziel! Aber konnte ich denn anders? Haben mir die Götter nicht unmissverständlich zu verstehen gegeben,
mein Vorhaben zu überdenken? Womöglich hätte mich der römische Mob
in Stücke gerissen. Nein, diesen Triumph gönne ich diesen Quiriten nicht.
Der lebende Tiberius soll ihnen nicht in die Hände fallen. Mit dem toten
mögen sie verfahren, wie es ihnen beliebt.
Nur wenige Kilometer vor den römischen Mauern hatte der Princeps
erschrocken festgestellt, dass die zahme Schlange, mit der er, sehr zum
Entsetzen seiner Umwelt, so gern gespielt hatte, in ihrem Korb von Ameisen aufgefressen worden war. Sofort hatte er Umkehr befohlen, wollte sich
wieder auf die schützende Insel zurückziehen. Aber in Misenum hatte den
Greis ein so heftiges Fieber befallen, dass an eine Seereise nicht zu denken
war, zumal sich das Meer äußerst launisch zeigte. Stürme peitschten haushohe Wellen, dann lag alles wieder friedlich da, um Mann und Maus im
nächsten Augenblick zu verschlingen.
„Gaius Caligula“, flüsterte der Alte, als sich sein Großneffe vorsichtig dem
Krankenlager näherte. „Man berichtet mir, du habest dich bereits allen als
mein Nachfolger empfohlen. Wie lange ich davon weiß? Das spielt jetzt
keine Rolle mehr. Ich habe dich nur deshalb entkommen lassen, weil ich
den Römern einen Gaius gönne.“ Er zog bedächtig einen Ring vom Finger,
betrachtete ihn lange, sah auch dem Jungen fest in die Augen, ballte die
Fäuste und steckte das Juwel wieder an seine Hand. Dann schickte er die
Diener hinaus und blieb mit dem jungen Verwandten allein.
„Mein Neffe, dein Vater Germanicus, hat mir keine Wahl gelassen: Als
ich begriff, dass er bei den Römern immer beliebter wurde, musste ich eingreifen. Konnte ich denn zusehen, wie er langsam, aber sicher, die Macht
ergriff? Und auch seine beiden älteren Söhne, deine Brüder, haben mir im
Weg gestanden. Das Imperium Romanum ist, wie du noch selbst erfahren
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wirst, nicht groß genug für mehrere Caesaren. Schließlich deine aufsässige
Mutter Agrippina. Oh diese Agripp...“
Ein heftiger Hustenanfall schüttelte den mageren Leib. Dann war Tiberius plötzlich verstummt, und es schien, als wäre alles Leben aus seinen
Adern gewichen. Das Gesicht des Alten war zu einer grinsenden Maske gefroren. Ungläubig starrte Gaius auf die erstarrten Züge. Dann breitete sich
Erleichterung über sein Gemüt. Schon beugten die hereinströmenden Diener das Knie. „Heil dir, Caesar! Heil unserem Kindchen, unserem Hühnchen, heil dir, Gaius Caligula, neuer Stern am römischen Staatshimmel!“
Doch kaum war der erste Jubel verstummt, schlug Tiberius die Augen
auf. Nach Essen verlangte der alte Mann, nach einem Festmahl, um seine
Wiederauferstehung zu feiern.
Aber Caligula hatte bereits an der Macht geschnuppert, hatte ihren Atem
in sich aufgesogen und war augenblicklich davon vergiftet worden.
Geistesgegenwärtig griff er nach einem fülligen Kissen und drückte es
dem Großonkel fest auf Nase und Mund, um dem Tod ein wenig zur Hand
zu gehen …
„Mögen Mutter Erde und die unsterblichen Götter dir einen Platz unter den
Verdammten bereit halten!“, begrüßte das Volk den in Rom eintreffenden
Leichnam.
Und es scheint, als hätten die Himmlischen die unfrommen Gebete
erhört.
Noch nach zwei Jahrtausenden geistert Tiberius Claudius Nero als misstrauisch, finster und menschenscheu durch die Geschichtsbücher der abendländischen Welt, als der, unter dessen unseliger Herrschaft der Sohn Gottes
den Kreuzestod erlitt und für den es deshalb keine Erlösung geben kann.
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Gaius Caesar, genannt Caligula
37–41 n. Chr.
Längst war sein Anblick den meisten Römern verhasst. Von dem „Kindchen, Hühnchen und Sternchen“, das vor nicht einmal vier Jahren seinen
Einzug in Rom begleitet hatte, war nicht viel übrig geblieben, und mancher gedachte zustimmend der Worte des sterbenden Vorgängers, Gaius
sei zu seinem, Tiberius’, Verderben und zum Verderben aller am Leben
geblieben.
In unheilvoller Weise hatte sich in Caligulas Adern das Blut seiner Vorfahren vermischt, das seines Urgroßvaters Augustus und das von Marcus
Antonius, der einst Augustus’ größter Widersacher und Rivale um das Imperium gewesen war.
Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Da hatte ein hochmotivierter Jüngling den Römern den Himmel auf Erden versprochen, und man
war nach der Schreckensherrschaft eines Tiberius nur allzu leicht geneigt,
seinen Beteuerungen Glauben zu schenken. Da wurden Verbannungsdelikte aufgehoben, fern der Heimat Ermordete in pietätvoller Zeremonie nach
Hause geholt. Mutter Agrippina und die ermordeten Brüder wurden im
Familienmausoleum am Tiber zur letzten Ruhe gebettet. Da erfuhren die
Schwestern Ehrungen, die bislang im Römerreich für Frauen ohne Vorbild
waren.
Sein Kosename, Caligula, der ihm im Soldatenlager seines Vaters gegeben worden war, weil er dort schon als Dreijähriger in viel zu großen
Soldatenstiefeln, den caligae, herumgestapft war, klang fast zärtlich durch
die römische Stadt. Aber es sollte nicht lange dauern, bis sich Gaius Caesar
diese Liebkosung verbat.
Denn bald ließ „Stiefelchen“ seinen wahren Charakter erkennen. Viele
Jahre seiner elternlosen Jugend hatte er am Hof des Tiberius auf Capri verbracht, hatte mit steigendem Vergnügen Folterungen und Hinrichtungen
beigewohnt und endlich seine angeborene Lust an gemeinem Genuss und
Grausamkeit entdeckt. Im Schutz von Perücken und wallenden Gewändern
hatte er nächtens Bordelle und übel beleumdete Kneipen aufgesucht und
harmlose Passanten überfallen, um sein erhitztes Gemütchen zu kühlen.
Kaum war er auf den Thron gelangt, hatte in Rom das endlich überwunden geglaubte Morden wieder begonnen, die staatliche Willkür, schrecklicher noch als unter Tiberius, die keinen verschonte, in jede Bauernkate,
jede Bürgerstube drang und selbst vor den ältesten Adelshäusern nicht Halt
machte. Der Großonkel hatte sich als ausgezeichneter Lehrmeister erwie35
sen, Caligula als äußerst gelehriger Schüler. Bald kursierte ein geflügeltes
Wort durch die Stadt, es habe niemals einen besseren Sklaven und nie einen
schlechteren Herrn gegeben.
„Oh hätte doch dieses Volk einen einzigen Hals!“, rief der Kaiser aus, als
das Publikum während eines Rennens im Zirkus einen anderen Favoriten
hatte als er selbst. „Oderint dum metuant! – Mögen sie mich hassen, wenn
sie mich nur fürchten!“ wurde die Maxime seines Handelns.
Hatte Stiefelchen vielleicht den Verstand verloren? Oder waren es Spuren der Epilepsie, an der er in seiner Jugend gelitten haben soll? Niemand
konnte sich den Sinneswandel erklären. Was aber sollte man von einem
Kaiser halten, der während eines Festmahls mit Blick auf die beiden Konsuln, die neben ihm lagen, plötzlich in wahnsinniges Gelächter ausbrach
und auf die Frage, was ihn denn so erheitere, antwortete: „Ich denke gerade daran, dass ich die Macht habe, euch die Kehlen durchschneiden zu
lassen.“ Oder an jede Frau, die er küsste, die Worte richtete: „Auch dieser
schöne Kopf wird fallen, wenn ich es wünsche.“
Schwere Krankheit hatte ihn gezeichnet. Als er sich leidlich davon erholte,
war Caligula auch äußerlich ein anderer geworden. Er war für einen Römer
ungewöhnlich groß, mit blassem Gesicht und magerem Hals über einem
plumpen Leib, der auf spindeldürren Beinen schaukelte. Die Augen eingefallen und die Stirn breit und finster. Er hatte eine Glatze, war ansonsten
aber wie ein Tier behaart. „Die Ziege kommt“, flüsterte der Mob, wohl wissend, dass solche Dreistigkeit mit Lebensgefahr verbunden war. Denn die
kaiserlichen Spitzel hatten ihre Augen und Ohren überall.
Caligula wusste selbst um seine Hässlichkeit. So sehr sie ihn auch verdrießen mochte, versuchte er doch, seinem Gesicht einen noch wilderen
Ausdruck zu verleihen.
Vor dem Spiegel stand Caligula, schreckliche Fratzen und Grimassen
schneidend. An Schlaf war schon lange nicht mehr zu denken. Die Angst
um sein Leben wuchs und mit ihr sein seltsames Gebaren. Bei Gewittern
verkroch er sich unters Bett. Sollten ihn Frauengewänder, ein angeklebter
goldener Bart, Blitz, Dreizack und Schlangenstab vor Unheil bewahren,
in die Nähe der Götter rücken oder gar zum Unsterblichen machen? In
den merkwürdigsten Verkleidungen tanzte Roms erster Mann durch den
Palast.
36
Für keinen überraschend kam schließlich Caligulas Rendezvous mit dem
Tod. In Olympia begann das riesige Jupiterstandbild zu lachen, als es Arbeiter im Auftrag des Kaisers abbauen und nach Rom schaffen wollten.
Blitzeinschläge auf dem Kapitol in Rom kündigten Unheil für das Kaiserhaus an. Auch der Astrologe Sulla, ein Meister seines Fachs, konnte Caligula nur ein baldiges gewaltsames Ende vorhersagen. Zuletzt wurde das
Orakel von Antium, der Stadt, in der Caligula geboren war, befragt. Dort
wurde ihm empfohlen, sich vor einem gewissen Cassius in Acht zu nehmen. Daraufhin gab er den Befehl, Cassius Longinus, den Statthalter von
Kleinasien, zu ermorden. Aber auch diese Vorsichtsmaßnahme rettete ihn
nicht vor dem Tod.
Denn ein anderer Cassius fühlte sich berufen, Stadt und Reich von diesem Scheusal zu befreien.
Die Prätorianer, zum Schutz der Majestät angetreten, hatten genug. Cassius Chaerea, Tribun einer Prätorianerkohorte und ein altgedienter Soldat,
der noch nie vor einem Gegner zurückgeschreckt war, hatte sich viel von
Gaius gefallen lassen müssen. Zu viel? Chaereas Geduld war jedenfalls
erschöpft.
Zu dieser Zeit wurden in Caligulas Geheimarchiv auch zwei Büchlein
gefunden, die die Titel „Schwert“ und „Dolch“ trugen. Sie enthielten die
Namen und (angeblichen) Verbrechen der vom Kaiser zum Tode verurteilten Senatoren und Ritter. Eile war daher geboten.
Um die Mittagszeit beschloss der Kaiser, die Theateraufführungen, die er
seit den Morgenstunden aufmerksam verfolgte, vorübergehend zu verlassen, um sich zum Essen in den Palast zu begeben. In dem Korridor, den
er auf seinem Weg durchqueren musste, traf er auf eine Gruppe vornehmer Knaben, die sich gerade auf die nächste Aufführung vorbereiteten. Er
blieb stehen, um ihnen zuzusehen und einige ermunternde Worte an sie zu
richten. Da traten plötzlich Cassius Chaerea und Cornelius Sabinus an ihn
heran. Dieser bat um Bekanntgabe der Tageslosung. „Jupiter!“, sagte Gaius
zutreffend. Darauf rief Chaerea aus: „So sei’s denn erfüllt!“ Als sich der
Kaiser umwandte, spaltete ihm ein Schwerthieb das Kinn.
Auf dem Boden wälzt sich schmerzverzerrt Caligula und schneidet die vor
dem Spiegel tausendfach eingeübten Grimassen. „Ich lebe ja noch!“ Weitere Hiebe folgen. Ein Schwert dringt ihm sogar durch die Schamteile.
Auf die Hilferufe der Sänftenträger eilt die germanische Leibwache herbei. Sie kommt zu spät. Die Mörder werden nun ihrerseits niedergemacht.
Mit ihnen sterben mehrere Senatoren, die von den Attentätern nie in ihre
blutigen Pläne eingeweiht worden sind.
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Halb nur wird Caligulas Leiche auf dem eilig errichteten Scheiterhaufen
in den Gärten des Lamia verbrannt. Die Reste werden unter einer leichten Rasenschicht verscharrt. Erst später werden seine beiden aus dem Exil
heimgekehrten Schwestern sie ordnungsgemäß verbrennen und im Familienmausoleum bestatten.
Bis dahin aber wird Caligulas Geist keine Ruhe finden. Keine Nacht
wird in dem Raum, in dem er erschlagen wurde, ohne Spuk vergehen, und
Gespenster werden Lamias Parkwächter nächstens erschrecken und in die
Flucht schlagen.
Und es wird lange dauern, bis auch das Volk von Caligulas Tod überzeugt sein wird. Kann es nicht sein, dass Gaius selbst das Gerücht seiner
Ermordung in die Welt gesetzt hat, um die Gesinnung seiner Untertanen
zu prüfen? Kann es nicht sein, dass er sich furchtbar rächen wird an all
denen, die ihm die Gefolgschaft aufgekündigt haben? Vorsicht ist geboten.
Gewissheit wird es erst geben, wenn den Römern ein neuer Caesar präsentiert wird.
Noch ahnt niemand, wen dieses Schicksal ereilen soll.
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