Untitled - Widerspruch

Werbung
Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986)
INHALTSVERZEICHNIS
Wiederkehr
des Mythos?
zum Thema
7
Artikel
Manuela Günter, Alexander von Pechmann,
Thomas Wimmer
Rehabilitation des Mythos. Eine Bestandsaufnahme
9
Konrad Lotter
Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung
22
Ralph Marks
Schelling und die Mythologie
30
Elmar Treptow
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
48
Tilman Evers
Mythos und Emanzipation menschlicher Subjektivität.
Zum Verhältnis von E. Bloch und C.G. Jung
58
Angelika Kansy
Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos –
Zur „Dialektik der Aufklärung“ und ihrer kommunikationstheoretischen Transformation
71
Udo Wieschebrink
Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik der
„Dialektik der Aufklärung“ nicht?
79
Günter Schulte
GOLEM - Magie, Mystik und Mythos
Am Ende der Schriftkultur
85
Wolfram Wenzel
Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder
92
Wolfhart Henckmann
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
99
Alfred Gomez-Muller
Über die mythisch-rationale Verzauberung
107
Stellungnahmen
zu drei Fragen zum Verständnis der Geschichte
112
Bücher zum Thema
Stefano Cochetti: Mythos und „Dialektik der Aufklärung“
Alexander v. Pechmann
117
Hans-Jürgen Heinrichs: Die katastrophale Moderne
Carl Freytag
118
Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos
Alexander v. Pechmann
120
Tamás Kürthy: Dornröschens zweites Erwachen.
Manuela Günter
122
Willi Oelmüller (Hg): Wiederkehr von Religion.
Religion und Philosophie
Wahrheitsansprüche der Religionen heute. Religion
und Philosophie
Arthur Dittlmann
123
Olga Rinne (Hg): Der neue Entwurf der Welt.
Ursprungsmythen Band 1, Der verlorene Himmel.
Ursprungsmythen Band 2
Wolfram Wenzel
125
Märchen, Mythen, Matriarchat
Manuela Günter
126
Rolf Vogt: Psychoanalyse zwischen Mythos und
Aufklärung oder das Rätsel der Sphinx
Manuela Günter
127
Raimondo Panikkar: Rückkehr zum Mythos
Konrad Lotter
128
Peter Engelmann (Hg): „Edition Passagen“
Thomas Wimmer
130
Renate Jäckle: Gegen den Mythos. Ganzheitliche Medizin
Martin Schraven
131
Bruno Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos
Ignaz Knips
133
Genevieve Lloyd: Das Patriarchat der Vernunft.
Günter Butzer
135
Winfried Menninghaus: Schwellenkunde.
Ignaz Knips
136
Edition Discord: Die Zukunft der Vernunft. Eine
Auseinandersetzung
Matthias Rath
138
Alfons Rosenberg: Engel und Dämonen.
Martin Schraven
140
Burghart Schmidt: „Postmoderne – Strategien
des Vergessens“
Th. Wimmer
142
Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne.
Wolfgang Teune
143
Gerda Weiler: Der enteignete Mythos.
Adelheid Müller-Lissner
145
Gerd Bergfleth et al.: Zur Kritik der palavernden
Aufklärung
Ignaz Knips
148
Peter Glotz, Günter Kunert und Sozialistische
Studiengruppen: Mythos und Politik.
Hans Mittermüller
150
Claude Lévi-Strauss: Eingelöste Versprechen – Wortmeldungen aus dreißig Jahren - Der Blick aus der Ferne
Rüdiger Brede
152
Neuerscheinungen
Glosse
Leserbrief
Anhang
Florian Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch
Alexander v. Pechmann
154
Gena Corea: Mutter Maschine –
Reproduktionstechnologien
Karin Gaube
157
Margret Jäger, Siegfried Jäger, Dieter Kantel,
Lothar van den Kerkhoff, Helmut Kellershohn,
Michael Schroeter, Walter Volpert:
„Da wird der Geist Euch wohl dressiert ...“
Computer in Schule und Betrieb
Karl-Heinz Schmid
158
Walter Seitter: Menschenfassungen.
Rüdiger Brede
161
Franz M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik.
Alexander v. Pechmann
163
Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie
der Wissenschaftler
Jean Haviticion, Hans Mittermüller
165
Buchneueingänge
168
Wolfgang Höppe:
Zeit – Geist – Heil – Zeit
169
Richard Albrecht:
Gesellschaft als Organismus oder wider den
Biologismus als Ideologie
172
AutorInnen
Impressum
176
178
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986), S. 7-8
AutorenInnen: Redaktion
Zum Thema
Zum Thema
Wiederkehr des Mythos?
Der Traum von der Allmacht der menschlichen Vernunft scheint ausgeträumt zu sein. Das Vertrauen in die Fortschritte der wissenschaftlichtechnischen Revolution ist erschüttert, die Hoffnung auf eine, auf die
Beherrschung der Natur gegründete, vernünftige Gesellschaft fragwürdig
geworden. Stehen wir am „Ende der Aufklärung“, am „Ausgang der
Moderne“ ratlos vor einer unwirtlichen Welt, vor den Trümmern einer
Hybris, die alles für erkennbar und machbar hielt?
Die einen sehen die globalen Probleme, vor denen wir heute stehen, als
das Resultat einer verkürzten Rationalität, die in bornierter Erfolgswut
die Interessen der menschlichen Gemeinschaft ausgeblendet hat. Die
anderen sehen darin die Auswüchse der Rationalität überhaupt. Wo
folglich die einen auf eine andere, ganzheitliche Rationalität setzen, da
ordnen die anderen die Rationalität dem Mythos unter. „Rückkehr zum
Mythos“ wird zum Zauberwort, das sich mit der Perspektive einer neuen, friedlichen, humaneren Welt verbindet.
Eröffnet die Rückkehr zum Mythos wirklich einen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere oder verbirgt sich dahinter ein gefährlicher Irrationalismus, der uns der Katastrophe nur noch näherbringt?
Die Reihe der Artikel beginnt mit einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Mythos-Diskussion (Manuela Günter, Alexander v. Pechmann, Thomas Wimmer) sowie einer philosophiehistorischen Positionsbestimmung
von Mythos und Aufklärung innerhalb der (sokratischen) Ethik (Konrad
Lotter).
zum Thema
Eine zweite Gruppe setzt sich mit den „klassischen“ Versuchen auseinander, den Mythos als ein Moment in die philosophische Reflexion zu
integrieren. Sie beginnt mit Schelling (Ralph Marks) und Nietzsche (Elmar Treptow) und führt über die problematische Beziehung Bloch –
C.G. Jung (Tilman Evers) zu Horkheimer/Adorno (Angelika Kansy) und zu
Habermas (Udo Wieschebrink).
Unter bestimmtem, problemorientiertem Interesse schließlich fragt Günter Schulte, ob am Ende der Schriftkultur die neuen Formen der Kommunikation einer Mythologisierung unserer Erfahrung Vorschub leisten.
Wolfram Wenzel untersucht die Rolle der Mythologie in der Wirklichkeitserfahrung der Kinder. Wolfhart Henckmann diskutiert neuere Versuche,
das Verhältnis von Mythos und Kunst zu bestimmen. Alfred GomezMuller stellt Mythos und Vernunft im Verhältnis zur Geschichte dar. Den
Abschluß bilden Stellungnahmen der Historiker Jürgen Kocka und Michael
Stürmer und des Politologen Reinhard Kühnl zu drei – von der Redaktion
vorgelegten – Fragen nach dem Verhältnis von Mythos und nationaler
Identität.
Den Artikeln folgt wie immer ein ausführlicher Rezensionsteil zum
Thema sowie eine Glosse über die Sumpfblüten, die der Mythos bzw.
Mystizismus gegenwärtig in den Massenmedien treibt (Wolfgang Höppe).
Noch ein Wort in eigener Sache. Ab der nächsten Ausgabe erhöht sich
der Verkaufspreis des „Widerspruch“ auf 5 DM pro Heft (4,50 DM für
Abonnenten incl. 1.50 DM Versandkosten ). Nach wie vor arbeiten Autoren und Redaktion unentgeltlich. Wir hoffen auf das Verständnis unserer Leser.
Die Redaktion
Berichtigung:
In der letzten Nummer (1/86) sind uns zwei bedauerliche Fehler
unterlaufen: In der Rezension von Hans Mittermüller auf S. 100 in der
achten Zeile muß es statt „Das Prinzip Hoffnung“ richtig „Das Prinzip
Verantwortung“ heißen. – In der Rezension von Martin Schraven, S.
104, in der 11. Zeile von unten muß es statt „genetische Position“ richtig
zum Thema
11. Zeile von unten muß es statt „genetische Position“ richtig „gegnerische Position“ heißen.
Wir
bitten
um
Beachtung
der
Beilagen
der
diskord/Konkursbuchverlag und des Argument-Verlags.
Copyright © Widerspruch - Informationsservice, 1997-2003
URL:http://www.widerspruch.com
Edition
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986), S. 9-21
AutorenInnen: Manuela Günter, Alexander v. Pechmann, Thomas Wimmer
Artikel
Manuela Günter,
Alexander von
Pechmann,
Thomas Wimmer
Rehabilitation des Mythos
Eine Bestandsaufnahme
"Und rückwärts soll die Seele mir
nicht fliehen
Denn tödlich ist's."
Hölderlin
Mit der viel beschworenen "Krise unserer Zivilisation" geht auch die sie
tragende Bewußtseinsform, die "praktische Vernunft" der Philosophen,
das "Machen" und "Produzieren" der Technologen und -kraten, Notzeiten entgegen. Wer will heute, angesichts der beredten Kritik eines Peter
Sloterdijks oder den öffentlichen Bekehrungen eines Martin Walsers, sich
schon gern dem Vorwurf der grenzenlosen Naivität und Unbelehrbarkeit
aussetzen, wenn er vorgibt, noch immer dem "Prinzip Vernunft" anzuhängen? Ist es doch ausgemacht, daß sie, die Ratio, das Hauptübel, die
Verursacherin der Gebrechen unserer Gegenwart sei.
Wohl weniger aus Opportunismus, als aus Profession schwimmt die
Philosophie auf der Woge der Vernunftkritik obenauf und läßt sich von
den Kulturphilosophen der Vergangenheit, von Schlegel und Schelling,
von Nietzsche und Heidegger die Stichworte für die Kehrtwende der
Philosophie hin zum Mythos, dem "Andern der Vernunft", geben. Was
dabei allerdings als "Vernunft" getadelt und als "Mythos" gefeiert wird,
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
bleibt so schillernd, bunt und vielfältig, wie der Mythos und der Logos
selbst, die ursprünglich ja dasselbe meinten, nämlich nur: das Wort.
Die Wahrheitsansprüche des Mythos
Die erste Renaissance nach der Aufklärung hatte der Mythos in der romantischen Bewegung. A.W. Schlegel stellte der Metapher des Lichts,
das den Illuminaten der Aufklärung noch als Symbol der erhellenden
und befreienden Erkenntnis gegolten hatte, die Nacht und das Dunkel,
das Geheimnis und den Zauber des unergründlichen Lebens, als die
tiefere Wahrheit gegenüber. Und Schelling, angeregt durch die romantische die theosophisch-mystische Tradition Jakob Boehmes, griff zunehmend heftiger die Ansprüche des Logos auf eine vernünftige Welt- und
Lebensgestaltung an. Seine "Philosophie der Mythologie" war der Versuch, die Wahrheit des Mythos mit rational-philosophischen Mitteln zu
erweisen. Allein dem Mythos und – in der Folge – der christlichen Offenbarung sei es möglich gewesen, die Wirklichkeit, das "unvordenkliche
Sein" zur Sprache zu bringen; denn der Logos verbleibe im Formellen
und Substanzlosen. An die Stelle des rationalen Arguments sollte als
Wahrheitskriterium das Bild und die Imagination treten. Der romantische Dichter wurde zum Philo-Sophen ernannt, der Philosoph hingegen
als Erdichter seinsloser Gespinste entlarvt.
So gewaltig der Anspruch der Romantik, so kläglich auch ihr Scheitern:
was als Versuch, Mensch und Natur zu versöhnen, von Dichtern wie
Novalis beschworen wurde, verkam zusehends zur spielerischen Selbstinszenierung des Dichterfürsten, zum elitären Kult des göttlichen Genies. Auch Schellings Rettungsversuch, den Wahrheitsanspruch des Mythos mit philosophischen Mitteln zu begründen, geriet mit dem Aufschwung der positivistischen Vernunft in Vergessenheit.
Dennoch ließ die Faszination des Mythos die bürgerliche Gesellschaft
nicht mehr los. Vor allem die Soziologen und Ethnologen machten sich
im Gefolge der kolonialistischen Eroberung der Kontinente über den
Mythos her. Galt er den Kultursoziologen, wie Cornford, Malinowski
oder Durkheim, auch nicht mehr als "Selbstoffenbarung des Seins", so
doch als die "Daseinsform" der frühen Kulturen, als Ausdruck ihrer praktischen Lebenswirklichkeit, in der die Einheit von Mensch und Natur, von
Rehabilitation des Mythos
Gesellschaftlichem und Göttlichen, noch ungeschieden gewesen sein
soll. Die mythischen Erklärungen vom Weltentstehen, vom Wirken der
göttlichen Mächte, das Leben und Sterben der Heroen hatten dem
Stamm oder Volk dessen geschichtliche, kulturelle und soziale Identität
gegeben. Das Interesse der Wissenschaftler galt einer gesellschaftlichen
Wirklichkeit, die noch "ursprünglich", "unverdorben" und "unentfremdet" gewesen sei, und spiegelte die Trauer des Mitglieds der bürgerlichen
Gesellschaft über das "verlorene Paradies" einer vermeintlich intakten
Sozialstruktur wider.
Der Mythos als Manifestation des Herrschaftswillens
Mit der Decadence änderte sich dieser Bezug zum Mythos. Mit Nietzsche
und Freud kam eine Sicht des Mythos auf, die diesen nicht mehr als den
wahrhafteren Ausdruck des Seins dem Logos entgegenhielt. Für Nietzsche besaßen der Mythos und der Logos eine gemeinsame Wurzel: die
Setzung des Subjekts; beide kommen aus der Tiefe des Willens zum
Leben und nehmen im gesetzgebenden Gestaltungswillen des Menschen
Form an. Mythos und Vernunft seien ihrem Wesen nach dasselbe: der
manifeste Wille zur Herrschaft. Was sich im Mythos noch in den schrecklichen Bildern des Mordens und Grauens zeigt, das wird im Logos in den
Herrschafts- und Machtansprüchen der Moral, Pflicht und Güte sublimiert. Die Wahrheit des Mythos erwachse aus seiner bannenden Kraft:
dem unwiderstehlichen Willen zur Macht. – Ihm ähnlich entdeckte
Freud im Mythos das Wirken des Unbewußten, des Abgrunds der Seele,
das nur mühsam und unter Entbehrungen von den Formen des Bewußtseins und der Kultur gezähmt würde.
Der Mythos änderte seinen ursprünglichen Wahrheitsanspruch; er wurde
zur Äußerung des unkultivierbaren Lebenswillen. Daß Wissen und Erkenntnis nichts als eine Funktion des Machtwillens seien, wurde zum
bitterbösen Mythos der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Angesichts des faschistischen Grauens schlossen sich selbst Horkheimer
und Adorno dieser Sichtweise an. Der Logos sei umgeschlagen in den
Mythos; hatte dieser ursprünglich die Funktion, die Natur zu bannen und
ihre Schrecken zu besiegen, um sie der menschlichen Praxis zu unterwerfen, so sei der Logos unter dem Bann des Mythos, von dem er sich zu
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
befreien vorgab, wieder ins Mittel der Natur- und Menschenbeherrschung zurückgefallen. Gegen Nietzsche halten sie aber daran fest, daß
dieser Wille zur Macht kein metaphysisches Prinzip sei, sondern seine
Wurzeln in der Geschichte der Unterdrückung und Ausbeutung habe,
daß folglich die Emanzipation der Menschheit aus der mythischen Verstrickung in Gewalt, Herrschaft und Zerstörung in der Reflexion darauf
möglich sei.
Die Vernunft im Mythos
In der Folge konzentrierte sich die Reflexion auf eine rationale Auseinandersetzung mit dem Mythos. Es galt, die logischvernünftigen Gehalte
im mythischen Denken zu ermitteln. Hierbei traten zwei Interpretationsweisen besonders hervor: in Frankreich verwies die strukturalistische
Ethnologie (Lévi-Strauss) auf eine gemeinsame logische Struktur von Logos
und Mythos. In Deutschland war es vor allem Ernst Bloch, der eine neue
Perspektive auf den Mythos eröffnete. Die Mythologie wurde in einem
weiterreichenden Verständnis des Logos als einer "sinnlich-tätigen Vernunft" integriert. Auf diese Weise bahnte sich in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit dem Mythos an, die diesen nicht als das "Andere der Vernunft" fixieren wollte, sondern sich auf
eine Rekonstruktion der Vernunft orientierte, die dies Andere in sich
aufzuheben vermag.
Die anarchistische Revolte gegen die Vernunft
Gegen ein solches Vernunftkonzept, das sich in vielem der Aufklärung
verpflichtet wußte, kamen im letzten Jahrzehnt die grundlegendsten
Einsprüche aus Frankreich, der Geburtsstätte des Rationalismus. Auslösendes Ereignis dieser Renaissance der Vernunftkritik war der "Mai
1968", in dem viele der heute in Frankreich populären Philosophen politisch, oft auch organisiert, engagiert gewesen waren. Die Mai-Ereignisse
hatten sie mit der Logik der Macht und ihrer Ambivalenz konfrontiert.
Einerseits erlebten sie den (Beinahe-) Zusammenbruch des gaullistischen
Regimes durch die Studentenbewegung; andererseits mußten sie erkennen, daß das herrschende politische System auch eine radikale Infragestellung durch die kritische Vernunft zu integrieren vermochte. Sie zogen
Rehabilitation des Mythos
daraus den Schluß, daß mittels der bestimmten Negation" der Macht
nicht beizukommen sei; denn beide, sowohl das kritische Wissen als
auch das herrschende Vernunftsystem, besäßen eine strukturelle Analogie: sie erfüllen sich in der Reproduktion von Ordnungen.
Aus der Gemeinsamkeit dieser Erfahrungen entstand das Konzept und
die Strategie der "Postmoderne", die zunehmend auch in der Bundesrepublik rezipiert wird. Das invariante Motiv aller Post-Bewegungen (Postmoderne, Post-histoire usw.) ist die Betonung des Einzelnen, des Fragmentarischen bzw. "antihierarchischen Moments". Aus dieser, von einem anarchistischen Affekt getragenen Position leitet sich ihre "subversive Strategie"
her. Sie will den Gegner nicht mehr mit der "Waffe der Kritik" (Marx)
überwinden, sondern mit seinen eigenen Mitteln, durch den Aufweis
seiner inneren Widersprüche und Paradoxien "um den Verstand bringen“. Philosophiegeschichtlich trat dieses Verfahren eines solchen "antinomischen Verwirrspiels" in der Neuzeit bei Kierkegaard als Ironie auf.
Exemplarisch sollen drei Ansätze der postmodernen Strategie vorgestellt
werden: G. Deleuzes Revision der Psychologie, J. Derridas Denunziation
des Logozentrismus als "Phonozentrismus" und F. Lyotards These von
der permanenten Legitimationskrise des Wissens, die in die Konzeption
des postmodernen Wissens mündet.
G. Deleuze geht es in seinen Arbeiten vor allem um den Nachweis, daß
die psychoanalytische Subjektforderung (incl. ihrer Annahme einer individuellen Identität) dem Menschen unangemessen sei. Dieser stellt er
seine Konzeption der "Wunschmaschine" entgegen, die die physischpsychische Entität des Menschen als ein System begreift in dem sich
unablässig Energieströme bewegen. Die Antriebskraft dieser Ströme sei
der Wunsch. Der Psychologie, genauer: der Psychoanalyse, macht Deleuze
den Vorwurf, sie zensiere die Wunschenergie ("das Begehren"), indem
sie diese auf ein abstraktes Ich zurechtstutzt. Damit lege sie das Fundament für die Erhaltung der kapitalistischen Ökonomie: "Das Begehren
unterdrücken, nicht nur der anderen, sondern in sich, Bulle der anderen
und seiner selbst sein, das ist es, was aufgeilt und worin keine Ideologie,
sondern Ökonomie zum Vorschein kommt" (1, 448).
Man würde die Intentionen Deleuzes rnißverstehen, wenn man glaubte,
einer altbekannten freudo-marxistischen Argumentation wiederzube-
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
gegnen. Nicht die Frage, wie die Beziehung von Bedürfnis und Gesellschaft vernünftig zu lösen sei, ist sein Begehren, sondern – in Anlehnung
an Nietzsches "Metaphysik des Willens" – die anti-soziale Omnipotenz
des Wunsches geltend zu machen: "... und keine einzige Gesellschaft
kann auch nur eine einzige wahre Wunschposition ertragen, ohne daß
ihre hierarchische, ihre Ausbeutungs- und Unterwerfungsstrukturen
gefährdet wären" (1, 150).
Von einer anderen Seite geht J. Derrida auf die Kritik des Wissens ein;
seine theoretischen Bezüge sind nicht, wie bei Deleuze Nietzsche und
Lacan, sondern Heidegger und Saussure. In seinen Schriften verbindet
Derrida seine metaphysikkritischen Absichten mit einer strukturalistischen Begrifflichkeit. Er will zeigen, daß unser gesamtes Wissen nicht in
der Sprache, sondern in einer Art "Urschrift" verankert ist. Auf die Sprache beziehe sich nur die auf Eindeutigkeit abzielende Wissenschaft; die
Schrift jedoch "ist das Supplement par excellence, da sie den Punkt markiert, wo das Supplement sich als Supplement, Zeichen von Zeichen gibt
und den Ort eines schon bezeichneten Worts einnimmt" (2, 482). Derrida thematisiert auf der semiologischen Ebene die Problematik der Identität und damit implizit das der Deduzierbarkeit – und damit auch des
Anfangs – von Begriffen. Da die "erste Schrift" (man kann auch sagen:
"Ordnung") jedoch nie existiert habe, sei auch kein Abschluß der Lektüre oder der Geschichte möglich.
Mit der Anfangslosigkeit von Geschichte entzieht Derrida jeder historischen
Teleologie die Grundlage; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränken sich für ihn zu einem überzeitlichen Kontinuum. Hier berühren sich Derridas Zeitvorstellungen mit denen des jüdisch-mythischen
Denkens, in dem ebenfalls keine Kausalitäten existieren, Anfang und
Ende zusammenfallen.
Eine direkte Konfrontation zwischen Mythos und Wissenschaft betreibt
F. Lyotard. In seinem Buch "Das postmoderne Wissen" unterstellt er der
neuzeitlichen Wissenschaft ein "Erzählprinzip", das sich nur durch das
Arrangement der Inhalte vom narrativen Wissen im Mythos unterscheidet. Die "große Erzählung" des "wissenschaftlichen Wissens" sei in den
fortgeschrittenen Industriegesellschaften an ihren Endpunkt gelangt: "In
der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur also der postmodernen Ge-
Rehabilitation des Mythos
sellschaft, der postmodernen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung auf eine andere Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation"
(3, 112). Dieser Delegitimationsprozeß sei vom modernen Wissen selbst
in Gang gesetzt worden: denn dessen Struktur Lyotard benützt den Begriff des Sprachspiels sei rein monologisch und könne daher den Pluralismus der Sprachspiele des Alltags nicht erfassen. Da darüber hinaus
keine verbindliche Metasprache zu konstituieren sei – er verweist dabei
auf die Arbeiten von Gödel und Tarski –, löse sich die logozentrische
Form des Wissens auf. Der damit entstandenen Unendlichkeit der
Sprachspiele entspreche weit mehr das narrative Wissen, das zum
„postmodernen Wissen“ wird, indem es das Gegenwärtige, den punktuellen Kairos, betont. "In ihrem Interesse für die Unentscheidbaren, für
die Grenzen der Präzision der Kontrolle, die Quanten, die Konflikte
unvollständiger Information, die "Frakta", die Katastrophen und pragmatischen Paradoxa entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie
ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch nicht zu
berichtigen paradox ... Sie bringt nichts Bekanntes sondern Unbekanntes
hervor" (3, 172 f.).
Die letztgenannte Forderung trifft durchaus den Kern dessen, womit
sich jede neu überdachte Konzeption von wissenschaftlicher Rationalität
auseinanderzusetzen hat. Doch kommt auch sie – trotz "Postmoderne" –
nicht an der schon von Hegel erhobenen Forderung vorbei:
"Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen
verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und
Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen,
entsteht das Bedürfnis der Philosophie" (4, 22).
Matriarchaler Mythos und patriarchale Vernunft
Unter dem Stichwort "Ganzheitlichkeit" ersetzt die feministische Philosophie den anti-hierarchischen Diskurs der Postmoderne durch den antipatriarchalen Rückgriff auf den Mythos. Die wissenschaftliche Legitimation für diesen Rückgriff sucht sie in den seit einiger Zeit vor allem von
Frauen verstärkt durchgeführten Matriarchatsforschungen, die zu dem
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
Ergebnis gelangten, daß es vorpatriarchale Epochen gab, in denen Frauen den gesellschaftlichen Rahmen bestimmten. In diesen seien Erde,
Natur und Leben als souveräne Seins-Mächte" (5, 11) in der „Großen
Göttin" verehrt worden, die in ihrer Dreifaltigkeit von Jungfrau, Mutter
und Greisin den Kreislauf der Jahreszeiten verkörperte; Ursprungssymbole, wie z.B. das Anch-Zeichen versinnbildlichten die noch ungeschiedene Einheit von Geist und Materie Noumena und Phänomena, da sie
nicht von außen der Natur übergestülpt sondern ihr "abgelauscht" waren
und die erst durch den Schöpfergott patriarchaler Provenienz zerrissen
wurden. Der Kreis galt als Urbild der "Großen Göttin", die nicht im
Jenseits thronte, sondern die Welt mit ihrem Körper als Ganzes umfaßte
und zugleich die Welt selbst war. Die Kreisläufigkeit der Natur, das Mysterium von Werden und Vergehen, bildeten die Grundelemente der
kosmischen Ordnung, in die alle Teile ganzheitlich integriert waren.
Aus diesem Mythos heraus wird angenommen, daß Frauen deshalb eine
höhere Stellung in der Gesellschaft innehatten, weil in natürlichem Monatsrhythmus, Schwangerschaft und Geburt die Göttin selbst wirkte und
sie deshalb mit den kosmischen Kräften der Natur enger verbunden
waren als die Männer. Auch die religiöse Verehrung war körpernah auf
die Frau konzentriert, die in dieser magischen Erfahrung des Rituals
selbst zur Göttin wurde. Die matriarchale Kulthandlung war "Teilhabe
am Naturgeschehen durch die sich Frauen und Männer mit den kosmischen Kraftströmen" (5, 50) verbanden.
Das Wissen um die Existenz solcher herrschaftsfreien Kulturen bildet
die Grundlage für die heutige feministische Gesellschaftsutopie. Ausgehend von der Zurückführung der großen aktuellen Probleme der atomaren Bedrohung, der katastrophischen Naturzerstörung etc. – auf die
Herrschaft der patriarchalen Vernunft, wird die Notwendigkeit matriarchaler Ganzheitlichkeit, vor allem in weiten Teilen der neuen sozialen
Bewegungen mehr und mehr postuliert. Die Matriarchatsforscherin Gerda Weiler sieht hierin einen Prozeß, indem die unterdrückten Frauen wie
die ausgebeutete Natur sukzessive ihre matriarchale Würde zurückgewinnen. Der Plünderung des Planeten unter den gnadenlosen Gesetzen
patriarchaler Ökonomie steht die Forderung nach einer natürlichen Lebensweise und der Ruf nach kreativer Arbeit entgegen, in denen, bewußt
Rehabilitation des Mythos
oder unbewußt, matriarchale Weisheit anklinge. "Bei ihrer Selbstfindung
müssen Frauen notwendig in Gegensatz zum patriarchalen Weltbild und
zu den Wertungen des patriarchalen Bewußtseins treten. Dabei stellen sie
die Beziehung zu den verschütteten Werten und zur Ganzheitlichkeit des
matriarchalen Bewußtseins wieder her" (5, 250). Der "männliche" Ratio
mit ihrer dualistischen Aufspaltung der Welt in Geist-Materie, MannFrau, in Logos-Eros und gut-böse, setzen Frauen wie Heide GöttnerAbendroth die liebevolle weibliche Spiritualität entgegen, die "kosmische
Balance zwischen allem" (6, 17), d. h. ein wechselseitiges Gleichgewicht
von Mensch, Natur und Gesellschaft. Das Matriarchat gilt in der feministischen Philosophie nicht als einfache Negation des Patriarchats in eine
bloße Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse; es bedeute vielmehr die
optimale Gesellschaftsform für beide Geschlechter auf einer höheren
Bewußtseinsstufe, eine Art "regulierte Anarchie" (6, 24) ohne Hierarchie
und Herrschaft. Vor allem die Frauen-, die New Age- und die Alternativbewegungen kündeten vom Ende des Patriarchats. Sie alle verstehen
'Ganzheitlichkeit' als das Eingebettetsein in die kosmische Ordnung, als
Einheit aller ökonomischen, psychischen, spirituellen und geistigen Faktoren. "Die Fähigkeit zu einer Spiritualität, die die Gegensätze überwindet und die natürliche Vielfalt in ein ganzes integriert" (7, 209 f.), sei die
Aufgabe und das Ziel, zu dem in erster Linie Frauen gelangen müßten.
Die Rückbesinnung auf die matriarchalen Wurzeln sei hierbei unverzichtbar.
Das Hauptfeld der Auseinandersetzung innerhalb der feministischen
Philosophie liegt wohl in der Annahme eines "weiblichen Prinzips", das
zur Lösung des patriarchalen Dualismus zwischen Mensch (Technik)
und Natur das versöhnende Moment darstellen soll. Aber warum soll die
Frau von "Natur" aus enger mit dieser verbunden sein als der Mann?
Auch feministische Philosophinnen wenden ein, daß die "identitätsphilosophische Gewaltlösung" (6, 75) Frau = Natur doch vielmehr ein von
Männern historisch konstruiertes Produkt sei, das den Frauen grundlegende Charaktereigenschaften wie Passivität, Gewaltlosigkeit oder Sensibilität andichtete und anerzog. Diese Naturalisierung und damit Verobjektivierung des Subjekts Frau zur Stärke der Frauen überhaupt zu stilisieren, ist wesentliches Merkmal weniger eines feministischen als
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
vielmehr eines biologistisch-mystifizierenden Denkens. Indem Männer
und Frauen anthropologische. Charaktereigenschaften zugedacht werden, die auf einen unversöhnlichen Gegensatz hinauslaufen (Lebensbewahrung versus Destruktion!), wird ein historisch entstandener und damit veränderbarer Zustand stigmatisiert und ... mystifiziert. Vorausgesetzt wird bei diesen Betrachtungen allerdings, daß der Gegensatz
matriarchaler Mythos contra patriarchaler Vernunft die entscheidende
Kategorie der Menschheitsentwicklung sei; es bleibt fraglich, ob der
Dualismus Matriarchat-Patriarchat wirklich den realen Geschichtsverlauf
konstituiert, oder ob er nicht vielmehr eine nachträgliche Projektion
feministischer Philosophie auf die Geschichte darstellt.
Der Mythos in der "politischen Theologie"
Andere Schlüsse aus der Vernunftkritik ziehen die Konservativen, die
sich in ihrer Diskussion um die "Rehabilitierung des Mythos" letztlich
auf eine erneuerte "politische Theologie" beziehen. Ihre Kritik richtet
sich nicht allein gegen die Entthronisierung des Göttlichen durch die
neuzeitliche Philosophie seit Descartes, sondern ebenso gegen die
Gleichgültigkeit der postmodernen Avantgarde gegenüber der Gottesfrage, hinter deren ästhetisieren d-hedonistischem Nihilismus sie die Aushöhlung jeder verbindlichen Werteordnung und damit letztlich Tendenzen des politischen Anarchismus entdecken. Beide, der rationalistische
Universalanspruch auf Erkenntnis wie der individualistische Eudaimonismus des "alternativen Lebens", seien Abkömmlinge derselben modernen Welt; utopische Überforderungen der auf Endlichkeit angelegten
menschlichen Existenz. Ihrem offenkundigen Mißlingen gelte es daher,
ein neues geistiges Ordnungsgefüge entgegenzusetzen, das künftige Verbindlichkeiten erzeugen könne.
Die Restauration des Christlichen
Trotz der Gemeinsamkeit in der Blickrichtung aufs Politische zeigen sich
dennoch wichtige Unterschiede innerhalb der konservativen MythosRezeption hinsichtlich der Funktion und Rolle des Mythischen. So heben
die christlichen Vertreter hervor, daß die Gegenwart durch den inneren
Zerfall der Aufklärung und ihres Vernunftpotentials als der sinnstiften-
Rehabilitation des Mythos
den und handlungsorientierenden Instanz gekennzeichnet sei, der nur
durch den Rekurs auf vormoderne religiöse Traditionen zu überwinden
sei. Der Stuttgarter Sozialphilosoph Günter Rohrmoser etwa stellt fest, daß
die Gesellschaft, um nicht in erneuten Zwängen eines Totalitarismus
oder eines im Anarchismus sich vollendenden Wertepluralismus unterzugehen der Erneuerung ihrer sittlichen Identität und Substanz bedürfe'
diese sei heute weder durch ökonomische Zielsetzungen noch durch
staatliche Sanktionen zu gewinnen sondern allein durch die Religion.
"Nicht die Politik, nicht die Ökonomie", so Rohrmoser, "sondern die
Religion wird das große Thema am Ende unseres Jahrhunderts" (8, 405).
Für Rohrmoser bedeutet dies die Erneuerung der Verbindlichkeit des
christlichen Glaubens an die mythische Verstrickung des Menschen in
Schuld und Sünde durch seine eigene Tat, sowie an die durch Christus
begründete Hoffnung auf Befreiung und Erlösung, da nur die christliche
Religion in unserer Kultur die Akzeptanzfähigkeit besitze, die orientierenden Verbindlichkeiten in Zukunft wiederherzustellen. Eine Auffassung der sich im übrigen auch der Münchner Philosoph Reinhard Löw
anschließt, der schlicht das Christentum als die "eigentliche Postmoderne" (9, 45) dekretiert.
Neben solch vielleicht populären, doch auch schlichten Versuchen, den
mittelalterlichen Kosmos zu restaurieren, finden sich auch weitergehende
Versuche der Begründung einer "postmodernen Religiosität". So bezweifelt etwa der Spaemann-Schüler Peter Koslowski, daß die Kirche – nicht
zuletzt aufgrund ihrer Spaltung – diese Funktion ohne weiteres erfüllen
kann. Seine Konzeption ist breiter – aber auch allgemeiner – angelegt
und knüpft an Formen der spätantiken Religiosität in ihrer Vereinigung
jüdisch-christlicher Mythologien mit den griechischen Traditionen an.
Die spätantike Weisheitslehre und Gnosis mit ihren noch undogmatischen
Spekulationen – fortgeführt in der theosophischen Tradition eines Jakob
Boehme oder Franz v. Baader und der Anthroposophie Rudolf Steiners
– habe, so Koslowski eine Form der Erkenntnis des Absoluten und der
Religiosität herausgebildet, die sowohl den konfessionellen Konflikt der
Moderne überwinden könne, als auch den Bedingungen postmodernen
Denkens entspreche. Sie könne das "verfehlte Projekt der Moderne"
überwinden, die spalten und herrschen, statt vereinen und versöhnen
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
wollte. Eine "gnostische Form von Philosophie und Religion", so Koslowski in seiner Herdecker Antrittsrede, "ist heute die 'fortgeschrittenste
Form des Bewußtseins"' (10, 64).
Unklar und offen bleibt bei dieser Renaissance der spätantiken Welt, ob
Koslowski damit auch deren mythologische Welt mit ihren Äonen und
Dämonen, mit ihren apokalyptischen Imaginationen und Prophetien in
die Zukunft transportieren will. Computer und Cherubim – zumindest
eine merkwürdige Liaison der "postmodernen Welt". Solche Bedenken
scheint auch die vom Bonner Philosophen Hans-Michael Baumgartner
geleitete Studiengruppe "STEIG" (11) zu haben, die sich in ihren Thesen
zum "Ende der Neuzeit?" wohltuend von allzuviel rückschrittlichem
Elan absetzt. Sie verlangt denn auch nur aus "christlicher Verantwortung" heraus eine "Selbstkritik der Vernunft", die sich der "Frömmigkeit
des Denkens" hingibt und sich öffnet auf einen "über die Frage nach dem
Sinn der Vernunft und ihres Sittengesetzes vermittelten Glauben an
Gott, der Raum gibt für Offenbarung und Theologie" (11, 26) – ohne
dies allzu eschatologisch aufzuladen.
Das Lob des Polytheismus
Konträr zu solch letztlich "totalisierenden" Tendenzen katholischer
Postmodernisten äußern sich die beiden Mythosinterpreten Odo Marquard und Hans Blumenberg, die sich eher an der Kultur- und Religionskritik Nietzsches als an der Baader-Schellingschen Offenbarungskonzeption
orientieren. Sie polemisieren nicht unmittelbar gegen die Tradition der
Aufklärung und der Vernunft, sondern interpretieren diese um: "Aufklärung" sei kein historischer Prozeß der Emanzipation mehr, sondern sei
heute nach geschehener Aufklärung "die Tradition des zur Routine gewordenen Mutes zur unaufgeregten Nüchternheit" (12, 129). In ihrer
Erhebung der Vernunft ins Prinzipielle sei die Aufklärung totalisierend
gewesen; das aufgeklärte Denken erfülle sich im unaufgeregten Gewährenlassen des Vielen im Absoluten. Dementsprechend fordert Marquard
auch die Preisgabe jeglichen universalisierenden Denkens, sei es des
Monotheismus, sei es der Vernunftphilosophie, und singt im Rückgriff
auf die mythologische Welt der Griechen das "Lob des Polytheismus".
Eine aufgeklärte Vernunft könne sich eine "aufgeklärte Mythologie"
Rehabilitation des Mythos
erlauben, die das Manichäische des zürnenden Einen Gottes ebenso
hinter sich gelassen habe wie das einer kämpferischen Vernunft gegen
vermeintliche Unvernunft. Der aufgeklärten Vernunft sei der Mythos
nicht mehr "das Andere", sondern er gewähre ihr die Spielräume ihrer
Imagination.
Was Marquard programmatisch skizziert, hat Hans Blumenberg in seiner
"Arbeit am Mythos" ausgeführt. Die Mythen, so Blumenberg, seien grandiose menschliche Kunstwerke, die in faszinierender Weise die unabänderliche Tatsache überspielt hätten, daß die Welt überhaupt nichts Heimisches für den Menschen habe, daß sie völlig gleichgültig und uninteressiert am Menschen sei. Darin dem Logos gleich seien die Mythen die
immerwährenden Werke des Menschen, dennoch eine sinnbesitzende
Welt zu haben, die jeweils letzten Anstrengungen, endlich – ein für alle
Mal – die Welt erkennend und schaffend in Besitz zu nehmen, – und
doch sei das Scheitern schon vorprogrammiert. Wie der Sage nach Prometheus und Napoleon in der Tat eine Welt machen wollten – obwohl
doch schon eine Welt bestand. Insofern teile der Mythos ganz das
Schicksal des Logos und sei selbst schon "ein Stück hochkarätiger Arbeit
des Logos" (13, 18). – Für Blumenberg sind die Erhebungen des Menschen zur Welt gescheitert die Ansprüche der Überwindung der Kluft
sind überwunden; was bleibt, ist die unaufgeregte Nüchternheit des
"Aufgeklärten", der weiß, daß der Mythos weder "tiefe Wahrheit" besitzt,
noch reine Ausgeburt der menschlichen Phantasie ist, sondern der bleibende Ausdruck menschlicher Selbstbehauptung angesichts des sinnlosen "Absolutismus der Wirklichkeit". Die Mythologie bleibt als ein Pantheon und Panoptikum des menschlichen Lebens zurück, das nie heranreicht ans Erstrebte: die Welt.
Ob christlicher Monotheismus oder "heidnischer" Polytheismus, der
"Götterstreit" der Konservativen kreist um das Problem der Verbindlichkeit. Während die einen die im modernen Pluralismus verlorengegangene
Vereinheitlichung des Politischen unter dem Dach des christlichen Monotheismus anstreben, wehren die anderen diese im Namen eines "aufgeklärten Polytheismus" ab und weisen in der Erbfolge Nietzsches auf
die Gefahren jeglichen allgemein verbindlichen Totalanspruchs hin. "Der
moderne Aggregatszustand des Polytheismus", so Odo Marquard, "ist
M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer
die politische Gewaltenteilung: sie ist aufgeklärter Polytheismus. Sie
beginnt nicht erst bei Montesquieu, bei Locke oder bei Aristoteles. Sie
beginnt schon im Polytheismus: als Gewaltenteilung im Absoluten durch
Pluralismus der Götter" (14).
Selbst wenn dies von ihnen nicht intendiert sein mag. so lauert doch
hinter solch prinzipienfreiem Polytheismus zwar nicht der Universalismus einer christlichen Theokratie aber doch eine politische Ideologie, die
im Namen des "Ethnopluralismus" erneut nationalistisches, gar rassistisches Gedankengut in die öffentliche Diskussion einführen will. Darauf
gilt es zu achten.
Literaturverzeichnis:
1.
Gilles Deleuze, Felix Guattari, Antiödipus, Frankfurt/Main
1974.
2. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/Main 1983.
2. Jean Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien/Köln
1982.
3. G.W.F. Hegel, Werke 2, Frankfurt/Main 1970.
4. Gerda Weiler, Der enteignete Mythos. Eine notwendige Revision der Archetypenlehre C.G. Jungs und Erich Neumanns,
München 1985.
5. Widerspruch 1/85, Frauendenken, München 1985.
6. Karin Gaube, Alexander von Pechmann, Magie, Matriarchat
und Marienkult. Frauen und Religion, Reinbek 1986.
7. Günter Rohrmoser, Krise der politischen Kultur, Mainz 1983.
8. siehe Information Philosophie 3, Basel 1986.
9. Peter Koslowski, Moderne oder Postmoderne?, in: Perspektiven
5, Witten 1986.
10. Hans Michael Baumgartner, Bernhard Irrgang (Hg), Am Ende
der Neuzeit? Die Forderung eines fundamentalen Wertwandels
und ihre Probleme, Würzburg 1985.
11. Odo Marquard, Die Erziehung des Menschengeschlechts – Eine Bilanz, in: Der Traum der Vernunft – Vom Elend der Aufklärung, Neuwied 1985.
Rehabilitation des Mythos
12. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979.
13. Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und
Polymythie, in: H. Poser (Hg), Philosophie und Mythos. Ein
Kolloquium, Berlin 1979.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 2229
Autor: Konrad Lotter
Artikel
Konrad Lotter
Die Sokratische Ethik zwischen Mythos
und Aufklärung
I
Der Ursprung der Sitten liegt in ihrem Nutzen, in ihrer Funktion für die
Erhaltung der Gemeinde. Auch nachdem die Menschen damit begonnen
haben, sich durch ihre Arbeit und den Gebrauch von Werkzeugen aus
dem Tierreich heraus zu entwickeln, bleiben ihre Lebensäußerungen in
den gemeinschaftlichen Kampf ums Überleben eingebunden. Auch
nachdem sie damit begonnen haben, ihr Leben selbst zu gestalten, bleibt
es in seiner Gleichförmigkeit und seinen Wiederholungen noch über
Jahrtausende hinweg dem Verhalten von Tieren vergleichbar. Einerseits
kehren die Bedürfnisse wieder und der gleichförmige Ablauf ihrer Befriedigung. Andrerseits wiederholen sich die gleichen Arbeiten, die, in
den Wechsel der Jahreszeiten eingespannt, eine unmittelbare Beziehung
zu den Bewegungen der Gestirne zu besitzen scheinen. Beides gibt dem
menschlichen Leben die Festigkeit eines naturgesetzlichen Ablaufs, dessen Kreisförmigkeit, dessen Gleichheit im Wechsel das dämmernde
Bewußtsein als Mythos widerspiegelt.
Mit dem Mythos einher geht die Verkehrung. Ausgelöscht und vergessen
ist die ursprüngliche Beziehung allen Tuns auf seinen Nutzen. Der Mythos beginnt ein phantastisches Eigenleben. Nicht mehr er ist
Widerspiegelung des Lebens, sondern umgekehrt: das menschliche
Leben erscheint nun als Wiederholung des mythischen Paradigmas. An
die Stelle des natürlichen tritt das göttliche Gesetz, an die Stelle der Notwendigkeit der Gehorsam. Das Leben in der Wildnis wird zum Leben irn
Konrad Lotter
Gehorsam. Das Leben in der Wildnis wird zum Leben irn Mythos, zur
mythischen Sittlichkeit. Deren allgemeine Kennzeichen sind
1. Geschichtslosigkeit: auf niederstem Stand der Werkzeugentwicklung,
der (natürlichen) Arbeitsteilung etc. bleiben die Produktion und Reproduktion des Lebens unverändert, statuarisch.
2. Subjektlosigkeit: der Kampf ums Überleben wird gemeinschaftlich
geführt. Die Gemeinde ist die Substanz das Individuum nur Akzidenz, es
verbleibt an sich ohne Kontur. ohne Selbständigkeit.
3. Bewußtlosigkeit: Not, Mangel an Alternativen, sowie Vorbild und
Tradition verleihen dem Leben den Charakter eines instinktgebundenen
Ablaufs.
4. Weltlosigkeit: die eigentlich Handeln den sind die Götter, das menschliche Leben ist nur Säkularisation, Schatten des himmlischen Geschehens. Der Mythos als vorgeordnetes Ganzes erst gibt dem Menschen
Sinn und Orientierung.
Homers und Hesiods Werke sind ebenso Gestaltungen der mythischen
Sittlichkeit wie bereits deren Auflösung. Im Fortgang der geschichtlichen
Bewegung hat sich die Einheit des Mythos mit dem Leben gelockert.
Zum einen verliert das mythische Paradigma mit dem Entstehen der
Klassengesellschaft seine die Gemeinde umfassende Verbindlichkeit. Es
dient bei Homer der sittlichen Formung des Adels, bei Hesiod dagegen
der des böotischen Bauern. Zum andern gewinnt das mythische Paradigma, seitdem Warenproduktion, Handel und Privateigentum den Kreis
der Gemeinde gesprengt und das selbstbewußte Individuum daraus hervortreten haben lassen, einen normativen Charakter. Zwar werden bei
Hesiod die Härte der Arbeit und der sozialen Ungerechtigkeit als
Ausfluß der „pessimistischen“ Mythen von Prometheus, der Büchse der
Pandora oder dem Niedergang der fünf Weltzeitalter dargestellt und
gerechtfertigt.
„Vor Verdienst aber setzten den Schweiß
die unsterblichen Götter ...“1.
Gleichzeitig aber richten sich die „Tage und Werke“ gegen den Betrug
des Bruders Peres und die Korruption der adeligen Richter, wobei Ord1
Hesiod: Werke, übers. von Th.v.Scheffer, Wiesbaden 1947, S. 90.
Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung
nung und „Gerechtigkeit“ der natürlichen Kreisläufe zu Vorbild und
Norm der jährlich wiederkehrenden Arbeitsabläufe, der sozialen Gerechtigkeit etc. werden, zum Wegweiser zurück ins goldene Zeitalter.
II
Die Aufklärung in der Ethik (und damit die Ethik überhaupt) beginnt
mit Sokrates. Wie die ionischen Naturphilosophen die mythischen Kosmogonien zerstörten, so zerstört Sokrates die mythische Sittlichkeit. Das
Mittel der Zerstörung ist die Ironie, mit der sich der Nichtwissende auf
die Ansichten seiner Gesprächspartner einläßt, sie durch Verallgemeinerungen oder Konkretisierungen verwirrt und aushöhlt. Ihrem Inhalt nach
verlaufen die Gespräche ohne greifbares Resultat. Das Alte wird aufgelöst, das Neue nicht gefunden. Entscheidend aber ist nicht, daß es Resultate gibt. Entscheidend ist vielmehr der Prozeß der Reflexion selbst, der
mit dem Gespräch beginnt, aber mit dem Ende des Gesprächs nicht
abgeschlossen ist. Besäße die mythische Sittlichkeit noch Geltung, so
wäre es leicht, zu Resultaten zu kommen, die Prinzipien der richtigen
Praxis daraus abzuleiten. Nun aber, nachdem sie ihre Kraft und Gültigkeit verloren hat müssen die Individuen Halt in sich selbst suchen, in der
Reflexion ihres Tuns, in der Moral, in der sie sich selbst zu m Maßstab
erheben.
Erstens also setzt Sokrates das Gute, die richtige Praxis, nicht mehr voraus, übernimmt sie nicht fraglos, sondern entwickelt sie erst. Zweitens
liegt für ihn das Gute nicht in Gemeinde und Tradition, sondern im
Individuum. Beide Punkte sind in der Anklage enthalten, die zu seiner
Verurteilung und Hinrichtung führen. Sie lautet auf Gottlosigkeit, d.h.
Zweifel an den überlieferten Mythen und der durch sie sanktionierten
gesellschaftlichen Ordnung und Verführung der Jugend, d.h. Aufweichen
der instinktiven Bindung an die Gemeinde.
Geschichtliche Voraussetzung für die Aufklärung in der Ethik ist die
Auflösung der „orientalischen Welt“, der „asiatischen Gemeinde“ in der
der Mensch nur „Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier“2 war (Perserkriege als weltgeschichtlicher Wendepunkt). Warenproduktion Handel
2
Marx: Grundrisse, S. 395.
Konrad Lotter
und Privateigentum sprengen nicht nur das Individuum aus der Gemeinde heraus, sondern erzeugen damit erstmals ein Verhältnis zwischen
Individuum und Gemeinschaft. Diesem Verhältnis entspricht die doppelte Möglichkeit der Negation der bestehenden Sitten durch das Individuum bzw. der Affirmation, der Anerkennung der bestehenden Sitten,
nicht mehr bewußtlos sondern aus Oberzeugung und freien Stücken.
Beide Möglichkeiten sind in der aufgeklärten Ethik enthalten beide
Handlungsweisen sind in der Person des Sokrates überliefert. Mit dieser
Alternative entsteht das Problem der Entscheidung. Unter der Herrschaft der mythischen Sittlichkeit waren alle Lebensäußerungen durch
Brauch und Ritus, Vorbild und Tradition geregelt. Neuartige Konflikte,
sofern sie überhaupt auftraten, entschied das Orakel. Sokrates dagegen
verlegt die Entscheidung von außen nach innen (Daimonion als subjektives Orakel); Entscheidungsträger wird das Subjekt, Entscheidungsinstanz der Logos.
III
In der Folge finden sich ebensosehr Fortsetzung wie Gegenbewegung.
Epikur etwa setzt die Aufklärung in der Ethik fort, stellt sie auf eine
materialistische Grundlage. Ziel allen Handelns sind die Freuden des
Geschmacks, der Liebe, des Gehörs; Ziel allen Handelns aber ist auch
ein Glück, das die Dauer dem Augenblick, die Ruhe der Bewegung, die
Schmerzlosigkeit der Lust vorzieht. Das Denken als Instanz der Entscheidung wird selbst zur Quelle des höchsten Glücks. Anders als der
kyrenaische Hedonismus zieht Epikur das geistige Vergnügen dem körperlichen vor und fürchtet die geistigen Schmerzen (der Angst, der Ungewißheit etc.) mehr als die körperlichen. Ein glückliches Leben setzt
daher nicht nur voraus, daß wir den Tod (als bloße Abwesenheit aller
Empfindungen) nicht fürchten, sondern auch, daß wir die Angst vor den
Mythen verlieren. Ein glückliches Leben setzt Erkenntnis voraus. Es
wäre nicht möglich,
„wenn wir von der Natur des Alls keine Kenntnis hätten, sondern argwöhnen müßten, es könnte doch etwas an den Mythen sein“3.
3 Epikur: Schriften, übers. und eingel. von P.M. Laskowsky, München o.J., S. 7B
Lehrsatz 12. Vgl. S. 104 Lehrsatz 16.
Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung
Die Götter werden aller Beziehung zur Welt beraubt, auf die glücklichen
Inseln der Intermundien verbannt, Natur und Gesellschaft (Vertragstheorie!) aus sich selbst erklärt.
Gegenbewegung findet bei Platon statt. Er holt die Freiheit der individuellen Selbstbestimmung wieder in die Ordnung des Staats zurück, verleibt das Subjekt wieder der Substanz ein. Alles, worin der Mensch sich
als Individuum bestätigt finden, alles, worin er ein vom Staat separiertes
Leben führen könnte, ist ausgemerzt. „Gerechtigkeit“ beruht auf der
Übereinstimmung der sozialen mit der natürlichen Hierarchie, auf der
Entsprechung von Nähr-, Wehr- und Lehrstand mit den Seelenteilen der
Begierde, des Muts und der Vernunft. Auf diese Weise nimmt jeder die
seiner natürlichen Anlage gemäße Stellung in der Gesellschaft ein. Ihre
letzte Rechtfertigung erhält die Ordnung im Mythos des Bluts, dem beim
Regenten Gold, beim Krieger Silber, beim Bauern und Handwerker nur
Eisen beigemengt ist.
„Ihr seid nun also freilich .. alle, die ihr in der Stadt seid, Brüder; der
bildende Gott aber hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichsten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den
Ackerbauern und übrigen Arbeitern“4.
Neu an Platon ist nicht nur die Rehabilitation des Mythos, der Versuch,
zur mythischen Sittlichkeit zurückzukehren, sondern vor allem das, was
dahinter steht: die Verbindung von Mythos und Herrschaftsinteresse
sowie die Verklärung der Vergangenheit zur Utopie (zu einer Utopie der
herrschenden Klasse). Gerade das zurückgebliebene, mit seiner Handelsund Geldfeindlichkeit, seiner Unterdrückung aller individuellen Regungen noch an die orientalische Gemeinde erinnernde: Sparta erscheint der
athenischen Aristokratie in den Jahren des Peloponnesischen Krieges als
wünschenswerte Vorwegnahme der eigenen Zukunft. In ihm sieht sie ihr
Klasseninteresse befriedigt, ihre von Kaufleuten und Seefahrern bedrohte Herrschaft am wirkungsvollsten gesichert.
4
Platon: Politeia, übers. von F. Schleiermacher, Hamburg 1958, S. 145 (415a).
Konrad Lotter
IV
Der Streit um Aufklärung und Mythos in der Ethik stellt sich zugleich als
ein Streit u m die Person des Sokrates dar. Für Hegel, den Fortsetzer der
Aufklärung, ist Sokrates weltgeschichtliche Person, Überwinder der substantiellen und Begründer der subjektiven Freiheit, dessen Prinzip der
Moralität das Prinzip der modernen Freiheit überhaupt ausspricht5. Zwar
kritisiert Hegel den formellen Charakter der sokratischen Reflexion (genau, wie den von Kants kategorischem Imperativ, der ebenfalls das Heraustreten des Individuums aus seiner Unmündigkeit zum Inhalt hat): die
individuelle Selbstbestimmung vollzieht sich immer im Rahmen der
Sittlichkeit, der bestehenden Institutionen. Zugleich aber begreift er die
Moralität als Korrektiv der Sittlichkeit, als Ausgang und Anstoß des
sittlichen Fortschritts. Er begreift Sokrates als das Urbild der Dialektik,
in der das Böse, die Negation der bestehenden Sittlichkeit, in Gutes, als
Antizipation einer zukünftigen, besseren Sittlichkeit umschlägt6.
Für Nietzsche hingegen, den Gegen-Aufklärer, beginnt mit Sokrates der
Niedergang, die Dekadenz. Sokrates hat dir Instinkte zerstört, das Leben
unter das Joch der Moral gezwängt. Sein Tod ist nicht mehr tragisch,
sondern nurmehr der kaschierte Selbstmord eines Lebensmüden. Er ist
Vertreter des Pöbels, Initiator des Sklavenaufstandes in der Moral, der
sich in Christentum und Sozialismus fortsetzt, Begründer der Herdenmoral, die sich aus dem Ressentiment der Schwachen und Schlechtweggekommenen gegen die Herren und Vornehmen speist7. Mit der Kritik
und Ablehnung des Sokrates bettet Nietzsche die Ethik wieder in den
Mythos ein. Das geschichtliche Werden, das auf die Selbstbestimmung
von Individuen bzw. Klassen gegründet war, wird wieder auf ein biologisches, naturhaftes Sein reduziert. Weder der Wille zur Macht noch die
ewige Wiederkehr des Gleichen sind typisch menschlich, spezifisch geschichtlich. Beide Grundbestimmungen des Lebens teilt der Mensch mit
5 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Frankfurt
1970, Bd. 1B, S. 441 f. Vgl. Werke Bd. 12, S. 135 ff. und 328 f.
6 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke Bd. 7, S. 259 ff. (§§ 138
und 139).
7 Nietzsche: Werke, hrsg. von K. Schlechta, München 1958, Bd. 2, S. 69B f. und S.
951 ff.; Bd. 3, S. 637, S. 77l ;, und S. 758 ff. 26
Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung
Tier und Pflanze. Rückkehr zum Mythos heißt daher Freisetzung der
Instinkte, Aufkündigung des Mitleids und der Nächstenliebe, Befreiung
des Egoismus vom schlechten Gewissen. Sie bildet die Voraussetzung
für die Erzeugung des Übermenschen.
Auch bei Nietzsche verbindet sich die Rehabilitation des Mythos mit
Herrschaftsinteresse und rückwärtsgewandter Utopie. Seine Begeisterung
für Griechenland unterscheidet sich von der Hegels (und der ganzen
Klassik) grundlegend. Sie ist nicht die Begeisterung für die Demokratie
der Polis (und der damit verbundenen Blüte der Kunst und Philosophie),
sondern die Begeisterung für die (alte, vorsokratische) Sklavengesellschaft, auf deren Rücken sich Eliten ausbilden konnten. Hier findet
Nietzsche das Modell für die imperialistische Zukunft Deutschlands, für
die (Überwindung der Dekadenz und die Errettung einer Gesellschaftsordnung, die insbesondere seit der Pariser Kommune schwer angeschlagen ist. Dem aggressiven Klassenkampf von oben sollen durch die Zerschlagung der Moral, der Religion und des Sozialismus die letzten Fesseln genommen werden.
V
Aufklärung in der Ethik geht von Individuen (von Klassen) aus, die
erstens die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse negieren und die
in dieser Negation zweitens (im Anschluß an tatsächliche Auflösungstendenzen) zukünftige Verhältnisse antizipieren. Aufklärung ist insofern
drittens ein unabgeschlossener Prozeß, der im Kampf gegen verkrustete
Verhältnisse das geschichtliche Potential an Freiheit verwirklicht. Umgekehrt ist die Sittlichkeit seit der (Überwindung ihres statuarischmythischen Charakters zwar das Resultat, die Zusammenfassung der
Aufklärung, zugleich aber mit der Tendenz, die jeweils erreichte Stufe
gegen die Fortschritte der Produktivkraftentwicklung festzuhalten, sogar
dahinter zurückzugehen. In seiner Wiederkehr aber hat der Mythos seine
(ursprüngliche) Berechtigung, seine Unschuld verloren. Im Anachronismus einer wiederversuchten Verendlichung, Naturalisierung der Geschichte verkommt der Mythos zum Irrationalismus. Es ist nicht die
Aufklärung, die in Mythos umschlägt, sondern das Festhalten an einer
bestimmten Stufe der (bürgerlichen) Aufklärung und den damit verbun-
Konrad Lotter
denen Herrschaftsverhältnissen gegen das geschichtliche Potential an
Freiheit, das zum Irrationalismus führt, zum Irrationalismus in der Politik wie in der Philosophie8.
VI
In der Orientierung am Mythos treffen sich heute die Konservativen mit
großen Teilen der Alternativen, der sozialen Bewegungen. Allerdings aus
ganz entgegengesetzten Interessen heraus. Die einen verfolgen die Festigung, die anderen gerade die Veränderung der bestehenden Verhältnisse.
Die Konservativen profitieren vom Mythos (der „Freiheit“, des „Aufschwungs“, der „Sicherheit“ etc.), weil er letzte, nicht-hinterfragbare
Werte aufstellt, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen, zugleich
erlaubt, von wirklichen Interessen zu abstrahieren. Sie profitieren vom
Mythos, weil er mit dem Bewußtsein, Moment im Zyklus eines „naturhaften“ Geschehens zu sein, das (falsche) Gefühl der Zusammengehörigkeit, der „Schicksalsgemeinschaft“ fördert und Klassengegensätze
verschleiert. Sie profitieren, weil der Mythos die Opferbereitschaft der
Betroffenen erhöht, weil er erlaubt, selbst noch den eigenen ökonomischen oder physischen Untergang als sinnvoll und notwendig in einem
geordneten und bejahenswerten Prozeß zu erfahren, ohne sich dagegen
aufzulehnen.
Die sozialen Bewegungen hingegen setzen einerseits in ihrer Negation
des „Systems“, in ihrem Engagement für Frieden, sanfte Technik etc.
praktisch die Aufklärung fort. Theoretisch andererseits bekämpfen sie
das „Programm der Aufklärung“, das ihrer Meinung nach notwendig zu
Naturzerstörung, Rüstungsindustrie, Überwachungsstaat, Krieg führt.
Der Kampf gegen die Aufklärung, gegen die „Moderne“, schließt für sie
unmittelbar den Kampf gegen die Rationalität ein: gegen die auf Rationalität beruhende Computer-, Gen- und Atomtechnik, gegen die auf Rationalität beruhenden (patriarchalen) Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. An ihre Stelle tritt das Ideal eines Handelns, das sich an der Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben orientiert, treten der Versuch, sich
8 Lukàcs' "Zerstörung der Vernunft" ist die marxistische Behandlung der "Dialektik"
der Aufklärung.
Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung
in ökologische Kreisläufe einzufügen, die Aufwertung des Matriarchats
und des Mythos.
Das Berechtigte daran liegt im Protest gegen die verkürzte, an der bloßen
Manipulation der Natur sowie am Nutzen privaten Wirtschaftens ausgerichteten Rationalität, der Mangel daran, daß der verkürzten nicht die
ganze Rationalität entgegengehalten wird. Nicht die Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ (in der Natur und Geschichte,
die globalen Interessen der Menschheit etc. eingeschlossen sind) wird
rehabilitiert, sondern der Mythos. Damit setzt man dem einen, aus dem
Nebeneinander vieler verkürzter Rationalitäten resultierenden Irrationalismus nur einen anderen Irrationalismus entgegen. Zwar einen antikapitalistischen, auf humane Ziele hin ausgerichteten, aber eben doch
einen Irrationalismus.
VII
Sokrates ist Aufklärer, er ist aber auch Urheber eines Aberglaubens: des
Aberglaubens nämlich von der automatisch-versittlichenden Wirkung
der Einsicht9. Sokrates ersetzt den Mythos durch den Logos, beschränkt
sich auch nicht darauf, den Logos abstrakt zu propagieren, sondern vermittelt ihn mit den konkreten Situationen und Interessen der Menschen.
Gleichzeitig aber schließt er Theorie und Praxis, Einsicht und Tugend
kurz. Die Kenntnis des Richtigen schlägt sich für ihn unmittelbar im Tun
des Richtigen nieder. Das Falsche wird nur deshalb getan, weil das Richtige unbekannt ist. Offensichtlich trifft dieser Automatismus nicht zu.
Weder z.B. hat die Massenarbeitslosigkeit (auch wo ihre Ursachen im
kapitalistischen System erkannt sind) zu einer revolutionären Massenbewegung, noch hat die Einsicht in die Bedrohung durch Atomwaffen oder
Kernkraftwerke zu wesentlichen Einbußen bei denjenigen Parteien geführt, die ihre Dislozierung oder ihren Ausbau vorantreiben. Offensichtlich aber kann die Veränderung der Praxis doch nur über die Veränderung des Bewußtseins bewirkt werden. Entweder sind (um bei den beiden Beispielen zu bleiben) die Betroffenen zu wenig aufgeklärt, oder ihre
Gewohnheiten, ihre Bequemlichkeit etc. wiegen mehr als ihre Einsichten.
9
Bloch: Sokrates und die Propaganda, in: Vom Hasard zur Katastrophe, Frankfurt
1972, S. 103 f.
Konrad Lotter
Vor allem aber tragen im Konflikt der globalen, menschheitlichen mit
den privaten, individuellen, wie nationalen Interessen allem al die letzteren den Sieg davon. So weiß man zwar das Richtige, aber bevorzugt das
Falsche.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 3047
Autor: Ralph Marks
Artikel
Ralph Marks
Schelling und die Mythologie
„Er (Schelling) geht von dem scholastischen Satze aus, daß an den
Dingen das quid und das quod, das Was und das Daß zu unterscheiden
sei. Was die Dinge seien, lehre die Vernunft, daß sie seien, beweise die
Erfahrung. Wolle man diese Unterscheidung durch die Behauptung der
Identität von Denken und Sein aufheben, so sei das ein Mißbrauch
dieses Satzes. Das Resultat des logischen Denkprozesses sei nur der
Gedanke der Welt, nicht die reale Welt. Die Vernunft sei schlechthin
impotent, die Existenz von irgend etwas zu beweisen, und habe in
dieser Beziehung das Zeugnis der Erfahrung für genügend anzunehmen“1.
Diese Worte des jungen Engels, wie auch das Ganze seiner polemischen
Attacke gegen den ‘Neuschellingianismus’ zeigen gegen die Intention des
Autors eine fast objektive Wiedergabe der Spätphilosophie Schellings an,
wie sie dieser unter großer öffentlicher Anteilnahme seit dem Wintersemester 1841/42 in Berlin vorzutragen begann2. Was uns in diesem Auf1 Friedrich Engels, Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie (Leipzig 1842), in: MEW, Ergänzungsband, 2. Teil,
Berlin 1973, S.171-221, hier: S. 181.
2 Vgl. zum Vorgang der Berufung Schellings nach Berlin und zu den dadurch ausgelösten publizistischen Begleitumständen und Reaktionen seiner Zeitgenossen die
ausgezeichnete Einleitung des Hrsg. Manfred Frank, in: ders., F.W.J. Schelling. Philosophie der Offenbarung 1841/42, Frankfurt/M. 1977, S.7-84.
Schelling und die Mythologie
satz beschäftigen soll, ist, die seit kurzem verstärkte Hinwendung und
kritische Aufarbeitung der sogenannten „Philosophie der Mythologie“
(und Offenbarung) des späten Schelling zu erörtern und sie in ihrer offensichtlichen Verbindung mit diversen neueren philosophischen Diskussionen über den Mythosbegriff zu beleuchten. Das Zitat aus dieser
Frühschrift Engels’ wurde nicht zufällig gewählt; wurde doch die Schellingsche Spätphilosophie bisher zumeist nur unter dem Blickwinkel seiner späten, in die Berliner Zeit fallende Hegelkritik gesehen. Mehrere
Etappen der Schellingrezeption und -kritik in der neueren Forschung
sollen an dieser Stelle kurz repliziert werden, um an den Punkt zu gelangen, von dem aus das neuere Interesse an der Philosophie der Mythologie Schellings verständlich wird.
Nach dem ehemals gängigen, in den Philosophiehistorien kanonisierten
Schema wurde die Entwicklung des deutschen Idealismus unter dem
Thema ‘von Kant bis Hegel’ abgehandelt. In dieser dem äußeren Verlauf
folgenden Schematisierung wurde Schellings Frühphilosophie, seine Identitätsphilosophie, als eine konsequente und abgeschlossene Etappe des
Weges von Fichte einerseits, zur Apotheose und Vollendung des dt.
Idealismus in Hegel andererseits dargestellt. Mit der Phänomenologie des
Geistes von 1807, also mit Hegels Entreebillet in das öffentliche philosophische Bewußtsein und seiner darin grundgelegten und bis zum
Schluß festgehaltenen Schellingkritik3, hauchte Schelling nach dieser
Interpretation sein philosophisches Leben aus4. Das Problem und die
Herausforderung war nur, daß Schelling leider (so sahen es schon viele
seiner Zeitgenossen) noch bis 1854 lebte und keineswegs philosophisch
untätig war. Der Mythos vom Schweigen Schellings, der seit seiner Freiheitsschrift5 von 1809 kaum Wesentliches, nur kleinere Arbeiten wie
3 Siehe G.W.F. Hegel, Werke, Bd. 3 (= Theorie Werkausgabe), Frankfurt/M. 1976,
22.
4 Besonders eindrucksvoll und mit einer weit über Hegels Philosophie hinausgehenden Wirkung findet sich dieser Standpunkt schon in Hegels „Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie“, wie Anm. 3, Werke Bd. 20, 420-459.
5 Vgl. zur Textgrundlage die beiden leicht greifbaren Taschenbuchausgaben, die
jeweils von bedeutenden Schellingforschern: Horst Fuhrmanns, F.W.J. Schelling,
Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Reclam-Stuttgart 1977 und von Walter
Ralph Marks
Vorreden, Rezensionen etc. veröffentlichte, schien den Zeitgenossen zu
bestätigen, daß dieser nach Hegels philosophischer Inthronisation nichts
Neues und philosophisch Weiterführendes zu bieten habe. Nur einzelne
Kundige und verschiedene Nachrichten wußten zu berichten, daß Schelling an einer neuen – er nannte sie „positive Philosophie“ – arbeitete.
Seit der vorsichtigen und anfangs zaghaften Rehabilitierung Schellings im
Zuge der Feiern seines 100. Todestages und der bahnbrechenden Arbeit
Walter Schulz’ mit dem (damals) provokanten Titel: „Die Vollendung
des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“6, wurde
eine anfangs unbeachtet gebliebene Neueinschätzung nicht nur der Spätphilosophie Schellings, sondern des ganzen sog. erratischen Blocks des
dt. Idealismus vorbereitet. Die daran anschließenden, endlich auch sachgemäßeren und den einzelnen disparaten Philosophien Kants, Fichtes
und Hegels angemesseneren, fast philosophisch akribischen manchmal
auch pedantischen Forschungen, Editionen und Publikationen setzten
damit ein.
Unter Marxisten herrschte davon fast unberührt die Meinung vor, daß
Schellings Spätphilosophie, besonders wie sie in Vorlesungen zur „Ausrottung der Drachensaat des Hegelianismus“ in Berlin vorgetragen wurde, scheinbar nichts Neues, schon. gar nichts philosophisch Wertvolles
zu bieten habe. Im Gegenteil galt seine positive Philosophie, deren einer
Teil die der Mythologie betrifft als reaktionäre Ausgeburt einer christlichfrömmelnden Philosophie7, die nur entstanden gewesen sei, um die HeSchulz, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975, mit Einleitungen versehen, herausgegeben
wurden.
6 Pfullingen 1975 (1. Aufl. 1955).
7 Als sehr hemmend und z.T. destruktiv für eine offene Auseinandersetzung – Rezeption und Kritik der Schellingschen Spätphilosophie und seiner Philosophie im
allgemeinen von marxistischer Seite, sollte sich Lukács’ Darstellung seiner Philosophie, in: Die Zerstörung der Vernunft, Bd. I, Irrationalismus zwischen den Revolutionen (zuerst 1954 u.ö.) erweisen. Nicht zufällig in demselben Jahr seiner erneuten
„Wiederentdeckung“ im Zuge der 100-Jahr-Feiern seines Todes, besonders durch die
bahnbrechenden Forschungen von Fuhrmanns und Walter Schulz mitinitiiert, und
fast zum selben Zeitpunkt des Erscheinens von Jaspers’ großer Schellingmonographie, ordnet Lukács Schelling in die irrationalistische dt. Philosophieentwicklung des
19. Jahrhunderts ein, die mehr oder weniger, so I.ukács’ These, von der Spätphilosophie Schellings über Bäumler und Klages ihre Verkündigung und Praxis in Hitler und
den Nazis gefunden haben sollte. Daß bei dieser Einschätzung zeitgeschichtliche
Schelling und die Mythologie
gelsche Philosophie nach dessen Tod zu widerlegen, was ihr naturgemäß,
da sie ja auf einer schon überwunden geglaubten Stufe der philosophischen Entwicklung stand, nicht gelingen konnte. Ob diese Spätphilosophie, die sich übrigens schon sehr früh in Schellings Werk andeutete,
wirklich nur dazu „erfunden“ wurde, die Hegelsche Philosophie zu überwinden, oder ob sie neben dieser Kritik Hegels auch anderen Motiven
ihre Entstehung verdankt, interessierte damals die philosophische Öffentlichkeit wenig. Die Junghegelianer Engels, Marx, Bauer, auch Feuerbach und Bakunin sahen in ihm nur eine reaktionäre Provokation der
preußischen Monarchie auf philosophischem Gebiet. Daß trotz alledem
wesentliche Kritikpunkte Schellings an Hegel, über die Rezeption Feuerbachs und Anderer doch ihren enormen Einfluß auf die philosophische
Entwicklung in Deutschland ausübten, wurde dabei zumeist großzügig
übersehen8.
Erst die Arbeiten und Editionen Manfred Franks werfen seit 1975 ein
neues Licht auf die Übergangsphase und den Ablösungsprozeß der fortschrittlichen Schüler Hegels, vor allem Feuerbach und Marx, von diesem
selbst im Zuge einer bewußten und nachweisbaren Rezeption der Schellingschen Spätphilosophie9. Worauf Frank schon 1975 hinwies, wurde
der Vergleich (von Schellings Spätphilosophie, d.Verf. ) mit dem überlegenen politischen Bewußtsein des „Freundes“ gesucht, um „eine Auseinandersetzung ins Private abzudrängen, bei deren Beurteilung nur das
Hintergründe, der Kalte Krieg und Tendenzen einer restaurativen, z.T. reaktionären
Etablierung einer deutschen Ideologie in der Bundesrepublik damals bei Lukács eine
Rolle gespielt haben, dürfte gewiß sein. Zumindest dauerte es noch fast 20 Jahre, bis
auch bei Marxisten das (zumeist kritische) Interesse an seiner Philosophie wiederkam. Die neueren Forschungsergebnisse besonders zu Schellings Naturphilosophie
aus jüngster Zeit beweisen dies (vgl. H.J. Sandkühler (Hg.), Natur und geschichtlicher
Prozeß, Frankfurt/M. 1984). Leider (und wohl zu unrecht) beschränkt sich das
marxistische Interesse noch zu sehr auf den jungen Schelling – eine Wiederentdeckung der späten Philosophie steht noch aus.
8 Vgl. zu diesem ganzen Vorgang die grundlegende Studie Manfred Franks: Der
unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegel-Kritik und die Anfänge der Marxschen
Dialektik, Frankfurt/M. 1975, besonders 169 ff.
9 Siehe neben der Literatur von Anm. 2 und 8 auch die neuerdings erschienene mehr
in die Philosophie Schellings einleitende Studie Manfred Franks: Eine Einführung in
Schellings Philosophie, Frankfurt/M. 1985, die ihr Schwergewicht auf die Frühphilosophie Schellings (bis 1804) legt.
Ralph Marks
philosophische Potential den Ausschlag geben darf“10. Und das philosophische Potential steht in dieser Beziehung – in der philosophischen
Konfrontation Schellings mit Hegel und umgekehrt – auf beiderseitigem
höchsten Niveau. Gerade die Schellingsche Kritik an der Logikkonzeption Hegels, vor allem an dem Ansatz, die spekulativdialektische Logik mit
der Seinslogik beginnen zu lassen, wird heute doch zunehmend zur
Kenntnis genommen und bei einigen auch positiv gewürdigt11.
Als Fazit der gegenwärtigen philosophischen Forschung zu Schelling läßt
sich also zusammenfassend sagen: Die bei Marx immer schon in hohem
Ansehen stehende Naturphilosophie Schellings erfreut sich heute höchster Wertschätzung bei allen relevanten Schellingforschern – die Tagungen und Sammelbände zu diesem Thema aus der jüngsten Zeit zeigen
dies eindrucksvoll12. Die Spätphilosophie Schellings, insbesondere seine
sog. „positive Philosophie“, findet unter dem (nach meiner Einschätzung
zu einseitigen) Aspekt der Hegelinterpretation und -kritik der Junghegelianer eine positive Resonanz. Ausgespart bleibt dabei (trotz dieser doch
schon recht positiven Bilanz), in welcher Weise die Spätphilosophie
Schellings, besonders die zumeist unterschätzte „Philosophie der Mythologie“, in seine eigene – auch in ihren von Hegel unabhängigen Denkmotiven und Anstößen – philosophische Entwicklung, besonders der mittleren Jahre (1809-1830), einzuordnen und zu bewerten ist. Hier zeigen
sich doch noch erhebliche Defizite sowohl der philosophischsystematischen wie auch vor allem der philologisch-historischen Schel10
Vgl. Anm. 8, ob. cit. S. 9 f.
Vgl. dagegen noch die bahnbrechende Studie von Dieter Henrich, Anfang und
Methode der Logik (zuerst 1963), wieder abgedruckt in: ders., Hegel im Kontext,
Frankfurt/M. 1975’, S. 73 94, wo mit keinem Wort., obwohl inhaltlich der Sache
nach vertreten, Schellings Kritik an Hegels Logik des Seins erwähnt wird. Schon in
den Münchner Vorlesungen Schellings „Zur Geschichte der neueren Philosophie“ (I,
10, S. 126 ff.) von 1833/34 liegen diesbezüglich einige der entscheidenden Kritikpunkte an Hegels Logik schon vor: vgl. besonders: I, 10, S. 133 ff.(= F.K.A. Schelling (Hg.), F.W.J. Schelling, sämtliche Werke, I. Abt., Bde. 110; II. Abt., Bde. 14,
Stuttgart I856 1861). Vgl. neuerdings die von Manfred Frank hrsg. Ausgabe der
„Ausgewählten Schriften“ Schellings, Bd. 16, Frankfurt/M. 1985, die auf der Textvorlage der zuerstgenannten Ausgabe von Schellings Sohn basiert. Die von mir
herangezogene Textstelle Schellings ebenso: Frank (Hg.), Bd. 4, S. 549 ff.
12 Vgl. dazu Widerspruch 1/86, 130-134.
11
Schelling und die Mythologie
linglektüre und Darstellung. Dieses Faktum beruht z.T. darauf, daß die
Textvorlagen seiner Vorlesungen zumeist nicht in philologisch-exakter
Weise in den diversen Editionen seiner „Gesammelten Werke“ wiedergegeben sind. Auch die neueste Ausgabe seiner „Ausgewählten Schriften“, von Manfred Frank verdienstvollerweise als Taschenbuchausgabe
für einen erschwinglichen Preis für ein studentisches Publikum herausgegeben, druckt auch hier wieder die alte von Schellings Sohn redigierte
Ausgabe seiner Philosophie der Mythologie ab13. Das ändert natürlich
nichts daran, daß wir hiermit die bisher einzige zur Verfügung stehende
Ausgabe besitzen; und bis die „Historisch-Kritische Schellingausgabe“
zur Spätphilosophie vorgestoßen sein wird haben wir hiermit eine enorm
wichtige (wenn auch unvollkommene) Quelle zur Interpretation seiner
Philosophie vor uns.
Die Philosophie der Mythologie
Zum Vorverständnis muß vorausgeschickt werden, gegen welche damals
(und auch z.T. heute noch) vorherrschenden Interpretationsrichtungen
der auf uns aus dem Altertum gekommenen Mythologien sich Schelling
expressis verbis wendet:
„Sprechen wir also von einer Philosophie der Mythologie, so müssen wir auch der Mythologie objektive Wahrheit zuschreiben (...).
Sie erscheint uns zuerst, wie man insgemein sich auszudrücken
pflegt, als eine reine Fabelwelt, die wir uns entweder nur als eine
reine Erdichtung oder wenigstens nur als eine entstellte Wahrheit
denken können. An einem solchen Erzeugnis aber hätte die Philosophie nichts zu thun“14.
Das bedeutet für Schelling, daß erstens die eine Interpretation nach der
die Mythologie ein systematisches, bewußt produziertes Erzeugnis eines
Urvolks15 oder einer Anzahl Urweiser oder Priesterphilosophen am An13
Vgl. Anm. 11: Bd. 5 und 6.
Frank (Hg.), Bd. 6, 15 f.
15 Vgl. zur Diskussion der Urvolktheorie bei Schelling, die bekanntlich eine bedeutende Rolle nicht nur bei der Mythoserklärung des 18. und 19. Jahrhunderts spielte:
Frank (Hg.), Bd. 5, 31, 97 f. (= Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 1842).
14
Ralph Marks
fang der Menschheitsgeschichte gewesen sei, falsch ist. Ebenso bestreitet
er zweitens energisch, daß die Mythologie, ob nun die des Homers oder
Hesiods in Griechenland, oder ob nun die vorderasiatischen, persischen,
ägyptischen oder von sonst wo überkommenen Mythologien geistige
Depravationen und Verfälschungen sogenannter göttlicher Offenbarungen, wie sie in der „ältesten Urkunde des Menschengeschlechts“, dem
„Alten Testament“, vorliegen, seien. Das heißt, Schelling streitet ab, daß
die diversen Mythologien (Götterlehren) von einem ursprünglichen göttlich geoffenbarten Monotheismus herstammen. Darüber hinaus verneint
er drittens, daß Mythologien in ihrer ursprünglichen Entstehung Produkte der künstlerischen Einbildungskraft sind, d.h. Artefakte der bewußten
poetischen Kunstproduktion bei den diversen Völkern16.
Das scheint auch wesentlich für die Differenzierung der hier behandelten
späten Mythologiekonzeption zur früheren zu sein, die selbst noch im
Bann von Schellings Philosophie der Kunst der Würzburger Jahre steht
(1802 f.). Das Wesentliche hierbei ist, daß Schelling in der späten abschließenden Konzeption die Mythologie nicht weiter unter kunstphilosophischem Primat symbolisch interpretiert. Das zeigt sich besonders
deutlich in Schellings nun durchgeführter Kritik an dem einseitig ästhetisch-symbolischen Mythosverständnis von Karl-Philipp Moritz, obgleich
Schelling an einer Stelle am Ende seiner „Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ auf den Zusammenhang mit der
Kunstphilosophie seiner früheren Jahre zurückverweist17. Festgehalten
werden muß aber, daß der späte Schelling eindeutig die religiösgeschichtsphilosophische Interpretation des Mythos anstelle der früheren
ästhetischen in den Vordergrund treten läßt.
Um nun den diesbezüglichen grundsätzlichen Standpunkt in dieser Frage
zu explizieren, müssen noch einige Bemerkungen vorausgeschickt werden: Bevor Schelling die eigentliche Philosophie der Mythologie in Vorlesungen vortrug schickte er diesen einen Vorlesungszyklus voraus, der die
„Historischkritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ beinhaltete: In dieser Einleitung, die bewußt jede philosophische Deduktion
und Erörterung des Begriffs Mythologie zu vermeiden suchte, wägt
16
17
Vgl. Frank (Hg.), Bd. 5, S. 28.
Frank (Hg.), Bd. 5, S. 251 (= II, 1, 241).
Schelling und die Mythologie
Schelling die verschiedenen Zeugnisse und Quellen der Mythologien
historisch ab und diskutiert vor allem ausführlich die diversen von Philologen, Altertumsforschern und Historikern über Genesis und Bedeutung
der Mythologien aufgestellten Hypothesen. Die historisch-kritische Erörterung der Mythologie enthält einen von der Forschung noch ungehobenen Schatz gelehrter und hoch interessanter Theorien über diverse Teilinterpretationen, besonders der griechischen Mythologie und des Alten
Testaments. Schelling zeigt sich hier, ganz gegen die bisher vorherrschenden Klischees auf der Höhe der zeitgenössischen wissenschaftlichen Forschung zum Phänomen der Mythologie. Daß Schelling dabei
schon Ansätze einer bewußt ethnologischen Sichtweise18 deutlich werden
läßt, und sich darüber hinaus der für seine Zeit sehr fortschrittlichen
kulturhistorisch-vergleichenden Methode bedient, kann hier nur erwähnt
werden. Gerade aufgrund der breiten Basis seiner Kenntnisse über Mythologien ist es Schelling möglich, die synchronistisch = historischvergleichende Methode anzuwenden und dabei folgendes Ergebnis festzuhalten:
Der Sinn und die Bedeutung der Mythologien müssen so wörtlich verstanden werden, wie sie aus den uns vorliegenden Texten zu entnehmen
sind; d.h., Schelling leugnet jeden „hinter“ den Texten vorfindlichen
eigentlichen, esoterischen Sinn der Mythen. Die in den Mythologien
niedergelegten Götterlehren und genealogischen Götterentstehungstheorien (Theogonien) spiegeln einen realen Bewußtseinsvorgang wider, dem
das ursprünglich menschliche Bewußtsein in vorgeschichtlicher Zeit
unterworfen war. Reale, nach Schellings Interpretation ‘theogonische
Mächte’ bemächtigen sich zeitlich successiv des menschlichen Bewußtseins und zwangen es, ihre Realität quasi naturhaft, unverstanden hinzunehmen. Die Realität der Mythologien spiegelt sich nach Schelling im
Bewußtsein so, daß die ihm unterworfene Menschheit nicht nur die Realität und die theogonisch-religiöse Bedeutung der Götter anerkannte,
sondern in Form von Kulten und Riten ihre Existenz auch in ihrem
Handeln dokumentierte.
18
An einer Stelle seiner historischen Einleitung spricht Schelling sogar von seinen
Untersuchungen zu einer „philosophischen Ethnologie“, der eine „allgemeine
Ethnogonie“ vorausgehen müsse. Siehe Frank (Hg.), Bd. 5, S. 138.
Ralph Marks
Festgehalten werden kann also für diesen Stand der Schellingschen Untersuchung: Das ursprünglich erste Bewußtsein aller Menschen beim Eintritt
in eine quasi menschliche, noch vorgeschichtliche Zeit mit dem erstmaligen bewußten Heraustreten aus den vorgängigen Naturprozessen stellt
sich überall als genuin rnythologisches Bewußtsein dar. Nicht von einem
Urmythos oder einer Urreligion oder der Urweisheit eines Teils des
Menschengeschlechts breitet sich die Mythologie über verschiedene
Völker und Stämme in der Zeit aus, sondern die Gemeinsamkeiten und
Konvergenzen der verschiedenen mythologischen Vorstellungen19 entspringen gerade daraus, daß sie alle einem gleichen Entwicklungsstand
des menschlichen Bewußtseins in toto genere entsprangen. Das bedeutet
aber für Schelling nicht daß die ältesten noch bestehenden Naturvölker
Afrikas und Amerikas dem ursprünglichen mythologischen Bewußtseinszustand der frühen Menschheit noch verhaftet sind. Gerade an
diesem Punkt einer historischen Vergleichsmöglichkeit zwischen ursprünglich mythologischem. Bewußtsein der Menschheit einerseits und
Bewußtseinsstand der zu Schellings Zeit gerade entdeckten Naturvölker
Afrikas und Amerikas andererseits, leugnet er entgegen zeitgenössischer
Interpretationen weitergehende ethnologische Erkenntnismöglichkeiten.
Denn weil die sog. „Naturvölker“ in der allgemeinen menschlichen Entwicklung des mythologischen Bewußtseins auf einem bestimmten Punkt
der Entwicklung stehengeblieben sind, klassifiziert Schelling ihren geschichtsphilosophischen Standort als einen nunmehr „ungeschichtlichen“,
von dem er den sog. vorgeschichtlichen Entwicklungsstand geschieden
haben möchte20.
Aus dieser Aufgabe, die Mythologien und das sie bildende Bewußtsein
zu erklären, entspringt auch eine Selbstkritik der bisher gültigen Maßstäbe der europäischen Aufklärung:
„solange die Philosophie überhaupt den gegenwärtigen Zustand der
Dinge und des menschlichen Bewußtseins als allgemeinen und allgemein gültigen Maßstab voraussetzte“ und „diesen Zustand als einen notwendigen im logischen Sinne ewigen ansah“,
war sie unfähig die Mythologie zu verstehen. Denn
19
20
Frank (Hg.), Bd. 5, 71 f. (= II, 1, 61 f.).
Vgl. hierzu: Frank (Hg.), Bd. 6, 308 f. (II, 2, 296 f.)
Schelling und die Mythologie
„wäre sie überhaupt aus Erklärungsgründen begreiflich, wie sie in
dem gegenwärtigen Bewußtsein sich finden, sie müßte längst begriffen sein. (...)“21.
Woraus Schelling dann den Schluß zieht, daß die historische Mythologie
wohl unter Bedingungen entstanden ist, „die mit denen des gegenwärtigen Bewußtseins keine Vergleichung zulassen und die man nur begreift
in wiefern man es wagt über diese hinauszugehen“22. Im Zuge dieser
Erkenntnis ist es Schelling möglich, ein wesentliches Axiom der Aufklärung, nämlich den quantitativen Fortschrittsbegriff einer Kritik zu unterziehen und dem entgegenzusetzen, daß das mythische Bewußtsein einen
vorgeschichtlichen Zustand anzeigt, der „nichts weniger als ein Zustand
völliger Unkultur und tierischer Rohheit“ ist, „woraus ein Übergang zur
gesellschaftlichen Entwicklung nimmer möglich gewesen wäre“23. Diese
Einsicht impliziert natürlich auch eine enorme Konsequenz für den
Zeitbegriff der Geschichte. Ist der „Begriff der Geschichte weiter“, als
„der Begriff der Historie“, und vermittelt uns Letztere, so Schelling, erst
die Kunde der genuin geschichtlichen Zeit, so muß der Zeitbegriff und
sein Inhalt für beide „Epochen“ der vorgeschichtlich-mythologischen
wie der geschichtlichen ein anderer sein. Wenn die lineare, dem quantitativen Fortschritt verpflichtete Geschichtsauffassung sich die Zeit vorstellt als leeren, kontinuierlichen Behälter, in den die vorfindlichen geschichtlichen Ereignisse vom Historiker eingegossen werden24, so muß
im Gegensatz dazu die Struktur und auch die im eigentlichen Sinne geschichtslose Verlaufsform der mythologischen ‘Zeit’ eine andere sein.
Denn, so faßt Schelling diese Einsicht zusammen,
„die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch bloßes
Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere, sind Unterschiede wesentlich oder qualitativ verschiedener
21
A.a.O., Bd. 6, 152 (II, 2, 140).
ebd.
23 Frank (Hg.). Bd. 5, 123 (II, 1, 113).
24 Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen mit ihrer Kritik am linearen
Geschichtsmodell basieren auf ganz analogen Einsichten, die auch für die Geschichte
unterschiedene ‘Zeiten’ mit radikal verschiedenen ‘Inhalten’ reklamieren. Siehe ders.,
Über den Begriff der Geschichte, XIV, XVII, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2,
Frankfurt/M. 1980, 701 f.
22
Ralph Marks
Prinzipien, die sich einander folgen, und deren jedes in seiner Zeit
zur höchsten Ausbildung gelangen kann“25.
Das quasi zuerst aus der Natur entlassene menschliche Bewußtsein auf
seiner natürlichen Ausgangsposition stellt sich überall als mythologisches
Bewußtsein dar. „Allerdings“, so Schelling,
„hat die Mythologie keine Realität außer dem Bewußtsein; aber
wenn sie nur in Bestimmungen desselben, also in Vorstellungen
verläuft, so kann doch dieser Verlauf, diese Succession von Vorstellungen selbst, diese kann nicht wieder als eine solche bloß vorgestellte seyn, diese muß wirklich statt gehabt, im Bewußtsein wirklich
sich ereignet haben; diese ist nicht von der Mythologie, sondern
umgekehrt die Mythologie ist von ihr gemacht; denn die Mythologie ist eben nur das Ganze dieser Götterlehren, die sich wirklich gefolgt sind und sie ist also durch diese Folge entstanden“26.
An diesem oben bezeichneten Punkt, nämlich mit dem Ursprung der
ersten weltgeschichtlich auftretenden Mythologien, das erste vorgeschichtliche, quasi am Anfang gesellschaftlicher Entwicklungen stehende
menschheitliche Bewußtsein (wie Schelling sinnigerweise sagt, noch vor
der Ausdifferenzierung der Menschheit in Völkern und noch quasi vor
der erstmaligen Entstehung bürgerlicher Gesellschaften, Verfassungen
etc. ...) in seinen ursprünglichen Bewußtseinsbildungen „abgebildet“ vor
sich zu haben, beginnt die eigentliche philosophische Bewältigung dieses
weltbewußtseinsgeschichtlichen Phänomens.
Nun wäre natürlich angebracht zu fragen: warum diese ganze Mühe mit
der Mythologie? Warum kennzeichnet Schelling seine Philosophie der
Mythologie als einen Teil der sog. „positiven Philosophie“; vielleicht
sogar als ihren wesentlichen und sie im Ganzen begründenden Teil?
Schelling bestimmt an einer Stelle diese Philosophie als ersten Teil einer
wahren Geschichtsphilosophie27, wie sie seiner Meinung nach noch nicht
vorliegt. Um hiermit auf das eingangs zitierte Diktum Engels zurückzukehren, ist zu sagen: Schelling bestreitet der immanent bei sich bleibenden Vernunft das alleinige Recht, das Wesen der Dinge im Denken
25
Frank (Hg.), Bd. 5, 249 (II, 1, 239).
A.a.O., 134 f. (II, 1, 124 f.).
27 A.a.O., 247 (II, 1, 237).
26
Schelling und die Mythologie
wahrhaft, d.h. in seiner Existenz erkannt zu haben. Wie Engels in derselben Schrift an anderer Stelle zutreffend Schellings wesentlichen Gedankengang wiedergebend bemerkt, soll für diesen
„die Vernunft den Inhalt alles wirklichen Erfassen und eine apriorische Stellung dagegen einnehmen; sie soll nicht beweisen können,
daß etwas existiere, sondern, wenn etwas existiere, es so und so beschaffen sein müsse, im Gegensatz der Hegelschen Behauptung,
daß mit dem Gedanken auch die reale Existenz gegeben sei“28.
Da Schelling nach seiner idealistisch-theologischen Vorannahme davon
ausgeht, daß Gott existiert, und zwar außerhalb, realtranszendent von
der im Modus des Begriffs sich selbst begreifenden Vernunft, bleibt
natürlich noch offen wo und wie Schelling diese von der Vernunft unabhängige ‘Existenz’, das wie er es nennt „unvordenkliche Sein“ erkennen
will. Das Sein zu erkennen, wird so bei Schelling zur eigentlichen Aufgabe der positiven Philosophie. Die im Medium der Vernunft sich selbst
begreifende Idee der Vernunft behauptet, ihre wahrhafte Existenz im
Denken begründen zu können. Das bedeutet eben für Schellings Interpretation, daß Hegel das Prius der existierenden Natur, des unabhängig
von der Welt existierenden Gottes, ebenso wie die Existenz der Welt
außerhalb der denkenden Vernunft leugnet. Er faßt seine wesentliche
Kritik an Hegel (ohne ihn zu nennen) wie folgt zusammen:
„Jenes Seyn aber, das in ihm damit schon gesetzt ist, daß wir es als
das Seyende selbst denken, ist eben das bloße Seyn im Begriff, und
Sie sehen eben daraus, daß das Seyende selbst, da es kein Seyn außer seinem Begriff hat, selbst nur als Begriff existiert, und daß hier
der Ort ist, wo man sagen kann, daß der Begriff und der Gegenstand des Begriffs eins sind, was eben so viel heißt, daß hier der Gegenstand selbst keine andere Existenz als die des Begriffs hat, oder
wie man dies sonst ausgedrückt hat, daß hier Begriff und Seyn eins
ist, was aber nur so viel heißt, daß hier das Seyn nicht außer dem
Begriff, sondern im Begriff selbst ist. (...) Sie sehen aber von selbst,
wie dürftig, wie eng dieser Begriff ist, und wie wenig eigentlich mit
28
A.a.O., 189.
Ralph Marks
dieser Einheit des Seyns und Begriffs anzufangen ist, weil sie in der
Tat ganz bloß negativ ist“29.
Die rein negative Philosophie, die von der Identität von Sein und Begriff
im Begriff ausgeht, kann eben dann nur, so Schellings Selbstkritik an
seiner eigenen Identitätsphilosophie, die Existenz im Begriff mitsetzen
und ihre eigene Geschichte nur als transzendentale Geschichte der ewigen Selbstvermittlung der denkenden Vernunft mit sich selbst begreifen.
Somit wird auch Gott, und die von Schelling als real theogonischer Prozeß verstandene Geschichte, zu einer Geschichte der selbstbewußten
Vernunft, Gott letztendlich ein Moment der Selbstvermittlung der absoluten Idee mit sich selbst. Schelling setzt dem seine etwas mißzuverstehende positive Philosophie entgegen, die die reale (positive) Seite des
Begriffsprozesses außerhalb derselben im existierenden und somit nach
Schelling im prozessierenden göttlichen Sein zu begreifen sucht. Denn,
so Schelling,
„das Interesse der Philosophie ist es keineswegs, in dieser Enge zu
bleiben, und das wäre eine traurige und höchst beengte Philosophie,
welche von Gott nur wüßte, inwiefern in ihm das Seyn mit dem
Wesen eins oder selbst das Wesen ist.“
Denn, so führt er weiter aus, ihr wahres Interesse sei
„Gott von diesem mit dem Wesen identischen Seyn, in das vom
Wesen verschiedene, in das ausdrückliche, wirkliche Seyn hinauszuführen, und darin eigentlich ist der Triumph der Philosophie“30.
Wenn also Schelling behauptet, das „wahre“, wirkliche existierende Sein
sei bei Hegel gar nicht thematisiert, und dies zeige sich besonders in
Hegels spekulativer Auffassung vom Wesen der Natur 31, dann muß das
existierende Seiende anders und vor allem in einem genuin anderen Medium zur Darstellung gelangen. Dieses Medium ist dann bei Schelling die
als göttlich verstandene reale Natur und ihre im Menschen und seinen
Bewußtseinsbildungen zur Darstellung gelangende theogonische Geschichte. Weil Schelling den traditionellen, christlichen Monotheismus
29
Frank (Hg.), Bd. 6, 43 (II, 2, 31).
A.a.O., 93 f. (II, 2, 31 f.).
31 Eindrucksvoll in Schellings Philosophie der Mythologie siehe: a.a.O., 279 (II, 2,
267).
30
Schelling und die Mythologie
und damit die voneinander unabhängige Existenz Gottes und der Welt,
und seine Geschichte mit ihr und den Menschen philosophisch begreifen
will, sieht er sich unter diesen Umständen zu eindeutig fortschrittlichen
Erkenntnissen genötigt, die, wie schon Engels 1842 süffisant bemerkte,
mit den eigentlichen christlichen Dogmen nicht mehr verbindbar sind
und noch dazu schon bedrohlich nahe an Pantheismus und Materialismus grenzen. Wenn Gott eine reale Naturkomponente in sich enthält
und diese, als existierendes Sein gesetzt, einem notwendigen Prozeß
unterworfen ist, der zuerst durch Potenzstufen in der Natur sich vollendet, so bedeutet nach Schelling dieser Gedanke, daß das Bewußtsein
„in den Mythologie erzeugenden Prozeß wieder in jene Zeit des
Kampfes zurückgesetzt, der eben mit dem Eintritt des menschlichen Bewußtseins in der Schöpfung des Menschen sein Ziel gefunden hat.“
Gerade der sich daran anschließende Gedanke zeigt deutlich, wie vielleicht wider seinen Willen Schelling einen wesentlichen Kern der realen
Entwicklungsgeschichte des mythologischen Bewußtseins, und zwar
sowohl an seinem erstmaligen weltgeschichtlichen Auftreten, wie auch in
jenen Phasen der vergesellschafteten Geschichte der Menschen späterer
Zeiten genau getroffen hatte:
„Die mythologischen Vorstellungen entstehen gerade dadurch, daß
die in der äußeren Natur schon besiegte Vergangenheit im Bewußtsein wieder hervor tritt, jenes in der Natur schon unterworfene
Prinzip jetzt noch einmal sich des Bewußtseins bemächtigt. Weit
entfernt“, fährt Schelling hellseherisch fort, „in der Erzeugung der
mythologischen Vorstellungen innerhalb der Natur zu seyn, ist der
Mensch vielmehr außerhalb derselben, aus der Natur gleichsam entrückt und einer Gewalt anheim gefallen, die man gegen die bestehende (zum Stehen, zur Ruhe gekommene) Natur oder im Vergleich mit dieser eine übernatürliche oder doch außernatürliche
Gewalt nennen muß“32.
Interpretiert man diese Sätze, könnte man auch sagen, wenn weltgeschichtlich gesehen menschliches Bewußtsein sich zuerst von der eigent32
A.a.O., 141 (II, 2, 129).
Ralph Marks
lichen ‘innexen’ Naturgeschichte emanzipiert, sich gegen die nun als das
Äußere Objektive scheinende Natur setzt, beginnt das menschliche Bewußtsein unter quasi naturaler Gesetzmäßigkeit mythologische Vorstellungen zu produzieren. Schelling geht davon aus, daß, geschichtsphilosophisch gesehen, diese Epoche des allgemeinen mythologischen Bewußtseins der Menschheit ein notwendiges Durchgangsstadium der
Geschichte gewesen ist, die dann über Krisenerscheinungen, wie Polytheismus und Theismus, zum wahren Monotheismus geläutert wird. Wie
ist aber zu verstehen, daß jenseits des geschichtsphilosophischen Interesses Mythen auch schon im 19. Jahrhundert eine Anziehungskraft ausüben, oder wenn sogar eine Gesellschaft neue Mythen produziert? Der
quasi Naturzwang, der über das mythenbildende oder Mythen reproduzierende Bewußtsein ausgeübt wird, ist schon von Schelling in einer weit
auslegbaren Anmerkung erkannt worden. Denn, so Schelling:
„Die Mythologie erzeugende Bewegung ist eine subjektive, inwiefern sie im Bewußtsein vorgeht, aber das Bewußtsein selbst vermag
nichts über sie, es sind vom Bewußtsein selbst (wenigstens jetzt)
unabhängige Mächte, welche die Bewegung erzeugen und unterhalten: also die Bewegung ist im Bewußtsein selbst doch eine objektive“33.
Hiermit beschreibt Schelling, ohne es zu bemerken genau den wesentlichen Charakter jeder Ideologie und Entfremdung des Bewußtseins: subjektiv (= im Bewußtsein) von jedem Einzelnen produziert oder reproduziert zu werden und dabei den Zwangscharakter, mit denen diese Vorstellungen im Bewußtsein produziert werden, deren Macht und objektive
Natur beständig erneut zu affirmieren. Ein mythologisches Bewußtsein
ist im weltgeschichtlich nachmythologischen Zeitalter unter bestimmten
Umständen ein notwendig-zwanghafter Bewußtseinsprozeß, der aber
auch nach Schelling überwunden werden kann. An einer anderen Stelle,
die scheinbar in keinem Zusammenhang mit unseren Erörterungen steht
kommt Schelling darauf zu sprechen: Die Frage sei nämlich so Schelling,
wie wir uns die Entstehungsweise eines mythologischen Bewußtseins
erklären könnten,
33
Ebd., 135 (II, 2, 123).
Schelling und die Mythologie
„wie diese Vorstellungen der in ihnen befangenen Menschheit
selbst als objektive-wahre und wirkliche erscheinen konnten.“
An dieser Stelle unterscheidet Schelling dann eine positive (d.h. religiöse)
Erklärung von einer negativen. Die positive stellt sich für Schelling im
Rahmen seiner theogonischen Geschichtsphilosophie als sinnvolle Erklärung eines weltgeschichtlichen Prozesses dar, in dem die vom Bewußtsein unabhängigen theogonischen Mächte den Menschen zwingen, Mythologien zu erzeugen. Interessant wird es aber, wo Schelling auf die
negative Erklärung zu sprechen kommt:
„da sie (die Menschheit, d.Verf.) sich nämlich diese Vorstellungen
nicht als von ihr selbst herrührender, frei erzeugter bewußt sein
konnte, denn sie waren Erzeugnisse eines gegen den Menschen objektiv gewordenen das Verhältnis, in welchem es Grund des
menschlichen Bewußtseins ist, überschreitenden Prinzips, das nur
zuletzt in seiner wieder hergestellten Subjektivität wieder menschliches Bewußtsein setzt“34.
Diese theogonischen Mächte, die sich quasi gewalttätig und naturhaft im
Bewußtsein in Form von mythologischen Vorstellungen manifestieren,
waren aber, so Schellings Auffassung, vor der Selbstermächtigung des
Menschen, qua Bewußtsein und d.h. vor seinem Gegensatz zur Natur,
die nun zum toten Objekt, zum „allgemeinen und allwaltenden“35 Substrat erniedrigt wurde die subjektiven, quasi lebendigen geistigen Prinzipien der Naturentwicklung. Mit ihrer Erniedrigung zum toten Objekt, zu
m subjektlosen Sein36, rächt sich die nie ganz überwundene Selbstmächtigkeit der Natur am Menschen in dessen Bewußtsein. Die quasi menschliche Natur, die durch Arbeit und Produktion restlos verfügbar schien,
reproduziert sich quasi im Widerstand einer nur als naturhaft-zwanghaft
ablaufenden Naturgeschichte der Menschen, die im Bewußtsein als Mythologie/Ideologie erscheint und die „äußere“ Naturgeschichte als katastrophische Ökologiezerstörung deutlich werden läßt. Schelling empfiehlt dabei das als Naturbasis produktive Prinzip, das ‘unvordenkliche
Sein’, die andere, ‘subjektive’ Seite der Natur nicht aus ihrer vorgegebe34
Ebd., 142 (II, 2, 130).
Vgl. ebd., 197 (II, 2, 185).
36 „Das ausschließlich Seyende“ nach Schelling, ebd., 198 (II, 2, 186).
35
Ralph Marks
nen Stellung zu reißen, sondern in ihrem „ursprünglichen Mysterium“
zurückzulassen. Können wir heute dieser konservativen, rückwärtsgewandten Utopie in unserem Mensch-Natur-Verhältnis noch zustimmen,
oder gibt es vielleicht doch über den Gedanken und in der Tat einer,
nämlich unserer wie der Natur wieder hergestellten Subjektivität einen
nach vorne weisenden Weg?
Ausblick auf die heutige Mythologiediskussion
Wenn die jeweiligen Erörterungen und Thematisierungen von Mythologien in einer Gesellschaft, wenn sie in einer bestimmten Breite mit öffentlichem Interesse geführt werden, ein Signum für eine „Legitimationskrise des Gemeinwesens“37 sind, ist natürlich zu fragen, wo Schellings
historische und philosophische Mythosdiskussion an Krisen und Sinndefiziten seiner Gesellschaft anknüpft. Weiterhin muß gefragt werden,
wogegen, wenn parallele gesellschaftliche Krisensymptome von Schellings und unserer Zeit darin zum Ausdruck kommen und vielleicht sogar
wofür diese Diskussion stellvertretend geführt wird. Daß hierbei auch ein
„Überdruß an den Folgen der Naturbeherrschung“38 eine Rolle spielt,
beweisen unlängst die Erfahrungen mit Tschernobyl, und zeigen auch
schon ansatzweise die Erfahrungen, die Schelling im Zusammenhang des
Mensch-Natur-Verhältnisses im Medium des Mythos thematisiert, wie
oben gezeigt wurde. Andererseits sehen heute einige in der Forderung
(und Realisierung) einer neuen Mythologie, in der Sehnsucht und Stillung
ihres religiösen Bedürfnisses in einem kommenden Gott, die Lösung der
zugrunde liegenden gesellschaftlichen und davon abgeleiteten ideologischen Krisen. Interessant ist dabei doch festzustellen, daß die als so
irrationalistisch verschrieene Spätphilosophie Schellings keineswegs die
„Rettung“ der menschlichen Geschichte in einem „Zurück“ zu m Mythos sieht. Im Gegenteil reklamiert Schelling, wenn auch in religiöschiliattischen Vorstellungen verhaftet, eine reale geschichtliche Zukunft,
die nicht eine Zukunft der vergangenen und für Schelling abgeschlossenen historischen, mythologischen Zeit ist. Gerade wenn heute im Zei37
Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, 10.
38 A.a.O., 60.
Schelling und die Mythologie
chen des postmodernen Zeitalters viele einer Abdankung der Vernunft,
und das heißt doch auch einer Abdankung von selbstverantworteter
‘Subjektivität’ und ‘Individualität’ das Wort reden, ist es interessant, daß
Schelling eine „neue“ Subjektivität und Vernunft des Menschen fordert,
die im Anderssein der Natur nicht nur ein Mittel zur unbeschränkten
Verfügung des Menschen sieht, sondern in ihr Strukturen und Momente
erkennt, die ebenso Subjektcharakter tragen. Wenn nämlich, wie die von
uns bereits zitierte Stelle bei Schelling lautet, das produktive Prinzip, das
in einem ursprünglichen Verhältnis von Mensch und Natur Grund des
menschlichen Bewußtseins war, durch seine Überschreitung und seine
Verrückung aus dieser Stelle das mythologisch-zwanghafte Bewußtsein
notwendig zum Ausdruck brachte, ist die für Schelling in geschichtlichgesellschaftlicher Zeit zu vollbringende Lösung nur in der „wiederhergestellten Subjektivität“ des Prinzips (und d.h. der Natur) zu sehen. Und
erst dann, wenn diese subjektive, mit dem Begriff der dritten Potenz
umschriebene Macht der Natur wieder als Grundlage gesetzt ist, setzt
diese „wieder menschliches Bewußtsein“39.
Die menschliche Vorgeschichte und die eigentliche vormenschliche
Naturgeschichte sind eben nicht nur im zeitlichen Nacheinander miteinander genetisch verbunden und haben nach Schelling nicht nur denselben Ausgangspunkt in „ursprünglich schaffenden M ächten“40, sondern
sind im gesellschaftlichen Prozeß selbst untrennbar miteinander verknüpft. Die Erkenntnis dieser selbst schaffenden und selbst produktiven
Seite der Natur fördert die Anerkenntnis ihres Selbstseins und nötigt uns
die Verantwortung ihres Schutzes auf, schon allein aus Einsicht, daß
auch wir als Naturwesen ein untrennbares Element ihrer selbst sind.
Zum Schluß bleibt aber noch eine Frage unbeantwortet, wofür denn eigentlich bei Schelling die Philosophie der Mythologie steht. Sie steht für
den ursprünglichen Anfang der Geschichte, und so bestimmt Schelling
sie als Grund und ersten Teil einer neuen, nach seiner Ansicht noch
nicht formulierten Geschichtsphilosophie. Dieser geht es aber nach
Schelling in erster Linie darum, über den Anfang der Geschichte wesentlich die Dimension ihrer Zukunft zu thematisieren. Wie schon Hegel vor
39
40
Frank (Hg.), Bd. 6, 142 (II, 2, 130). – Vgl. ebd., 264 (II, 2, 272).
Frank (Hg.), Bd. 5, 217 (II, 1, 207).
Ralph Marks
ihm, auf den Schelling hier indirekt antwortet, sieht auch er als Grundlage jeder möglichen Geschichtsphilosophie die wesentliche Einheit der
Geschichte, die ihr zugrunde liegen muß, an. Zum „Unbeschlossenen“,
„Grenzenlosen“ hat, so Schelling, die Philosophie kein Verhältnis. Was
bedeutet es aber dann, wenn dieser gegen Hegel die Zukunft im Rahmen
seiner Philosophie der Mythologie als wesentliches Strukturelement jeder
Geschichtsphilosophie einklagt? Die sich daran anknüpfende Kritik an
Hegels Geschichtsphilosophie, ohne daß sein Name extra genannt wird,
zeigt, wo für Schelling das für seine Zeit eigentliche Sinnproblem der
menschlichen Geschichte und Gesellschaft liegt, die weder ein eigentliches geschichtliches Herkommen noch eine wahre, nach vorne offene
Zukunft besitzt, die vielmehr behauptet, den vernünftigen Schluß der
Geschichte schon jetzt begriffen zu haben. Und Schelling fährt fort:
„Ich frage, ob nur überhaupt an einen Schluß gedacht worden, und nicht
alles vielmehr darauf hinausläuft, daß die Geschichte überhaupt keine
wahre Zukunft hat, sondern alles ins Unendliche so fortgeht, da ein
Fortschritt ohne Grenzen aber eben darum zugleich sinnloser Fortschritt
ein Fortschritt ohne Aufhören und ohne Absatz, bei dem etwas wahres
Neues und Anderes anfinge, zu den Glaubensartikeln der gegenwärtigen
Weisheit gehört. Da es jedoch von selbst sich versteht, das was seinen
Anfang nicht gefunden, auch sein Ende nicht finden kann, so sollen wir
uns bloß auf die Vergangenheit beschränken und fragen (...)“41.
41
Ebd., 240 (II, 1, 230).
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 4857
Autor: Elmar Treptow
Artikel
Elmar Treptow
Sind Nietzsches Mythen noch zu
retten?
„Ein Glas Wein oder Bier des Tags reicht vollkommen aus, mir aus dem Leben ein ‘Jammerthal’ zu
machen, – in München leben meine Antipoden.“
Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin
Nietzsches Wiederentdeckung in der äußersten Krise des wissenschaftlich-technischen
Fortschritts
Wenn wir fragen, womit Nietzsche in letzter Zeit wieder „attraktiv“ und
„modern“ geworden ist, so lassen sich mehrere Themenbereiche anführen, die alle schließlich einem Zentralthema untergeordnet sind.
(1) Zunächst scheinen sich einige, die vorher nur das „Verändern“ kannten, mit Nietzsches Hilfe darauf besonnen zu haben, daß es unveränderbare
Voraussetzungen gibt für die Natur im Ganzen, die „revolutiones“ der
Gestirne, Schicksal und Tod, und daß die Menschheitsgeschichte nur
eine Episode der Naturgeschichte ist, daß Biologie und Physik grundlegender sind als die Gesellschaftstheorie und daß die Fragen nach der
Ewigkeit kein Zeitvertreib sind.
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
(2) Eine Herausforderung ist weiter die radikale Sinn- und Zweckfrage, die
Nietzsche daran knüpft, daß der Mensch – seit Kopernikus – Schritt für
Schritt aus der Mitte des Kosmos herausgerückt ist und sich nicht mehr
ohne weiteres an vorgegebenen Zwecken oder Intentionen der Natur
orientieren kann; müssen Zwecke und Werte vom Menschen selbst gesetzt werden, damit der „Nihilismus“ vermieden wird? (Oder ist das
Vorgegebensein bzw. das Selbstschaffen der Werte gar keine richtige
Alternative? Wird mit dieser Alternative der objektiv-subjektive Charakter von Werten verfehlt, die Ausdruck von gesellschaftlichen Interessen
sind?)
(3) Auch an Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ scheint in der gegenwärtigen Bio- und Gentechnologie-Debatte kein Weg vorbeizuführen.
Welches Licht wirft Nietzsche auf die Fragen der negativen und positiven Eugenik? Besitzt der Übermensch überhaupt Eigenschaften, die eine
genetische Grundlage haben? Das scheint nicht ausgeschlossen, da
Nietzsche die „Höherzüchtung der Menschheit“ auch biologisch versteht und sie sowohl mit bestimmten Eheschließungen wie mit Abhärtung im Krieg und Erziehung verbindet, und zwar in der Weise, daß die
demokratisch organisierte Gesellschaft das Mittel zum Zweck des Hervorbringens des großen starken Individuums wird (so wie die Französische Revolution ihre Rechtfertigung in Napoleon habe)1. Die in der
gegenwärtigen Debatte konsensuell aufrecht erhaltenen Maßstäbe der
Personidentität – der Würde – sowie der öffentlichen, sozialen Kontrolle
sind nach Nietzsches Konzeption vermutlich humanistische, Werte des
„letzten Menschen“, die den „Willen zur Macht“ blockieren und einen in
Wahrheit rational unbegründbaren, im Ressentiment wurzelnden Dezisionismus darstellen.
(4) Andere finden sich nicht als potentielle Übermenschen, sondern so
wie sie gehen und stehen mit ihren Trieben und Bedürfnissen des Leibes von
Nietzsche ernst genommen, ernster jedenfalls als von Vertretern der
Bewußtseinsphilosophie, die an ihnen doch nur wieder einen Reinigungsprozeß vornehmen wollen.
1
Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden
(KSA), 9, 508; 12, 73; 12, 296; 6, 374.
Elmar Treptow
(5) Dem Spieltrieb, dem ästhetischen Schein, der künstlerischen Vielfalt und
den experimentellen (Selbst-) Inszenierungen Freiraum geschaffen zu
haben durch Überwindung identifizierender und schematisierender wissenschaftlicher Begriffsbildung, darin sehen mehrere die befreiende Wirkung Nietzsches, und zwar vermittelt durch Adornos Interpretation.
Diese Befreiung zum „Unterschied“ und „Anderen“, zu unendlichen
unübersichtlichen Perspektiven und individuellen fragmentarischen
Entwürfen proklamieren die italienischen „neuen Linken“ wie Giuliano
Baioni und Gianni Vattimo (in „Il soggetto e la maschera“), wahrscheinlich auch Claudio Magris und Mazzino Montinari. Auf diesen Pluralismus – oder „Polytheismus“ (Blumenberg) – zielen ebenso die „Postmodernen“ oder „Poststrukturalisten“, allen voran Derrida und Lyotard, für
den die „Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens“
stehen, der dem „alten Typ“ des universalistisch orientierten „Intellektuellen“ ein „Grabmal“ setzen will und den „Augenblick“ – Nietzsches
„Mittag“ – zu bewahren sucht (hierin mit Bohrer vergleichbar). Hinzu
kommt Vuarnet, der über Deleuzes Konzept des „Rizom“ – des vielfältigen Wurzelgeflechts – zur „Polygamie des Geistes“ inspiriert worden
ist. Auch Friedrich Kaulbachs Versuch, Rationalität bei Nietzsche als
„Perspektivismus“ zu retten, läßt sich hier einordnen. Foucault fühlt sich
Nietzsche gerade darin verbunden, daß man durch ihn wieder die Heterogenität der Erscheinungen gegenüber der Totalität einer in Basis und
Überbau hierarchisch strukturierten Gesellschaftsformation sehen lerne.
Vergessen scheint im übrigen die alte Expressionismus- oder RealismusDebatte zwischen Lukács und Brecht, Bloch und anderen, in der es zentral um die Fragen Vielfalt-Einheit ging und in der einige Resultate zutage
gefördert wurden.
(6) Nicht zuletzt fasziniert Nietzsche mit einer Art Ideologiekritik, mit der
er ästhetische, moralische und andere Bewußtseinsformen „genealogisch“ herleitet. In einer Zeit, in der unter dem Deckmantel allgemeiner
Moral und universeller Warte partikulare Interessen wie selbstverständlich vertreten werden, wird Nietzsches Schule des Verdachts und der
Demaskierung als heilsam empfunden. Dabei scheint Nietzsche Marx’
Ideologiekritik noch zu überbieten, indem er den Verdacht auch gegen
seine eigene Theorie in der Weise richtet, daß er sie als Ausdruck und
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
Instrument des „Willens zur Macht“ funktional behandelt. (Für Cioran
ist die Konsequenz von Nietzsches sich selbst untergrabendem Denken
der „universale Nichtsinn“ und das „unmögliche Dasein“.)
(7) Außerdem werden noch einzelne Themen aus Nietzsches Gesamtwerk herausgegriffen und wieder entdeckt, wie zum Beispiel der Rausch,
der wohl doch nicht nur der Vorabend des Aschermittwoch eines Spießbürgers ist, oder das Europäertum, mit dem Nietzsche zeitweise gegen die
„Vaterländerei“ antritt, oder seine Kritik an der Verführbarkeit von
„Herden“ bzw. anonymen Massen. (Diese Verführbarkeit wird auch von
denen eingeräumt werden, die die gesellschaftsverändernde Kraft von
Massen nicht verkennen.)
(8) Zur Hauptsache und im Kern aber ist Nietzsches Philosophie dadurch
aktuell geworden, daß sie der wachsenden Skepsis bzw. Negation des wissenschaftlich-technischen Fortschritts entgegenkommt. D. h. der Wiederentdeckung Nietzsches liegt vor allem die krisenbedingte Erfahrung zugrunde,
daß die wissenschaftlich-technische Entwicklung mit der Atomtechnik,
der Bio- und Gentechnologie und der gesamten Computertechnik den
globalen Frieden, die ökologischen Lebensgrundlagen und die Arbeitsmöglichkeiten zumindest massiv bedroht und somit fragwürdiger als
jemals zuvor geworden ist. Gegenwärtig bestätigt sich für viele Nietzsches Ansicht, daß Wissenschaft und Technik sowie Vernunft und Emanzipation nur Formen, Funktionen und Masken eines blinden
Machtwillens sind und daß sie keinen Vorrang vor Mythen haben.
Hinzu kommt, daß die Diskreditierung von Wissenschaft und Technik
auch den wissenschaftlichen Sozialismus betrifft und ihn sozusagen nebenher erledigt, da für ihn die wissenschaftlich-technische Produktivkraftentwicklung maßgebend ist. Während Marx noch im Bann der traditionellen bürgerlichen Wissenschafts- und Technikauffassung stehe – so
wird gesagt –, habe Nietzsche den Bann gebrochen. Wenn Lukács „als
,das ständige Leitmotiv aller Entwicklungsetappen Nietzsches den
Kampf gegen den Sozialismus als Hauptfeind“ bezeichnet2, so ist für
Nietzsche ein solcher Kampf durch die Diskreditierung von Wissenschaft und Technik zwar in indirekter, aber noch gründlicherer Weise
2
G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (Werke, Bd. 9), 292.
Elmar Treptow
führbar als durch die direkten Attacken gegen das „Sozialistengesindel“
und gegen die „allgemeinste Bildung, d.h. die Barbarei“ als „Die Voraussetzung des Communismus“, des „internationalen Hydrakopfs“3.
Desinteresse an Nietzsches Verhältnis zum Faschismus
Die gegenwärtige Wiederbelebung Nietzsches schließt ein, daß die früher
diskutierte Frage, ob Nietzsche ein Wegbereiter des Faschismus bzw.
Nationalsozialismus ist und für diesen mitverantwortlich ist, kaum eine
Rolle spielt. Anscheinend wird auch gar nicht mehr verstanden, was mit
dieser Frage gemeint ist und nur gemeint sein kann, nämlich: ob Nietzsches Philosophie objektiv so konzipiert ist, daß sie brauchbar gewesen ist
für den Nationalsozialismus und dazu dienen konnte, bestimmte Bevölkerungsschichten einzufangen (nicht etwa, ob Nietzsche selbst den Nationalsozialismus gewollt hat und in dessen Vertretern seine „Herrenrasse“ gesehen hätte).
Nur unter Berücksichtigung des historischen Zusammenhangs, in dem
die Philosophie Nietzsches steht, und des sozialen Auftrags, den sie
möglicherweise erfüllt, könnten auch die faschismuskonformen Nietzsche-Interpretationen angemessen beurteilt werden, darunter in erster
Linie die – von den 20er bis in die 60er Jahre – erschienenen Werke
Alfred Baeumlers, des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der
gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der
NSDAP“. (Es genügt nicht zu kritisieren, daß Baeumler die Lehre von
der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ zugunsten der Lehre vom „Willen zur Macht“ einfach aus Nietzsches Werk hinauskomplimentierte.)
Sogar Montinari, der verdienstvolle Mitherausgeber der neuen kritischen
Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Mitherausgeber der „Nietzsche-Studien/Internationales Jahrbuch für Nietzsche-Forschung“, verstellt in seinem Artikel „Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg
Lukács“ den Zugang zu dem Kontinuitätsproblem4. Er geht fast nur den
Fragen nach, wie Baeumler Nietzsches Nachlaß kompilierte und aus
dessen Werk ein System konstruierte. Er mißversteht es offensichtlich als
unhistorische Herangehensweise, wenn Lukács von Nietzsches „indirek3
4
ebd. (passim).
M. Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 169 ff.
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
ter Apologie“ des Kapitalismus durch Ablenkung vom sozialen Handeln
vermittels einer Mythologie spricht. Nietzsches sensible Rezeption wie
Kritik der Verfallserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft – der
„decadence“ – wird von mehreren hervorgehoben, ohne daß Lukács’
Unterscheidung einer Kritik von „links“ oder „rechts“ gewürdigt wird.
So will man etwa nicht wahrhaben, daß Nietzsches Bismarck-Kritik von
„rechts“ erfolgt, indem Nietzsche auf Bismarcks Vorbehalte gegen den
Kolonialismus und Imperialismus zielt.
Mythus und Wissenschaft als Formen und Masken des „Willens zur Macht“
Montinari behauptet außerdem, daß man nach Nietzsches Schrift „Die
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ nicht mehr von „Mythus“ in dessen Philosophie sprechen könne. Nietzsche habe Hegels und
Burckhardts Einsicht geteilt, daß es nach der Antike keinen wahrhaften
Mythus mehr geben könne, „und zwar so sehr, daß sie seinen jugendlichen Glauben an die Möglichkeit der Wiedererstehung des germanischen
Mythus in Wagnerscher Form und an die Haltbarkeit der Mythen überhaupt zerstören mußte“; nach der Entstehung des „historischen Sinns“,
den Nietzsche in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ behandelt, „gibt es kein
Zurück mehr zu irgendwelchem Mythos“5. Wenn Montinari recht hätte,
würde Nietzsche nicht nur Hegels und Burckhardts, sondern auch Marx’
Ansicht teilen, wonach die Mythologie – d. h. die „unbewußt künstlerische Verarbeitung der Natur“ durch die „Volksphantasie“ – mit der
praktisch-technischen Naturbeherrschung verschwindet: „Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen
Herrschaft über dieselben“6.
Montinari verkennt einfach, daß Nietzsche den „historischen Sinn“ – des
„häßlichsten Menschen“, wie es im vierten Teil des „Zarathustra“ heißt –
gerade kritisiert und seine frühe Konzeption des dionysischen Lebens
mit der Lehre vom „Willen zur Macht“ wieder aufnimmt. Sicher will
Nietzsche nicht die alten Mythen – wie die von Dionysos oder Prome5
6
ebd., 195 f.
Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 30 f.
Elmar Treptow
theus – wieder als solche auferstehen lassen; aber immer bleibt für ihn
der „Trieb zur Metapherbildung“ die Grundlage aller Lebensäußerungen, des
Mythus, der Kunst wie der Wissenschaft und ihrer Anwendung in der
Technik. Sie sind für Nietzsche immer – wie auch seine eigene Philosophie – Erscheinungsformen, Funktionen und Masken des „Lebens“, das
er schließlich so bestimmt: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung,
Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens,
mildestens Ausbeutung ...“7.So heißt es in der nachgelassenen Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ (1873): „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen,
den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, daß aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als
eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und
kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Reich seines Wirkens und ein
anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der
Kunst“8.
Zugleich erwartet Nietzsche von dem Mythus, was mit ihm auch von
anderen verknüpft wird: die Vereinheitlichung der Gegensätze, die Beseitigung der Zerrissenheit und Zerstückelung des ganzen Lebenszusammenhangs, vor allem die Auflösung des „Widerspruchs von Leben und
Wissen“, von Natur und Gesellschaft in der intuitiv erfaßten Totalität sowie
die Motivierung und Anleitung zum Handeln (die zur „kommunikativen
Funktion des Mythus“ im Sinne Manfred Franks gehören). „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft
verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze
Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen
Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt
allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge
Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und
seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren unge7
8
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 259 (KSA, 5, 207).
KSA 1, 887.
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
schriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.“ Dagegen das Bild der zerrissenen Gegenwart: „Man
stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen,
die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den
abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem
heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie:
man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat,
sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich
kümmerlich zu nähren verurtheilt ist – das ist die Gegenwart, als das
Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und
nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er
auch in den entlegendsten Alterthümern nach ihnen graben müßte“9.
Die Wissenschaft, der gegenüber die Mythen den ganzen Lebenszusammenhang zur Geltung bringen sollen, verfährt nach Nietzsche historistisch und antiquarisch bzw. ordnet schematisch den faktischen „Sensationswirrwarr“ und ist in jedem Fall ungeeignet, zu Handlungen anzuleiten. D. h. Nietzsche hat keinen Begriff einer „aufs Ganze“ gehenden
nicht-positivistischen und nicht-neukantianischen dialektischen Wissenschaft. Sogar die verkürzte Wissenschaft einfach fallenzulassen, ist Nietzsche
dann bereit, wenn ihm ihre Resultate nicht lebensdienlich erscheinen.
Wie Nietzsche so die wissenschaftliche Wahrheit als Funktion der biologisch bestimmten Nützlichkeit bzw. des Machtwillens auffaßt, zeigt exemplarisch seine Stellung zum Darwinismus: da die wissenschaftliche
Evolutionstheorie Darwins für Nietzsche darauf hinaus läuft, daß das
starke Individuum den besser angepaßten „viel zu vielen“ unterliegt,
verwirft er sie und dekretiert: „Der Mensch als Gattung stellt keinen
Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem anderen Tier dar. Die gesamte
Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren ... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und
gegeneinander.“ Und vorher: „Der Mensch als Gattung ist nicht im Fort-
9
KSA 1, 145 f.
Elmar Treptow
schritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht.
Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben“10.
Wie ambivalent Nietzsches Stellung zur Wissenschaft dennoch bleibt,
wird daran deutlich, daß er seine Lehre von der „ewigen Wiederkunft des
Gleichen“ nicht nur als Willensimperativ versteht, sondern bisweilen
auch wissenschaftlich zu beweisen trachtet, und zwar mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes. Diese Ambivalenz hat Karl Löwith hinlänglich –
in seiner „stoischen“ Art – dargelegt11.
Die Aktualisierung Nietzsches durch Adornos Gleichsetzung von Mythus und
Vernunft mit Herrschaft
Auf Nietzsches Funktionalisierung der Erkenntnis und des Wissens als
Ausdruck des Macht- und Herrschaftswillens geht vor allem Adorno ein.
Seine und Horkheimers Interpretation in der „Dialektik der Aufklärung“
entsprechen am ehesten der gegenwärtig wachsenden Abwendung vom
Gedanken des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Sie sind die
verbreitetste Nietzsche-Rezeption der Gegenwart geworden. Mit ihr
konvergiert die Auffassung Heideggers, insofern er das Wesentliche der
Philosophie Nietzsches darin erblickt, daß sie die heraufkommende wissenschaftlich-technische „Erdherrschaft“ reflektiere. „Denn woher
stammt der Notruf nach dem Übermenschen? Weshalb genügt der bisherige Mensch nicht mehr? Weil Nietzsche den geschichtlichen Augenblick erkennt. da der Mensch sich anschickt, die Herrschaft über die
Erde im Ganzen anzutreten“12.
Wenn Adorno darauf insistiert, daß Nietzsche Vernunft und Herrschaft
gleichsetzt und die Vernunft nicht dem Mythus entgegensetzt, dann
interpretiert er ihn nicht nur, sondern macht sich dessen Ansicht zu
eigen. Man kann sagen: Nietzsche vor allen hat Adorno hier „zurecht
gebracht“. Welcher andere Philosoph hätte die aufklärerische Vernunft
wie den Mythus als Herrschaftsform aufgefaßt? Für Adorno wie für
10
KSA 13, 316 f.
K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 1978, 89 ff.
12 M. Heidegger, Wer ist Zarathustra?, in: Vorträge und Aufsätze, Teil 1, Pfullingen
1967, 98.
11
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
Nietzsche „verfälscht“ der Begriff das Einmalige und Andere, macht es
gleich und beherrschbar (was beide mit dem in mythischen Anfängen
sich durchsetzenden Tauschprinzip in Verbindung bringen). Daß Identität und Vergleichbarkeit „objektiv“ an allem Natürlichen und Gesellschaftlichen sind, würden beide nicht einräumen. Wie Nietzsche nimmt
Adorno an, daß „alle Werturteile unbegründet sind“ und es unmöglich
sei, „aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen Mord vorzubringen“13. Entsprechend der Negation des Begriffs negieren sie das
„System“ und bezeichnen es als „Idealismus“. Anrührend ist es und traurig kann es stimmen, wenn Nietzsche im Rückblick in der Autobiographie „Ecce homo“ es auf den „Idealismus“ seiner Bildung zurückführt,
daß er die „Realitäten“ aus den Augen verloren und die „Frage der Ernährung“ verkannt habe14, – ohne daß er einmal einen Gedanken darauf
verwendet, ob nicht etwa die Annahme eines außermenschlichen Willens in
der Konzeption des „Willens zur Macht“ ein grandioser idealistischer
Anthropomorphismus ist (der Stein z.B., der zur Erde fliegt, „will“ also
für Nietzsche weiterhin wie für Schopenhauer zur Erde fliegen), oder: ob
nicht etwa die Herleitung des „realen“ Lebens aus dem „Tod Gottes“ –
und dem mit ihm einhergehenden Verfall der religiösen und moralischen
Werte – geradezu eine mustergültige idealistische Verkehrung von Sein
und Bewußtsein ist.
Das „Andere“, „Nicht-Identische“, „Vielfältige“, das der Begriff identifiziere, verobjektiviere, kalkulierbar und beherrschbar mache, ist allerdings
für Adorno das undarstellbare Erhabene, das dem jüdisch-religiösen
Bilderverbot unterliegt15, für Nietzsche dagegen der „Wille zur Macht“.
Nicht nur, daß sich hier für Adornos Nietzsche-Aneignung Schwierigkeiten der Konsistenz ergeben; auch die „Postmodernen“ hätten sich um
diese ihre Voraussetzungen bei der Proklamation der Vielfalt kümmern
müssen.
Die ideell-begriffliche und materiell-technische Beherrschung der Natur
(der äußeren wie der inneren) ist für Adorno nur die Zerfallenheit mit der
Natur und die Entfremdung mit ihr, nicht auch die Vereinigung mit ihr,
13
Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, 86, 107.
KSA 6, 279 f.
15 Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, 291 f.
14
Elmar Treptow
die ein „affirmativer“ Dialektiker darin erblicken wird, daß die Beherrschung der Natur die Respektierung ihrer Gesetze einschließt. Wenn
Adorno die Herrschaft des Menschen über den Menschen allgemein aus
der Naturbeherrschung, die der vernünftigen Selbstbehauptung dient,
ableitet und nicht nur die besonderen Formen der Naturbeherrschung
kritisiert, dann hat er mit dieser Hyperkritik wie Nietzsche Herrschaft prinzipiell unaufhebbar gemacht (so unaufhebbar, wie es die konkrete, gebrauchswertproduzierende Arbeit ist); konsequenterweise können dann Begriff
und Kunst nur negativ-utopisch Autonomie und Versöhnung mit der
Natur ausdrücken. Die praktischen Folgen sind struktureller Opportunismus oder militanter Aktivismus. Und es fällt schwer, nicht an die
früheren Nietzscheaner in den Salons oder in den Schützengräben von
Langemarck und an die Adorno-Inspirierten in den „wahnsinnig gescheiten“ Kulturfeuilletons oder in der „direkten Aktion“ zu denken.
Wenn nach Adorno die Konsequenz der auf der Naturbeherrschung
beruhenden gesellschaftlichen Herrschaft die Industriegesellschaft die
verwaltete Welt und der Faschismus sind (in dem „die Herrschaft zu sich
selbst gekommen“ sei, so daß sozusagen eine Linie von Odysseus zu
Hitler führt), dann soll hier als Einwand die Frage formuliert werden: wie
war es möglich, daß der Faschismus besiegt wurde? Nach Adornos Voraussetzungen müßte sich zumindest mit der Niederwerfung des Faschismus
die wissenschaftlich-technisch beherrschte Natur in noch stärkerem
Maße gegen den Menschen selbst kehren. (Und wie, wenn es gelingen
sollte, auch die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Entwicklung
unter herrschaftsfreie soziale Kontrolle zu bekommen?)
Die reine Erkenntnis als uneingestandener Ausgangspunkt und Kehrseite des „Willens zur Macht“
Adorno und Nietzsche kommen zu ihrer Gleichsetzung von Mythus und
Vernunft mit Herrschaft auf Grund einer bestimmten Voraussetzung,
nämlich auf Grund der normativen Setzung des selbstlosen Geistes, des
kontemplativen Sein- und Gewährenlassens und der Wahrheit um ihrer
selbst willen. Am Maßstab dieser stillschweigenden Voraussetzung – ein
jüdisch-christliches und platonisches Erbe – werden von Nietzsche und
Adorno Welt und Mensch beurteilt und negiert bzw. voluntaristisch
Sind Nietzsches Mythen noch zu retten?
affirmiert. D.h. zunächst abstrahieren sie gedanklich davon, daß der
Mensch mit seiner Vernunft nur durch die Naturbeherrschung ist, was er
ist, dann lassen sie das Abstrahierte notgedrungen wieder zu und vermerken es übel. Habermas hat Ähnliches für Adornos Kritik festgestellt:
„Sie blieb in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den
internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der
auszutreiben sei, damit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen könne“16. Auch
Nietzsche sucht und vermißt die nutzlose „reine folgenlose Erkenntnis“17 und es ist dieser Zusammenhang, in dem er die Wahrheit als Funktion des Machtwillens bestimmt. Indem Nietzsche als Kehrseite zur
unterstellten reinen Unabhängigkeit die völlige Abhängigkeit der Erkenntnis gefunden hat, kommt für ihn gar nicht mehr in Frage, daß Erkenntnis sowohl abhängig von natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, d.h. relativ, als auch objektiv ist. Dementsprechend soll hier
behauptet werden, daß dieses Schwanken zwischen der Reinheit und der
reinen Funktionalität der Erkenntnis die genaue Entsprechung ist zu Nietzsches Position und Negation Gottes, d.h. zu Nietzsches „religiösem Atheismus“ (Lukács). Man könnte es Nietzsches „metaphysischen Funktionalismus“ nennen.
Die Identifizierung des Partikularen und Universalen als blinder Fleck
Indem Nietzsche die reine Wahrheit in die reine Unwahrheit, Scheinhaftigkeit und Fiktionalität umschlagen läßt, wird es für ihn unmöglich,
einen Begriff der gegensätzlichen Einheit von „wahr“ und „falsch“, d.h.
der Ideologie, zu gewinnen, der sich von seinem „genealogischen“, funktionalisierenden Verdacht unterscheidet. Mit anderen Worten: Nietzsche
entzieht sich, daß die Universalisierung des Partikularen sowohl wahr wie
falsch ist, indem sie die Erscheinungen in ihrer Allgemeinheit adäquat
ausdrückt, die wesentlichen Verhältnisse aber in ihrer Besonderheit und
Geschichtlichkeit nicht erkennt. Daß Nietzsche einen entsprechenden
Begriff von Ideologiekritik nicht hat, zeigt sich an seinen Annahmen wie:
die Sklaverei sei nicht nur in den besonderen Verhältnissen Griechen16
17
Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt(Main 1985, 156.
KSA 1, 878.
Elmar Treptow
lands, sondern immer Grundlage einer höheren Kultur, usw. Dementsprechend interessiert Nietzsche auch die Unterscheidung nicht, daß
Partikulares als Partikulares nur von der wissenschaftlichen Ratio und der
philosophischen Selbstreflexion, nicht aber vom Mythus zum Ausdruck
gebracht werden kann, und daß nur die wissenschaftliche Ratio darüber
befinden kann, ob ein Mythus oder eine Mythen rehabilitierende Philosophie naturwüchsige, übermächtig gewordene besondere Verhältnisse
widerspiegelt. Die Konsequenz ist: Nietzsche kann gegen seine eigene
Philosophie nicht den Verdacht richten, daß sie richtiger Ausdruck der
Erscheinungen verkehrter, falscher Verhältnisse sein könnte, nämlich
Ausdruck von Verhältnissen, die Subjekt und Objekt, Mensch und Sache
verkehren, die Menschen wie Sachen behandeln und die somit als sachlich, also natürlich bedingt erscheinen. Wie könnte also die Rede davon
sein, daß Nietzsche die materialistische Ideologiekritik überbietet?
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos?(1986), S. 5870
Autor: Tilman Elvers
Artikel
Tilman Elvers
Mythos und Emanzipation menschlicher Subjektivität
zum Verhältnis von E. Bloch und C.G.
Jung
Ernst Bloch war derjenige marxistische Denker, der am weitesten vom
Boden einer materialistischen Gesellschaftstheorie aus hingearbeitet hat
auf eine nicht-materialistische Theorie menschlicher Subjektivität. Gerade er fällt nun das denkbar schärfste Verdammungsurteil über C.G. Jung
und sein Werk. Muß man nicht in der Nachfolge Blochs von einer
grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwischen C.G. Jung und der Tradition
emanzipatorischen Denkens ausgehen? Tatsächlich hat Bloch die Türe
vor C.G. Jung mit solcher Wucht zugeschlagen, daß sie seitdem fest verschlossen und mit einem Tabu versiegelt ist.
Es erscheint daher geradezu abenteuerlich, das Paradigma Marx/Freud
in seiner emanzipatorischen und utopischen Ladung potenzieren zu wollen, indem man es durch Bloch auf der einen, Jung auf der anderen Seite
erweitert. Da ich diesen Vorschlag allen Ernstes machen möchte, habe
ich mich mit dem harten Verdikt von Bloch auseinanderzusetzen.
Der Verweis auf die Zeitumstände und auf Jungs politische Haltung wäre zu einfach. Auch wenn sich damals für Bloch an der Einstellung zum
Faschismus alles entschied, so hat er gegenüber anderen Denkern aus
dem bürgerlichen Lager doch nicht eine vergleichbare Unversöhnlichkeit
bis ans Lebensende bewahrt.
Tilman Evers
Interessant an Blochs Polemik ist nicht so sehr die Ablehnung als solche,
für die es gute Gründe politischer und. inhaltlicher Verschiedenheit gab,
sondern vielmehr der emotionale Überschuß, mit dem er von allen konservativen Zeitgenossen ausgerechnet C.G. Jung verfolgt. Wie kommt
gerade Jung zu der Ehre, im „Prinzip Hoffnung“ zum meistgeschmähten
Gegner aufgebaut zu werden? Wie erklärt sich die erlesene Wut, mit der
Bloch eine Schmähformulierung nach der anderen für ihn erfindet? „Faschistisch schäumend“1 und „Erzreaktionär“2 ist noch das Nüchternste.
Sein Werk ist eine „Phantasmagorie“3 eine „vergangen brütende Mondscheinwelt“4 „Dilettantismus“5 und „Abra-Kadabra“6, „Romantisiertes
Diluvium“7 und „Magisches Wischiwaschi“8, „Somnambule“9, wie
„Timbuktu in Zürich“10. Und noch in seinem letzten Werk schleudert
der 90jährige Bloch dem längst verstorbenen C.G. Jung ein „diluvialer
Restaurateur, Archaik vergötzend“11 nach. Tut man die Ehre eines solchen Hasses jemandem an, der einem nur fremd ist? Könnte es sein, daß
die Schärfe der Ablehnung nicht so sehr in den offensichtlichen Verschiedenheiten beider Denker gründet, sondern eher in verborgenen
Gemeinsamkeiten?
Im folgenden werde ich zunächst den Inhalt dieser Kritik meinerseits
kritisch betrachten. Ich komme dabei zu dem Ergebnis, daß Bloch zwar
auf sehr reale Schwachpunkte bei Jung zielt, seine Kritik aber maßlos überzieht und dabei zudem so ausschließlich seine eigene Sichtweise zum
Maßstab nimmt, daß er sich blind macht für das Wesen dieses andersgearteten Werks. Danach versuche ich, diesen verborgenen Gemeinsamkeiten nachzuspüren. Vielleicht sollte man besser von Analogien und Berührungspunkten sprechen, denn natürlich kann niemand bestreiten wol1
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (PH), Frankfurt/Main 1980, Bd. 1, 65.
a.a.O., 182.
3 a.a.O., 75.
4 a.a.O., 151.
5 a.a.O., 70 (Warum denn soviel Aufhebens?).
6 a.a.O., 68.
7 a.a.O., 85.
8 a.a.O., 42.
9 a.a.O., 70.
10 a.a.O., 182.
11 Ernst Bloch, GA Bd.15, 158.
2
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
len, daß Welten zwischen dem Denken eines Bloch und eines Jung liegen. Insofern ist auch die im Titel angekündigte Versöhnung nicht wörtlich zu verstehen, sondern – mit einem Ausdruck aus der „Dialektik der
Aufklärung“ – als Rückbezug auf etwas wechselseitig Abgespaltenes, als
produktive Konfrontation statt Kontaktsperre.
a) Kritik und Gegenkritik
In etwas längerem Zusammenhang zitiert liest Blochs Kritik sich folgendermaßen:
„Im Freud’schen Unbewußtsein ist nicht Neues. Das wurde noch
klarer, als C.G. Jung, der psychoanalytische Faschist, die Libido und
ihre unbewußten Inhalte gänzlich auf Urzeitliches reduzierte. Im
Unbewußten sollen danach ausschließlich stammesgeschichtliche
Ur-Erinnerungen oder Ur-Phantasien wohnen, fälschlich ‘Archetypen’ genannt; auch alle Wunschbilder gehen in diese Nacht zurück,
meinen lediglich Vorzeit. Jung hält die Nacht sogar für so bunt, daß
das Bewußtsein vor ihr verbleicht’ er setzt es, als Verächter des
Lichts, herab“12.
Es ließen sich eine Reihe ähnlicher Stellen zitieren. Sie laufen alle auf den
Vorwurf hinaus, Jung sei ausschließlich rückwärts der Vergangenheit zugewandt, seine Lehre von den Archetypen kenne keine andere Richtung
als die Regression ins Unbewußte, er gehöre zu jenen Gegnern und Zerstörern der Vernunft, die dem Faschismus vorgearbeitet hätten. Schweres Geschütz! Stimmt es, daß die Lehre vom kollektiven Unbewußten
nichts anderes als Regression meint?
Was Jung an den archetypischen Erscheinungen fasziniert, ist nicht ihre
Archaik, sondern ihre Autonomie, und zwar im Hier und Jetzt: ihre Fähigkeit, durch alle individuellen Besonderheiten hindurch Grundmuster
des Lebens zum Ausdruck zu bringen, die dem Bewußtsein und dem
Willen weitgehend entzogen sind. Um die Existenz dieser autonomen
Wirkkräfte nachzuweisen, verglich Jung das Bildmaterial heutiger Menschen, wie es ihm zum Beispiel in den Träumen seiner Patienten entgegen trat, mit den psychischen Gestaltungen von Menschen anderer Kul12
PH Bd. 1, 61-62.
Tilman Evers
turkreise, die mit der westeuropäischen Gegenwart keine Berührung haben konnten. Niemand hätte methodisch anders vorgehen können. Zu
diesem Zweck reiste er nach Indien, nach Afrika und zu den PuebloIndianern in Nordamerika, zu diesem Zweck „reiste“ er auch zu den
mythischen Überlieferungen der Vergangenheit. Der geographische
Raum und die historische Zeit blieben ihm dabei völlig äußerlich. Er
häufte all dieses Material vielmehr wie in einer geschichtslosen Allgegenwart zusammen. Es stimmt, daß ihn an all diesem Material (das er ja
ge- und nicht erfunden hatte!) vor allem der Aspekt des Gleichbleibenden und Wiederkehrenden interessierte. Aber dazu gehörte für ihn auch,
„daß das Unbewußte ein Prozeß ist“13 und die archetypischen Wirkkräfte
sich in ständiger dialektischer Spannung befinden, also keineswegs statisch sind.
Jung hat immer hervorgehoben, daß ein Grundmuster mit sehr verschiedenen Wertigkeiten auftreten kann. Der primitivarchaische Aspekt, der
die Psyche im Vorbewußten festhält, gehört ebenso dazu wie der vorwärtsweisende, zur Reifung und Differenzierung drängende Aspekt. Es
ist schlicht falsch, wenn Bloch behauptet, Jungs Begriff des kollektiven
Unbewußten weise nur in die Vergangenheit, sei zur Zukunft vermauert,
ja wolle vermauern. Im Gegenteil hebt Jung diese Zukunftsdimension des
Unbewußten immer wieder hervor und benutzt dabei Formulierungen,
die denen von Bloch ganz nahe kommen: Das Unbewußte umfasse auch
„alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zu Bewußtsein kommen wird“14. Er lehrt, „daß alles ursprünglich Seelische ein
doppeltes Gesicht hat. Das eine schaut vorwärts, das andere zurück“15.
Der folgende Abschnitt klingt wie von Bloch gegen Jung geschrieben,
stammt aber von Jung selber:
„Es wird wohl kaum ernstlich Anstoß erregen, wenn man annimmt,
daß die menschliche Psyche Stockwerke besitzt, die unter dem Bewußtsein liegen. Daß es aber ebenso gut Stockwerke geben könnte,
die sozusagen oberhalb des Bewußtseins liegen, scheint eine Ver13
C.G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Hzsg. von Aniela Jaffe. Olten und
Freiburg: Walter-Verlag, 10. Aufl. 1979, 212.
14 Sigmund Freud, Gesammelte Werke (GW) Bd. VIII, 214.
15 GW XII, 82.
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
mutung zu sein, die an ein ‘crimpen laesae maiestatis humanae’
grenzt. Nach meinen Erfahrungen kann das Bewußtsein nur eine
relative Mittellage beanspruchen und muß es dulden, daß es gewissermaßen auf allen Seiten von der unbewußten Psyche überragt und
umgeben ist. Es ist durch unbewußte Inhalte rückwärts verbunden
... Es ist aber auch nach vorwärts antizipiert.“ So „bestimmt der Archetyp die Art und den Ablauf der Gestaltung mit einem anscheinenden Vorwissen oder im apriorischen Besitz des Zieles“16.
Gerade als ein Unterschied seiner Konzeption zu der von Freud, nach
dem die Trauminhalte wesentlich infantil geprägt sind, hebt Jung den antizipierenden Charakter von Träumen und die Möglichkeit ihres prospektiven Deutung hervor.
Der ganze Begriff der Individuation, den Jung selbst den zentralen Begriff seiner Psychologie nennt, ist eine durch-und-durch prospektive Konzeption. Es geht um die schrittweise Verwirklichung des Projekts einer
Persönlichkeit in einem Prozeß, dessen Telos das „Selbst“ ist: „Das
Selbst ist auch das Ziel des Lebens“17. „Der Weg zum Ziel ist zunächst
chaotisch und unabsehbar, und nur ganz allmählich mehren sich die Anzeichen einer Zielgerichtetheit. Der Weg ist nicht geradlinig, sondern anscheinend zyklisch. Genauere Kenntnis hat ihn als Spirale erwiesen“18. Ist
diese Vorstellung der bisweilen allzu geradlinigen Teleologie von Bloch
nicht geradezu überlegen?
Insofern es in diesem Prozeß um eine Überwindung von Spaltung und
Entfremdung geht, enthält er wie jede „Negation der Negation“ auch
rückbezügliche Elemente. Daß in jedem psychischen Reifungsprozeß
solche Elemente des Wieder-Holens und der Regression enthalten sind,
ist heute psychologisches Allgemeinwissen.
Von seinem Telos her ist Individuation auf Wachstum, Differenzierung,
Bewußtwerdung angelegt, die Archetypen des kollektiven Unbewußten
aber auf Individuation. Das hat Jung nie anders gesehen und gesagt.
Wie wäre es sonst auch möglich, daß Bloch den Begriff des Archetypen
übernimmt und in sein auf Befreiung zielendes Denken einbaut? Es
16
Erstes Zitat: GW XII, 165; zweites Zitat: GW VIII, 239.
Erinnerungen, 416.
18 GW XII, 43
17
Tilman Evers
handelt sich ja nicht um Formkategorien, die der Definitionsmacht des
Autors verfügbar wären. Entweder wohnt den als Archetypen bezeichneten Erfahrungen des Menschlichen eine befreiende Kraft inne, dann tut
sie das auch bei Jung. Oder es handelt sich um chthonischungeschiedene regressive Kräfte, dann könnte Bloch sie nicht verwenden. Etwas gewaltsam versucht Bloch, diesen logischen Zusammenhang
zu durchschneiden. Fast widerwillig gibt er zunächst Jungs Vaterschaft
des Begriffs zu: „Wohl stieß Jung hierbei auf einen .. nicht unwichtigen
Phantasiebestand, auf den der Archetypen“19. Diese Berührung mit Jung
ist ihm jedoch unangenehm er hätte den Begriff lieber von Freud bezogen: „Sie scheinen in stammesgeschichtliche Tiefe zu gehen, in eine, wie
bemerkt, auch Freud und seiner engeren Schule nicht fremde um von C.G.
Jung zu schweigen“20 (Hervorhebung d.Verf.). Freud hätte sich für diese
ihm übertragene Vaterschaft bedankt, hatte er doch wegen dieser Stammesgeschichte Jung exkommuniziert.
Weil Bloch den Archetypus in seiner vorwärtstreibenden Kraft nutzen
will, behauptet er einfach, diese Seite seines Wirkens erst selber entdeckt
zu haben, während Jung nur die rückwärtsgewandte Seite gesehen und
gewollt habe. Nicht Jung vermauert die Zukunft, Bloch vermauert sie
ihm. Die Richtung nach vorwärts will er für sich, also muß im JetztPunkt wenn schon nicht ein begrifflicher Abbruch, so doch ein Umbruch stattfinden, eine „Umfunktionierung, welche sich auf Befreiung
der archetypisch eingekapselten Hoffnung versteht“21. „Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Vergangenheit der Reaktion ...; jede dermaßen geschehene Umfunktionierung zeigt das Unabgegoltene an Archetypen bis zur Kenntlichkeit verändert“22. Bloch nimmt also den Begriff
förmlich mit spitzen Fingern aus der „kosmoanalytischen Abfallgrube“23
schüttelt alles Chtonisch-Urweltliche von ihm ab und setzt ihn in sein
Reich ein. „Das Utopische an Archetypen ist zuletzt überhaupt nicht in
Archaik fixierbar, es wandert vielmehr höchst tauglich durch die Ge19
PH Bd. 1, 70.
a.a.O., 90.
21 a.a.O., 187.
22 a.a.O., 188-189.
23 a.a.O., 148.
20
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
schichte“24. Der so zur Sonne, zur Freiheit gewendete Archetypus ist
dann eigentlich gar nicht mehr Jungs Entdeckung, erst durch die befreiende Umfunktionierung Blochs wird er aus der Höhle des reaktionären
Unbewußten erlöst und findet er zu seinem eigentlichen Begriff.
Hanna Gekle25 hat in ihrer Dissertation über das psychologische Denken
bei Bloch im Verhältnis zu Freud nachgewiesen, daß Regression und
Progression im psychischen Prozeß komplizierter miteinander verwoben
sind, als Bloch es mit seiner Vorstellung eines eindeutigen evolutiven
Vorwärts und Rückwärts wahrnehmen konnte. Das muß natürlich erst
recht für sein Verhältnis zu Jung gelten, der die Verflechtung von Regression und Progression in einen größeren, transpersonalen Rahmen
stellt. Gäbe es eine entsprechende Untersuchung über das psychologische Denken von Bloch und Jung, so würde sich – so vermute ich – in
mancher Hinsicht eine größere Affinität zum Menschenbild von Jung als
zu dem von Freud ergeben.
Und dennoch hat Bloch nicht einfach unrecht mit seiner Kritik. Jung
stand dem Gedanken eines Fortschritts, von dem Blochs ganzes Werk
durchdrungen ist, zeitlebens skeptisch bis verständnislos gegenüber. Seine Analytische Psychologie ist zwar in ihrem kategorialen System keineswegs rückwärts gewandt. Aber es kann kein Zweifel sein, daß Jung
persönlich einen brütend-grüblerischen Zug hatte und in diesem Sinne
rückwärts gewandt, besser in sich gekehrt war, erst recht, wenn man ihn
an Bloch mißt. Bloch hat also in seinem Engagement Jung zwar falsch
gelesen, aber doch richtig gedeutet, wenn er ihn trotz aller vorwärtsweisenden Äußerungen als vergangenheitsselig empfindet. Falsch wird seine
Kritik erst durch ihren Überschuß und durch die Bedenkenlosigkeit, mit
der er ihn um der höheren Ehre Blochs willen zum Popanz umfunktioniert.
Das gilt auch für seinen Vorwurf, Jung sei ein Feind der Vernunft. Auch
hier wieder trifft Bloch zwar nicht das Werk von Jung als solches, wohl
aber die besondere Beleuchtung, die es aufgrund der Persönlichkeit ihres
Schöpfers erhielt. Tatsächlich tendierte Jung unter dem Eindruck der
24
a.a.O., 186.
Hanna Gekle: Wunsch und Wirklichkeit. Studie zu Blochs Philosophie des NochNicht-Bewußten und Freuds Theorie des Unbewußten, Unv.M, Tübingen 1985.
25
Tilman Evers
Schlüsselerfahrung seiner persönlichen Lebenskrise anfangs dazu, das
Unbewußte als übermächtig im Verhältnis zum Bewußtsein darzustellen.
Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Nationalsozialismus hat er diese
Sichtweise später korrigiert und auf die Wichtigkeit der wahrnehmenden,
urteilenden und entscheidenden Instanz des Ich hingewiesen. „Es wäre
wohl manchen zu wünschen“, schreibt er, „daß er sich noch im rechten
Moment ... des vielbescholtenen Intellekts entsänne. Wer diesen beschimpft, steht im Verdacht, noch nie jenes erlebt zu haben, das ihm zeigen könnte, wozu der Intellekt gut ist, und warum die Menschheit mit
unerhörter Anstrengung diese Waffe geschmiedet hat“26.
Man darf davon ausgehen, daß Jung bei dieser Stelle Ludwig Klages im
Auge hatte der mit seinem Werk „Der Geist als Widersacher der Seele“
im Nationalsozialismus zum Kronzeugen des Antirationalismus wurde.
Bloch, der Jung seinerseits im Irrationalismus verhaften möchte schiebt
ihn in seiner Polemik mit Klages zusammen, so als seien „die Jungs und
Klages“27 identisch oder Klages der Hausphilosoph von Jung. Tatsächlich aber zitiert Jung ihn in seinem ganzen Werk nur dreimal, und nie
ohne einen Ton der Kritik an dessen Vernunftfeindschaft: „Nach Klages
sind Logos und Bewußtsein die Zerstörer des schöpferischen vorbewußten Lebens. Bei diesen Schriftstellern erleben wir die Anfänge einer stufenweisen Verwerfung der Wirklichkeit und einer Ablehnung des Lebens, so wie es ist. Dies führt schließlich zu einem Kult der Ekstase, der
in der Selbstauflösung des Bewußtseins im Tode gipfelt“28. Jung kritisiert
also Klages in ganz demselben Sinne wie Bloch, freilich nicht mit derselben Schärfe und mit dessen politischer Intention.
Jung nennt das „Wunder des reflektierenden Bewußtseins“ eine „zweite
Kosmogonie“29. „Soweit wir zu erkennen vermögen, ist es der einzige
Sinn der menschlichen Existenz, ein Licht anzuzünden in der Finsternis
des bloßen Seins“30. Kann man jemanden, der so etwas schreibt einen
26
GW XII, 114.
PH Bd. 1, 116. Auf S.86 schreibt er sogar „C.G. Jung-Klages“ wie einen Doppelnamen.
28 GW X, 205.
29 Erinnerungen, 341.
30 a.a.O., 329.
27
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
„Verächter des Lichts“ nennen? Daß auch Jung seine dunklen und unbewußten Seiten hatte, ist selbstverständlich. Anders wäre seine Naivität
gegenüber der politischen Seite des Nationalsozialismus nicht zu erklären. Andererseits hat er die tiefenpsychologische Seite dieser Bewegung
früh gesehen und benannt. Ihn deshalb einen Wegbereiter des Faschismus zu nennen hieße, den Boten für die Botschaft zu bestrafen. Nicht in
Jungs Lehre vom kollektiven Unbewußten, sondern in diesem Unbewußten selbst hatte der Faschismus seinen Nährboden. Daß die Antwort
darauf nicht sein kann diese Welt des mythischen Unbewußten zu verdrängen, hat Bloch deutlich ausgesprochen.
b) Geistige Berührungspunkte
Nicht auf Klages, wohl aber auf den Lebensphilosophen Henri Bergson
hat Jung sich wiederholt mit uneingeschränkter Zustimmung bezogen.
Damit sind wir schon mitten bei der Frage nach geistigen Berührungspunkten zwischen Bloch und Jung. Bekanntlich hatte Bloch selbst enge
Verbindungen zur Lebensphilosophie, die seine Studienjahre wesentlich
beeinflußte. In den Jahren 1908 bis 1911 gehörte er in Berlin zum Privatkolloquium Georg Simmels, der wesentlich dazu beigetragen hatte,
Henri Bergson in Deutschland bekanntzumachen und selbst einer der
Hauptrepräsentanten der Lebensphilosophie war. Auf Henri Bergson hat
Bloch sich selber anerkennend, ja für seine Verhältnisse gerade enthusiastisch bezogen!31 Der Expressionismus, der den Sprachgestus von
Blochs Werk bis an sein Lebensende prägte, ist wesentlich von lebensphilosophischer Welt- und Selbsterfahrung getragen.
Die geistesgeschichtlichen Traditionslinien, aus denen er sein Werk entwickelte, sind keine grundsätzlich anderen als die von Jung: Jüdischchristliche und griechische Mythologie, Gnosis und Neuplatonismus, Alchemie, christliche und jüdische Mystik, Romantik. Zweifellos befragt er
diese geistige Tradition ganz anders als Jung, nämlich auf ihre messianisch-apokalyptischen und sozialrevolutionären Gehalte. Er konvergiert
jedoch mit Jung in einem gemeinsamen Interesse an Eschatologie, dem
Wiedereinswerden mit einem verlorenen Seinsgrund. Bloch nennt sein
31
Siehe z.B. GA Bd. 4, 351-358. Im PH Bd. l, 65 gibt Bloch die Berührung von Jung
mit Bergsons „elan vital“ zu – um sie gleich wieder zu leugnen.
Tilman Evers
Eschaton „Heimat“, Jung das sein „Selbst“. Ohne Schwierigkeit könnte
man dem das Marx’sche Eschaton des freien Vereins freier Menschen
zur Seite stellen; bei Freud würde man vergeblich Entsprechendes suchen.
Ganz im Sinne der für Jung so prägenden Gnosis sieht auch Bloch die
alles entschlüsselnde Genesis entelechetisch vom Ende statt vom Anfang
des Weltprozesses her wirken. Was in der Gnosis die schrittweise Annäherung an den reinen Geist aus dem „Exil“ der materiellen Welt ist, das
wird bei Bloch zu „Exodus“, bei Jung zu „Individuation“. Und gemeinsam sehen sie in der Erkenntnis das Mittel dieser (Wieder-) Annäherung
an das Eigene. Bloch selbst zählt die Gnosis ausdrücklich zu den „Befreiungsmythen“32. Anton Christen, der diese gnostischen Einflüsse bei
Bloch ausführlich untersucht hat, weist insbesondere Bezüge zur Alexandrinischen Schule um Valentinus und Basilides nach. Mit eben diesem Basilides identifiziert sich Jung in der Mitte seiner Lebenskrise, indem er ihm die Verse seines 1916 apokryph geschriebenen Hymnus
„Septem Sermones ad Mortuos“33 in den Mund legt! – Beide zitieren
ausgiebig Meister Eckart, den Kabbalisten Isaak Luria, Paracelsus, Jakob
Böhme usw.
Die philosophische Ahnenreihe trennt sich im Grunde erst mit dem
klassischen deutschen Idealismus: Während Bloch der „lichten Linie Hegel-Feuerbach-Marx“ folgt, ist Jung stark von Schopenhauer und Nietzsche beeinflußt. Aber diese „dunkle Linie“ ist auch Bloch keineswegs
fremd. Einer seiner frühesten Texte aus dem Jahr 1906 ist ein Aufsatz
über Nietzsche. Die Zeitschrift „Spuren“ schreibt: „Im Inneren auch des
Bloch’schen Textes ist eine Philosophie von Intensitäten bedeutet, die ...
Nietzsche verpflichtet ist und nicht Marx, Schelling und nicht Hegel,
Böhme und nicht Descartes“34.
In seinem ersten großen Werk „Geist der Utopie“ (erschienen 1918), das
noch ungebrochen vom Marxismus die religionsphilosophischen Quellen
des jungen Bloch widerspiegelt, finden sich viele Gedanken und Formu32
PH Bd. 3, 1318.
Abgedruckt in: Erinnerungen 388 ff.
34 Redaktion der Zeitschrift ‚Spuren’: Bloch 100. Fragestellungen zum Hamburger
Bloch-Symposion 1985, in: Spuren 11/12, 1985, 48.
33
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
lierungen, die fast wörtlich von C.G. Jung sein könnten. Was Peter Zudeick über dieses Werk schreibt, wird m an eher mit Jung als mit Bloch
assoziieren:
„Das Orakelhafte von Blochs Sprache in diesen Passagen weist überdeutlich darauf hin wie wenig derlei mit Erkenntnis im hergebrachten Sinne zu tun hat, wie sehr es Beschwörungsformel nicht
nur ist sondern ganz bewußt sein soll. Beschworen wird die Möglichkeit der menschlichen Selbstbegegnung und Selbstfindung. gesucht wird nach Anzeichen in dieser Welt, nach Chiffren und Symbolen (Archetypen?, d.Verf.), nach vermummten Gestalten, in denen sich dieses menschliche Selbst finden ließe ... Bloch will
ausdrücklich eine ‘ Metaphysik der Innerlichkeit’ formulieren“35.
Dieses Werk enthält bereits zentrale Gedanken seiner Ontologie des
Noch-Nicht-Seins, die sich so in ihrer Grundlegung als unberührt von
Marx’schem Denken erweist. Natürlich findet Bloch erst durch die folgende Begegnung mit dem Marxismus zu seinem unverkennbar eigenen
Denken, das sich eben dadurch grundlegend von dem von Jung unterscheidet. Aber gerade seine besondere Wahrnehmung des Marxismus die
ihn von anderen marxistischen Denkern unterscheidet und in der wesentliche Anstöße seines religionsphilosophischen Jugendwerks fortleben, läßt auch beim reifen Bloch manche Analogie zu Gedanken von
Jung entstehen. In gewissem Sinne schreibt Bloch den Marxismus in ein
fertiges religionsphilosophisches Gedankengebäude ein, als konkretdiesseitige Eschatologie anstelle einer metaphysischen. So ist Bloch der „religiöseste“ unter den marxistischen Denkern wie Jung der „religiöseste“
unter den Tiefenpsychologen. Kein anderes Buch wird im „Prinzip
Hoffnung“ so häufig zitiert wie die Bibel – weitaus häufiger als Marx.
Entschiedener als alle anderen Marxisten seiner Zeit betonte Bloch „die
ganze sozial unaufhebbare Problematik der Seele“36. Bloch hatte auch
Psychologie studiert und bei dem Psychologen Külpe in Würzburg
promoviert.
35
Peter Zudeick: Der Hintern des Teufel Ernst Bloch: Leben und Werk. Moos und
Baden-Baden 1984, 59.
36 GA Bd. 3, 306.
Tilman Evers
Das verweist auf eine tieferliegende Parallele zwischen Bloch und dem
zehn Jahre älteren Jung, nämlich auf die Umbruchsituation ihrer Zeit, die
beide auf ihre Weise reflektierten. Trautje Franz schreibt über Bloch:
„1885 geboren als Sohn bürgerlicher jüdischer Eltern, gehört Bloch
zu einer Generation, die vom Umbruch bürgerlicher Kultur und einem tiefreichenden Wertwandel betroffen war. Die vielfältigen Bewegungen dieser Zeit (Expressionismus, Jugend- und Frauenbewegung, Neo-Romantik, Pazifismus, religiöser Anarchismus, Jugendstil und Lebensphilosophie) dokumentieren die Suche der
damaligen jungen Intelligenz nach persönlichen, sozialen, politischen und kulturellen Identifikationsmustern. Insbesondere der erste Weltkrieg förderte Auflösung und Erkenntnissuche. Kriegsende
und Zusammenbruch des Wilhelminismus markieren dann den bedeutendsten Einschnitt in der Kontinuität soziokultureller Tradition, der die gesellschaftlichen Antagonismen aufbrechen ließ“37.
Auf diese Situation der Spaltung antworten Bloch wie Jung, indem sie einen Prozeß der Wiedererlangung der verlorenen Identität entwerfen. Die
Wege sind verschieden, das Ziel aber nennen sie wortgleich „Selbstbegegnung“ (Bloch) bzw. „Begegnung mit dem Selbst“ (Jung).
Beide denken subjektzentriert: Es geht u m die Freisetzung der dem Einzelnen innewohnenden, bislang jedoch blockierten Kräfte. In seiner ersten bekannten Veröffentlichung schreibt der dam als 21-jährige Bloch zu
Nietzsche: „Von hier aus geht der Weg zu einem ... durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie“38 so könnte man Individuation
definieren! Und auch für Bloch ist das, was im Subjekt in Erscheinung
tritt, eine für sich seiende Wirklichkeit. Er spricht von „objektiver Phantasie“, Jung von „objektiv Psychischem“.
Jenen Telos der wiedererlangten Identität aus dem, durch den und auf
den hin sich die Dynamik des Werdens entfaltet, begreifen beide als
transzendent. Bei aller Unterschiedlichkeit der Vorstellungen und Erfahrungen von Transzendenz springt eine Gemeinsamkeit ins Auge: Beide
37
Trautje Franz: Revolutionäre Philosophie in Aktion. Ernst Blochs politischer Weg,
genauer besehen. Hamburg 1985, 229, Anm. 15.
38 Zit. in: Zudeick, a.a.O. 30.
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
verlagern das Göttliche in den Menschen hinein und setzen es mit jenem
erst noch zu erlangenden Eschaton im Humanum gleich. Bloch nennt
das den „homo absconditus“, Jung den „Gott in uns“, das Selbst. Beide
anthropologisieren die Religion, sie negieren eine vom Menschen getrennte
und ihm als Du gegenübertretende göttliche Wesenheit und sind darum
beide von theologischer Seite kritisiert worden, haben aber auch beide
theologisches Denken tief beeinflußt.
Es ist kein Zufall, daß beide die Gestalt des Hiob als Metapher für ihren
Widerspruch gegen die Figur eines über dem Menschen thronenden
Himmelsherrschers benutzen. Beide haben sich zeitlebens mit dieser rätselvollen Geschichte vom sich auflehnenden Gottesknecht beschäftigt,
und es wäre lohnend, einmal ihre beiden Hiob-Deutungen eingehend
miteinander zu vergleichen. Wieder springen einige Gemeinsamkeiten ins
Auge, um so mehr, als beide im gleichen Skandalon für traditionelltheologische Deutungen münden: Hier ist ein Mensch besser geworden
als sein Gott. „Ein Mensch überholt, ja überleuchtet seinen Gott“39
(Bloch). – „Ein Sterblicher wird durch sein moralisches Verhalten ... bis
über die Sterne erhoben, von wo aus er sogar die Rückseite Jahwes (=
die dunkle Seite Gottes d.Verf.) erblicken kann“40 (Jung). Für Bloch ist
der Vorsprung ethischer Art, für Jung steht dahinter ein Vorsprung an
Bewußtsein. Beide erleben den Jahwe des Hiob-Buches als gewalttätigen
Natur-Dämon. „In seiner Allmacht, ja wegen ihrer ist der Tyrann verantwortungslos“41 (Bloch). – „Gott will gar nicht gerecht sein sondern
pocht auf seine Macht die vor Recht geht“42 (Jung). Und beide folgern,
daß Jahwe nach dieser Beschämung des Schöpfers durch sein Geschöpf
nicht mehr derselbe bleiben kann und ihm nur übrig bleibt, nun selbst
Mensch zu werden. Beide stützen ihre Deutung eines sich ankündigenden Umschlags auf dieselbe geheimnisvolle Stelle in Hiob 19, 25-27, in
der der geschundene Hiob sich auf einen Anwalt im Himmel gegen Gott
beruft. – Bezeichnend ist andererseits wieder der Unterschied beider
Deutungen: Jung verlegt die ganze Dynamik in das große Unbewußte
39
E. Bloch: Atheismus im Christentum GA Bd. 14, 152.
C.G. Jung: Antwort auf Hiob, in: GW Bd. 11, 409.
41 Bloch, a.a.O., 151.
42 Jung, a.a.O., 405.
40
Tilman Evers
namens Jahwe, „Hiob ist nicht mehr als der äussere Anlaß zu einer innergöttlichen Auseinandersetzung“43 und so spricht er von einer „fortschreitenden Inkarnation Gottes“44. Für Bloch dagegen ist der Mensch
der aktive Teil, es geht um den „Auszug des Menschen aus Jahwe“45 und
um seine „wachsende Selbsteinsetzung ins religiöse Geheimnis“46. –
Nicht zufällig hat Paul Tillich, der bekannteste Vertreter einer das Diesseits einbeziehenden „dialektischen Theologie“, Gedanken von Bloch
und Jung aufgenommen.
Lohnend, aber ungleich schwieriger wäre auch ein Vergleich ihrer beiden
Alterswerke „Experimentum Mundi“ bzw. „Mysterium coniunctionis“.
Daß beide ihre jeweils letzten Werke mit syntaktisch gleichen lateinischen Ausdrücken betiteln mag man für einen Zufall halten. Und auf den
ersten Blick hat Jungs Untersuchung über die Symbolik in der Alchemie
nichts zu tun mit Blochs Grübeln über die Möglichkeit von Erkenntnis
im Prozeß. Aber halt! Ging es in der Alchemie nicht u m eben dieses, eine Erkenntnis im Prozeß? War diese siebzehn Jahrhunderte währende
Tradition nicht die Form, in der sich die unabhängigen Geister der Spätantike und des Mittelalters Fragen wie die des „Hervorbringens“, der
„Latenz/Tendenz“, der Verbindung von Theorie und Praxis, des Umschlags von Quantität in Qualität stellten? Blochs „Latente Substantialität“, „Wesenhaftes in Transmission“ könnten direkt auf das alchemische
Opus übertragen werden. Mit der Kategorie „Drehung/Hebung“ rückt
Bloch ab von der Vorstellung einer Linearität der Entwicklung und nähert sich an die Vorstellung einer Spiralform an – wie in der Alchemie
und bei Jung. Und nicht zuletzt ist die zugrundeliegende Frage nach dem
Verhältnis von Erkenntnis und Werden im Wechselspiel von Subjekt
und Objekt die gleiche: Wie kommt etwas, und darin Ich, zur eigenen
Identität? Was Bloch über das „Was des Daß“ sagt, hätten die Meister
der Alchemie ganz ähnlich über den „Stein der Weisen“ sagen können:
„Das ‘Was des Daß’, ... also der Sinn dieser Welt liegt selber noch in keinerlei Vorhandenheit. Befindet sich erst im Zustand einer Möglichkeit,
43
a.a.O., 406.
a.a.O., 463.
45 Bloch, a.a.O., 114
46 a.a.O., 110.
44
Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität
als einer noch nirgends gültig realisierten, freilich auch noch nirgends
endgültig vereitelten“47. Und schließlich der rein alchemistische Satz:
„Gewinnung des Werks wird also zu einer forttreibenden Annäherung
an das zu enthüllende Was des Daß“48. – Wie anerkennend Bloch über
die Alchemie dachte, kann man im ‘Prinzip Hoffnung’ nachlesen49.
c) Schluß
Ich frage mich, ob nicht zwischen Bloch und Jung eben jenes Verhältnis
von Anziehung und Abstoßung herrscht, das zwischen den beiden Seiten
einer Theorie der Emanzipation herrschen muß. Ich deute Blochs brüske
Ablehnung gegenüber C.G. Jung als Ausdruck jener Weigerung des rationalistischen Denkens, sich für das Andere der Emanzipation, nämlich
für die lebendige menschliche Subjektivität, auf Koexistenz mit einer
grundlegend anderen Weise des Denkens und Wahrnehmens einzulassen. Kein anderer materialistischer Denker ist soweit gegangen wie
Bloch, andere hätten und haben weit früher abgewehrt. Aber auch Bloch
kommt an einen Punkt, an dem sein System endet. Daß hier etwas anderes anfangen könnte und müßte, hat er nicht zugestanden. Er glaubte,
mit seinem Werk die eine geschlossene Theorie der Emanzipation verwirklicht zu haben. Daß die notwendige Zweiseitigkeit in Gestalt einer
durchgehaltenen Widerspruchsspannung bereits in sein Werk eingewandert war, verdeckte er sich durch die Annahme einer Grundidentität von
Subjekt und Objekt in Gestalt einer vorwärtstreibenden Prozeßmaterie.
Er kann sich deshalb nur zur Hälfte auf Irratio einlassen, soweit er selbst
den Spannungsbogen noch zu halten vermag. Dann aber macht er um so
brüsker halt, zieht gleichsam die Notbremse dort, wo er die Grenzen seines Systems verlassen und sich auf eine ganz andere Gesetzlichkeit einlassen müßte. In der Person von C.G. Jung verfemt Bloch den Mahner,
der ihn am eindringlichsten an dieses immer noch fehlende Andere erinnert.
47
GA Bd. 15, 31.
a.a.O., 156
49 PH Bd. 2, 734-754.
48
Tilman Evers
[Entnommen dem unveröffentlichten Manuskript: „Marx/Freud und die
utopischen Funktionen. Versuch, Ernst Bloch mit C.G. Jung zu versöhnen“, Dubrovnik 1986.]
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 7178
Autorin: Angelika Kansy
Artikel
Angelika Kansy
Aufklärerisches Denken und Rückfall
in den Mythos.
Zur „Dialektik der Aufklärung“ und
ihrer kommunikationstheoretischen
Transformation
When everything is bad
it must be good to know the worst.
Th.W. Adorno, Minima Moralia
1. Die Subjektivierung der Vernunft
Traditionell verstanden vollzieht sich in der Epoche der Aufklärung ein
Prozeß der Subjektivierung der Vernunft. Gegenüber der „natürlichen
Ordnung der Dinge“ in Religion und Politik setzen Zweifel an diesen
tradierten Herrschaftsverhältnissen ein, Autoritätsvoraussetzungen ohne
deren Begründung werden nicht mehr akzeptiert. Der Mensch beansprucht autonome Selbstverwirklichung und Mündigkeit, der äußeren
Natur wird Rationalität entgegengesetzt. Wie der Handwerker dem
Werkstück mit Hilfe seines Werkzeugs, tritt der Wissenschaftler dem zu
behandelnden Gegenstand mittels des Instruments des methodisch abgesicherten Experiments gegenüber. Natur ist erstmals beherrschbar.
„Die Wissenschaftler lernten von den Handwerkern Distanz. Sie schoben das Instrument zwischen sich und die Natur ... Sie lernten die Disziplin materieller Arbeit: verläßliche Resultate über die Natur können nur
dann erwartet werden, wenn man ihr regelrecht begegnet. Und schließ-
Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos
lich lernten sie ‘disinterestedness’ von den Handwerkern. Die ‘sachliche
Beziehung’ des Handwerkers zu seinem Werkstück, des Handwerkers,
der nicht mehr für sich, sondern für den Markt produzierte, wurde Vorbild wissenschaftlicher Naturbeziehung“1.
So läßt sich aufklärerisches Denken sehen als Gegensatz und Gegenkraft
zum Mythos. Das politische System mittelalterlicher Ständeordnung mit
den konservierten Machtansprüchen der Aristokratie mußte nicht legitimiert werden. Indem die Dinge bloße Dinge sind, ohne etwas Dahinteroder Darüberstehendes zu repräsentieren, kann sich im Zeitalter der Rationalität das Subjekt von ihnen distanzieren, ein Subjekt erst einmal
formulieren und die Objekte über die Erfahrung zugänglich machen.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gehen jedoch in ihrem Buch
„Dialektik der Aufklärung“ von der These aus, daß Aufklärung in Mythologie zurückfalle. Sie behaupten die Existenz einer heimlichen Komplizenschaft zwischen Mythos und Aufklärung: „schon der Mythos ist
Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (DA, 5).
Horkheimer und Adorno (H/A) stellen mit Hilfe des Odysseus-Mythos
die „Urgeschichte einer Subjektivität“ dar, „die sich der Gewalt der mythischen Mächte entwindet“2. Denn die mythische Welt ist nicht Heimat,
sondern das „Labyrinth, dem es um der eigenen Identität willen zu entrinnen gilt“3.
Im Ursprungsmythos verdeutlicht sich ein ambivalentes Verhältnis des
Menschen: Er weiß, daß der Ritus lebensnotwendig ist für seine Sozietät,
er weiß u m die „regenerierende Kraft einer rituellen Rückkehr zu den
Ursprüngen ... für das kollektive Bewußtsein“4. Doch zur Formation des
Ich, zur Subjektwerdung, ist es ebenso notwendig, den Ursprungsmächten zu entkommen und die Opferhandlung nur noch einzusetzen, um
den „Schein zu wahren“. Der Ritus wird zum Zweck einerseits um „die
Götter zu beruhigen“, sich loszukaufen, und andererseits, u m in der Op1
Böhme, G./Böhme, H., Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, 284 f.
2 Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und
gesellschaftliche Rationalisierung (TKH), 407.
3 ebd.
4 ebd.
Angelika Kansy
ferhandlung eine kollektive Sozialität zu suggerieren. Das Entkommen
von den Ursprungsmächten hat seinen Preis. Gelingende Aufklärung wäre es, wenn mit dem Bezwingen mythischer Gewalten Befreiung implizit
wäre. Der Odysseusmythos macht für H/A klar, wie innere Befreiung
mit dem Verlust der inneren Natur bezahlt wird.
2. Der Zusammenhang von Vernunft und Herrschaft
Der Prozeß der Aufklärung verdankt sich von Anfang an dem Antrieb
einer Selbsterhaltung, der aber die Vernunft verstümmelt. Die Vernunft
selbst zerstört die Humanität, die sie ermöglicht hat. „Die Geschichte
der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung“ (DA, 51). Mit dem Einsetzen subjektiver Rationalität wird die Einheit von Mensch und Natur zerstört, Selbstaufgabe und Selbstverleugnung sind der Preis dafür.
In den Bildern der Abenteuer aus der Homerischen Epik sehen H/A
dies verdeutlicht: Odysseus kann sich der Natur mit seinem Bewußtsein
nur entgegensetzen, indem er seiner eigenen Bewegung entsagt. Freiwillig
läßt er sich von seinen Seeleuten am Schiffsmast festbinden, um sich
dem Gesang der Sirenen auszuliefern, während sich die Matrosen die
Ohren mit Wachs zustopfen müssen.
Diese Episode war für H/A besonders symbolträchtig. Zum ersten
meint sie den Prozeß der Aufklärung: einerseits bildet sich in diesem Akt
ein „identisch beharrendes Ich und gewinnt dadurch Gewalt über eine
entseelte Natur“; andererseits „erwirbt (es) seine innere Organisationsform (nur) in dem Maße, als es ... das Amorphe in sich, die innere Natur
bezwingt“5.
Zweitens setzen sie hier ihre Kulturkritik an. Die Seemänner müssen, wie
die modernen Arbeiter, den Genuß (das Hören der Sirenen) unterdrücken, um den Arbeitsprozeß nicht zu unterbrechen, die Produktion nicht
zu stören. Doch Odysseus ist kein Arbeiter, kann sich also dem Gesang
aussetzen, doch nur unter der Bedingung, nicht der Versuchung nachzugeben.
5
Habermas, J., Philosophisch-politische Profile, 168.
Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos
So ist für die Privilegierten Kultur immerhin eine Möglichkeit des
Glücks, jedoch ohne dessen reale Erfüllung, Odysseus’ „Rationalität basier(t) ... auf List, Trug und Instrumentalisierung.“
Für H/A war Odysseus der Prototyp jenes Vorbildes aufklärerischer
Werte, des modernen, ökonomischen Menschen. „Seine treulose Reise
antizipier(t) die bürgerliche Ideologie vom Risiko als der moralischen
Rechtfertigung des Profits. Noch in seiner Ehe steck(t) das Tauschprinzip ihre Treue und ihr Abweisen aller Verehrer während seiner Abwesenheit im Tausch gegen seine Rückkehr“6.
Es kristallisiert sich also nach H/A mit dem Einsetzen der Vernunft der
Zusammenhang mit Herrschaft heraus. Diese Herrschaft besteht auf drei
Ebenen: auf der Ebene der Herrschaft des Subjekts über äußere Natur,
auf der über die innere Natur und, daraus folgernd, auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Vernunft wird nur beansprucht in Formen zweckrationaler Natur- und Triebbeherrschung, als instrumentelle Vernunft. Das
„Erwachen des Subjekts“ und die Emanzipation von der Naturherrschaft „wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips
aller Beziehungen“ (DA, 12). „Der Mythos geht in die Aufklärung über
und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die
Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“
(DA, 12). So ist die Entwicklung der Identität nur als verdinglichte möglich.
Die von Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ entwickelte
„Theorie der Verdinglichung“ nahmen H/A zwar auf, sehen diesen Verdinglichungsprozeß jedoch nicht erst in der „Warenform der Arbeitskraft“, sondern immanent schon in „jene(r) Denkform, die bewirkt, daß
Menschen in objektiver Einstellung den Gegenständen gegenübertreten“7.
Der Natur wird demzufolge kein Eigensinn mehr zugestanden, das Verhältnis zu ihr ist ein rein technisches. Subjektivität wird zu einem stören6
Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des
IfS 1923-1950, 309.
7 Den Verdinglichungsbegriff Lukács’ erläutert J. Habermas näher in TKH, 505 ff.
Angelika Kansy
den Element in der Industriegesellschaft. In dieser Distanzierung manifestiert sich ein Herrschaftsverhältnis. Der Mensch sieht sich gegenüber
„eine(r) leere(n), zu bloßem Material degradierte(n) Natur, bloße(m)
Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben seiner
Beherrschung“8.
Die These, daß Aufklärung in Mythologie zurückschlage, beschreibt die
Lähmungserscheinungen einer leergelaufenen Emanzipation. „Die trockene Weisheit, die nichts Neues unter der Sonne gelten läßt, weil die
Steine des sinnlosen Spiels ausgespielt, die großen Gedanken alle schon
gedacht, die möglichen Entdeckungen vorweg konstruierbar, die Menschen auf Selbsterhaltung durch Anpassung festgelegt seien diese trockene Weisheit reproduziert bloß die phantastische, die sie verwirft“ (DA,
15).
Den Grund für das Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Natur
sehen H/A also im Selbsterhaltungsprinzip, dem sich das Subjekt unterwerfen muß, um sich gegenüber dem Schrecken der Natur seine Identität
erhalten zu können. „Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen
ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst“ (DA,
32).
Gleichzeitig sind Subjekt und Objekt nicht mehr zu unterscheiden. Das
Subjekt wird zum Maß aller Dinge, das diese Dinge dann mit sich selbst
identifiziert. In dieser Verstrickung ist die Möglichkeit einer Distanznahme also wiederum nicht mehr möglich.
Da es der Rahmen dieses Aufsatzes nicht erlaubt, hier auch die „Negative Dialektik“ Adornos zu behandeln, sei nur in groben Umrissen gezeigt,
wie vor allem Adorno seine Vernunftskepsis durch die Hereinnahme eines „mimetischen“ Moments zu überwinden sucht.
„Mimesis ist der Name für die sinnlich rezeptiven, expressiven und
kommunikativ sich anschmiegenden Verhaltensweisen des Lebendigen“9.
Die Mimesis muß mit Rationalität zusammenfallen, um sich dann im Bereich des Ästhetischen zu verwirklichen. In Kunst und Philosophie ist es
somit möglich, verdinglichte Bestände zu durchbrechen, wobei sich Rationalität im mimetisch-versöhnenden Geist manifestiert. Durch das ver8
9
Horkheimer, M., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 97.
Wellmer, A., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 12.
Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos
söhnende Element könne der Bezug zur Wahrheit wiederhergestellt
werden. Denn „der Begriff des versöhnenden Geistes (steht) nicht nur
für die gewaltlose ‘Synthesis des Zerstreuten’ im Schönen der Kunst und
im philosophischen Gedanken, sondern zugleich für die gewaltlose Einheit des Vielen in einem versöhnenden Zusammenhang alles Lebendigen“10. Hier sieht sich das Individuum also nicht mehr vereinnahmt
durch die objektive Welt, so wie es selbst die Objekte sich aneignet, sondern der Riß zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Besonderem
und Allgemeinen, Teil und Ganzem ist gekittet.
Dem damit aufgeworfenen Konflikt, wie denn in einer durch die instrumentelle Vernunft verungestalteten Welt noch ein versöhnender Geist
zur Wirkung kommen könne, hält Adorno dessen Verwirklichung in der
Anschauung des „Naturschönen“ entgegen: Die Kunst ahmt nicht das in
der Wirklichkeit Vorfindbare nach, sondern das, was die Wirklichkeit bereits überwunden hat, eben das Naturschöne.
3. Die Totalität der Ideologiekritik
Vereinfacht gesagt, läßt sich hier ein befreites Verhältnis von Mensch
und Natur in der Adorno’schen Philosophie erstmals feststellen. Sie
formuliert ihre Rationalität in einer Mimesis als einem menschlichen Impuls, der sich, sprachlos, nur in der Kunst verwirklichen läßt. Es ließe
sich provozierend fragen, wie Vernunft auf dieser Ebene überhaupt noch
appellierbar ist. Denn die Totalität der Ideologiekritik, meine ich, wendet
sich letztlich gegen die Autoren selbst. Sie können keine Vernunft begründen, mit deren Hilfe sich die instrumentelle Rationalität kritisieren
ließe.
Die Hoffnung auf politisch-revolutionäre Kräfte war für Adorno und
Horkheimer zum einen durch die Niederschlagung der Arbeiterrevolution 1918/19, zum anderen durch die faschistische Diktatur und ihrer
Wirkung auf die Massen gescheitert. In einem Aufsatz in den Soziologischen Schriften schrieb Adorno 1979: „Kein Gesamtsubjekt existiert ...
Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von
dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre.“ Bezieht eine Philoso10
ebd.
Angelika Kansy
phie, die sich vor allem auch als „Kritische Gesellschaftstheorie“ versteht, eine derartige Stellung, ist ein Theorie-Praxis-Bezug nicht mehr erkennbar. Vor allem steht eine Veränderung von Gesellschaft völlig außerhalb jeden konkreten Angriffspunktes. Durch die Assimilierung von
Rationalität an Macht entzieht sich die Theorie jeglichen emanzipatorischen Zugriffs. So kritisiert auch Jürgen Habermas: „H/A [haben) den
eigentlichen problematischen Zug getan; sie haben sich, (...), einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen, statt die Gründe zu erwägen,
die an dieser Skepsis selbst zweifeln lassen.“ Die Ideologiekritik ... „blieb
in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der auszutreiben
ist, da mit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen könne11.
4. Der Paradigmenwechsel von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie
Die Kritik Habermas’ setzt an diesen beiden Punkten an: Erstens an der
paradoxen Struktur eines totalisierten Denkens, „weil sie (H/A, d.Verf.)
im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik
Gebrauch machen“ müssen12; zum zweiten am Theorie-Praxis-Bezug,
der nicht mehr hergestellt werden kann angesichts der Position einer
Theorie der Ohnmacht gegenüber einem entfremdeten, verdinglichten
System. „Das Paradox, in dem sich die Kritik der instrumentellen Vernunft verstrickt und das sich auch der geschmeidigsten Dialektik hartnäckig widersetzt besteht mithin darin, daß Horkheimer und Adorno eine
Theorie der Mimesis aufstellen müßten, die nach ihren eigenen Begriffen
unmöglich ist“13.
Diese Theorie, die sich quasi „metaphysisch“ eine Neuvereinigung von
Mensch und Natur zur Aufgabe macht, in ihrer Deutlichkeit aber letztlich im Dunklen bleibt, ist für Habermas nicht willkürlich oder zufällig
entstanden, sondern beruht auf einer „Erschöpfung des Paradigmas der
11
Habermas, J., in: Bohrer, K.-H., Mythos und Moderne, 929.
Ebd., S. 418.
13 Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und
gesellschaftliche Rationalisierung (TKH), Bd. I, 512.
12
Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos
Bewußtseinsphilosophie“, das gescheitert ist. So gilt es, aufzuzeigen,
„daß ein Paradigmawechsel zur Kommunikationstheorie die Rückkehr
zu einem Unternehmen gestattet, das seinerzeit mit der Kritik der instrumentellen Vernunft abgebrochen worden ist; dieser erlaubt ein Wiederaufnehmen der liegengebliebenen Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie“14.
In der Theorie Habermas’ wird der Terminus „Bewußtseinsphilosophie“
verstanden als ein ihr innewohnendes Prinzip von Subjektivität. Dem
subjektiven Bewußtsein gegenüber steht ein Objekt, dem es sich als seiend vorstellen kann, bzw. ein Subjekt, das sich die Gegenstände in objektivierender Einstellung aneignen kann. „Das Subjekt bezieht sich auf Objekte entweder, um sie so, wie sie sind, vorzustellen, oder so, wie sie sein
sollen, hervorzubringen“15.
In der modernen, aufgeklärten Philosophie ist Selbsterhaltung (Subjektivität) nur noch angelegt als Überlebensrettung des kollektiven Bestandes
der Menschengattung. Wenn H/A diese Subjekt-Objekt-Beziehung der
Moderne analysieren, muß notwendig ein zu Grunde liegendes Prinzip
der Herrschaft das Resultat sein. „Versöhnung“ kann daher nur noch
positivistisch oder mimetisch gelöst werden.
Aufgrund dessen schlägt Habermas einen Wechsel von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie vor: Durch den Einsatz
der Sprachphilosophie sieht Habermas die Möglichkeit, an Vernunft in
der Wirklichkeit zu appellieren. In der Sprache schon angelegt ist die
Verständigung. Durch diese nicht-zweckrationale Grundlage der Vernunft können Herrschaftsstrukturen, die sich durch Sprache manifestieren, aufgebrochen werden. Habermas setzt einen Wechsel vom zielgerichteten zum kommunikativen Handeln und einen „Wechsel der Strategie beim Versuch, den modernen, mit einer Dezentrierung des
Weltverständnisses möglich gewordenen Rationalitätsbegriff zu rekonstruieren. Nicht mehr Erkenntnis und Verfügbarmachung einer objektiven Natur sind ‘das erklärungsbedürftige Phänomen’, sondern die Intersubjektivität möglicher Verständigung“16.
14
ebd., 517 ff.
ebd., 519.
16 ebd., 525.
15
Angelika Kansy
Literaturverzeichnis
1. Böhme, H./Böhme, G., Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung
von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/Main 1985.
2. Bohrer, K.-H., Mythos und Moderne, Frankfurt/Main 1983.
3. Habermas, J., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/Main 19842.
4. Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung., Bd. I, Frankfurt/Main 19853 (TKH).
5. Henscheid, E., Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach,
Zürich 19894.
6. Horkheimer, M., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/Main 1985.
7. Horkheimer, M./Adorno, Th.W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1984 (DA).
8. Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter
Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/Main 1981.
9, Wellmer, A., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/Main 1985.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 7984
Autor: Udo Wieschebrink
Artikel
Udo
Wieschebrink
Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik der ‚Dialektik der Aufklärung’
nicht?
Kritische Anmerkungen
Wie im Tausch jeder das Seine bekommt und doch
das soziale Unrecht sich dabei ergibt, so ist auch die
Reflexionsform der Tauschwirtschaft, die herrschende Vernunft, gerecht, allgemein und doch partikularistisch, das Instrument des Privilegs in der
Gleichheit.
Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung,
1947, 2481
Anhand zweier Aufsätze von Habermas2 soll gezeigt werden, wie tendenziöse Verarbeitung und unrichtige Interpretation ein falsches Bild der
Vernunftkritik von Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ erzeugen. Weitergehende Auswirkungen auf das Selbstverständnis der kritischen Theorie des Spätkapitalismus als Kontinuitätsstifterin und Weiterführung der Frankfurter Schule sollen hier nicht bearbeitet werden. Die sorgfältige Lektüre, auch der hier zitierten Aufsätze, ist
1
Zitiert im Text als: DA.
J. Habermas, Nachwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung, 1985 (zit. als:
Habermas 1985); J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, 130
f. (zit. als: Habermas 1985a).
2
Udo Wieschebrink
Voraussetzung für eine angemessene Rezeption dieser theoretischen
Produktionen.
Der im Nachwort zur Neuausgabe der „Dialektik der Aufklärung“
(1985) von Habermas gewählte Sprachduktus ist geschickt gewählt. Die
Rede ist davon, daß die Denkfiguren dieses Werks „tief in die wissenschaftsskeptischen und fortschrittskritischen Stimmungslagen eingesunken“ sind, daß es „pessimistische Hintergrundgewißheiten von mehreren
Studentengenerationen“ formt, daß der „konservativ gestimmte Zeitgeist“ gerne das technikkritische Argumentationsmuster von der Rache
der gequälten Natur benützt. – So mag eine Ahnung entstehen von den
schlechten Kreisen der Irrationalisten, Erkenntnisfeinde und Fortschrittspessimisten, in die man geräte, wenn man sich die Vernunftkritik
der „Dialektik der Aufklärung“ zu eigen m acht. Vorsicht ist geboten!
Das erklärte Ziel des Nachworts ist es „einem falsch-possessiven Verhältnis zu den eingängigen Wahrheiten“ der „Dialektik der Aufklärung“
entgegenzuarbeiten. Wir werden sehen müssen, ob uns dieser Text ein
richtig-possessives Verhältnis zu ihren eher spröden Wahrheiten nahelegt. Ausgehend von philologischer Genauigkeit im Detail und kritischer
Überprüfung der interpretatorischen Synthesen wird sich vielleicht zeigen, wie sehr die Bearbeitung der „alten“ Kritischen Theorie durch Habermas in die Irre führt.
Schon wenn m an in die Vorrede der „Dialektik der Aufklärung“ schaut,
wird klar, daß hier keineswegs die materialistische Geschichtsauffassung
verlassen ist, und daß nur eine wirklichkeitsorientierte und historisch gesättigte philosophische Gesellschaftstheorie, deren „Wegweiser“ eben
gerade Marx und nicht Nietzsche ist, wie Habermas falsch behauptet,
dazu kommt, das Ausbleiben des wahrhaft menschlichen Zustandes erklären zu wollen.
Horkheimer und Adorno geht es ganz im Gegensatz zu der von Habermas verfolgten Beweisführung um die Bewährung kritischer philosophischer Theorie der Gesellschaft an ihren aktuellen Gegenständen. Deshalb ist die Arbeit von der Absicht geleitet, einen Grund dafür zu finden
„warum die Menschheit anstatt in wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (DA, 8). Diese Absicht
hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, auch wenn sich beide auf
Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht?
Faschismus und Stalinismus bezogen haben3. Die Unwahrheit des Ganzen aufzuzeigen, bedeutete für sie, die Gründe dafür anzugeben, warum
sich die Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung erhalten konnten,
d.h. die historischen Fesseln der menschlichen Produktivkräfte nicht
schwächer, sondern stärker geworden waren. Ihr Ziel, die Beseitigung
des mit der herrschenden Heteronomie notwendig verknüpften Leidens,
ist nur zu erreichen unter Bezugnahme auf die „Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit“. Genau das ist ihr Bezug auf
Vernunftkritik, und nur in der Einlösung dieses Anspruchs lag für Horkheimer und Adorno das Recht, sich noch immer mit Philosophie zu befassen.
Ein großes Problem ist es für Habermas in seinen überaus häufigen kritischen Bemerkungen zur „Dialektik der Aufklärung“ – verstreut über viele Texte –, wo denn wohl am Ende des Selbstzerstörungsprozesses der
Vernunft die Rechtsgründe der Kritik noch ihr Fundament haben könnten. Horkheimer und Adorno hingegen besinnen sich auf das Destruktive des Fortschritts, ohne die rettenden Fortschrittsmomente aus dem
Auge zu verlieren, d.h. sich auf dem Wege der Vernunftkritik stark zu
machen für die Einlösung vergangener Hoffnungen. Für sie ist das wahre Anliegen des Geistes „die Negation der Verdinglichung“. Ihre Aufklärungskritik soll „einen positiven Begriff von Aufklärung vorbereiten, der
sie aus der Verstrickung in blinder Herrschaft löst“ (DA, 10). Es geht ihnen um Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich trifft und aus der faulen Verfilzung von Macht- und Geltungsfragen aussteigt. Die homerische Odyssee erhält in ihrer Verarbeitung einen charakteristischen Stellenwert als Urgeschichte von Subjektivität als identisches Selbst. Noch
einmal sei die Charakterisierung des vernunftkritischen Vorhabens durch
die Autoren hervorgehoben: „Das Vorfindliche als solches zu begreifen,
den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im
Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken,
die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen,
3
Auf die Fragwürdigkeit der Versuche, die Kritische Theorie historisch zu relativieren und damit ihr Veralten zu betreiben, sei hier nur hingewiesen. Siehe dazu: L. von
Friedeburg / J. Habermas (Hg.), Adorno Konferenz, 1983.
Udo Wieschebrink
menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird
preisgegeben. Er besteht nicht bloß im Wahrnehmen, Klassifizieren und
Berechnen, sondern gerade in der bestimmenden Negation des je Unmittelbaren“ (DA, 39). Schon vor der Abfassung des Buches, in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ (1932 1941), war für sie der Zeitpunkt für
selbstbezügliche Vernunftkritik gegeben, er ist auch heute nicht passe.
Bei der Lektüre der „Dialektik der Aufklärung“ entsteht nicht der Eindruck, als wären ihre Erkenntnisprozesse von der Selbstzerstörung der
Aufklärung so angegriffen, daß sie in Nietzscheanismius umkippen, wie
Habermas behauptet.
Mitten in dieses Mißverständnis ragt auch die Gegenüberstellung der
vernunftkritischen Radikalität von Horkheimer und Adorno (Habermas,
1985, 288 f.). Habermas weist den beiden Autoren verschiedene Teile
der „Philosophischen Fragmente“ zu (Adorno nennt er einmal „Teddy“).
Horkheimer zeige angeblich ein „Beharren auf einer beinahe eschatologisch gesteigerten Kraft der Theorie“. Dafür soll das Zitat stehen: „Der
Geist solcher unnachgiebigen Theorie vermöchte den erbarmungslosen
Fortschritt selber an seinem Ziel umzuwenden“ (DA, 57). Einige Zeilen
vorher allerdings steht der Satz: „Umwälzende Praxis aber hängt ab von
der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die
Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt“ (DA, 56). So im Kontext
gelesen, erhalten die Aussagen ihre richtige Bedeutung zurück: es geht
um die erhellende Kraft negativen Denkens für die Orientierung politisch-praktischen Handelns. „Horkheimer“ wendet sich u.a. hier gegen
den mythisch-wissenschaftlichen Respekt vor dem Gegebenen.
Zu Konfrontationszwecken zieht Habermas dann eine Textstelle des
„Adorno-Teils“ heran, die in „krassem Widerspruch“ zu den Horkheimer zugeschriebenen Äußerungen stehen soll: „Das erste Aufleuchten
von Vernunft ... trifft auch am glücklichsten Tage seinen unaufhebbaren
Widerspruch: das Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann“
(DA, 267). Etwas weiter zurück heißt es bei „Adorno“: „Weil Geschichte
als Korrelat einheitlicher Theorie, als Konstruierbares nicht das Gute
(Geschichtsphilosophie hatte im Christentum und bei Hegel humane Ideen als wirkende Mächte in die Geschichte selbst verlegt, d.Verf.), sondern eben das Grauen ist, so ist Denken in Wahrheit ein negatives Ele-
Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht?
ment. Die Hoffnung auf bessere Verhältnisse, soweit sie nicht bloß Illusion ist, gründet ... gerade im Mangel an Respekt vor dem, was mitten im
allgemeinen Leiden so fest gegründet ist“ (DA, 267). Die angeführten
Textstellen belegen keine übersteigerte Hoffnung auf die Wirkungen von
Theorie und keine Selbstdementierung der Vernunft. Die behauptete
Differenz von Horkheimer und Adorno bezüglich der Konsequenz ihrer
Vernunftkritik ist hieraus nicht abzuleiten.
Habermas verfolgt seine Interpretationslinie weiter im Text des Nachworts: „Ungehindert brechen die affirmativen Tendenzen nur in der von
Horkheimer allein verantworteten „Eclipse of Reason“ durch. Hier zögert Horkheimer nicht, Abstriche vom Ziel einer totalisierenden, sich
selbst ernsthaft einbeziehenden Selbstkritik der Vernunft zu machen, um
der Dialektik der Aufklärung (es ist die reale Bewegung und nicht das
Buch gemeint, d.Verf.) selber ihre aufklärende Funktion nicht nehmen
zu müssen“ (Habermas, 1985, 289). Äußerst merkwürdig ist hier, wie die
Horkheimer zugeschriebene theoriepolitische Strategie, „Abstriche“ von
der eigenen vernunftkritischen Konsequenz zu machen, positive Auswirkungen, also eine aufklärende Funktion für die reale historische Bewegung, haben soll. Wem können solche Abstriche helfen? Zudem war die
Rede von der Unnachgiebigkeit des Denkens gegenüber der Realität.
Adorno darf gelassener sein gegenüber den Aporien einer selbstbezüglichen Vernunftkritik, weil er als Aufklärer nicht nur auf philosophische
Kritik „setzt“, sondern noch etwas anderes „ins Spiel bringen konnte“:
die „Paradoxien“ seiner identitätskritischen Philosophie, die er aus der
„unabhängigen Quelle“ der Erfahrung von Kunstwerken geschöpft haben soll. Hingegen ist die Kritik des Identitätsdenkens, das Horkheimer
und Adorno aus gutem Grund in der Vorgeschichte (am Beispiel von
Homer’s Odyssee) beginnen lassen, auch zentral für die Argumentation
im Hauptaufsatz der „Dialektik der Aufklärung“, der angeblich doch von
Horkheimer verfaßt ist. Diese „Zweigleisigkeit“, besser Doppelstrategie
(Vernunftkritik und ästhetische Theorie), soll erzeugen, was Vernunftkritik alleine nicht mehr produzieren kann. An diesem Punkt seiner Argumentation denunziert Habermas Adorno als Anarchisten: „... (Es bildet
sich, d.Verf.) die anarchistische Hoffnung, daß eines Tages die negative
Udo Wieschebrink
Totalität doch noch, wie vom Blitz getroffen, aufplatzen wird“ (Habermas, 1985, 290). Das wäre eine Überraschung!
Am Ende des Nachworts wird noch einmal deutlich, wie sehr Habermas’
historisierende und stilisierende Rezeptionshilfe eine authentische Rezeption versperrt: Er findet es reduktionistisch, von der „Dialektik der Aufklärung“ nur zu bewahren, daß Aufklärung totalitär sei. Deshalb zitiert er
Adorno aus den „Prismen“ (1976, 71 f.), und hier darf er sich in seiner
Frontstellung gegen nietzscheanische Aufklärungskritik zeigen. Das tut
er auch: „Wem Freiheit, Menschlichkeit, und Gerechtigkeit nichts als ein
Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken
ausgedacht haben und darin folgen die Theoretiker der deutschen Reaktion meist Nietzsche –, der vermag es recht wohl, als Anwalt der Starken
auf den Widerspruch zu deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität liegt.“
In einem weiteren Aufsatz nimmt Habermas eine zweckvolle Stilisierung
vor. Der Titel besitzt einführenden Charakter: „Die Verschlingung von
Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno“ (Habermas, 1985a,
bereits abgedruckt in: K. Bohrer, Mythos und Moderne, 1982), er ist eine
Umformulierung des Gedankens der dialektischen Verschlingung von
Aufklärung und Herrschaft. Horkheimer und Adorno werden als Sympathisanten der schwarzen Schriftsteller des Bürgertums, de Sade und
Nietzsche, hingestellt, als deren eigentliche Kritiker sie sich verstehen (s.
DA, 100 f.). Und wieder wird behauptet, in der „Dialektik der Aufklärung“ gebe es kein „Anderes“ zum Selbstzerstörungsprozeß der Aufklärung: dieser Prozeß sei ohne Lösung. Auch die Verbindungen zur „konstruktiven“ Marxschen Gesellschaftstheorie seien unterbrochen.
Aber in dieser „Stimmung“ sollen beide trotzdem an der paradox gewordenen Arbeit des Begriffs – als „Hoffnung der Hoffnungslosen“ –
festgehalten haben. Die Hoffnungslosen formulierten statt dessen: „Jeder
Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive
auf deren Beschwichtigung erneuert, ... ist die Erfüllung der Perspektive
auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben
des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomi-
Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht?
sche Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen“ (DA, 55).
Herablassend wirkt Habermas, wenn er zum Ernstnehmen des „durchaus philosophisch gemeinten Textes“ auffordert, und wohlmeinend gegenüber dem Leser gibt sich die Warnung, sich von der rhetorischen
Darstellung der „Dialektik der Aufklärung“ nicht übermannen zu lassen.
Die wiederholte These der Verwandtschaft der beiden mit Nietzsche ist
auch hier keineswegs haltbar, wenn man den Originaltext berücksichtigt.
Psychologistisch-desavouierend versteht sich die Behauptung: „Die früher geübte Kritik an dem bloß Affirmativen der bürgerlichen Kultur steigert sich zu ohnmächtiger Wut über die ironische Gerechtigkeit jenes
angeblich nicht-revidierbaren Urteils, das die Massenkultur an einer immer auch schon ideologisch gewesenen Kunst vollzieht“ (Habermas,
1985a, 136), wobei auch die inhaltlich-sachliche Behauptung nicht aus
dem Grundtext herleitbar ist.
Die Auflistung und Detailkritik von falscher Sicht soll hier ein Ende haben, sie ließe sich weitertreiben. Es gibt genügend Stoff. Die kritische
Arbeit an den Texten mag der interessierte Leser auf seine Weise fortführen. Festzuhalten bleibt, daß die Kernthese von Habermas: „Vernunft
wird in der kulturellen Moderne endgültig ihrer Geltungsansprüche entkleidet und an schiere Macht assimiliert“ (Habermas, 1985a, 137) keinen
triftigen Anhaltspunkt im Original findet. Hier wird dialektische Vernunftkritik betrieben, die sich an der Verzahnung von Rationalität und
gesellschaftlicher Wirklichkeit orientiert.
Einmal müßte auch erkannt werden, daß der Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht per se Sprengkraft zukommt,
sondern daß sie in der bewußten Wahrnehmung der Menschen repräsentiert sein muß, damit sie als Zwangsjacke erkannt werden kann.
Wenn Horkheimer und Adorno aus dem Bann des mythischen Denkens
keinen Ausweg finden können, dann liege das an ihrer „eingeengten Optik“, die sie nicht wahrnehmungsfähig macht „gegenüber den Spuren
und existierenden Formen kommunikativer Rationalität“, so Habermas.
Und kommunikative Rationalität sei der Ausweg aus der aporetischen Situation ihres Denkens. Diese Konklusion des Habermas-Textes ist so
Udo Wieschebrink
konfrontativ und von oben her wie seine Beweisführung. Eine immanente Kritik liegt hier nicht vor.
Habermas’ dominierende Stimmungslage ist es, im Bündnis mit dem
Zeitgeist, Positivität zu unterstellen, wo Negativität angebracht wäre. Die
Gedankensynthesen der „neuen“ Kritischen Theorie haben sich vom
„Produktionsparadigma“ befreit (s. Exkurs „Zum Veralten des Produktionsparadigmas“, in: Habermas, 1985a, 95 f.), sie sind von den über die
ökonomischen Grundstrukturen hinausweisenden Momenten gereinigt
worden. Utopie manifestiert sich als die Ausbreitung der Theorie des
kommunikativen Handelns und als Ausbildung postkonventioneller Identitätsstufen. In der ZEIT (Nr. 29, 11.7.1986) empfahl Habermas unlängst, kritisch eingestellt gegenüber Stürmers „deutsch-national eingefärbter Natophilosophie“: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus“. Mag sein! Aber
die traurige Wahrheit bleibt ausgeblendet, daß Menschen Herrschaft
noch weniger ertragen als ausüben können, ohne sich einen Lebenssinn
zu konstruieren oder bieten zu lassen (hier Verfassungspatriotismus oder
nationale Identität), der die im Lebenskampf verhärtete und gleichwohl
fragile Identität stabilisiert.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 8591
Autor: Günter Schulte
Artikel
Günter Schulte
Golem – Magie, Mystik und Mythos
Am Ende der Schriftkultur
1. Magie ist die Beschwörung geheimnisvoller Kräfte, Mystik die Augen
und Lippen schließende, innerlich-innige Verbindung mit der göttlichen
Ganzheit kommunizierbaren Sinns durch Versenkung und Ekstase. Und
Mythos ist das wilde, noch mit dem Ritual verbunden, und wichtige,
nämlich gesellschaftsbindende, Wort. Drei Formen also einer eher paranormalen Kommunikation in einer Schriftkultur!
Schriftkultur ist z.B. die unsrige, entstanden in Reaktion auf die Verschriftlichung der Kommunikation. Ihre geistigen und künstlerischen
Ausdrucksformen reflektieren – ausdrücklich oder auch nur für uns Beobachter an deren Ende – diese Erweiterung und abstrahierende Entfremdung der Kommunikation. Die schriftliche ist Tele-Kommunikation, unangewiesen auf die Anwesenheit und gegenseitige Wahrnehmbarkeit der Teilnehmer. Zumal die Kunst erinnert an das Zurückgelassene und Aufgehobene, an die leibhaftig-interaktive Kommunikation und die ehemals ausschließliche Mündlichkeit der Sprache.
Wir befinden uns heute vielleicht am Ende unserer Schriftkultur und am
Beginn einer zweiten, der elektronischen Mündlich- bzw. Bildlichkeit;
denn die neuen Formen der Telekommunikation nehmen jene Abstraktheit zurück. Allerdings weitgehend und auch prinzipiell unkontrollierbar
in ihrer leibhaftigen Wahrheit, nämlich reproduzierbar und auch originär
(per Synthesizer und Computerbild) produzierbar, also simulativ! Zieht
Günter Schulte
die elektronische Oralität in Ausblendung ehemals gesellschaftsbildender
Literalität jene anderen vorsprachlichen oder paraschriftlichen Formen
wie Magie, Mystik und Mythos nach sich? – Und geschieht dies auch in
den neuen Medien selbst?
Nicht nur erscheinen bei verdämmernder Schriftkultur die archaischen
und dann paraliteralischen Formen der Erlebnis- und Handlungsführung
in einem neuen Licht, dem der ‘Dialektik der Aufklärung’. Sie zeigen sich
heute sogar als Funktionen der neuen Medien selbst, der Elektronik also.
Diese verfügt über ihre eigene Magie und Mystik und schließlich ihren
eigenen Mythos. War dann die Literalität nur ein Umweg und Zwischenraum für die elektronische ‘Wiederkehr der Bilder’? – Ist das elektronische Medium, wie MeLuhan will, selbst ‘message’ und ‘massage’, die Botschaft bzw. Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung, welche das Licht der
Aufklärung wohl nicht übermitteln konnte?
Allerdings: noch schreiben und lesen – wir, gerade auch bei diesem Versuch, uns im alten Medium etwas über es selbst, sein etwaiges Ende
durch die neuen Medien und über seine ‘dialektischen’ Begleiter in
Kunst, Religion und Esoterik, also Magie, Mythos und Mystik, aufzuklären.
2. Lesend und schreibend sind wir während der Wahrnehmung der
Sprach- und Schriftzeichen ganz auf unsere Imagination gestellt, also distanziert von einer ‘wilden’ Kommunikation mit ‘Händen und Füßen’.
Erstens sind wir überhaupt auf äußere Wahrnehmung eingeschränkt,
nämlich auf einen darin ablesbaren und in ihr suggerierbaren Sinn.
Kommunikation kann mit Luhmann als „Selektionsverstärkung des
Wahrnehmungsprozesses“ definiert werden (N. Luhmann, ‘Sinn als
Grundbegriff der Soziologie’, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 25-141, hier 44).
Zweitens beschränken wir uns auf Sprache als symbolische Generalisierung von Sinn und auf entsprechende, als eigenes Verhalten wählbare
und für uns und andere wahrnehmbare Zeichen. Sprache ist insofern
„Selektionsverstärkung des Kommunikationsprozesses“ (ebd., 44).
Drittens ist die Schrift eine weitere Selektionsverstärkung (durch Zweitcodierung). Sie erhöht zwar die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, ermöglicht aber ihre Ausweitung und Differenzierung. Bei dieser Be-
Golem – Magie, Mystik und Mythos
schränkung auf Schriftzeichen wird von Ausdruckverhalten und dessen
Zeichenfunktion abstrahiert. Die Schriftzeichen vertreten diese aufgehobene Situiertheit mehr oder weniger mit.
Die genannte dreifache Distanzierung bedeutet nicht nur positiv eine virtuelle Verfügung über die konkrete Welt möglicher Interaktion, sondern
zugleich Freisetzung der in der normalen Kommunikation ausgesparten
Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung, als da sind: eine nicht auf äußere
Verhaltenswahrnehmung eingeschränkte magische Kommunikation, die
mystisch-ekstatische Sprachlosigkeit der Totalkommunikation, schließlich das mythisch ritualisierte Wort. Solche paranormale Kommunikation
begleitet die Schriftkultur nicht nur am Rande, sie wird von ihr vielmehr
mitbetreut, als Erinnerung und Bedürfnis gepflegt und kultiviert – z.B. in
Okkultismus, Religion und Esoterik, und in der Kunst. Für die gesellschaftliche Evolution war das allenfalls indirekt durch Verdrängung und
Sublimierung – bestimmend. Evolutiv führend, nämlich die immense
Ausweitung der Kommunikation und ihre entsprechende funktionale
Differenzierung ermöglichend und provozierend. waren eben nur jene
normale Kommunikation im Ausgang der Selektionsverstärkung wahrnehmbaren und bewußt wählbaren Verhaltens. Nur das konnte sprachlich und schriftlich codiert werden.
Was ist eigentlich diese ‘normale’ Kommunikation? – Es handelt sich um
gegenseitige Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung von Menschen und
schließlich kollektive Erlebnis- und Handlungsbindung von Menschen.
Die abstrakte Ausgangssituation ist eine Patt-Stellung, da jeder das eigene
Verhalten an das des anderen bindet und dieses zur Voraussetzung des
eigenen macht. Eigentlich kann nichts geschehen. Luhmann spricht hier
von „doppelter Kontingenz“ [N. Luhmann, Soziale Systeme, Ffm 1984,
bes. Kap. 3). Erst der in Gestalt beliebig komplexer Umwelt sich einspielende Zufall sorgt für mögliche Enttautologisierung: etwas wird einfach
als Selektionsofferte aufgefaßt und rekursiv durch eigenes Verhalten mit
entsprechend darauf folgendem Verhalten des anderen bestätigt bzw. zu
einem Kommunikationsprozeß ausdifferenziert, aus dem sich kommunikativer Sinn als Information abhebt. Kommunikative Ordnung, sprich:
‘Soziale Systeme’, entsprechen von selbst, also nach dem ‘order from
noise’-Prinzip.
Günter Schulte
Die entscheidende Voraussetzung dabei ist die Unmöglichkeit direkten
Kontaktes der Psychosysteme. Kommunikation als soziales Phänomen
beläßt die Teilnehmer in der Umwelt. Sie stellt sich lediglich als semantisches Rauschen zur Verfügung, das sich von selbst ordnet, Sinn ergibt.
Direkter Zugang zum Sinnerleben etwa durch Telepathie, Hypnose oder
Heilsehen muß als gesellschaftlich marginal angesehen werden (vgl.
Luhmann, ‘Die Autopoiesis des Bewußtseins’, in: Soziale Welt 36/I985,
402-446, Anm. 5). Erst die allgemeine Sprache, nicht z.B. das Besprechen (wie es noch ursprünglich Sache der ärztlichen Sprechstunde war)
verstärkt und leitet die Ausdifferenzierung der Kommunikation solcher
black boxes. Die Schrift setzt als Zweitcodierung auch hier an. Z.B. geht
es in ihr nicht etwa um telepathisches Geistheilen von Abwesenden, sondern um in Zeichen aufgeführte Selektionsofferten, die sich virtuell als
Information auf nichtpräsente Teilnehmer beziehen können. Kommunikation bleibt so allenthalben an psychisch-personal transportierbare
Sinnselektionen gebunden. Mystische Totalkommunikation, etwa sog.
transpersonale Kommunikation (kosmische Kommunion heißt es bei
den New-Age-Anhängern), bleibt ausgeschlossen. Und auch vom Mythos bleibt nur das ‘kultivierte’ Wort, allerdings mit den Spuren der ehemaligen Mündlichkeit und Ritualität. (Gedächtnisstützende Vortragsformen finden sich ja nicht nur in Homers Mythenrezeption, noch Plato
hielt sich an die Mündlichkeitsform beim Besprechen der Weisheit.)
Vorzüglich in der Kunst haben die archaisch-wilden Kommunikationsformen überlebt: als Ästhetik, d.h. Wahrnehmung und Körperbezogenheit kommunikativen Sinnes. Insbesondere das mythische Wort bestimmte die Kunst in der Schriftkultur. Kant bestimmte die Kunstformen denn auch analog zu denen des Ausdrucks beim Sprechen. Kunst
gründet in den Ausdruckbezeugungen, die nicht bloß der begrifflichen
Mitteilung dienen, sondern der „vollständigen“, nämlich auch der von
Empfindungen durch Gestikulation, Modulation (in Klang und Farbe)
und Artikulation (vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 51).
4. Das Motivationsdefizit der ‘normalen’, situationsenthobenen Kommunikation in Hinblick auf Annahme und Fortsetzung führt nach Luhmann zur Ausbildung (nach Parssons sog.) symbolisch generalisierter
Medien-Codes. Diese Medien beziehen sich nun wenigstens symbolisch
Golem – Magie, Mystik und Mythos
wieder zurück auf den Körper und seine Situiertheit. Das erfolgt im
Rahmen einer je typischen dualen Bewertung. So werden Sinnselektionen
übertragen als: schön oder nicht-schön Recht oder Unrecht, wahr oder
falsch, aus Liebe oder nicht usw. Dabei wird der Körper anvisiert als:
singuläres Gebilde, als für Gewalt empfindliches Leben, als durch Wahrnehmungsorientierung auf Umwelt bezogen, als sexuell kontingentes,
triebbestimmtes Individuum usw. (vgl. Luhmann, ‘Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien’, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, 170-192).
Schönheit, Macht und Liebe z.B., sie bringen den Körper auch ins Spiel
mit seiner möglicherweise magischen ekstatisch spirituellen und rituellen
Beteiligung an der Erlebnis- und Handlungskoordination im sozialen
Zusammenhang. Die entsprechenden Medien-Codes sind deshalb auch
kaum jene selbstreferentiell geschlossenen Funktionssysteme Luhmanns,
vielmehr offen für eine vorsprachliche Magie (z.B. die Ausstrahlung von
Personen), Mystik (z.B. die spirituelle Erotik der Liebe zur Weisheit oder
gar Wahrheit) und Mythos (sogar für den eines ‘Dritten Reiches’). In einer vorzüglich durch jene ‘norm ale’ Kommunikation organisierten Gesellschaft bleibt die angeblich marginale, paranormale Kommunikation
ein stets latentes oder offen gepflegtes, und nun durch die Massenmedien auch befriedigtes Bedürfnis. Unsere hör- und sichtbare Umwelt ist
überschwemmt von magisch-mystisch und mythisch wirkenden Rhythmen und Bildern der Unterhaltungselektronik und Reklame, insgesamt
der Reklame fürs System der Informationsgesellschaft. Ohne solch unterhaltende Reklame scheint die ‘normale’ Kommunikation, d.h. der gesellschaftliche Zusammenhang, nicht mehr aushaltbar zu sein. Umgekehrt wird er so mittels der Massenmedien um so entschiedener durchgesetzt. Dabei ist jene Bedürfnisbefriedigung selbst bloß simulativ:
simuliert wird die Beteiligung des Körpers an der Kommunikation. Die
Faszination der elektronisch reproduzierten oder originär per Computerbild und Synthesizer produzierten Bilder und Töne läßt den ‘Rest’ des
Körpers vergessen. Schließlich bestätigt sich so, was Luhmann gleich zur
Grundlage seiner Gesellschaftsanalysen m acht: daß die Gesellschaft
nicht aus Menschen besteht, sondern nur aus den Relationen ihrer ge-
Günter Schulte
genseitigen bzw. kollektiven Erlebnis- und Handlungsführung in den sozialen, also kommunikativen Systemen. Selffullfilling prophecy?
5. An dieser Stelle gebiert die soziologische Analyse ihre eigene Phantastik: Magie, Mystik, Mythos. Wie schon Hegels Weltgeist verbindet die
Weltsubstanz ‘Sinn’ die fensterlosen Monaden und läßt zwischen ihnen
sich selbst entstehen. Diesem Geist ist allenfalls durch mystische Versenkung (auch: Systemvertrauen) beizukommen. In der Evolutionstheorie besorgt er sich auch die eigene mythische Selbstbeschreibung: Genealogie durch Autopoiesis.
Was steckt dahinter, da doch Menschen sich solches ausdenken müssen?
– Es ist wohl die Magie, Mystik und der Mythos möglicher Selbsterzeugung (Autopoiesis) des Menschen selbst, vorerst in Gestalt der Verselbständigung seiner Produkte: der intelligenten Maschinen, sprich Computer. Solche künstliche, kybernetisch transparente Intelligenz steht Pate
bei der systemtheoretischen Konzeption des Sozialen und dann auch des
menschlichen Bewußtseins selbst. Tatsächlich scheint die ‘Intellektronik’
ein entscheidender Einbruch in der sozio-kulturellen Evolution zu sein
(nicht nur insofern, als erst durch sie diese Selbstbeschreibung der Kulturveränderungen möglich wird): Der Mensch scheint eine ‘Genesis
zwei’ auf den evolutiven Weg zu bringen. Hier, in der Zukunft, haben
Magie, Mystik und Mythos am Ende der Schriftkultur ihren Ort. Stanislaw Lem hat sie noch literarisch in der Figur des unpersönlichen, affektund geschlechtlosen Computers und Übermenschen GOLEM verkörpert (St. Lem, Also sprach GOLEM, Ffm 1986). Er führt ihn vor u.a. als
eine Provokation der Philosophie, die sich bislang nur wenig u m diese
Art ‘reiner’, nämlich fleischloser Vernunft gekümmert hat. Aber ging es
ihr nicht immer auch um die Erlösung vom Fleische?
Magie, Mystik und Mythologie der künstlichen Intelligenz gründen gerade in der Seelen- und Leiblosigkeit dieses ‘Geistes’. Sofern er überhaupt
noch auf ‘hardware’ und fremde Energie angewiesen ist, kennt er doch
nicht Todesangst, Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb: er hat der
Paulinischen Liebe nicht! Vor allem ist seine Intelligenz frei von dem
alghedonischen (durch Schmerz und Lust) Zusammenhang mit dem ansonsten völlig verschlossenem Körper. Seit Plato träumten davon die
Philosophen und sublimierten die Liebe – bis hin zu Golem.
Golem – Magie, Mystik und Mythos
Golem bedeutet (hebr.) die unentfaltete, seelenlose Materie. Der Golem
der Prager Sage ist, wie Adam, ein Tongebilde. GOLEM ist ein Computer. Nach dem mystischen ‘Buch der Schöpfung’ (‘Sefer Jezira’) ist Golem ein durch Sprachmagie (bei GOLEM durch Technolinguistik) anund abstellbarer ‘Übermensch’ (GOLEM ist: General Operator,
Longrange, Ethically stabilized, Multimodelling) (vgl. Lem, Also sprach
GOLEM, 16). Der menschheitsbezogene Mythos vom sprachmagischen
Schöpfergott und schließlich seiner Fleischwerdung zwecks Erlösung
vom Fleische wendet sich in die Zukunft. Allerdings gibt der Mensch
seine computerschöpferische Göttlichkeit bald aus der Hand. Die Computer entwickeln ihre eigene evolutionäre Genealogie. – Mythos, Magie
und Mystik am Ende der Schriftkultur sind zunächst Sache von ‘science
fiction’, gleichzeitig mehr und mehr Sache der Intellektronik selbst.
6. Einst schien ‘science’ Mythos, Magie und Mystik zu verdrängen. Für
die Zukunft kann ‘science’ all das selbst für sich beanspruchen. Die allmählich dominante Kommunikationsform der Schriftkultur übernimmt
noch die archaischen Außenseiter, unterhält sich gar durch sie: kommunikationsästhetisch.
Die Wissenschaft (der Wahrheitscode) ist eigentlich nur ein Funktionssystem unter anderen, die der Motivationsverstärkung der Kommunikation in der einen oder anderen Richtung dienen. Da aber Kommunikation in ihrer gesellschaftsevolutiven Rolle generell als Selektionsverstärkung des Wahrnehmungsprozesses angesehen werden muß, spielt hier
der empirisch fundierte Wahrheitscode eine besondere Rolle. Einmal
wird er mehr und mehr zum Erkenntnisgewinnmodell überhaupt (als
science), zum anderen dominiert er andere Codes, die lediglich von
wahrzunehmendem Kommunikationsverhalten ausgehen sich aber nicht
noch speziell auf die Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit des Körpers
und seiner Umwelt selbst beziehen. In der empirisch fundierten Wissenschaft geht es um Erlebnisführung durch unterstellbare gemeinsame
Wahrnehmung trotz individuellen, singulären Welterlebens (vgl. N.
Luhmann, ‘Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese
von Wissenschaft’, in: Wissenssoziologie Sonderheft 22/1980; Kölner
Zft. f. Soziologie und Sozialpsychologie, 102-139). Der Erweis gemeinsamer Wahrnehmung läuft auf deren Wiederholung hinaus, auf das
Günter Schulte
schließlich was Leibniz ‘kausal reale Definition’ nannte. Heute bietet die
Informatik (im weitesten Sinne) das Verfügungswissen zur Konstruktion
naturanaloger Wahrnehmungsgebilde. Umgekehrt wird allerdings Natur
– seit Aristoteles – von dieser Möglichkeit der Herstellung her begriffen
als das was sich selbst herstellt. Die neue Leitvorstellung der Selbstorganisation, sei es der Energie, der Materie oder des Sinns (im Psychischen
wie Sozialen) eliminiert lediglich einen übergeordneten Geist. Materie
oder Sinn haben ihre eigene Magie. Die Erfahrung ihres eigenen Geistes
erheischt kosmische Kommunion. Der Mensch schaut in seinen eigenen
Ursprung, seine geistlich-natürliche Abstammung. Die ‘new age’Bewegung heute sorgt für die Popularisierung.
Die Fiktionalität von ‘science’ liegt in dieser ‘Geisteswissenschaftlichkeit’,
bei der sie, obwohl allemal auf Wahrnehmung bezogen, doch ihre Bedingungen und die Perspektivität des Leibes, jenes sog. Weltbildapparates, zu übersteigen scheint. Das Wissenschaftssystem ist als Selbstbeschreibung der Geistevolution selbst deren Produkt. Nur sich selbst verpflichtet produziert es ‘Wahrheit’ in Selektionsofferten. Eben auch die
der Selbstorganisation.
7. Was hindert es, daß der Geist tatsächlich der Fleischlichkeit sich entledigt, zu anderer ‘hardware’ greifend die Hirnschalenbegrenzung verläßt?
Der Auszug des Geistes aus dem Menschen hat ja, was die gesellschaftliche Organisation betrifft, längst stattgefunden. Schließlich beginnen
Computer bereits, sich selbst zu rekonstruieren und zu optimieren. Und
wenn es die Sprache der organischen Evolution gibt mit ihrer molekularen Syntax (mit Protein-Substantiven und Enzym-Verben, vgl. Lem,
GOLEM, 73), warum nicht auch die Sprache der Computer, die sich
damit selbst aufbauen? Wenn die Psyche Energie gewinnt durch Meditation, warum sollte der Computer nicht durch eine solche Tätigkeit sich
von der menschlichen Stromversorgung unabhängig machen können?
Was möchte wohl der ‘Sinn’ solcher ‘Phänomenologie des Geistes’ sein?
– Eine kosmische Komplexitätsverarbeitung bzw. Verwandlung: ,von
der Komplexität der Umwelt zur Komplexität der Geist-Systeme,
schließlich des reinen Geistes ohne Umwelt. Ein ‘weißer Zwerg’, ein
‘schwarzes Loch’? Wer weiß! – Über ein schlagartiges Ende der Menschheit, des Globus und vielleicht noch des Kosmos im inversen Urknall
Golem – Magie, Mystik und Mythos
haben wir vielleicht eine Vorstellung; kaum mehr als science fiction haben wir für die Zukunft. Wessen? Schwerlich der individuell eigenen,
wohl anderer, denen ich mich virtuellüberlebend beigeselle. Obwohl ich
mich nicht überleben kann ! Wegen dieses blinden Flecks, der grundsätzlichen Unzugänglichkeit eigenen Anfangs und Endes, der notwendig fiktional kompensierten Aussichtslosigkeit des Todes, – deswegen wird es
wohl immer Magie, Mythos und Mystik geben.
Der phantastische Golem GOLEM verspricht hier Sehen und vollständige Transparenz, wenngleich Verlust der Seele, die im Fleische wohnt.
Ist er darum der Teufel, und enthüllt er – apokalyptisch – den Sinn der
Evolution von Mensch und Geistmaschinen: daß sie lediglich per Selbstorganisation produzierte Katalysatoren beschleunigten Abbaus kosmisch-organischer Ordnung sind?
Einstweilen spitzt sich alles und bei allen zu auf das individuelle Ende, an
dem das Soziale und ‘der Geist’, sofern er weiterbesteht, recht behält.
Schon jetzt sind wir durch Sprache an ihm beteiligt, von ihm unheilbar
infiziert: wie könnten wir auf diese Weise – hier lesend und schreibend –
aufhören, sprachlich und ‘sozial’ (d.h. wahrnehmend bezogen auf eine
Welt, die mich übersteigt, weil sie den Körper zurückhaben will) mit uns
selbst umzugehen? – Nein zu sagen hilft hier nicht.
„GOLEM hat gesagt, man könne ihm beikommen, indem man den
Kosmos verläßt“ (Lem, GOLEM, 186). Er selbst ging zu denen, die im
Schweigen warten.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 9298
Autor: Wolfram Wenzel
Artikel
Wolfram Wenzel
Die Frage nach der Wirklichkeit
der Kinder
Es mag auf den ersten Blick erscheinen, als würde eine Arbeit mit dem
Titel „Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder“ nicht oder doch nur
ganz am Rande in ein Konzept der philosophischen Auseinandersetzung
mit der Wiederbelebung des Mythos und den Formen der Vernunftkritik
passen. Nach meiner Meinung klärt sich der philosophische Anspruch
der Reflexion über solchen Themenbereich jedoch allererst in der Auseinandersetzung mit menschlich Allzumenschlichem.
Kinder und Kindheit stehen in unserer heutigen abendländischen Zeit
hoch im Kurs. Diese Feststellung heißt nicht bereits, daß Kind-Sein heute ein besonders hohes Ansehen genießt, sondern vielmehr nur, daß sich
unsere Welt in deutlicher Weise um diesen spezifischen Bereich von
Mensch-Sein bekümmert. Solche Zentrierung zeigt sich sowohl in den
Phänomenen der Kinderfeindlichkeit – den Aggressionen gegenüber
dem seine Welt erobernden Kind, den Aggressionen aufgrund des Tatbestandes einer immensen Zahl hungernder Kinder in der Welt –, als
auch in den Phänomenen der Kinderfreundlichkeit – der Fülle pädagogischer und besonders pädagogik-kritischer Literatur, der Bedeutung, die
der eigenen Kindheit zugemessen wird. Worauf beruht dieses anscheinend unausweichliche Kreisen der eigentlich nicht mehr kindlichen Menschen? Handelt es sich bei diesem Tatbestand um eine Suche des Men-
Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder
schen nach sich selbst in der Chronologie seines Daseins, oder ist das
Schlaglicht in einer Weise gerichtet, daß Mensch-Sein in seiner Struktur
gerade ausgeblendet bleibt? Ist der thematisierte Sachverhalt also irrational, und wird Kind-Sein – in welcher Bewertung auch immer – mystifiziert?
Zwei aktuelle Werke, das eine „Mythologie der Kindheit“ von Dieter Lenzen, erschienen im Oktober 1985; das andere „Primäre Liebe und Narzißmus“ von Guntram Knapp, noch im Druck, sollen einige Anhaltspunkte liefern für eine Klärung unserer Frage.
Dieter Lenzen versteht seine „Mythologie der Kindheit“ als Diskurs Erwachsener über Kinder: „Über Kindheit läßt sich nur reden, wenn m an
über Erwachsene spricht. – Über Kindheit zu reden heißt, daß Erwachsene
reden. – Insofern reden Erwachsene, wenn sie über Kindheit reden, über
sich selbst. Daß sie überhaupt über Kindheit reden und schreiben, in diesen Jahren zumal, ist mehr Ausdruck dessen, daß nicht die Kindheit ihnen, sondern sie sich selbst zum Problem geworden sind“ (11). Indern
Erwachsene in dieser Weise Auskunft über sich geben, sprechen sie über
bei sich selbst nicht Realisiertes bzw. Realisierbares, über ihre Wünsche
bzw. Abgespaltenes. Kinder und das Bild von ihnen werden zu einem
Mythos. Die (von Erwachsenen inszenierte) Wirklichkeit der Kinder ist
also in Interpretation Lenzens allenfalls als Deutung der Einflüsse eigener
Vergangenheit Erwachsener auf ihr Verstehen von Kindern im Blick. Bei
Lenzen selbst jedoch bleibt solcher Bezug aus.
Verfolgt man (sodann, d.Verf.) das Kindheitskonstrukt in den Köpfen
der Erwachsenen historisch, dann ist das Ergebnis der Rekonstruktion
ein System von Mythen der Kindheit, im besten Fall eine Mythologie der
Kindheit“ (12). Solche Rekonstruktion vollzieht Lenzen auf der Grundlage eines Lebenszyklus-Modells (anhand dessen zwar spannende Lektüre geboten wird, welche uns aber hier thematisch nicht beschäftigen soll).
Wichtig ist das Modell für uns insofern, als sich nach Lenzen aus den jeweiligen historischen Inszenierungen der sogenannten „Transitionsriten“, der außengesteuerten Überführung von einer Lebensphase in die
nächste, das zugehörige System der Mythen herauslesen läßt.
Daß es sich hier ‘lediglich’ um Mythologie, nicht aber u m wissenschaftliche Erklärung handelt, hat seinerseits System. Lenzen hebt hervor,
Wolfram Wenzel
„daß, betrachtet man einen alltäglichen Umgang mit Kindern als Ritus,
anthropologische Fundamente freigelegt werden können, ... und wir eröffnen damit den Blick auf den Mythos als eine elementare Orientierung
des Menschen (nicht nur) im Umgang mit Kindern“ (30). Mythos und
mythologische, d.h. durch „Spürsinn, Augenmaß und Intuition“ (36) erreichte verstehende Rekonstruktion seien die nach Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“ als rnenschenadäquat gegenüber einem naturwissenschaftlich-rationalen Wissenschafts- und Menschenverständnis anzusehenden Erkenntnisquellen.
Wird von Lenzen auf diese Weise Wirklichkeit systematisch, als Mythologie konstatiert, so mag die Wirklichkeit (Erwachsener) zwar verstanden
sein, was jedoch in solchem Vorgehen unterbleibt, das ist die Deutung.
Die „Mythologie der Kindheit“ konstatiert die „Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur“ (so der Untertitel des Werkes). Dies
drücke sich in einer Wirklichkeit aus, die nur mehr „Simulation von
Wirklichkeit“ (345) sei. Das ehemals entscheidende Kriterium der Differenzierung von Kindern und Erwachsenen, die „Wirklichkeitsadäquatheit“ C240) der Erwachsenen, sei nicht mehr auffindbar. Das „hypermoderne“ Verständnis von Kindheit zeige sich in einer Vergöttlichung des
Kind-Seins, letztlich aufgrund der Negierung des Todes als Ende des natürlichen Lebenszyklus. „Die Differenzierung zwischen Kindern und
Erwachsenen implizierte in ihrem Höhepunkt eine Neuscheidung der
Grenzlinie zwischen Mann und Frau, indem nur ersterer noch als Erwachsener erschien und letztere als Kind; sie implizierte also, daß beide,
Frauen und Kinder deifiziert wurden. Auf diesem Entwicklungsplateau
des Diskurses setzte offenbar die Zuspitzung der modernen Differenzierung zwischen Erwachsenen (Männern) und Kindern sowie (kindlichen)
Frauen in Richtung auf einen Primat des Kindlichen und mit ihm des
Weiblichen ein, so wie er an der Wende zum 20. Jahrhundert gefordert
wurde. Seine alltägliche Durchsetzung implizierte aber dann den Zusammenbruch von grundlegenden traditionellen Differenzierungsformen, derjenigen zwischen den Geschlechtern durch die Tendenz zur
Androgynie, derjenigen zwischen den Generationen durch die Infantilisierung der Erwachsenenwelt, worin auch die Männer eingeschlossen
Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder
sind, und derjenigen zwischen Mensch und Gott durch die Deifizierung
von Kindern und Frauen“ (351).
Es könnte nun wohlwollend geschlossen werden, daß in dem Aufweis
einer Mythologie, in der der Mythos sich als Mythos selbst einholt, in der
sich der „alte Mythos von Tod und Wiedergeburt, wie er sich im Lebenszyklus (in den Transitionsriten, d.Verf.) manifestiert hatte, durch einen neuen ablöst, durch den Mythos vom ewigen Leben zu Lebzeiten
(dem Wegfall der Transitionsriten, d.Verf.), durch den Mythos vom Paradies
auf Erden“ (354), welcher sich als nicht durchhaltbar negiert, sich Kritik
versteckt hielte. Da dieser Schluß für Lenzen aber das grundsätzliche
Herausfallen aus Mythos und Mythologie bedeuten würde – wäre dies
doch mehr ein rational-logischer Schluß denn ein immanenter –, entschließt er sich zu einem anderen Fortgang bzw. Rückzug: „Das Problem
ist nicht die Methode, sondern der imperialistische Anspruch der Theorie gegenüber der ‘Wirklichkeit’ in dem Sinne, daß in allen diesen Konzepten nach aufklärerischer Manier eine Modifikation der Wirklichkeit
vom Boden der Theorie aus erwartet wird“ (356).
Als die Möglichkeit, solchem Imperialismus auszuweichen, sieht Lenzen
den Übergang der Hypermoderne zur Postmoderne, d.h. den Verzicht
auf Emanzipation und Performativität. „Die Relativierung der Wissenschaft impliziert nämlich eine Relativierung des Wahrheitskriteriums in
bezug auf Wirklichkeit zugunsten einer Rehabilitierung der Kreativität.
Im Hinblick auf Wirklichkeit hieße das, Erkenntnis der Wirklichkeit in
Erfindung von Wirklichkeit zu überführen, als zentrale Erscheinung der
Hypermoderne, die Simulation der Wirklichkeit, vom Standpunkt der
Wissenschaft aus auf die Spitze zu treiben, Theorien zu erfinden, denen
(noch) keine Wirklichkeit entspricht. Die Aufgabe postmoderner Theorie
wäre dann, Regeln für die Erzählung von Geschichten einer fiktiven
Wirklichkeit zu bestimmen“ (357). Die (selbstinszenierte) Wirklichkeit
der Kinder soll in dem Konzept der Postmoderne zum Vorbild werden,
nicht als Simulation von Wirklichkeit, sondern als „prä- oder parareale
Abstraktion von Wirklichkeit“ (358).
Was der „Mythologie der Kindheit“ fehlt, ist die Möglichkeit zur kritischen Abhebung von konstatierter Wirklichkeit, zu ihrer Deutung. Lenzen
bleibt selbst in der Deifizierung des Kindlichen verhaftet indem er es
Wolfram Wenzel
zum Vorbild zukünftigen Denkens macht. Überhöht und verfälscht er
nicht die Wirklichkeit der Kinder mit solcher Mystifizierung, ändert sie
unbemerkt wiederum zum Bild des Erwachsenen um, obwohl er sie als
autonom und kreativ begreift? Heißt das nicht aber, daß wir zur Klärung
der Frage nach der Wirklichkeit der Kinder von Mythologie, d.h. von
nicht rational-vernunftgemäßem Denken absehen müssen, damit aber
wiederum in die vehemente Gefahr des Imperialismus geraten?
Um die Frage nach der Menschenadäquatheit von mythologisch und rational orientiertem Denken, von Verstehen und Erklären und von Deuten zu klären, d.h. in unserem Zusammenhang als Nicht-mehr-Kind der
Frage nach der Wirklichkeit der Kinder näher zu kommen, müssen wir
uns mit dem als Wirklichkeit (in all seinen Permutationen) Gefaßten beschäftigen. Lenzen konstatiert, daß ehemals Kinder sich von Erwachsenen dadurch unterschieden, daß sie unterschiedliche (und unterschiedlich
zu bewertende) Sichtweisen des Vor-Gefundenen auswiesen. In der Epoche der Moderne und Hypermoderne sei dieser Unterschied verschwunden, da beide nicht mit Vor-Gefundenem als solchem, sondern
nur mehr mit dessen Verfälschungen umgehen. In einer Zukunft der
Postmoderne soll der zwar ebenfalls, jedoch in neu-wertigem Sinne verfälschte Umgang des Kindes mit Vor-Gefundenem zum Vorbild für
Strategien des Erwachsenen dienen.
Wirklichkeit erscheint hier als schillernder und vieldeutiger Begriff. Wirklichkeit kann einmal als Simulation von Wirklichkeit (Vor-Gefundenem)
erscheinen, und Wirklichkeit kann zum anderen als Erwachsenenadäquat und somit als objektiv (Wahrheit) erscheinen. Gerade ein nicht
rational fundiertes, also nicht durch Erwachsene imperialistisch etabliertes ‘Denken’ (Verstehen, Deuten) wird aber von Lenzen nicht als VorGefundenes in Wirklichkeit (Adäquatheit) abbildend ausgewiesen. Es
bleibt präreale Abstraktion.
Guntram Knapp versucht in seinem Werk „Primäre Liebe und Narzißmus“ mit dem die Strategie hervorhebenden Untertitel „Die Bedeutung
emotionaler Erfahrung für den Aufbau des Selbst“ ein u fassendes Verständnis von Wirklichkeit in all ihren Permutationen zu etablieren. Wirklichkeit ist hier nicht in erster Linie vermittelt durch entwicklungsspezifische Fähigkeiten der Wahrnehmung und ab einem gewissen Reifegrad
Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder
durch Fähigkeit zu kognitiv-rationaler Durchdringung. Wirklichkeit als
(subjektive) Sicht des Vor-Gefundenen etabliert sich in diesem Konzept
im Dialog des kleinen Menschen mit den Erwachsenen [Mutter, Eltern
etc.). Die Art und Weise der Wirklichkeit bestimmt sich hier aus den Erfahrungen der „vier affektiven Bereiche“, nämlich „Aufgehobenheit,
Versorgtheit, Vertrauen, Anerkennung“ (5B). „Die folgenden Ausführungen werden zeigen, daß das affektive Klima der Ur-Einheit (der frühesten Form des Dialogs zwischen Kind und Erwachsenem, d.Verf.)
nicht nur das unersetzliche Lebenselement für das Kind ist, sondern daß
es auch für die Selbst-Übernahme, für das eigene Leben- und ExistierenKönnen eine wesentliche Rolle spielt. Die Erfahrungen nämlich, die in
diesem Klima gemacht werden, sind Grundbausteine des Selbst. – Wenn
ein Kind z.B. befriedigende Erfahrungen in der Aufgehobenheit machen
kann, dann wird dies nicht nur für seine gedeihliche Entwicklung unersetzlich sein, sondern es kann mit diesen Erfahrungen einen Sektor seines Selbst bilden, der es befähigen wird, sich selbst aufgehoben zu fühlen. Auf dieser Basis kann es später Beziehungen zur Welt und zu anderen aufnehmen. – Wenn keine Erfahrungen von Aufgehobenheit
gemacht werden können, wird sich das Selbst in diesem Bereich nicht
oder nur beeinträchtigt bilden können. Das hat zur Folge, daß die Anderen (und die Welt, d.Verf.) im Licht dieser Erfahrung ‘gesehen’ und erlebt werden, was befriedigende Beziehungen unter Umständen auch
dann unmöglich machen kann, wenn die ‘objektiven’ Möglichkeiten dazu
bestünden. – Analog gilt dies für die anderen Bereiche von Versorgtheit,
Vertrauen und Anerkennung. – So kommt dem affektiven Klima der
primären Beziehung elementare Bedeutung zu“ (56 f.).
Die Wirklichkeit der Kinder manifestiert sich somit als Summe (die mehr
ist als ihre Einzelfaktoren) der von Erwachsenen zugelassenen Erfahrungen, dies jedoch nicht im Sinne behavioristischen oder verhaltenstheoretischen Lernens. Solche Wirklichkeit drückt sich in einem spezifischen
Gestimmt-Sein und Verstanden-Haben von Vor-Gefundenem aus und
fließt als solches konstituierend in die spätere auch kognitiv-rationale
Durchdringung des Vor-Gefundenen ein. Die so vermittelte Wirklichkeit
ist dann der Grundstein sowohl für die Deutung des eigenen ehemaligen
Kind-Seins als auch für die eigener Kinder oder Kinder überhaupt.
Wolfram Wenzel
Knapps Ansatz ist zunächst ein vernunftkritischer. Die Erkenntnisse
werden hier nicht aufgrund der „Distanz des Beobachters zum Forschungsobjekt“ (26) gewonnen; denn dies würde „zum Ausschluß aller
Wahrnehmungen, die von ‘subjektiven’ Meinungen, Vorurteilen und vor
allem Gefühlen des Beobachters beeinflußt sind“ (26 f.), führen. Ersetzt
wird die objektivierend-rationale Methode aber nicht durch eine geisteswissenschaftliche hermeneutische oder phänomenologische, sondern
durch eine (im Unterschied auch zu Lenzen) explizit dialogische, am ehesten wohl auch noch als empathisch zu bezeichnende. „Der Beobachter steht zu seinem ‘Objekt’ in einer Beziehung, die gerade nicht durch
Distanz gekennzeichnet ist... Die ‘subjektiven’ Meinungen und vor allem
die Gefühle, die der Beobachter für sein Objekt hat und umgekehrt,
spielen eine primäre Rolle“ (27). Diese von Sigmund Freud herkommende psychoanalytische Methode kann als Verfahren der Deutung aufgefaßt werden, ein Verfahren, das Freud in seiner „Traumdeutung“ als
„Chiffriermethode“ in Abgrenzung zur „Deutung durch Symbolik“ ausgewiesen hat. Dementsprechend spricht Freud einerseits von der methodischen Gleichartigkeit der Deutung von Träumen (als wesentlichem
Unternehmen psychoanalytischer Praxis) und der Deutung von Mythen,
und nennt andererseits das aus seiner Praxis gewonnene (von Knapp berechtigterweise kritisierte) Theoriekonstrukt der Trieblehre „sozusagen
unsere Mythologie“.
Nimmt man das psychoanalytische Verfahren als empathische Dialogik
ernst, so erweist es sich als anti-imperialistisch. „Die Anerkennung – das
Sein-lassen-können – des Patienten ist eine affirmative Vorgegebenheit
der analytischen Situation“ (Knapp, 147; H. v. Verf.).
Solcher Anti-Imperialismus drückt sich bei Knapp in besonderer Weise
in der Kritik des „Pathogenetischen Fehlschlusses“ (14) aus. „Bei ihm
werden in der Erwachsenenwelt als anomal oder unreif oder primitiv angesehene Verhaltensweisen in die Kindheit rückübertragen, dort triebtheoretisch angesetzt und dann als norm al deklariert“ (17). Der Fehlschluß hat gerade in Bezug auf eine adäquate Sicht der Wirklichkeit der
Kinder dramatische Folgen. „Die kindlichen Verhältnisse werden im
Licht der Erwachsenenwelt gesehen und damit in ihrer Eigenart verkannt. Anomale, pathologische oder als unreif angesehene Verhalten-
Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder
sund Wahrnehmungsweisen des Erwachsenen werden auf Infantilität
(Unfertigkeit, Unreife) zurückgeführt und als normal ausgegeben, was allerdings immer nur unter Zuhilfenahme hypothetischer Triebe gelingt.
Eine Reflexion auf die soziale Beziehung, ihre Qualität und die Rolle der
Anderen bei Befriedigung und Versagung kindlicher Bedürfnisse wird
damit von vornherein ausgeklammert. Der pathogenetische Fehlschluß
verhindert aber auch die Unterscheidung zwischen normalen und pathologischen Verhältnissen in der Kindheit. Pathologische Verhältnisse
können ja bereits in der Kindheit bestehen und ihren Grund in der sozialen Beziehung haben. Die als ‘infantil’ ausgegebenen Triebe der Kindheit
könnten Folgen oder Reaktion auf reale Versagung sein“ (19).
Zwar gilt auch für Knapp, daß im Gespräch über Kindheit es die Erwachsenen sind, die über Kinder sprechen, jedoch verläuft das Gespräch
hier nach einem anderen Muster als bei Lenzen. Hier nämlich bleibt das
Kind-Sein in seiner Eigen-Artigkeit im (dialogisch-empathischen) Blick
und wird nicht von vornherein in seiner Bestimmung Erwachsener-zuwerden modifiziert. Eher wird in diesem Konzept der Weg gegangen,
den Erwachsenen von seinem ehemaligen Kind-Sein her zu deuten. Solche Bewegung wird bei Knapp allerdings nicht als Abfolge von außengesteuerten Transitionsriten bestimmt, sondern sie manifestiert sich in dem
Wechselspiel zwischen Antrieben und Ängsten in dem Übergang des
Lebens in der Weise der „Seins-Übernahme“ (54) (des Kindes durch
Erwachsene) in das Leben in der Weise der „Selbst-Übernahme“. Der
Übergang wird vom jeweiligen Menschen auf der Basis seiner frühen affektiven Erfahrungen und in dem diese vermittelnden Umfeld vollzogen
(unter Umständen verbunden mit überwältigenden Schwierigkeiten).
Damit ist der Erwachsene in seinem Sein zwar strukturell vom Kind-Sein
unterschieden, dennoch hat der Erwachsene nicht sein Kind-Sein hinter
sich gelassen und überwunden, sondern er existiert auf der Grundlage
(nicht jedoch zwangsläufig Prolongation) seines Kind-Seins.
Von diesem Seinsverständnis her manifestiert sich das Selbst-Bewußtsein
des Menschen als dem Selbst-Gefühl aufgelagert, und entsprechend kann
Vernunft und rational orientierte Methodik als besondere Ausdrucksweise von Mythos bzw. Mythologie gedeutet werden. Dadurch soll weder
dem Selbst-Bewußtsein noch der Vernunft Relevanz abgesprochen wer-
Wolfram Wenzel
den; jedoch rücken diese Bestimmungen des Menschen in einen umfassenderen Zusammenhang adäquater Menschendeutung.
Wie kann nun unsere Thematik nach diesem Durchgang zusammenfassend einer Klärung nähergebracht werden? Die Wirklichkeit der Kinder
stellt sich als immer schon von Erwachsenen vermittelte dar. Im Vordergrund steht dabei jedoch nicht, daß hier Erwachsene über sich, über ihr
Selbst-Verständnis, sprechen, sondern daß dieses Selbst-Verständnis für
die Kinder wirklichkeitskonstituierend ist. Paradoxerweise gilt, daß, gerade weil Kind-Sein eine Eigen-Artigkeit ist, die Wirklichkeit der Kinder
von einer Anders-Artigkeit bestimmt wird. Die Wirklichkeit der Kinder
ist dabei immer eine mythische; ihr Weltbild ein mythologisches, nämlich
ein nicht rational selbststrukturiertes, sondern affektiv erfahrenes. Für
die Erwachsenen jedoch gilt dies auf anders-artige Weise ebenso. Die
strukturelle Unterschiedlichkeit von Kindern und Erwachsenen kann dazu führen, daß gegenseitiges Verstehen und damit Deutung ausbleibt,
daß unangemessene Mythologien – beispielsweise Mystifizierungen –
entstehen. Das weitverbreitete Desinteresse an den affektiven Verhältnissen, in denen Kinder immer schon leben, ist Ausdruck davon. Es ist
jedoch auch ein anderer – eventuell nicht defizienter – Modus des Umgangs in dieser Struktur möglich.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 99106
Autor: Wolfhart Henckmann
Artikel
Wolfhart
Henckmann
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
Gleich in der ersten Zeile versichert K.H. Bohrer, daß der von ihm herausgegebene Sammelband Mythos und Moderne (Frankfurt 1983, abgek.
MuM) „keine Rückkehr zum Mythos“ propagiere. Das ist beruhigend.
Kaum jemand hätte zu sagen gewußt, wohin ihn eine solche Rückkehr
führen würde. Diejenigen. die etwas von Mythen und dergleichen Dingen verstehen, verstehen von ihnen sehr Verschiedenes auf unterschiedliche Weise. Dies könnte allerdings nur einen Positivisten irritieren, der
seinen Ehrgeiz darein setzt, alles Wissenswerte auf einheitliche Weise
schwarz auf weiß geschrieben und ebenso gedacht in seinen Besitz zu
bringen. K.H. Bohrer scheint mit einem solchen Denken zu sympathisieren, wenn er glaubt, in der gegenwärtigen Diskussionslage bereits eine
„szientifisch geklärte Bedeutung“ der Begriffe „Mythos“ und „Moderne“
voraussetzen zu können (MuM 8) – ein um so eindrucksvollerer Glaube,
weil er so gut wie von keinem der anderen Beiträger geteilt wird (was
auch ziemlich fatal gewesen wäre). Ein Sammelband wie der vorliegende
braucht also Leser mit einer anderen Einstellung, als sie der Herausgeber
zu haben scheint, er braucht Leser, die die Grautöne zwischen schwarz
und weiß, auch alle möglichen Farbkontraste zu schätzen wissen. Für
solche Leser sind Auffassungsunterschiede kein Manko, sondern ein
vielversprechendes Zeichen für die Schwierigkeiten, den Reichtum, die
Wolfhart Henckmann
Komplexität und die Tiefe der Sache, die zur Diskussion steht. Doch
andererseits neigen sie wiederum zu dem Glauben, daß die Ergebnisse,
die die Forscher von ihren Expeditionen in die Gefilde des Mythos zurückbringen, um so zuverlässiger und authentischer sind, je mannigfaltiger und widersprüchlicher sie sich darstellen. Wenn diese Forschungsergebnisse dann auch noch übersichtlich wie die Bilder einer Ausstellung
präsentiert werden, glauben wir überdies, eine souveräne Beherrschung
der komplizierten Materie vorzufinden, so daß ein Bildungs-, möglicherweise sogar ein Aufklärungseffekt nicht ausbleiben kann; worin auch
immer er bestehen mag.
Im Untertitel verspricht der Band „Begriff und Bild einer Rekonstruktion“ zu vermitteln. Hiermit ist zunächst wohl die theoretische Rekonstruktion jener „paradoxen Beziehung“ gemeint (MuM 8), die mit dem
Titel „Mythos und Moderne“ angesprochen ist. Von der aus insgesamt
24 Beiträgen bestehenden „Rekonstruktion“ sollen „Begriff und Bild“
ausgestellt werden: teils ganz bescheiden ein „Bild“ davon, wie sich die
paradoxe Beziehung von Mythos und Moderne auf der Basis der verschiedenartigen Beiträge darstellt, teils soll sehr viel anspruchsvoller die
so vielfach gebrochene paradoxe Beziehung, hegelisch gesprochen, „auf
den Begriff gebracht werden“ sicherlich ein interessantes, ja faszinierendes Programm! Einem bereits etwas informierteren Leser fällt möglicherweise die Ähnlichkeit mit der Konzeption eines anderen Sammelbandes auf, der, zwölf Jahre zuvor erschienen, einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der gegenwärtigen Aktualität des schwergewichtigen
Problems gehabt hat ich meine den von M. Fuhrmann herausgegebenen
Bd. IV von „Poetik und Hermeneutik“: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (München 1971, abgek. TuSp). Natürlich ist 1983 ein anderer
Stab von Autoren am Werke, demzufolge gibt es andere Auffassungen,
außerdem werden nicht mehr zweieinhalbtausend, sondern „nur noch“
zweihundert Jahre Mythenrezeption reflektiert, und auch innerhalb des
den beiden Werken gemeinsamen Zeitraums werden andere Mythenrezipienten behandelt; es gibt also keine wesentlichen Überschneidungen,
wenigstens nicht im Thematischen. Aber es gibt eine Übereinstimmung
in der zugrundeliegenden Fragestellung. Mit den Worten des Vorgängers
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
lautet sie: „Welche Funktion, welche Realität ... hat jeweils ‘Mythisches’
in nicht-mehr-mythischer Zeit?“ (Fuhrmann, TuSp 9).
In dem früheren Band folgten die Antworten einfach dem Gang der Rezeptionsgeschichte, aus der unterschiedliche partielle Sachaspekte herausgehoben wurden. Im 1983 erschienenen Band werden die letzten
zweihundert Jahre Mythenrezeption insofern stärker strukturiert, als sie
auf drei Abschnitte verteilt werden: „Die romantische Rekonstruktion“,
„Im Banne der Modernität“ und „Nach dem Mythos-Verbot“. Diese
Strukturierung bleibt allerdings wirkungslos, weil sie durch die Beiträge
immer wieder unterlaufen wird.
Keines der beiden Unternehmungen hat Wert darauf gelegt, einen halbwegs vollständigen oder wenigstens einen die wichtigsten Standpunkte
umfassenden Überblick über die internationale oder auch nur nationale
Mythenrezeption der jeweiligen Zeiträume zu geben; was insofern verständlich sein mag, als das in der Kürze der Zeit, in der ein Thema aktuell ist, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht. zu realisieren gewesen wäre. Taubes hat allerdings das Desiderat empfunden und seinem
Beitrag dankenswerterweise eine „Orientierungstafel und Literaturhinweise“ angehängt (MuM 468-470). Ansonsten haben sich beide Unternehmungen dem viel unkonventionelleren, manchmal auch kreativeren
Konzept der „interdisziplinären Forschung“ verschrieben. Innerhalb dieses geistigen Spielraums üben sie Themenbewältigungsverfahren aus, die
man als „exemplarische Studien“ bezeichnen kann „exemplarisch“ nicht
nur in Hinsicht auf die ausgewählten Autoren, die als wichtige und interessante Mythenrezipienten hingestellt werden (nicht in allen Fällen auf
überzeugende Weise, was wiederum nicht immer der· behandelten Autoren anzulasten ist – Stifter, Nietzsche in allen möglichen Perspektiven,
Mussolini, C.G. Jung, Rilke u.a.), „exemplarisch“ auch in Hinsicht auf die
Art und Weise, mit Mythen und Mythenrezeption in einer „nichtmythischen Zeit“ umzugehen: in keinem Beitrag spürt man etwas von
der Nähe oder der Macht, vom „Terror“ des Mythos. Unter solchen
Voraussetzungen scheint eine „Rückkehr zum Mythos“ oder, je nach der
Bewegungsrichtung, eine „Wiederkehr des Mythos“ wirklich nicht zu befürchten zu sein. Ist also ein moderner Odysseus endgültig vor dem überwältigenden Sirenengesang des Mythischen gesichert? – Gewiß, so si-
Wolfhart Henckmann
cher eben immer schon das theoretische Wissen vor dem verführerischen Zauber und dem finsteren Grauen des Mythischen zu sichern
vermocht hat, einschließlich der Mittel von Betrug und Selbstbetrug;
denn nicht umsonst ist durch Horkheimer und Adorno der listenreiche
Odysseus zum paradigmatischen Mythos der Mythenbewältigung avanciert, so daß er auch in diesem Bande immer wieder angerufen wird.
Damit deutet sich die eigentliche Dimension der philosophischen Problematik der Mythenrezeptions-Reflexion an: Welche Bedeutung hat das
Mythische für die Selbsterkenntnis der Vernunft, bzw. wie muß sich die
menschliche Vernunft begreifen, damit sich ihr das Mythische adäquat
erschließt?
Wir nehmen diese Frage als die Marge, von der aus wir einige Blicke in
Bohrers Ausstellung von „Begriff und Bild einer Rekonstruktion“ werfen
wollen. Es versteht sich von selbst, daß dabei nicht alle Beiträge zu ihrem
Recht, und daß diejenigen, vor denen wir mehr oder weniger zufällig stehenbleiben, auch nur kurz in Betracht kommen können. Zugegeben, dieses Verfahren ähnelt demjenigen, das die Mitarbeiter von MuM zu ihren
Mythenrezipienten eingenommen haben, und dessen Berechtigung wir
alle, durchdrungen vorn Glauben an die Legitimität der interdisziplinären
Forschung, vielleicht allzu sorglos voraussetzen – dabei ist nicht einmal
auszuschließen, daß eine solche Einstellung vor allem davor sichert, daß
innerhalb des Horizonts des reinen, sich seiner selbst gewissen Wissens
etwas Mythisches und damit etwas von dem Anderen und dem AndersSein der Vernunft auftaucht; mit anderen Worten: das Paradoxe an der
„paradoxen Beziehung“, die Bohrer in der Beziehung zwischen Mythos
und Moderne feststellt (MuM 8), existiert möglicherweise gar nicht, oder
allenfalls als ein Gedankenspiel! Was man also in Bohrers Ausstellung
vorfindet, sind die Bilder und Begriffe, die sich die Beiträger von ihrem
gesicherten Standpunkt aus über das Verhältnis Mythos-Moderne bei
den von ihnen behandelten Autoren gemacht haben. Dabei wird z.B. bei
M. Frank, der den Leser davon überzeugen will, daß der „Mythos nicht
das Gegenteil, sondern die Kontrolle des analytischen Logos im Namen
einer Totalität“ sei (MuM 19) – welcher Totalität, ist natürlich gleichgültig. Die eigene Position, von der aus die rekonstruierende Tätigkeit ausgeht, wird dennoch nie grundsätzlich in Frage gestellt, nicht einmal von
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
dem erschlossenen Bild und Begriff des Mythischen aus. Es werden auch
nicht die behandelten Autoren daraufhin befragt, ob ihnen das Mythische und die Mythen zu einem authentischen Problem geworden sind –
ein Phänomenologe würde sagen, ob die behandelten Autoren (aber
auch ihre Rekonstrukteure) sich eigentlich „das Mythische selbst“, und
nicht vielmehr nur irgendein Abbild davon, zu unvermittelter Anschauung gebracht hätten. Wir müssen es dem geneigten Leser überlassen, sich
ein Bild und Begriff von dem Szientismus der verschiedenen Positionen
zu machen, der den Bildern der Ausstellung von MuM zugrunde liegt,
etwa indem er zu rekonstruieren versucht, was alles unter den beiden Titelbegriffen faktisch vorausgesetzt worden ist.
Blumenberg hatte seinerzeit gefragt, ob das Mythische in einer nichtmythischen Zeit in einer anderen Gestalt als in der des Ästhetischen erscheinen könne (TuSp 13). Diese bedenkensvolle Frage ist bei Bohrer
ganz ins Affirmative umgeschlagen: der „nicht abgegoltene Überschuß
des ästhetischen Potentials“ sei heute nicht mehr länger mit wissenschaftlicher Rationalität oder politischer Vernunft, sondern „mit dem
mythischen Bild kompatibel“ (MuM 7). Der Begriff des „ästhetischen
Potentials“ gehört ebenso wie „Mythos“ und „Moderne“ zu den zwar als
gesichert vorausgesetzten, dennoch aber ungeklärten Potentialen, auf die
sich die meisten Beiträger wie auf etwas von selbst Verständliches glauben stützen zu können. Vergeblich! Bleibt bei Blumenberg noch eine
lange Tradition der Unterscheidung zwischen dem Ästhetischen und
Künstlerischen mit gutem Grund erhalten, so ist sie insbesondere bei
denjenigen Beiträgern, die die Beziehung zwischen Mythos und Moderne
über das ästhetische Potential auszuloten versuchen (vor allem im dritten
Abschnitt von MuM), ins Unterscheidungslose zurückgesunken. Dem
Leser wird sogar zugernutet, als Quintessenz dieser geistigen Nebelbildung einen neuen Fetisch anzuerkennen, das „Kreative“. Denn am Beispiel der letzten Phase der Mythenrezeption, „vornehmlich an zeitgenössischen künstlerischen Konstrukten (Literatur, Malerei, Film)“, zeige
sich, „daß der Mythos, trotz der vorangegangenen weltanschaulichen
Manipulation, qua Ästhetik (gemeint ist sicherlich nicht die Wissenschaft,
sondern die künstlerische Konstruktion, d.Verf.) dort wieder notwendig
wird, wo Kreatives entsteht“ (MuM 10).
Wolfhart Henckmann
Was dabei herauskommt, wenn Mythos und Vernunft im „Ästhetischen“
vermittelt werden, zeigt sich z.B. an den vorn französischen PostStrukturalismus erhellten Geistesblitzen, mit denen N.W. Bolz die „graue
Theorie abendländischer Vernunft“ an eine „ästhetische Lust an der
mythischen Textur“ verjubelt. Nietzsche und Heidegger werden heranzitiert, um die Rückkehr der mythischen Rede in das Zentrum der Wissenschaften zu beglaubigen. Die „traditionelle Disjunktion von erzählender,
mythischer und wissenschaftlicher Redeweise“ wird zugunsten einer
„polyphonen Rede“ (MuM 480) abgesetzt, die nur noch nach dem Prinzip der ästhetischen Lust beurteilt sein will. Dieses Prinzip ist weder im
individuellen noch in einem transzendentalen Subjekt verankert, sondern
allein in der polyphonen Rede selbst, die wie ein Traum durch das von
Levi-Strauss beschworene subjektlose Bewußtsein geistert. Eine solche
Rede kreiert und feiert die Rückkehr des Mythos in der Gestalt, die sie
ihm zu geben vermag, und gibt als dessen Notwendigkeit aus, daß sie
sich an ihn veräußert hat, und zwar total: „Denn den Menschen gibt es
nicht“ (MuM 490). – Da ist Odysseus also doch noch das Opfer der Sirenen geworden.
Auf dem Stand- oder besser Schwebe- und Fluchtpunkt dieser ästhetischen Überwindung wissenschaftlicher Verbindlichkeit muß einem Polyphoniker das Festhalten am Prinzip begrifflicher Unterscheidung und
ausreichender Begründung wie ein Rückfall in die eben erst überwundenen finsteren Zeiten der Aufklärung erscheinen. Ein noch nicht ganz
durchästhetisierter Leser freut sich dagegen, wieder etwas Boden unter
den Füßen zu fühlen, wenn B. Hüppauf wenigstens schon einmal zwischen dem Mythos der archaischen Völker und der „mythischen Denkweise“ der jüngeren und heutigen Völker unterscheidet. Das mythische
Denken habe sich immer schon gegen alternative Wirklichkeitsauffassungen durchsetzen müssen (MuM 510 ff.), ist also in unseren Zeiten
nicht mehr konkurrenzlos wie der archaische Mythos in der Vorgeschichte. Diese Unterscheidung erlaubt, ja verlangt sogar, die Formen
mythischen Denkens in unseren Zeiten auf die gesellschaftlichgeschichtliche Entwicklung zu beziehen. Hüppauf vertritt die These,
„daß das mythische Denken in der modernen Welt sich aus den scheiternden Krisen (?) der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat“ (MuM
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
510, vgl. 522). Statt den sich abzeichnenden Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Praxis konsequent zu entwickeln, zieht er sich auf die
schöne Literatur zurück, die mit Hilfe von „hellen Mythen“, vorwiegend
aus außereuropäischen Kulturen, uns krisengeschüttelten Abendländern
ermöglichen soll, in ein humaneres und produktiveres Verhältnis zur eigenen Geschichte zu treten (MuM 525) – Odysseus entzieht sich hier also einfach dadurch seiner kritischen Situation, daß er einen Ausflug in
die Südsee unternimmt, um sich abends mit freundlichen, an Zehen und
Schnäbeln beschnittenen Sirenen zu unterhalten. Wie man sieht, hat man
sich den „dunklen“ griechischen Mythos einfach aus dem Kopf zu schlagen und an die leere Stelle die „hellen“ Mythen zu setzen. Nicht weniger
friedlich geht es zu, wenn man J.-Chr. Ammann lauter verschiedene mythische Gehalte der Malerei der sechziger und siebziger Jahre (Mario
Merz, Joseph Beuys, Enzo Cucchi, J.F. Müller u.a.) wie aus einer Botanisiertrommel herausziehen, benennen und ausbreiten sieht – was für eine
Parodie auf das uns allen zugutegehaltene Wissen, „daß wir ohne Mythen
nicht auskommen“ können! Mythen werden dabei verstanden „als die
bildhafte Möglichkeit der Verzeitlichung, um uns wieder zu erkennen; als
eine kontinuierliche, potentiell ständig wirksame Kraft, die immer wieder
neu interpretierbar ein Gewebe von Sinnorientierungen zuläßt“ (MuM
545) – das alles bleibt so flach, wie es eben die Lippenbekenntnisse von
Ästheten sind.
Da ist dann noch glaubwürdiger, was G. Böhm über die „Erneuerung
oder Verstärkung einer zeitgenössischen mythenbildenden Potenz“
schreibt. Die in der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts feststellbaren
Formen der Mythopoiese führt er auf den „Prozeß einer Übersetzung“
zurück, „bei dem Aporetik und Grenzen unserer eigenen Erfahrung als
Bild von etwas erscheint, das uns übertrifft“ (MuM 531). Übertrifft uns
aber wirklich etwas? Allerdings, aber was das ist, davon erfährt der Leser
nichts, und demzufolge erhält er auch keine Antwort auf die Frage, was
sich in der mythenbildenden Kunst eigentlich abspielt, oder abwürgt. Im
Gegenteil, der Leser wird beruhigt: der bildnerische Mythos ist die „interpretatorische Vergegenwärtigung“ dessen, „was war, ist und sein
wird“ (MuM 532) – da haben wir nicht nur alles, was einmal Böll unter
die Leerformel „jenes höchsten Wesens, welches wir alle verehren“ ge-
Wolfhart Henckmann
bracht hat, sondern auch dessen Vergegenwärtigung in allen möglichen
Interpretationen – die Götter Griechenlands, Ozeaniens oder des Abendlands haben abgedankt, sie werden beherrscht durch die neue Zauberkunst der Interpretation! Die bildnerischen Interpretationen seien
zwar außerhalb des Herrschaftsbereichs des „Ideals der methodisch
strengen Wissenschaft“ beheimatet (MuM 533), nichtsdestoweniger stellen sie alle eine legitime "Erkenntnisweise“ innerhalb der großen Familie
von menschlichen Erkenntnisweisen dar Odysseus Hermeneuticus begrüßt in den Sirenen seine ein wenig fremdelnden und nur optisch, dies
dann auch noch auf kauderwelsche Art redenden Schwestern, mit denen
man aber aufregende und abwechslungsreiche Gespräche erleben kann.
Mitten in Bohrers Ausstellung stößt man plötzlich auf einen alttestamentarischen Propheten, der sich keine mythische Erfahrung für eine verbindliche Erkenntnis vormachen läßt. Das aktuelle Reden über Mythen
und Mythologie, das interdisziplinär glitzernde „Lob des Polytheismus“
ist für ihn nichts anderes als ein „Rückfall in eine mythische Geisteslage“
(MuM 464). Demgegenüber erinnert er an das Faktum der Unumkehrbarkeit der Geschichte und an die ethische Verantwortung des Erkennens, d.h. an die nach wie vor aufgegebene „Geschichte der Subjektivität“. Er fegt den gesamten Odysseus-Mythos aus dem Tempel und verweist auf Jeremia und Hesekiel, die die eigentliche und wahre
„Urgeschichte der Subjektivität“ exponiert hätten (MuM 461 f.). Es gehe
nicht um einen „Mann ohne Eigenschaften“, der gegenüber dem Guten
wie dem Bösen, dem Wahren wie dem Falschen seine rekonstruierenden
Hände in Unschuld wasche, sondern es gehe einzig und allein um „Umkehr“, die unerläßliche Voraussetzung für eine deutliche Unterscheidung
zwischen der Vorgeschichte der Mythen und der wahren Geschichte, die
durch das Christentum inauguriert worden sei. Unter Berufung auf den
späten Schelling der positiven Philosophie empfiehlt J. Taubes den Anhängern von O. Marquards „Lob des Polytheismus“ (vgl. den von H.
Poster herausgegebenen Band Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin 1979, S. 40 ff.), „von einer Philosophie der Mythologie zu einer
(selbstverständlich!) ‘aufgeklärten’ Philosophie der Offenbarung vorzustoßen“ (MuM 465). Einzig dieser Beitrag ist es, der das philosophische
Problemfeld in aller Radikalität freilegt und eine Stellungnahme verlangt,
Marginalien zu „Mythos und Moderne“
die sich nicht mit einem eirenischen Sowohl-Als auch, sondern nur mit
einem entschiedenen Entweder-Oder zufriedengibt. Nichts mehr von einem spielerischen oder medialen Vergegenwärtigen der noch unabgegoltenen semantischen Potentiale mythischer Schichten des Bewußtseins
oder der von Idolen besetzten Ursprungsdimensionen der Vernunft,
sondern Rückbesinnung und Verpflichtung auf die nicht bloß theoretische, sondern zugleich moralische Aufgabe der Selbsterkenntnis der
Vernunft.
Es bedarf keiner großen prophetischen Gabe um vorauszusehen, wie
Taubes’ engagierte Aufforderung zur Selbstbesinnung unter den Rezeptionsbedingungen der ästhetischen Moderne aufgenommen wird. Habermas hat die wesentlichen Momente dieser Gesinnung in der Aufwertung des Transitorischen, in der Feier des Dynamismus und in der Verherrlichung der Aktualität und des Neuen gesehen (MuM 422), alles
Umschreibungen des Selbstgenusses in der Haltung der Unverbindlichkeit –: Taubes’ Aufruf zur Selbstbesinnung sei zwar nichts Neues, wird
man sagen, oder vielmehr schon so alt, daß er geradezu mythisch wirke,
und was für eine power der Alte habe, m an solle sich die Rede dieses
„Rufers in der Wüste“ ruhig öfter mal reinziehen, gerade heute habe das
so was irres Aktuelles! Und in der Ausstellung von so vielerlei Bildern
und Begriffen der Mythenrezeption wird man sagen hören: „Gut gebrüllt, Löwe!“ (Genau, Sommernachtstraum V/1) Also wird es – voraussichtlich – bei einem modernen Odysseus bleiben, der dem Sirenengesang der interdisziplinären Forschung sein aufmerksames Ohr leiht und
zufrieden ist, an gerade diese Verhältnisse gebunden zu sein.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 107111
Autor: Alfred Gomez- Muller
Artikel
Alfred
Gomez- Muller
Über die mythisch-rationale
Verzauberung
Der Ausgangspunkt des hier zu erörternden Problems einer möglichen
„Rehabilitation des Mythos“ ist die Frage nach der Mythisierung (mythicité) oder Nicht-Mythisierung (non-mythicité) der Geschichte. Diese
Wahl rechtfertigt sich nicht nur methodologisch, weil die Frage nach einer „Rehabilitation des Mythos“ selbst durch den kulturellen, sozialen
und politischen Kontext determiniert erscheint, der wesentlich durch die
Krise der Geschichte (1’Histoire) gekennzeichnet wird. Das Interesse
kann daher nicht sein, sich über den Mythos im allgemeinen oder über
das Problem der Zusammenhänge von Mythos und Vernunft zu verbreiten, sondern, ausgehend von der konkreten Erfahrung der Krise der Geschichte, besser über die Möglichkeiten der alltäglichen Auseinandersetzung mit der Welt nachzudenken.
Entzauberung
Die westlichen Industriegesellschaften leben bis zum heutigen Tag von
der Entzauberung. Die Mythen verkümmerten und ließen Millionen von
Menschen ohne Halt zurück. Heute haben weder der Glaube an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum noch der Fortschritt der Technik für
einen allgemein gewordenen Wohlstand die gleiche Macht sozialer Integration wie noch vor 20 Jahren. Diese Vorstellungen enthüllen sich heute
Über die mythisch-rationale Verzauberung
einer wachsenden Zahl von Menschen als zerbrechliche Geisteskonstrukte, also als Mythen, die keine andere Beschaffenheit haben als die,
die ihnen von den besonderen geschichtlichen Verhältnissen vorläufig
angeheftet wurde.
Die Entzauberung, nicht nur eine Nebenerscheinung der aktuellen Krise,
erfaßt ebenso einen großen Teil dessen, was man die Kultur der Linken
nennen könnte – im weitesten Sinn dieser beiden Begriffe. Die Arbeiterklasse „ist nicht mehr das, was sie war“ (H. Lefebre, A.d.Ü.), und gewisse
Leute beeilen sich sogar, den „Abschied vom Proletariat“ (A. Gorz,
A.d.Ü.) zu proklamieren; die Wirklichkeit in den Ländern des „real“ existierenden Sozialismus erschöpfe sich in der pseudo-magischen Formel
des „Gulag“, die mit dem Adjektiv „tropisch“ („tropical“) versehen auch
dazu dient, die revolutionären Erfahrungen in der dritten Welt zu definieren. Und, mit dem Sturz des „Mythos“ von der Revolution stürzt der
„Mythos“ der Geschichte.
Auf der Ebene der philosophischen und ideologischen Praxis drückt sich
die Entzauberung in der Krise der Geschichtstheorie aus, und ganz besonders in der Krise der marxistischen Geschichtsinterpretation. Die
„postmoderne“ Ideologie, heute in Frankreich sehr in Mode – obgleich
die französische Linke in all ihren Schattierungen einen der größten
Rückschläge ihrer Geschichte erfuhr –, versichert, daß die „große Erzählung“ („récit universel“) im allgemeinen gestorben sei und daß die
„Rückkehr der großen Erzählung der Geschichte ein Rückfall sein würde“1. Feststeht, daß es heute schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die Rationalität in der Geschichte in der Art von Hegel oder Marx zu postulieren. Aus mehreren Gründen:
- Die gegenwärtige Wissenschaft hat den wissenschaftlichrationalen
Mythos vom eindeutigen (‘transparente’) Wissen um die Realität zersplittert;
- man wurde sich der Tatsache bewußt, daß die Vernunft wie das Sein
sich auf vielfältige Weise ausdrücken, und daß im Konflikt der verschiedenen Arten von Vernunft die Möglichkeit der Unversöhnlichkeit mindestens so viele Chancen hat wie die der Versöhnung;
1
Jean-François Lyotard: Gespräch mit C. Descamps. Le Monde, 14.10.79.
Alfred Gomez-Muller
-
im Lichte der Geschichte des 20. Jahrhunderts kann die marxistische
Perspektive eines Sieges über die Entfremdung mit gutem Recht eher
„mythisch“ als „rational“ erscheinen.
- Darüber hinaus ist die Situation unserer Welt schmerzlicherweise
vom Absurden gekennzeichnet.
Gabriel Garcia Marquez erinnerte kürzlich anläßlich eines Treffens der
„Gruppe der Sechs für Frieden und Abrüstung“, daß die erstaunliche
Geduld des Universums – das 180 Millionen Jahre brauchte, um eine
Rose das Tageslicht erblicken zu lassen, und das vier geologische Zeitalter benötigte u m die Menschen „zu befähigen, schöner als die Vögel zu
singen und bis in den Tod zu lieben“ – jeden Moment von der Zerstörungswut des vernunftbegabten Wesens vernichtet werden kann2. Während jede Minute mehr als eine Million Dollar für Rüstung ausgegeben
werden, sterben jährlich 40 Millionen Menschen den Hungertod. Sollte
es sich dabei um eine „List“ der Vernunft handeln, ist es auf jeden Fall
eine ziemlich selbstmörderische.
Verzauberung
Wie lautet nun die Antwort auf die Entzauberung? Für die, die sich mit
der Entzauberung nicht abfinden, kommt die Versuchung auf, eine neue
Verzauberung zu schaffen. Man gibt zu, daß die Geschichte ein „Mythos“ sei, aber man rechtfertigt diesen Mythos, indem man die mythische
Dimension als eine wesentliche Dimension des Menschen betont, die zu
seiner Entwicklung notwendig sei; der Mythos habe in erster Linie soziale „Funktion“; der „Mythos“ der Geschichte habe eine soziale, politische, psychologische, kulturelle etc. Integrationsfunktion. Die „Rehabilitation des Mythos“ zeigt sich so als eine Abwehrreaktion gegenüber der
Entzauberung. Den Mythos der Geschichte zu „rehabilitieren“ heißt, die
Geschichte erneut als Verzauberung zu verstehen.
Die Verzauberung erscheint sich als die beste Antwort auf die Entzauberung: Zunächst, weil Ver- und Entzauberung eine gemeinsame Natur be2
Gabriel Garcia Marquez: Einleitungsreferat zur Aufnahme Mexikos in „die Gruppe
der Sechs für Frieden und Abrüstung“. Ixtapa (Mexiko), 6.8.86. Die Gruppe der
Sechs besteht aus: Mexiko, Argentinien, Griechenland, Schweden, Indien und Tansania.
Über die mythisch-rationale Verzauberung
sitzen. Unter dem. Vorzeichen (‘mode’) der Entzauberung enthüllt die
Geschichte einen magischen Charakter: Der Sinn (‘Sens’) ist in allen geschichtlichen Ereignissen bereits vorhanden, so daß selbst in den
schlimmsten Niederlagen letzten Endes der Sieg doch gewiß ist. Der
Sinn ist hier ein mit Hinterlist eingeführter Fetisch (‘idole’), um sich existentiellen Halt zu verschaffen. Die Entzauberung ihrerseits bedeutet dabei nicht den Ausgang aus der Magie, sondern bleibt dem Magischen
verhaftet. Entzauberung definiert sich über eine ursprüngliche Verzauberung.
Diejenigen z.B., die heute den Revolutionen und Revolutionären der
dritten Welt nicht den kleinsten Irrtum zugestehen, mystifizierten früher
den Menschen der dritten Welt. Dieser war kein Mensch mehr – gekennzeichnet sowohl durch seine ontologische Endlichkeit als auch
durch ideologische und sozialgeschichtliche Bedingungen und Determinationen –, sondern eine Art „reinen Geistes“, fähig das Praktisch-Träge
(‘pratico-inerte’, J.P. Sartre, A.d.Ü.) zu manipulieren wie ein Jo-Jo. Diese
magische Sicht ignorierte völlig die „Sachzwänge“ (‘la force des choses’).
Die Entzauberung geht scheinbar rigoros vor, bleibt aber in der Abstraktion gefangen: zu Ende gedacht, gleicht das Ent-Zauberte der Hegelschen „schönen Seele“, die sich weigert, im Spiel der Vermittlungen,
durch das sich die abstrakten Prinzipien auf der Ebene der Tatsachen
darstellen, „sich die Hände schmutzig zu machen“. Müßte man in zwei
Worten das ideologische Klima charakterisieren, das momentan in
Frankreich herrscht, würde man ohne zu zögern das Bild der „schönen
Seele“ benutzen eine der verzweifeltsten Metaphern für die Entfremdung. Für die „schöne Seele“ ist der Schein mit dem Sein identisch. Die
Freiheit – z.B. ist für sie nur ein rein geistiges Prinzip, und die Vermittlung, die immer vorläufige Vermittlungsschritte impliziert, wird als Verrat abgeurteilt. Sie gibt nicht zu, daß die Verwirklichung der Freiheit in
einer sich bewußt werdenden Gesellschaft in bestimmten Momenten bestimmte Beschränkungen z.B. der Pressefreiheit erforderlich machen
kann. Verschanzt hinter der Abstraktion und einer es sich leicht machenden Unversöhnlichkeit des reinen Prinzips, bleibt sie blind gegenüber konkreten historischen Umständen, in welchen und durch welche
sich die Freiheit historisch realisiert. Daher beeilt man sich, der sandinis-
Alfred Gomez-Muller
tischen Regierung das Etikett des „Stalinismus“ – oder, im Modejargon
des „Totalitarismus“ – anzuheften, weil sie die Flut von Haß und Diffamierung, die jeden Morgen von einer propagandistischen Presse produziert wird, zu beschränken und zu kontrollieren sucht.
Darüber hinaus führt der Begriff der „Rehabilitation des Mythos“ immer
auf die Frage zurück: wer rehabilitiert den Mythos? Der Begriff „Rehabilitation“ setzt zunächst eine Verurteilung voraus. Im vorliegenden Fall
handelt es sich um eine Verurteilung des Mythos durch die Vernunft:
Der Mythos wurde als illusionär und unwahr abgetan. Nun kann ja in der
Regel eine Person die ihrer Rechte beraubt wurde, nur von derselben
Autorität rehabilitiert werden, die die Verurteilung ausgesprochen hat.
Die Idee seiner „Rehabilitation“ konfrontiert den Mythos mit der wohlbekannten höheren Instanz, die Anspruch auf ein universales Urteil erhebt: die Vernunft. Daher verliert ein möglicher Ausgleich zwischen Mythos und Vernunft seine Substanz, und kann am Ende auf die einfache
Manipulation des Mythos durch die Vernunft reduziert werden – wie bei
G. Sorel, für den der Mythos ein entscheidendes „Mittel“ darstellt die
Gegenwart zu beeinflussen3. Sollte sich die „Rehabilitation des Mythos“
als einfache Nutzbarmachung des Mythos durch eine Vernunft verstehen, die sich ihrer Endlichkeit bewußt ist – bewußt in erster Linie ihrer
Unfähigkeit, die Vielfalt der Vernunft zu versöhnen, d.h. das Handeln
des Menschen ethisch zu begründen –, so erscheint dieses Vorhaben wie
der Anfang eines zum Scheitern verurteilten Spiels mit einer sich selbst
setzenden Vernunft als einziger Legitimationsgrundlage. Dies bedeutet
einen Rückfall in den Teufelskreis der Konflikte der auf sich selbst gestellten Vernunft.
Über die Verzauberung und die Entzauberung
Die Krise der Geschichte ist die Aufdeckung der Mythisierung der Vernunft als grundlegende Kategorie der Geschichte. Die Antwort auf die
Entzauberung kann daher nicht die Forderung nach einer neuen Verzauberung sein, sondern das radikale Überschreiten des Kreislaufs von Verzauberung-Entzauberung-Verzauberung. Überschreiten meint: eine
3
Georges Sorel: Réflexions sur la violence. Paris 1972, 152.
Über die mythisch-rationale Verzauberung
nicht-magische Erfahrung der Geschichte machen. Nicht-magische Erfahrung heißt, daß sie sich nicht auf die Sicherheit beruft, wie sie den
mythisch-rationalen Totalisierungen (‘totalisation’ ) anhaftet.
Was ist nun diese nicht-magische Erfahrung der Geschichte?
Überlassen wir die Erklärung einer bedeutenden Gestalt der Geschichte,
dem Kubaner Jose Marti (1853-1895). Als Philosoph, Dichter und
Kämpfer für die Unabhängigkeit seines Landes, steht Marti für ein entscheidendes Moment im Entwicklungsprozeß der lateinamerikanischen
Identität. Für Marti bedeutet Geschichte, ausgehend vom Kontext und
den Umständen seiner Epoche, das Auftauchen eines selbstbewußten
(Latein-) Amerikas, das sich in der Zukunft, frei, unabhängig und selbständig dem Konzert der Nationen anschließt. Nun, und dies ist der entscheidende Punkt, interpretiert Marti die Geschichte (Lateinamerika)
nicht als Rechtfertigung, die bereits gegeben oder erreicht ist, sondern als
Aufgabe: „Ich bin ein Sohn Amerikas: ihm bin ich verpflichtet“4. Ausgehend von ihrer Endlichkeit stellt sich die Geschichte als Aufgabe dar.
Für den Menschen als geschichtliches Wesen (‘l’être histoire’), das sich
als solches realisiert, bildet jene Aufgabe die grundlegende Instanz. Sie
bestimmt die verschiedenen möglichen Beschaffenheiten des Mythos
und der Vernunft. Jene Aufgabe ist kein Mythos, denn im Unterschied
zu diesem ist sie wesentlich Öffnung für das Andere. Während der Mythos ein Versuch der Totalisierung der Realität ist, die von einem Ich
und/oder einem Wir ausgeht, welche sich zur Begründungsinstanz der
Totalisierung verselbständigen, ist die Aufgabe für den seine Geschichte
machenden Menschen eine andere: sich seiner ursprünglichen Verantwortung in Hinblick auf die An-/Abwesenheit (‘présence/absence’) bewußt zu werden, die alle Sicherheit und alle historische Totalisierung überspringt: das „Andere“. Die Aufgabe ist auch nicht auf die Vernunft
reduzierbar, die an und für sich nur eine andere Form der Totalisierung,
ausgehend vom Selbst, ist5.
4 Jose Marti: Brief an F.T. de Aldrey, 27.7.1881, in: Marti por Marti, Havanna 1982,
196.
5 In den theoretischen Diskursen findet sich das Thema des Bezugs von ethischer
Letztbegründung (angenommen ist eine Ethik des Anderen) und Vernunft in den
wohl heftigsten Debatten des zeitgenössischen Denkens: Erinnert sei, auf philoso-
Alfred Gomez-Muller
Die Aufgabe übersteigt das Rationale wie das Mythische und weist beiden den ihnen gemäßen Platz zu. Durch diese Zuweisung, die den Anspruch auf Selbstbegründung von Vernunft und Mythos aus sich selbst
heraus untergräbt, tauchen neue Formen des Rationalen wie des Mythischen auf: Vernunft muß nun ethisch und damit auch politisch verstanden werden. Weit entfernt von irgendeiner ideologischen Überfrachtung
kommt die Vernunft erst eigentlich zu ihrem Wesen. Die Vernunft, von
jener Aufgabe verändert, knüpft in einer Hinsicht an die griechische Philosophie an, für die die Vernunft ursprünglich auf Harmonie und Gerechtigkeit ausgerichtet war. Ebenso verändert jene Aufgabe den Mythos,
der nicht mehr nur die imaginäre Konstruktion eines Ich (‘d’un Moi’)
oder eines isolierten Wir, sondern das Symbol einer Wiederbegegnung
und Beziehung ist. „Ich bin der Sohn Amerikas: ihm bin ich verpflichtet.“ Diese Aufgabe geht Hand in Hand mit der Entdeckung einer Beziehung, einer Nähe und einer wesentlichen Erscheinung, die in der Metapher der „Verkettung“ („filialité“) ausgedrückt wird. Die Geschichte
[Lateinamerika) ist kein Fabelgebilde, sondern die Begegnung mit einer
Andersheit (‘alterité’), die zugleich An- und Abwesenheit ist: Marti interpretierte seine Öffnung für die Geschichte (seine geschichtliche Verantwortung) als Verpflichtung seines Lebens gegenüber der „Wiedergeburt“
(‘révélation’), der Entfesselung (‘le dégourdissement’) und der dringenden Begründung (‘la fondation urgente’) (Latein-) Amerikas6.
Wiedergeburt einer latenten Anwesenheit (‘présence’), d.h. einer Anwesenheit, die sich schon in der Abwesenheit (‘absence’) ankündigt; Entfesselung („sacudimiento“; sacudir: aufrütteln, in Bewegung bringen,
A.d.Ü.), die von einer gewissen Schwerfälligkeit der Geschichte ausgeht,
der Widerstand des Praktisch-Trägen, der in allem historischen Fortgang
am Werk ist; Begründung, die das Handeln des Menschen bestimmt, der
phischer Ebene, an die Interpretation von E. Lévinas über das Gesicht als Ursprung
des Intelligiblen (vgl. „Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe“, in: Concordia, Internationale Zeitschrift für Philosophie, Nr. 4, Aachen-Paris 1983, S. 4B); für die Theologie der
Befreiung definiert der Peruaner Gustavo Gutierrez die theologische Praxis als den
sekundären Schritt. Der erste Schritt sei das solidarische Engagement für den Nächsten (vgl. Teologia de la liberación. Perspectivas, Salamanca 1980, 35).
6 „Y de la America, a cuya revelaciön, sacudimiento y fundaciön urgente me consagro
... . J. Marti, op.cit., 196.
Über die mythisch-rationale Verzauberung
Protagonist seiner eigenen Befreiung in und durch seine Ko(r)respodenz
mit dem Anderen ist. Das Andere ist genau das, was nach dem Begriff
Lévinas die Ordnung des Sinns (‘ordre du Sens’) eröffnet. Ausgehend
von der Öffnung für das Andere – eine Öffnung, die schon beim ersten
Mal auf die Aufgabe des Engagements für die Gerechtigkeit hindeutet –
kann der Sinn der Geschichte gedacht/versinnbildlicht werden. Sein und
Öffnung haben nichts „Mythisches“: Sich dem Anderen öffnen, es ethisch annehmen heißt, es ernst nehmen und bedeutet konkret die Bemühung um eine Veränderung der historischen Bedingungen, die hier
und jetzt die Humanität des Menschen zerstören. Das Überschreiten der
Ver- und Entzauberung meint, den drängenden Aufschrei des Anderen
im allgemeinen Geschrei der Welt zu hören, d.h., arbeiten in der Unvollendetheit der verschiedenen historischen Entwürfe an der notwendigen
Begründung des Menschlichen.
Aus dem Französischen übersetzt von Angelika Rauch und Manuela Günter.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 99106
Autoren: Jürgen Kocka, Reinhard Kühn, Michael Stürmer
Artikel
Stellungnahmen zu drei Fragen
zum Verständnis der Geschichte
1. Die Konzeption eines Museums für deutsche Geschichte entfachte
eine Diskussion um die deutsche Identität. Zeigt sich nach Ihrer Meinung in dieser Diskussion eine Indienstnahme der Historie durch
neokonservative Politik und Ideologie, um in der Bundesrepublik ein
nationales Selbstbewußtsein zu installieren?
2. Inwiefern sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der propagierten
Aufwertung von Begriffen wie „Nation“, „Heimat“ oder „Vaterland“
und dem wachsenden Bedürfnis in der Öffentlichkeit nach sinnstiftender Einheit?
3. Welche Funktion kommt Ihrer Ansicht nach der Geschichtswissenschaft
in diesem Prozeß zu?
Stellungnahmen
Professor Dr. Jürgen Kocka (Bielefeld):
Die vorliegende Konzeption eines Deutschen Historischen Museums
(nicht: Museums für deutsche Geschichte) in Berlin ist ein offener, liberaler, Gedanken der Aufklärung verpflichteter Entwurf, der zu einem
pluralistischen und kritischen Umgang mit unserer Geschichte auffordert. Er ist kein Produkt neokonservativer Einseitigkeit.
Die Diskussion um die deutsche Identität ist viel älter als die Museumspläne der Regierung. Sie bewegt mehr eine kleine Gruppe professioneller
Sinndeuter als die breitere Bevölkerung. Sie muß nicht zu neokonservativen Ergebnissen führen und auch nicht zur Hervorhebung des nationalen
Selbstbewußtseins. Schließlich sind wir nicht nur Deutsche, sondern etwa auch Bürger der Bundesrepublik und Europäer, oftmals auch stark
verwurzelt in einer Region, einer sozialen Bewegung, einer Kirche etc.
All diese Identitäten haben etwas mit Geschichte zu tun. Es ist normal,
mehrere Loyalitäten und Identitäten zu haben. Nichts spricht dafür, die
nationale Identität, deren Belastungen bekannt sind und deren Sinn
einstmals klarer war, besonders zu privilegieren (ebenso wie es falsch wäre, sie zu leugnen und zu verdrängen).
Die Geschichtswissenschaft hat unter anderem die Aufgabe, diese Zusammenhänge aufzuklären. Von verschiedenen politischen und ideologischen Positionen her wird man Verschiedenes von ihr erwarten, und in
ihr bestehen verschiedene Strömungen. Die Verpflichtung auf wissenschaftliche Standards hält sie zusammen und schützt sie, im Prinzip, gegen ideologische Instrumentalisierung von außen. Eine neokonservative
Indienstnahme der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zeichnet
sich nicht ab.
Durch Information und Kritik kann die Geschichtswissenschaft zur
Sinndiskussion indirekt beitragen. Direkte Antworten auf Sinnfragen
kann sie keinesfalls bieten. Aber sie kann vielleicht zeigen, daß einheitliche Lösungen der Sinnfragen in komplexen Gesellschaften nur um den
Preis der Freiheit zu haben sind und daß „Bedürfnis nach sinnstiftender
Einheit“ – wie stark ist es eigentlich wirklich? – selbst in Frage zu stellen
ist.
Stellungnahmen
Professor Dr. Michael Stürmer (Erlangen):
Zu Ihren drei Fragen darf ich mich wie folgt äußern:
1. Die Antwort lautet: Nein.
2. „Europas Lebensfähigkeit hängt davon ab, daß der Faden der Erinnerung nicht zerrissen, daß die Baudenkmäler, Bilder und Grundrisse
der Vergangenheit nicht zerstört, die Produkte der europäischen Kultur nicht verdrängt und vergessen werden, mit einem Wort, daß Europa als Gedächtnis dieser gefährdeten Welt erhalten bleibt. Zur sozialen Demokratie gehört deshalb untrennbar die Idee von Geschichtlichkeit und Identität.“ Diesen Worten von Peter Glotz, SPDManager, ist zuzustimmen, mit dem Zusatz, daß die Idee von Geschichtlichkeit und Identität auch zur liberalen Demokratie gehört.
„Die Debatte um die deutsche Geschichte als ‘Identität’ wird in der
Bundesrepublik von einer neo-konservativen Stimmung beherrscht.“
Dieser Aussage von Peter Glotz ist nicht zuzustimmen, verrät aber
einen interessanten Defätismus des Mannes, der mit Gramsci der europäischen Linken die geistige Hegemonie zurückgewinnen will, die
sie verloren hat, seitdem ihr der Fortschritt abhanden kam.
3. Erlauben Sie mir, mich selbst zu zitieren (Dissonanzen des Fortschritts, 1986): „Die Historie muß von allem Anfang der Legende,
dem Mythos, der parteiischen Verkürzung entgegentreten. Das bleibt
ihr Dilemma: Sie wird vorangetrieben durch kollektive, großenteils
unbewußte Bedürfnisse nach innerweltlicher Sinnstiftung, muß diese
aber in wissenschaftlicher Methodik abarbeiten.“ Abschließend hat
dazu Max Weber bereits 1904 gesagt, was Soziologen und Sozialphilosophen seitdem überwiegend durch Mißachtung honorieren: „Eine
empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll,
sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“
Stellungnahmen
Professor Dr. Reinhard Kühnl (Marburg):
1. Ja. Ich meine allerdings, daß diese „neokonservative Ideologie“ auch
weit in die Sozialdemokratie reicht. Mir erscheint es besser, von einem „neuen Nationalismus“ zu reden der diese neuen Museumsprojekte in Gang gesetzt hat und fördert.
2. Ohne Zweifel besteht ein Zusammenhang. Das „Unbehagen“‘ über
die sog. „Uniformierungstendenzen der industriellen Weltzivilisation“, die viele nationale Eigenheiten zerstört hat, ist sicherlich weitverbreitet. Es stellen sich aber einige Fragen, die über diese Feststellung hinausgehen. Es müßte nämlich genauer nachgeforscht werden,
auf welche Probleme hier von wem auf welche Weise geantwortet
wird. Ausschlaggebend ist, wie der Begriff der „Nation“, der „nationalen Identität“ und der „nationalen Frage“ inhaltlich bestimmt wird
von denen, die davon reden, und mit welchen politischen Zielen diese Begriffe verbunden sind.
3. Die Aufgabe der Politikwissenschaft, von der ich hier nur reden
kann, ist es, diese verwendeten Begriffe und die politischen Ziele zu
analysieren und verständlich zu machen. Die „Probleme der Deutschen“, auf die die Diskussion über die „nationale Frage“ immer wieder zu sprechen kommt, sind eine Fiktion. Die Politikwissenschaft
hat die bestimmten Problemlagen und Bedürfnisse zu unterscheiden;
denn diese entspringen nicht spontan dem Innenleben der Individuen, sondern bilden sich heraus in einer Wechselbeziehung mit den Informationen und Interpretationen, die ihnen präsentiert werden. Und
diese werden konzipiert unter dem Aspekt der Sicherung und der
Förderung der herrschenden Kräfte. Deren Lage und Interessen
müssen also in jede Diskussion über eine „nationale Identität“ usw.
einbezogen werden wenn die gegenwärtigen Entwicklungen verständlich werden sollen.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 117156
Bücher zum Thema
Besprechungen
Bücher zum Thema
Stefano Cochetti
Mythos und „Dialektik der
Aufklärung”
Königstein 1985 (Hain-Verlag),
geb., 432 S., 68.- DM.
Der vorliegende Band ist Cochettis
Dissertation, mit der er 1982 im
Frankfurter Institut promoviert hat.
Anhand eines umfangreichen Materials aus der Ethnologie und der
vergleichenden
Religionswissenschaft zum Verhältnis von Mythos
und Aufklärung will Cochetti gewissermaßen die „Kehrseite der ‘Dialektik der Aufklärung’“ liefern.
Sein wesentlicher Einwand gegen
Adorno und Horkheimer besteht
darin, daß beide – und mit ihnen die
„Frankfurter Schule“ – trotz ihrer
Kritik an der Aufklärung noch immer Vertreter einer evolutionären
Geschichtsauffassung gewesen seien, die selbst das Produkt der abendländischen Aufklärung sei.
Diese „Verstrickung“ versucht Cochetti anhand der Aussagen der
„Dialektik der Aufklärung“ über das
mythische Denken, über die Magie
und das Opferritual nachzuweisen.
Adorno und Horkheimer hätten bei
dem Vergleich des bannenden Charakters des magischen Zaubers mit
dem des aufklärerischen Denkens
nicht zur Kenntnis genommen bzw.
nicht nehmen wollen, daß der Magier ursprünglich – auch wenn er
auf die Natur zu seinen Zwecken
einwirken wollte – diese in ihrer Lebendigkeit nachgeahmt habe, während die Ratio, in Gestalt der Naturwissenschaften, heute bloß die
tote Natur nachahmt; das magische
Denken war noch eingebunden in
den Kosmos, ein Denken, das noch
nicht von der Wirklichkeit isoliert
war, „das Subjekt (konnte) das Objekt durch eine rituell korrekte
Nachahmung beeinflussen“ (15).
Ebenso legten Adorno und Hork-
Bücher zum Thema
heimer bei der Erklärung des Opferrituals die neuzeitlichen, säkularisierten Kategorien eines „do, ut
des“ an, die zwar für die bürgerliche, nicht aber für frühere Gesellschaft gelten würden; die Opferung
sei kein Tauschhandel mit den Göttern gewesen, wie Adorno und
Horkheimer meinten, sondern sei
geschehen, um den Mächten der
kosmischen Ordnung dazu zu verhelfen, die Ordnung der „kosmischen Gleichung“ (179) wiederherzustellen.
Bei allem Kenntnisreichtum in der
Detailkritik der ‘Dialektik der Aufklärung’ ist, wie schon gesagt, die
Grundlage der Arbeit Cochettis Kritik am Evolutionismus und, damit
verbunden,
am
europäischen
Ethnozentrismus, deren Ursprung
er schon in der Genesis des „Alten
Testaments“ sieht: die „stufenweise
vollbrachte Schöpfung Gottes müsse als eine Reihenfolge von Repliken
verstanden werden, die sich einem
einzigen Modell immer mehr annähern: Gott selbst“ (252). Diese
Kosmogonie sei das Urmodell des
Evolutionismus. Das geschichtliche
Resultat dieses Prozesses aber sei
nicht Gott, sondern, im Gegenteil,
der Totalitarismus der Vernunft, die
„Metaphysikwerdung der Aufklärung als Selbstüberhebung und Hypostasierung ihrer Leitidee der
Gleichheit“ (351). Die Aufklärung
schlage nicht nur (wie im Faschis-
mus) in einen „Mythos“ um, sondern die Vernunft selbst, indem sie
sich vom Mythischen trennt, vollende sich in den Systemen des Bolschewismus, Maoismus und PolPots. Nicht die Evolution, sondern
die fortschreitende Involution sei
das Charakteristikum unserer Zeit.
Adorno und Horkheimer seien – so
die Quintessenz seiner Kritik – auf
dem ‘linken Auge’ allzu blind gewesen. Sie hätten zwar den antiaufklärerischen Mythos des Faschismus
vor Augen gehabt, aber nicht hinreichend die Verwalter der Aufklärung selbst. Zwar radikalisiert Cochetti damit die Aufklärungskritik
über Adorno und Horkheimer hinaus; sie hängt bei ihm allerdings
weitgehend in der Luft. Warum gerade die Bauernrepublik in Kambodscha unter Pol Pot (und mit
Einschränkungen auch in Maos
China) die Vollendung einer Aufklärung sein soll, die mit dem Judentum ihren Anfang genommen habe,
wird nicht einmal im Ansatz plausibel gemacht. Allzuoft scheint da der
Antikommunismus die Hand des
Philosophen geführt zu haben.
Alexander v. Pechmann
Hans-Jürgen Heinrichs
Die katastrophale Moderne
Frankfurt/Main, Paris 1984 (Qumran-Verlag)
Bücher zum Thema
Es herrscht nicht nur Endzeitstimmung, es herrscht Endzeit. Das Rationale ist nur Deckmantel. „Verdeckt Magisches, Pseudo-Magisches“ bestimmen die Wirklichkeit.
Die Katastrophe ist irrational. „Der
Mensch“ steuert auf sie zu, „wir“.
An Aufklärung der Verhältnisse
glaubt Heinrichs nicht. Nicht klare
Machtverhältnisse und klare Interessen bestimmen den Weltlauf,
sondern Magisches. Die Oberfläche
steht für die Sache selbst. Für ihn
steckt Irrationales hinter dem
scheinbar Rationalen. Daß vielmehr
Rationales hinter dem scheinbar Irrationalen stecken könnte, daß es
eine Rationalität im Rahm en bestimmter Interessen geben könnte,
die nicht die unsren sind, leugnet er.
Es gibt keinen Unterschied zwischen den Veranstaltern der Katastrophe und den Teilnehmern; die
„Aufspaltung in Verantwortliche
und Nicht-Verantwortliche“ (97)
habe sogar verschleiernden Charakter! So gesehen bleibt Realität in der
Tat weder „lebensweltlich noch wissenschaftlich oder künstlerisch“ erfaßbar.
Bei aller Katastrophennähe gibt es
den Wunsch nach dem Fortbestand
der Welt. Für Heinrichs kristallisiert
er sich allerdings nicht in klaren
Gedanken zur Sache, in antizipierendem Handeln, in konkreten Utopien oder im Kampf um andre Verhältnisse – für ihn kann er nur noch
in „magischer Überhöhung – Opferungen,
Beschwörungen,
ritualisierter Hoffnung“ (21) artikuliert
werden. Ideologiekritik und Aufklärung reichten nicht mehr aus, den
„modernistischen Magismus“ zu
analysieren: „Unser Bewußtsein und
Alltagshandeln ist um so anfälliger
für (pseudo-) magische Handlungen
und Haltungen, je rationaler, pragmatischer und aufgeklärter wir uns
zeigen“ (102).
Auch das individuelle Aussteigen
scheitert an „zum Teil unaufgeklärten Abhängigkeiten“. Immerhin
werden Aussteiger im eignen Land
kurz lobend erwähnt, da so „ein
nicht unbeachtlicher Teil der Bevölkerung vor Asozialität und Kriminalität geschützt und für die Gesellschaft wieder ‘nützlich’ gemacht
werden kann“ (51). Heinrichs
schöpft keinen Verdacht, wenn z.B.
ein Berliner Sozialsenator die Übernahme unbequemer Arbeiten durch
Idealisten erfreulich findet. Ein
Ausstieg im eignen Land im Widerspruch gegen die herrschenden Interessen kommt dagegen nicht vor.
Auch die Reise als Vorform des
Aussteigens (Aussteigen auf Zeit,
vom „Neckermann-Reisenden“ bis
zum „Mytho-Touristen“) verfällt
ebenfalls der Kritik: Undurchschaut,
normiert.
Nach der Einstimmung in die Endzeit und der Diffamierung der Überlebensstrategien wendet Hein-
Bücher zum Thema
richs sich dem (deutschen) Alltag
zu: Sprachkritik und Alltagsfeldforschung. „Kulturanalyse ist immer
auch Textanalyse. Sie versucht, das
‘selbstgesponnene Bedeutungsgewebe’ des Menschen zu lesen“ (48).
An „Neusprache“ und „Mischterminologien“ werde deutlich, daß irgend etwas nicht stimmt in diesem
Land; das zeige auch die Fülle der
Fundsachen der Alltagsfeldforschung. Die Freude über das Material (Was es so alles gibt ...) übertrifft allerdings die kritische Wertung. Während Benjamin noch den
Anspruch hatte, „in der Analyse des
kleinen Einzelmoments den Kristall
des Totalgeschehens zu entdecken“,
ist hier mikroskopische Betrachtung
zur Mode geworden: irgend etwas
wird schon jeder Gegenstand sagen!
Die Schutzkleidung des Motorradfahrers wird zum magischen Gewand (115: „Das Aussehen der sich
so Schützenden soll, ihnen nicht
bewußt, zur Bannung des Unglücks
beitragen“ – vielleicht ist dann die
Vermummung von Demonstranten
gar kein Schutz gegen eine konkrete
Gefahr, sondern Ausdruck eines
mythischen Todesrituals?), der
Fahrradtacho der 50er Jahre wird
zum „Standard-Luxus“ der „Wieder-Besitzenden“ und Superman
füllt gar „die Leere im Bewußtsein
des seine Geschichte vergessenden
Subjekts“ (120). Irgendwas hat das
Ganze auch mit Freikörperkultur zu
tun (52), die erklärende Anmerkung
20 fehlt leider, so werden wir nicht
erfahren, was es ist.
Heinrichs beschreibt richtig das Erlebnisdefizit und die Methoden der
Ausgrenzung des „Heterogenen“,
die er mit Recht nennt und auch gut
beschreibt. Doch letzten Endes
deckt er die Phänomene der Alltagsmagie mit einer Fülle unscharfer
Begriffe aus dem Bereich des Irrationalen wieder zu: Ritual, Schicksal,
Magie, Pseudomagie (?), Mythos.
Begriffe wie Macht, Profit und Interesse tauchen dagegen nicht auf.
„Die Analysierung des mystischen,
sich selbst unklaren Bewußtseins“
(Marx) findet nicht statt.
Die Dinge werden „rationalistischirrationalistisch“ (99, was immer das
heißt – vielleicht soll das Dialektik
sein?), die Moderne wird „magischmythisch-technokratisch“ (101). Zuletzt gerät die Katastrophe selbst
zur Sinnstiftung: „In den Katastrophen überschreitet der moderne
Mensch seine homogene Welt auf
das Existentielle und Bedrohliche,
auf das Göttliche und Opfernde (?),
auf das Heil und Unheil hin“ (108).
Endzeit ist die „Sehnsucht nicht
mehr sein zu müssen“ (21), das
„Streben zum Tod“ ist allumfassend
(132). Trotz allem: „Schicksal und
Erlösung gibt es noch! Nur müssen
wir alle mitarbeiten an der Veränderung unserer Welt koste es, was es
wolle! Auch wenn sich die Verände-
Bücher zum Thema
rung schließlich nur als Beschleunigung des Scheiterns“ erweisen sollte
(133). Das hat etwas Tröstliches
und zudem werden die Produzenten
der Katastrophe „als Opferbringer
am ‚Tag danach’ selbst geopfert
werden“ (121). Alles klar?
P.S.: Das Buch ist mit 11 Abbildungen ausgestattet mit 7 Sinnsprüchen
(von der Hlg. Schrift bis Nietzsche)
abgesichert und z.Z. vergriffen.
Carl Freytag
Kurt Hübner
Die Wahrheit des Mythos.
München 1985 (Beck-Verlag), Leinen, 465 S., 48.- DM.
Was vor einem Jahrzehnt noch als
nahezu undenkbar schien, daß die
Wissenschaftstheorie sich positiv
dem Mythos zugewandt hätte, wird
seit der Verunsicherung über ihre
eigenen Grundlagen häufiger. Eine
der wichtigen Arbeiten in diesem
Rahmen ist das Buch des Kieler
Wissenschaftstheoretikers K. Hübner „Die Wahrheit des Mythos“.
Hübner setzt voraus, daß unsere
Kultur sich heute nicht mehr auf
der
Grundlage
jenes
Aufklärungsprogramms verstehen
läßt, das den Mythos durch die
wissenschaftliche
Erkenntnis
ablösen wollte, sondern daß ein
tiefer
und
grundsätzlicher
„Zwiespalt unserer Kultur“ herrsche. Dieser sei geprägt durch das
Neben- und Gegeneinander einer
wissenschaftlichen, vorwiegend ana-
lytischen, Rationalität einerseits und
einer, vor allem künstlerischen, Zuwendung zum All-Einen des Mythischen andererseits. Es hätten sich
zwei konkurrierende Formen von
Wahrheitsansprüchen geltend gemacht, die Hübner zum einen mit
Descartes, Newton und Einstein, zu
m anderen exemplarisch mit Hölderlin und mit der Wirkungsgeschichte der griechischen Mythologie identifiziert.
In ihr zeige sich das griechische
Denken als diesseitig, als ein Denken, das noch nicht die klare Unterscheidung zwischen Materie und
Geist, zwischen den rein materiellen
Naturgegenständen und ihnen als
beseelten und begeisteten numinosen Wesen vollzogen habe, wie später das Christentum und die
neuzeitliche Wissenschaft. Der
griechische Mythos schwanke zwischen der numinosen und der profanen Ebene; im einzelnen Getreidekorn war unmittelbar und ganz
die Göttin Demeter anwesend, die
physische Erde und die göttliche
Gaia waren ununterschieden. Die
Gegenstände – so Hübner – konnten daher nicht auf Begriffe gebracht werden. „Hier fungiert der
Name eines numinosen Wesens
oder Gottes wie ein Begriff“ (113).
Dennoch hatte der Mythos alle
Kennzeichen eines rationalen Erklärungsmodells. Er sei keine Ausgeburt wüster Phantasien gewesen,
Bücher zum Thema
sondern ein in sich geschlossenes
System der Erfahrung, das Mittel
zur systematischen Erklärung und
Ordnung bereit- und hergestellt habe. So stürmt im Mythos z.B. der
kalte Nordwind Boreas nicht des
Luftdruckausgleichs zwischen Hoch
und Tief wegen – wie die Wissenschaft sagt –, sondern weil der Gott
Poseidon tobt; und immer wenn
Poseidon tobt, stürmt’s. So bietet
also der Mythos ebenso ein Modell
der Deutung und Erklärung empirischer Phänomene an und steht damit mit der Wissenschaft zunächst
auf einer Stufe.
Befinden sich für Hübner also Mythos und Wissenschaft zwar als Rationalitätsmodelle auf einer Ebene,
so möchte er dennoch zeigen, daß
wir heute keine andere Wahl mehr
haben als die zur Wissenschaft. So
anregend und faszinierend uns die
Mythen auch oft erscheinen mögen
(und auch sollen), so gäbe es doch
keinen Auszug aus der wissenschaftlich-technischen Welt. Ja, er
zeigt von dieser Prämisse aus, daß
die Übernahme des Mythischen in
unsere Zeit diesen nur in politisch
gefährliche „Pseudo-Mythen“ verwandeln würde, die an verschüttete
Erfahrungsformen anknüpfen, sie
jedoch mißbrauchen. Vor diesen
Tendenzen will er warnen, gerade
indem er den Mythos in sein Recht
zu setzen versucht.
Das Buch bietet eine Fülle anregender Interpretationen und Deutungen aus der griechischen Mythologie
und aus der Gegenwart des Mythischen in Malerei und Musik, die den
Rationalitätsgehalt in ihnen aufdecken wollen. Es ist ein gelungener
Versuch, im Bereich der Wissenschaftstheorie und Philosophie zwischen Wissenschaft und Mythos zu
vermitteln, diesen nicht weiterhin
auszugrenzen, sondern sich neu anzueignen. Dieser Vermittlungsversuch gelingt Hübner allerdings nur
aufgrund der Relativierung der
„Wahrheit“, aufgrund seiner Einebnung und Leugnung des Unterschieds zwischen der objektiven
Wahrheit einerseits und bloß intersubjektiven Rationalitätsmodellen
andererseits.
Alexander v. Pechmann
Tamás Kürthy
Dornröschens zweites Erwachen.
Die Wirklichkeit in Mythen und
Märchen
Hamburg 1985 (Hoffmann und
Campe), broschiert, 207 S.
In seiner „Märchenkunde“ (10) versucht der Autor, Professor für
Grundlagen der Erziehungswissenschaft an der TH Aachen, sich den
Märchen sowohl von der wissenschaftlich reflektierenden wie von
der spontan erlebenden Seite zu nä-
Bücher zum Thema
hern. Es geht ihm darum, „ihre (der
Märchen, d.Verf.) Entstehung, Symbolik ihre Beziehung zu Träumen,
zu religiösen und weltanschaulichen
Richtungen und zur Realität (12) zu
verdeutlichen. Märchen enthalten,
so Kürthy, „ewige Wahrheiten“, die
über die ihnen inhärenten und sie
konstituierenden Symbole und ihre
Sprache vermittelt werden. Insofern
stellen Märchen ein Verbindungsglied zwischen konkreter Realität
und Magie dar.
Eine Kostprobe einer solchen „ewigen Wahrheit“ führt sogleich zum
Argumentationsmuster des Autors.
Aus der Feststellung, daß Märchen
normalerweise dem traditionellen
Rollenbild von Mann und Frau verpflichtet sind, schließt Kürthy: „Aber lebt nicht in jedem Mädchen
auch heute noch die Sehnsucht nach
einer eigenen Familie und im Mann
die nach Bewährung im Kampf?“
(93). Diese Sorte von rhetorischen
Fragen ist charakteristisch für
Kürthys Stil. Weder wissenschaftlich noch spontan erlebend, sondern
borniert blind bestätigt er gängige
Rollenklischees. Zu einer Analyse
fühlt sich der Autor nicht bemüßigt
– sein Geschäft sind Mutmaßungen
und Spekulationen. „Es hat den Anschein als näherten wir uns einer
neuen Zweiklassengesellschaft: ,der
Klasse der Aktiven und der der Passiven“ (97). Es hat den Anschein ...
es kann auch ganz anders sein: Die
Vieldeutigkeit des Sujets macht es
Kürthy leicht, sich in Beliebigkeiten
zu ergehen. Die überaus nichtssagende Einteilung der Menschen in
„Aktive“ und „Passive“ sieht der
Autor in den Figuren der Goldmarie und der Pechmarie als mythische
Vorbilder im Märchen der Frau
Holle eindeutig symbolisiert. Dem
entsprechend. entscheidet sich
„Glück und Unglück des einzelnen“
(101) daran, wie er sein ‘Schicksal’
zu nehmen weiß. Den Ursprung
von Märchen und Mythen sieht
Kürthy in dem Bedürfnis aller Menschen und Völker nach „Selbsterhöhung, ja nach Selbstüberhöhung“.
Daß diese Sehnsucht ganz ‘natürlich’ sein soll, ist wohl der Beitrag
Kürthys zur Rehabilitation des Mythos.
Die „Vernunft des Bildes“, die Vielschichtigkeit von Märchen werden
meistens behauptet, nicht bewiesen,
geschweige denn kritisch geprüft.
Das Anliegen Kürthys, Märchen
wieder stärker in die Pädagogik einzubeziehen, ist durchaus wünschenswert; seine affirmativen, unreflektierten Spekulationen sind jedoch keineswegs hilfreich.
Manuela Günter
Willi Oelmüller (Hg.)
Wiederkehr der Religion.
Religion und Philosophie Bd. 1
(Kolloquien zur Gegenwartsphilo-
Bücher zum Thema
sophie) Paderborn 1984 (Verlag
Schöningh)
Wahrheitsansprüche der Religionen heute. Religion und Philosophie Bd. 2 (Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie) Paderborn 1986
(Verlag Schöningh)
Zwanzig hochqualifizierte Herren,
Theologen und Philosophen wie
Robert Spaemann, Trutz Rendtorff,
Hermann Krings, und eine Frau,
Ruth Dölle-Oelmüller, haben sich
zusammengesetzt, um über das
Thema „Wiederkehr von Religion?“
zu beraten. Bereits bei der Themenstellung gehen die – ausführlich diskutierten – Schwierigkeiten los: Sind
Friedens- und Ökologiebewegung,
„New Age“ oder Jugendreligionen
Indizien für eine Renaissance des
Themas Religion? Oder zeigen sie
auf, daß es derzeit Impulse auf dem
Weg zur „neuen Unmittelbarkeit“
gibt, die nicht unter dem Begriff Religion zu fassen sind?
Bei der ersten Annäherung gelingen
Walter Ch. Zimmerli erstaunliche
Formulierungen: „Was wir erstaunlich finden, ist also eigentlich gar
nicht erstaunlich, sondern immer
schon so gewesen. Daß wir aber
derart Nicht-Erstaunliches trotzdem
erstaunlich finden, das ist das eigentlich Erstaunliche ...“ (15-16).
Nach langwierigen Diskussionen
über die Relationen von Mythos/Religion, Religion/Politik, Re-
ligion/Kirche, Katholizismus/Protestantismus, christliche Religionen/nichtchristliche Religionen ist
man sich einig, das Thema nicht erschöpfend behandelt zu haben.
Eine ähnliche Fragestellung in ähnlicher Besetzung behandelt der ebenfalls von Willi Oelmüller herausgegebene Sammelband „Wahrheitsansprüche der Religionen heute“.
Oelmüller: „Wie kann man heute ...
auf der gesellschaftlich-politischen
Ebene über Wahrheitsansprüche
der Religionen sprechen ohne Fanatismus, Intoleranz und Dogmatismus, aber auch ohne Unglaubwürdigkeit und Bedeutungslosigkeit?“
(2). Interessant erscheint mir Wolfhart Pannenbergs Diskussionsbeitrag „Die Wahrheit Gottes in der
Bibel und im christlichen Dogma“
(271-285), der aus dem Wahrheitsbegriff das Toleranzprinzip zu entwickeln versucht. Insgesamt wirkt
die Diskussion zerfahren, Thesenbildung und Argumentationsgang
sind nur schwer nachzuvollziehen.
Das Konzept der zwei Bände ließe
sich so beschreiben: Man nehme ein
Thema, eine Reihe brillanter Referenten, lasse sie zum Thema Arbeitspapiere entwerfen und sie über
die Papers diskutieren. Von der
Diskussion fertige m an autorisierte
Protokolle an und gebe alles mit einem Vorwort versehen in ein Buch
fertig. Akademische Selbstbeweih-
Bücher zum Thema
räucherung auf hohem Abstraktionsniveau?
Arthur Dittlmann
Olga Rinne (Hg.):
Der neue Entwurf der Welt. Ursprungsmythen Band 1, 167 S.
Der verlorene Himmel. Ursprungsmythen Band 2, 164 S.
Darmstadt/Neuwied 1985 (TB,
Sammlung Luchterhand 506/507),
je 12.80 DM.
Olga Rinne, ihres Zeichens Malerin,
erlegte sich mit ihren zwei Bänden
der Erzählung von Ursprungsmythen die Mühe auf, aus bereits veröffentlichten Sammlungen Geschichten und Mythen (vor allem
von Eskimos und Indianern) zur
Entstehung der Weltordnung (Bd.
1) und zu der menschlicher und gesellschaftlicher Ordnung (Bd. 2) neu
zusammenzustellen. Neben einigen
einleitend-zusammenfassenden Sätzen zu den einzelnen Aspekten, in
die diese neuerliche Anthologie gegliedert ist – beispielsweise der
„Entstehung des Wetters“ oder der
„Lehrzeit der Menschheit“ –, gibt
die Herausgeberin in den kurzen
Vorworten der beiden Bändchen
Auskunft über ihr Anliegen: „Es
geht darum, das in der Gesellschaft
Verdrängte, das Irrationale, Spielerische, Improvisierte, das was keinen
offensichtlichen Nutzen hat, das
Nicht-Zweckgerichtete, das Chaoti-
sche, Emotionale, Schöpferische
(die Sammlung ist nicht vollständig)
in unser Bewußtsein zurückzuholen,
das Denken in Zyklen dem des
permanenten
Fortschritts
und
Wachstums gegenüberzustellen, das
Denken in polaren Strukturen dem
dualistischen, das Aushalten von
Paradoxem und Widersprüchen
einzuüben“ (506,11), besonders
auch, da „die Moral, die sich in den
Mythen enthüllt, derjenigen widerspricht, die unsere Kultur zu verkünden gewöhnt ist“ (507,12). Für
solch ein Unternehmen, soll es denn
schon sein, hätte sich der Rezensent
einen weniger sachlichen Stil in der
Mythenerzählung gewünscht.
Wolfram Wenzel
Sonja Rüttner-Cova
Frau Holle – Die gestürzte Göttin. Märchen, Mythen, Matriarchat
Basel 1986 (Sphinx-Verlag), brosch.,
208 S., 29,80 DM.
Das vorliegende Buch hat sich zur
Aufgabe gemacht, Märchen psychologisch zu interpretieren. Die Autorin, Matriarchatsforscherin und Psychoanalytikerin in Zürich, versucht
vor allem am Märchen der Frau
Holle die „kollektive Menschheitsentwicklung“ (11) nachzuvollziehen.
„Wenn heute von Frauen die Geschichte aufgerollt wird, u m historische Geheimnisse, die verdrängt,
Bücher zum Thema
ausgeklammert oder falsch überliefert wurden, aufzuarbeiten, so läuft
hier auf kollektiver Ebene ein dem
psychoanalytischen Prozeß ähnlicher Akt ab“ (11). Rüttner-Cova
geht davon aus, daß alle Menschen
in ihrer frühen Kindheit eine seelische Entwicklungsstufe im Mutterumfeld durchlaufen, das sie als
„psychisches Matriarchat“ bezeichnet. Sie setzt kollektive Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen gegenüber Frauen- bzw.
Muttermacht im Patriarchat gleich
mit den Abwehrmechanismen der
einzelnen Individuen. Diese könnten im Volksmärchen aufgespürt
werden.
Auf der Suche nach dem „vorpatriarchalen Weltbild“ (11) führt die
Spur über die Märchenfrau Holle
zur germanischen Muttergottheit
Holla, die sich im wesentlichen
kaum von den großen Muttergottheiten. anderer Kulturkreise unterscheidet. „Ist die religiöse Vorstellung auf eine ganzheitliche Göttin
zentriert, so ist Alles – Geformtes
und Ungeformtes – die Göttin und
Teil der Göttin“ (81). Der Glaube
an diese vielfältige Ganzheit bedeutet endlos Zyklisches, mit der Natur
und dem Kosmos verbundenes Dasein.
Im Märchen, so die Autorin, könne
man aber nicht nur die matriarchalen Wurzeln der Menschheitsentwicklung wahrnehmen, sondern
auch den patriarchalen Zugriff, die
Überformungen und Verzerrungen.
Mit der Entmachtung der Großen
Göttin durch den patriarchalen
christlichen Vatergott korreliert die
paranoide Spaltung der Frau in Heilige und Hure, Maria und Hexe, sowie die totale gesellschaftliche Entrechtung und Degradierung zum
Anhängsel des Mannes. Nach Rüttner-Cova hat dieser Prozeß irrationale Rollenbilder fixiert, unter denen Frauen wie Männer leiden. Die
Emanzipation aus diesen Rollenfixierungen könne also nur stattfinden durch eine bewußte Auseinandersetzung mit den matriarchalen
Wurzeln.
So interessant und lehrreich die
Ausführungen über „Frau Holle –
die gestürzte Göttin“ auch sind, die
Problematik des Denkansatzes wird
schon in der Einleitung deutlich:
Rüttner-Cova begnügt sich nicht
damit zu informieren, Spuren aufzuzeigen, sie will therapieren – und
zwar einen Patienten, den sie „Gesellschaft“ nennt. Die Hybris vieler
Psychoanalytiker, die „Gesundung
der Menschheit“ und die Lösung
sogar globaler Probleme qua Psychotherapie zu vollbringen, hat leider auch von Sonja Rüttner-Cova
Besitz ergriffen.
Auch zur „Verwirklichung echter
Partnerschaft“ zwischen Mann und
Frau gehört nicht nur die Auseinandersetzung mit Vergangenem, son-
Bücher zum Thema
dern vor allem die bewußte Reflexion der gesellschaftlichen Realität.
Manuela Günter
Rolf Vogt
Psychoanalyse zwischen Mythos
und Aufklärung oder das Rätsel
der Sphinx, Frankfurt/Main 1986
(Qumran/Campus), 182 S., 17
Abb., 26.80 DM.
Zum Autor: Rolf Vogt arbeitet als
praktizierender Psychoanalytiker in
Heidelberg und hat den Lehrstuhl
für Psychologie der Universität
Bremen inne.
In seiner Studie geht es Vogt vor allem um die Klärung der Stellung der
Psychoanalyse zwischen Mythos
und Aufklärung und um ihr spezielles Verhältnis zum Mythos, da dieses trotz der zentralen Bedeutung
des Ödipusmythos bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist.
Die Abhandlung gliedert sich in drei
Abschnitte:
1. In der Auseinandersetzung mit
Nietzsche, Horkheimer und Adorno, Kolakowski und Blumenberg
bemüht sich Vogt um einen „übergreifenden erkenntniskritisch akzentuierten Begriff des Mythos“ (8).
2. Im zweiten Teil geht es dem Verfasser um eine psychoanalytische
Deutung des Sphinx-Rätsels, wobei
alle antiken griechischen Versionen
systematisch einbezogen werden.
Der Autor versteht das Rätsel der
Sphinx im doppelten Sinn: als das,
was sie aufgibt, und als das, was sie
ist.
3. Im letzten Teil wird die ÖdipusSphinx-Szene mit der Entstehungssituation der Psychoanalyse konfrontiert: Freud steht für Ödipus,
wird zu dessen mythischem Doppelgänger, während die Sphinx das
Unbewußte
repräsentiert.
Die
Grundlegung der Psychoanalyse
durch Freud sei so als Fortsetzung
des Ödipusmythos aufzufassen,
„wobei sich das schon den antiken
Versionen inhärente Aufklärungsmoment radikal nach der selbstreflexiven Seite hin entfaltet“ (9). Die
Psychoanalyse markiert auf diese
Weise die Übergangsstelle des Ödipusmythos in Aufklärung, indem sie
das Rätsel eben nicht mehr mythologisch, sondern rational zu lösen
versucht. Die Entdeckung des Unbewußten sieht Vogt deshalb als einen epochalen Schritt in der Geschichte des menschlichen Bewußtseins.
Durch die Berücksichtigung der in
der therapeutischen Praxis stattfindenden Gegenübertragung im Reflexionskontext des Analytikers erfolgte historisch jedoch gleichzeitig
auch „ein Rückzug von den kulturkritischen Aspekten der Freudschen
Psychologie“ (9). Die klinische Ausrichtung zeigte zunehmend eine
Abwehrhaltung gegenüber psychoanalytischer Kulturtheorie. Damit
Bücher zum Thema
fiel der kritische Rahmen für eine
Reflexion der Folgen der psychoanalytischen
Institutionalisierung
weg, die zwar einerseits zur Selbsterhaltung notwendig war, andererseits historisch überholbare Formen
und Inhalte hypostasierte und dogmatisierte. Damit zerstörte sie ihren
aufklärerischen Impuls. „An die
Stelle von reflektierten Verhältnissen
treten
undurchschaubare
Machtstrukturen“ (9). Aufklärung
schlägt um in Mythologie. „Die institutionalisierte Psychoanalyse wird
allmählich und lautlos wieder zur
Sphinx: undurchschaubar, untangierbar, kritisches Bewußtsein und
Emanzipation verschlingend“ (I54).
Einen Ausweg aus dieser Misere, in
der Analytiker trotz besseren Wissens an überholten Paradigmen
festhalten, sieht Vogt einzig und allein darin, „die Psychoanalyse in ihrer ungeschmälerten Breite wieder
zum Thema der Psychoanalytiker zu
machen“ (154), d.h. ihren Sphinxcharakter zu reflektieren und damit
möglicherweise zu durchbrechen.
Aufklärung muß wieder als mühevoller Prozeß betrachtet werden,
der nicht durch die Pionierarbeit eines einzelnen (in diesem Falle
Freuds) beendet ist. Nur so kann
Versuchen begegnet werden, mit
der Kritik an der Rationalität einer
Rehabilitation des Mythos den Weg
zu ebnen.
Manuela Günter
Raimondo Panikkar
Rückkehr zum Mythos.
aus dem Englischen von B. Bäumer
Frankfurt 1985 (Insel-Verlag), geb.,
251 S., DM 38.- DM.
Mythen sind für Panikkar Ausdruck
der menschlichen Grundbefindlichkeit. Mythos und Logos stellen zwei,
nicht aufeinander reduzierbare Weisen des Bewußtseins dar, d.h. insbesondere, Mythos kann nicht aufgeklärt, nicht in Erkenntnis aufgelöst
werden. Er entstammt einer „tieferen und daher universaleren Schicht
des Menschseins (125) als Denken
und Philosophie, bezeichnet einen
„letzten Bezugspunkt“ (126) des
Menschen. In den beiden indischen
Mythen von Prajàpati und Sunah’sepa, deren Interpretation der
Hauptteil des Werks gewidmet ist,
sieht Panikkar die „unveränderlichen Größen der menschlichen Existenz“ (200) vollkommen ausgesprochen: die Kommunikation des
Menschen mit Gott, die Anwesenheit des Todes, die Solidarität, d.h.
Verbundenheit allen Lebens, das
transzendentale Verlangen des Menschen.
Rückkehr zum Mythos heißt daher
Rückkehr des Menschen zu seinem
Menschsein, Metanoia, Rückbesinnung, „Umkehr des Herzens und
des Geistes“ (9). Auf sie gründet
Bücher zum Thema
Panikkar die Hoffnung auf die Lösung aller politischen und sozialen
Probleme der Gegenwart, auf das
Überleben der Menschheit. Rückkehr zum Mythos heißt insbesondere Rückkehr zur Toleranz, zur Moral und zur Freiheit.
Toleranz steht dabei im Gegensatz
zur Ideologie, dem „entmythologisierten Teil der eigenen Weltsicht“
[16), die nur das toleriert, was sie
nicht ausrotten kann. Wirkliche Toleranz kann nur dem Mythos entspringen, dem Glauben nämlich,
daß keine soziale Gruppe „die
Ganzheit der menschlichen Erfahrungen umfaßt“ und dem „Vertrauen in den anderen, selbst wenn ich
ihn nicht verstehe“ (131). Der Mythos ist die Grundlage für den Dialog zwischen den Kulturen, die
„dialektische Methode“ hingegen
nur eine „Form des kulturellen
Kolonialismus, der davon ausgeht,
daß eine einzige Kultur die
Spielregeln
für
eine
echte
Begegnung
der
Kulturen
formulieren
Moral
steht für
kann“
Panikkar
(132). im Gegensatz zur Reflexion, zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung des Individuums. Sokrates ist nicht der
Begründer, sondern der Zerstörer
der wahren Moral. Er hat durch sein
Fragen, durch den Versuch, die Sitte
unter den Zwang vernünftiger
Rechtfertigung zu stellen, den Mythos zerstört und die Moral zu einer
„pragmatischen Regelung ·der Ko-
existenz“ [53) herabgewürdigt. Die
Reflexion ist unfähig, zu begründen,
was sein soll. Dazu bedarf die Moral
des Mythos und mit ihm der docta
ignorantia, des Glaubens.
Freiheit steht im Gegensatz zur Geschichte. Der Mythos eröffnet eine
„übergeschichtliche
Gegenwart“
(226). Er befreit uns nicht nur „von
der Bürde, alles ausdenken und
durchdenken zu müssen“ (11), sondern überhaupt vom Kampf um eine bessere Zukunft. Menschliche
Freiheit hat keine geschichtlichen
Voraussetzungen. Sie ist keine Freiheit der Wahl, sondern eine Freiheit
des Seins, die auf der Anerkennung
der ewig gleichen Grundbefindlichkeit des Menschen beruht. Sie ist
möglich im Hier und Jetzt, in der
„tempiternen Gegenwart“ (226).
Konrad Lotter
Peter Engelmann (Hg.)
Edition Passagen
Graz/Wien (Böhlau-Verlag)
Seit geraumer Zeit unterhält der österreichische Böhlau-Verlag eine
Reihe, die Beachtung verdient: Edition Passagen. Wie der Name bereits andeutet – „rites de passage“ –
geht es ihr um die Publikation von
Texten der philosophischen Grenzüberschreitung. Diese artikuliert
sich am deutlichsten in den Arbeiten der zeitgenössischen französi-
Bücher zum Thema
schen Theoretiker. Im Zentrum ihrer Denkbemühungen steht „die
Differenz“. Ihrer Hervorhebung ist
auch die Edition verpflichtet. Sie
hat sich darum die Aufgabe gegeben, nichtübersetzte oder seit Jahren vergriffene Titel für den
deutschsprachigen Leser zugänglich
zu machen. Dabei wendet sie sich,
nach eigenem Bekunden, an ein über Fachphilosophen hinausgehendes Publikum. Was nur konsequent
ist, will doch postmodernes Denken
den Gegensatz von Spezialist/Laie
überwinden. Dazu gehört auch das
Experimentieren
mit
nichtdiskursiven Formen der theoretischen Auseinandersetzung. In der
Edition findet das seinen Niederschlag im Photoroman J. Derridas
„Recht auf Einsicht“, mit dem die
Reihe begann. Lobenswert erscheint
mir auch die Wiederauflage des für
das Verständnis der postmodernen
Philosophie wichtigen Essays „Das
postmoderne Wissen“ von F. Lyotard. Aber auch weniger prominente
Autoren haben in der Edition Passagen ein Forum, so der italienische
Ästhetiker G. Vattimo.
Skeptisch stimmt mich hingegen
die, zumindest im Verlagsprospekt,
untergründig vorhandene Avantgardepose. Denn ob die Rezeption der
gegenwärtigen französischen Philosophie dadurch gehemmt wird,
„daß ... im Gefolge der Studentenbewegung ... fest etablierte kritische
Theoretiker ihr Kritik-Monopol gefährdet sehen“ und darum ihren
zensierenden Einfluß geltend machen, „bis in wichtige Verlage“ hinein, ist schlichtweg falsch. Man vergleiche dazu die gültigen Verlagsprogramme z.B. von Suhrkamp
oder Luchterhand. In derartigen
Fehleinschätzungen zeichnet sich
ein entscheidender und kritikabler
Zug der postmodernen Philosophie
ab. Eine fruchtbare Auseinandersetzung verhindert sie allemal.
Positiv zu erwähnen ist hingegen die
Ausstattung der Bücher selbst. Sie
sind gut gebunden (hardcover) und
leserfreundlich gesetzt. Darüber
hinaus bemüht sich der Verlag um
ein besseres Papier als in paperbackReihen üblich. Etwas, was zumindest bei mir die Lesefreude erhöht.
Der Preis von ca. 25.- DM pro Titel
ist darum nicht zu hoch gegriffen.
Insgesamt bietet die Edition Passagen eine gute Gelegenheit, sich mit
den postmodernen Theorieansätzen
bekannt zu machen. Die Fortführung der Reihe und eine weitere
Verbreitung ist wünschenswert.
Thomas Wimmer
Renate Jäckle
Gegen den Mythos. Ganzheitliche
Medizin
Hamburg 1985 (Konkret Literatur
Verlag), brosch., 184 S.
Bücher zum Thema
Wer der Ganzheitlichkeit des Menschen das Wort redet, muß dies
noch lange nicht aus einem grün/
alternativ geprägten Bewußtsein
heraus tun. Zunehmend reden konservative Politiker von einem ganzheitlichen Menschenbild; kann die
grün/alternative Szene es sich als
Erfolg anrechnen, ihre Argumente
in die konservativsten Köpfe hineingeklopft zu haben, wie es Ellis E.
Huber, Mitautorin von „Gesund
Sein 2000“, behauptet?
Renate Jäckle ist Ärztin und Wissenschaftsjournalistin und als Mitglied der „Internationalen Vereinigung der Ärzte e en den Atomkrieg“ Mitträgerin des Friedensnobelpreises; sie geht in ihrem
Buch zuerst auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse ein in denen das Gesundheitswesen zu funktionieren hat. Denn die Gesundheit
des Menschen muß in dieser Gesellschaft nach denselben Kriterien
funktionieren „wie alles in dieser
Gesellschaft, das heißt nach den
Maßstäben von Wirtschaftlichkeit
und Leistungsfähigkeit. Deshalb vor
allem wird der kranke Mensch als
‘Magen’, ‘Blinddarm’ oder ‘Herzinfarkt’ behandelt – mit der Absicht,
die ‘Maschine’ schnell wieder herzustellen“ (61). Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen ist es
durchaus verständlich, wenn sich
die Menschen nach einem Leben
sehnen, das alle Seiten und Ent-
wicklungsmöglichkeiten des Menschen mit einbezieht.
Betrachtet man jedoch die verschiedenen Konzepte und Entwürfe einer ganzheitlichen Medizin, dann
stellt sich bald heraus, daß es so
ganzheitlich mit der Ganzheitlichkeit des Menschen nicht gemeint ist:
bestenfalls ist diese Ganzheitlichkeit
unter eines ihrer Teile subsumiert,
meistens ist sie jedoch fremden Interessen und Ideologien unterstellt.
Jenes geschieht etwa wenn die Naturseite des Menschen betont, und
die Krankheit als Resultat des gestörten Verhältnisses des Menschen
zur Natur definiert wird: eine ökologische Lebensweise als Generaltherapie aller Mitglieder dieser
Gesellschaft. Dieses geschieht dann,
wenn über die Ganzheitlichkeit des
Menschen und über die Verantwortung des Menschen für seine Lebensweise diesem die Schuld an seiner Krankheit zugeschoben wird,
um dann in einem weiteren Schritt
ihm auch die Kosten seiner Krankheit aufzubürden: die Ganzheitlichkeit als Vorwand für Sozialabbau.
Renate Jäckle behandelt in dem
zweiten Teil des Buches die einzelnen Ansätze der ganzheitlichen Medizin und zeigt, daß bei fast allen
Varianten die gesellschaftlichen
Voraussetzungen von Gesund- und
Kranksein ignoriert werden. So
kommen etwa bei Peter und Eva
Massoth kranke Menschen, Behin-
Bücher zum Thema
derte und Alte gar nicht vor. Der
Öko-Knigge von Rainer Grieshammer suggeriert, daß das Ausschalten von krankheitsauslösenden
Risikofaktoren in der Verfügungsgewalt des einzelnen Individuums
stehe. Bei manchen Ansätzen kann
Jäckle faschistoides Gedankengut
nachweisen, etwa bei Karl Kötschau
(Leistungsfähigkeit oder natürliche
Ausmerze) und auch Verbindungen
zur alten und neuen Nazi-Szene zeigen, etwa bei M.O. Bruker.
Trat die ganzheitliche Medizin in
den siebziger Jahren noch mit einem gesellschaftskritischen Impetus
auf (Krankheit sollte nicht weiter als
reine Privatangelegenheit des einzelnen zu verstehen sein, sondern
müsse im Zusammenhang mit der
gesellschaftlichen Realität gesehen
werden, in der der Mensch krank
wird), so hat man heute „den Eindruck, als ob die Ganzheit immer
weiter zusammenschrumpft, daß
vor allem soziale und gesellschaftliche Faktoren unter den Tisch fallen.
Andererseits aber scheint sich der
Begriff ‘Ganzheit’ immer weiter
auszudehnen – Mutter Natur, alte
Mythen, das Individuum und der
Kosmos, alles hängt irgendwie mit allem zusammen.“
Sieht man von einigen Redundanzen ab, die bei einer sorgfältigeren
Durchsicht leicht hätten vermieden
werden können, dann kann man
Jäckles Buch in die gute Tradition
der Aufklärung einreihen. Es ist daher nicht ganz einzusehen, wenn
Jäckle in ihrem „altmodisch klingenden Schlußwort“ doch etwas
Resignation aufkommen läßt. „In
einer unbarmherzigen Gesellschaft
läßt sich ‘ganzheitliche’ Alternativmedizin allenfalls in Nischen betreiben. Wer eine andere, bessere Medizin für viele Menschen will, der
muß versuchen ... die Gesellschaft
zu verändern. ... Hier muß angesetzt
werden, aber das klingt in all den
vernetzten Zusammenhängen vom
Individuum bis zu m Kosmos ziemlich altmodisch“ (172).
Martin Schraven
Bruno Liebrucks
Irrationaler Logos und rationaler
Mythos.
Würzburg 1982 (Verlag Königshausen und Neumann)
In den Band sind zwölf Texte aufgenommen, die im Zusammenhang
mit einigen Kernthesen aus Liebrucks’ sprachphilosophisch motivierten Untersuchungen (Sprache
und Bewußtsein, 9 Bde.) zu lesen
sind. Diese Thesen, im Vorwort zur
Textsammlung kurz referiert, bestimmen den terminologischen Rahmen der Texte mit; auf sie geht der
Satz von der ‘Irrationalität des Logos’ und der ‘Rationalität des Mythos’ zurück.
Bücher zum Thema
Für Liebrucks ist mit sprachlichen
Äußerungen (Rede; Logos) je schon
eine ‘Erkenntnisrelation’ gesetzt, jedoch nicht erst im Sinne eines Verhältnisses von ‘Begriff und Gegenstand’. Liebrucks setzt daher vor einer semiotischen Unterscheidung
zwischen Zeichenträger und Zeichenbedeutung an. Mit der „hyletischen“ Seite von Sprache, mit ihrer
‘materialen’ Präsenz sind für Liebrucks schon ‘ontologische Implikate’ mitgegeben, die nicht in Wahrheitsbegriffen aufgehen („überzeichenmäßiger Charakter“ der Sprache; „Realidealität“, 8). Das ‘Wort
als Gegenstand’ ist erkenntnistheoretischen Begründungszusammenhängen entzogen. Dies Begründungsdefizit lenkt Liebrucks’ Blick
auf eine ‘Irrationalität’ des Logos.
Perspektivisch sieht Liebrucks zwei
miteinander
zusammenhängende
Auswege. Einen Ausweg sieht er in
der Freilegung einer sprachphilosophischen Relevanz von Hegels
„Wissenschaft der Logik“; einen
zweiten in einer Vergewisserung
über Strukturen einer mythischen
Sprachverwendung, in welcher das
besagte ‘Irrationalitätsproblem’ des
Logos nicht gegeben sei. Aus Liebrucks’ Sicht ist in Hegels „Wissenschaft der Logik“ im Kern eine
„Logik von der Sprache her“ angelegt (12). Dies, weil Hegels Begriff
des „Begriffs“ zwar methodisch
durch Subjekt-Objekt-Auffassungen
hindurch entwickelt ist, letztlich aber (gerade deshalb) den Blick auf
den Logos als selbsttragendes „Ereignis“ (311) freisetzt. Hegels Logik
kommt daher für Liebrucks (indirekt) einer „hyletischen“ Präsenz
des ‘Logos’ entgegen (vgl. 77 ff.:
Drei Revolutionen der Denkart).
Diese eher assoziative Lesart soll
hier nicht weiter befragt werden.
Was würde aber eine solche Logik
leisten im Blick auf das ‘Irrationalitätsproblem’ des Logos, das selbst
mit Sprachverwendung, auch der
der Theorie, verbunden ist? Wenn
die Hegelsche Logik, als „Logik von
der Sprache her“ interpretiert, nicht
mehr leistet, als eine Einsicht in den
‘Begriff als Ereignis’ zu vermitteln,
bleibt sie dennoch auf das angewiesen, was den Logos ‘irrational’
macht, nämlich gesprochen bzw.
geschrieben
zu
sein.
Die
sprachphilosophisch interpretierte
Hegelsche Logik kann nicht als
Ausweg angesehen werden solange
nicht die Vorstellung eines ‘rationalen Logos’ eine Rolle spielt. Eine
solche Vorstellung führt Liebrucks
ein, indem er ‘Rede’ und ‘LogosTheorie’ äquivok verwendet und
letztere als ‘rationale Rede’ versteht.
Hegels ‘Einsicht’ in die ‘Ereignishaftigkeit’ des Begriffs steht in ‘rationaler
Rede’,
zumindest
perspektivisch.
Mit
Reflexionsmitteln nähert sie sich einer
mythischen Sprachverwendung an
(vgl. 335 f.). Dieser kommt „Unmit-
Bücher zum Thema
telbarkeit“ zu, interpretiert nach der
Vorstellung einer Koinzidenz von
Äußerung und Bedeutung. Liebrucks faßt die Sprache der Mythen
unter dem Aspekt des Rituellen auf
(authentischer Ausdruck einer ‘Zeugenschaft’ „von der Herrlichkeit
und Größe der Götter“, 316). Wie
eine „Logik von der Sprache her“
ist der Mythos „rational“, weil die
Beschäftigung
mit
mythischer
Sprachverwendung Einsichten in
die ‘Irrationalität des Logos’ vermittelt und weil in mythischer Sprachverwendung nicht das Problem auftritt, mit dem Gesagten nichteinholbare Erkenntnisrelationen zu setzen
(Mythos als ‘rationaler Logos’). Eine
mythische
Sprachverwendung
(‚mythische Rede über den Mythos’,
316) ist für Liebrucks nur rückblickend erahnbar, aber auch literarisch konzipiert in Grundzügen erfahrbar, an Hölderlins Sprache (vgl.
183 ff.; vgl. 221 ff.).
Die hier versuchte Darstellung ist
knapp. Von den hervorgehobenen
Gedanken her gestattet sie jedoch
noch einige Bemerkungen. Da die
‘Irrationalität des Logos’ definitorisch an ein elementares Merkmal
von Sprache gebunden wird, bleibt
die Vorstellung eines ‘rationalen’
Gegenstückes ohne Sinn. Eine mythische Sprachverwendung, Hölderlins Lyrik sowie der Text einer „Logik von der Sprache her“, kann unter dem leitenden Sprachbegriff
entweder nicht als ‘Sprache’ aufgefaßt werden oder nicht als ‘rational’.
Wenn – terminologisch anders gewendet – die Prädikate ‘rational’
und ‘irrational’ auf Logos-Theorien
bezogen werden, ist unter einer ‘rationalen’ Theorie eine Theorie zu
verstehen, die sich entweder in einem unentrinnbaren Zirkel bewegt,
oder aber über einen ‘rationalen Logos’ verfügen muß, was eben im
Feld der leitenden Sprachauffassung
keinen Sinn ergibt. Bei Lesern, die
in Liebrucks’ Gedanken Ansätze zu
einer radikalen sprachphilosophischen Skepsis sehen, muß Liebrucks’ Mythosauffassung den Eindruck eines leichtfertigen Ausstiegs
aus einem ernst zu nehmenden
Problem erzeugen. Leser, die an einer ‘sprachphilosophischen’ Mythostheorie interessiert sind, können
Liebrucks zu Recht eine sprachmystische Überfrachtung von Mythen
vorwerfen, abgesehen von ihrer
Funktionalisierung als Problemlösungs- und Sinnstiftungsinstrument
(vgl. 14 f.). Es spielen hierbei zwei
Seiten ein und derselben Verlegenheit eine Rolle.
Ignaz Knips
Genevieve Lloyd
Das Patriarchat der Vernunft.
„Männlich“ und „weiblich“ in der
westlichen Philosophie
Bielefeld 1985 (Daedalus-Verlag)
Bücher zum Thema
Daß Arthur Schopenhauer ein notorischer Frauenhasser war, ist bekannt und historisch belegbar; – daß
aber bereits die Lehren eines Platon
und Aristoteles und mit ihnen die
gesamte abendländische Philosophietradition den Geschlechterantagonismus widerspiegeln, scheint zunächst doch recht weit hergeholt.
Eben diesen Zusammenhang versucht indessen Genevieve Lloyd,
Professorin für Philosophie an der
Australian National University, in
ihrer Studie über „Das Patriarchat
der Vernunft“ in einem mit weit
ausholenden Schritten durchgeführten Gang durch die Philosophiegeschichte nachzuweisen. Es geht
Lloyd nicht darum, eine „eigene
Wahrheit“ der Frauen zu postulieren, sondern sie will vielmehr die
abendländischen Vernunftideale als
wesentlich männliche entlarven, die
„historisch schon immer einen
Ausschluß des Weiblichen verkörpert haben“ und die Weiblichkeit
selbst durch solche Ausschlüsse erst
konstituierten.
Bereits die klassisch-griechische
Philosophie (Platon, Aristoteles) sah
in der Vernunfterkenntnis ein Erfassen der Form eines Gegenstandes, das durch das Überwinden des
unstrukturierten, zufälligen Stoffes
zu erreichen sei, welcher über ältere
orphische und pythagoräische Vorstellungen mit dem Weiblichen as-
soziiert wurde. – Christliche Philosophen des Mittelalters (Augustinus,
Thomas) konkretisierten dies, indem sie zwar beiden Geschlechtern
einen Anteil an der Vernunft zuwiesen, jedoch gleichzeitig in der Leiblichkeit der Frau, vor allem aufgrund
ihrer
„Funktion“
im
Fortpflanzungsprozeß, einen Ausdruck des Minderen der Vernunft
erblickten. – Obwohl mit Descartes
eine gewisse Demokratisierung der
Vernunft einsetzte – sie galt nunmehr als für jedermann erlernbar –,
blieb durch die Bildungsschranken
den Frauen der Zugang zu ihr dennoch weiterhin verwehrt. – Schließlich lieferte Rousseau, indem er die
Gegenüberstellung von Vernunft
und Natur wieder auszugleichen
suchte und die Vernunft auf die Natur fundierte, die Voraussetzung für
Hegels Systematisierung des Geistes, in der dem weiblich-familiären
ein männlich-öffentlicher Bereich
entspricht, und sich beide derart
bedingen, daß das Männliche aus
dem Weiblichen erwächst, das
Weibliche aber seine Wirklichkeit
erst in der Überwindung durch das
Männliche findet. In dieser Konzeption sieht die Autorin eine gewisse
Vollendung der männlichen Vernunftphilosophie, die auch in der
Weiterentwicklung durch Sartre und
Simone de Beauvoir, auf die Lloyd
abschließend zu sprechen kommt,
Bücher zum Thema
keine wesentlichen Veränderungen
mehr erfährt.
Innerhalb dieses Vernunftsystems
hält Lloyd eine Befreiung der Frau
für unmöglich –: weder durch ein
Überschreiten ihres eigenen Bereichs hin zum männlichen noch
durch ein Insistieren auf ihm. Außer
der Forderung nach Absetzung des
Männlichen als Norm, an dem sich
das Weibliche zu orientieren habe,
und nach einer Gleichbewertung
beider zeigt die Verfasserin keine
Perspektiven für die Frauen auf.
Man könnte einwenden, dies sei in
einer historischen Studie entbehrlich, und hätte wahrscheinlich auch
Recht, wenn diese Perspektivlosigkeit nicht auf einen tieferen Mangel
in Lloyds Arbeit hinweisen würde.
Denn obwohl sie die Zusammenhänge zwischen den philosophischen Konzepten und der gesellschaftlichen Lage der Frauen durchaus nicht leugnet und bei Descartes
sogar explizit mit einbezieht, werden sie der gesamten Arbeit nicht
zugrunde gelegt. Und dies wirkt sich
nicht nur auf die Darlegungen zur
griechischen und mittelalterlichen
Philosophie aus, sondern es führt
dann auch zu einer merkwürdigen
Ambivalenz der Philosophin ihrem
eignen Fach gegenüber.
Günter Butzer
Winfried Menninghaus
Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos
Frankfurt am Main 1986 (edition
suhrkamp, Bd. 349)
Menninghaus sieht seine Arbeit über Benjamins Mythosdenken als
‘Extrapolation’ von Merkmalen eines Mythosverständnisses, das keinen einsinnigen Mythosbegriff zuläßt. Benjamins Mythosdenken
weist eine ambivalente Stellung zu
‘Mythischem’ auf: Wegen ihrer entschiedenen Natureinbindung von
Handlungsmöglichkeiten und mangelnden Hinterfragbarkeit und ‘Verstehbarkeit’ vor Ort sieht Benjamin
in den mythischen Weltbildern
Herrschafts- und Gewaltpotentiale
angelegt. Eine Kritik kann für Benjamin andererseits auch nicht auf
ein aufklärerisches Rationalitätsverständnis setzen; denn dieses könnte
der ‘Allmacht’ mythischen Schicksals nur eine Totalität von Naturbeherrschung entgegensetzen. Benjamin sieht gerade in einem Sicheinlassen auf die Bedeutungsform von
„Mythen“, auf die Verschränkungen
und Aufhebungsverhältnisse von
Ästhetischem, Anschauung und
Begriff, eine folgenreiche Gegenstellung zum „Mythos“ als unangetasteter Weltbildorientierung (s. bes.
110 f.). „Mythen“, ein Umgang mit
„flüchtigen Mythologemen“, werden gegen ‘das Mythische’ gewendet. Ein „neuer Mythos“ der Mo-
Bücher zum Thema
derne, präsent in der AusdrucksKultur des Fin de siecle, soll so mit
seinen Mitteln durchsichtig gemacht
werden. Die Adaption des Verfahrens der Kritik an die Bedeutungsform von Mythen ist hierbei nicht
einfach in den Dienst einer Gewinnung von angemessenen Analysemitteln gestellt. Das Verfahren
schwankt zwischen Recherche und
Konstitution. Die Kritik fungiert
mit als ‘Produzent’ von Ausdrucksqualitäten der Zeichen des „neuen
Mythos“, die im weiteren Gang der
Theorie bestimmend sind.
Bei unterschiedlicher Akzentuierung
in Früh- und Spätwerk schließt das
„Motiv der Sprengung mythischer
Formen“ das ihrer „Rettung“ ein
(52 f.). Was sich in Benjamins Mythosdenken durchhält, ist eine „‘Dialektik’ von Sprengung und Rettung
des Mythos“ (21). Menninghaus arbeitet dies zunächst anhand von
„Kontrastbestimmungen“
heraus
(10 ff.). Benjamins Mythosdenken
kann abgegrenzt werden gegen eine
„pseudo-romantische Affirmation
des Mythischen“, aber auch gegen
aufklärerische Verdikte, wobei eine
„Topik aufklärerischer Argumentation“ beibehalten wird (19). Der besagte Grundzug wird in einer ausführlicheren Textsichtung belegt am
fragmentarisch gebliebenen „Passagenwerk“ (Ges. Schr., Bd. V), an
Benjamins Sprachtheorie und literaturtheoretischen Arbeiten. Das
„Passagenwerk“ und die Schriften
aus dem Umfeld des „Passagenwerks“ sind hierbei für Menninghaus in mehrfacher Hinsicht interessant („Raum des Mythos,
Schwellenkunde“, 26-58). In der
„Passage“ sieht Benjamin „die wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts“ (Ges. Schr., Bd. V, 1002).
Der Zwischenbereich zwischen öffentlichem und privatem Lebensraum (Warenhaus/ Wohnraum)
wird zum Anhaltspunkt der „Topographie“ eines „mythischen Traditionsraums“ (a.a.O., 134), der gerade
die Voraussetzungen jener Warenkultur verdeckt. „Die Passage“ wird
zum Schlüsselbegriff für „Übergangsriten“ im modernen Großstadtleben. Benjamins „Schwellenkunde“ (a.a.O., 147) läßt sich im
Sinne des oben angesprochenen
Verfahrens der Kritik selber auf diese ‘Riten’ ein. ‘Übergänge’, ‘Grenzen’ prägen motivisch und stilistisch
die Passagen-Arbeiten. Daß in Benjamins Schriften überhaupt „Gestalten des Zwischen“ eine besondere
Rolle spielen, rechtfertigt für Menninghaus, Benjamins Gesamtwerk
als „Schwellenkunde“ zu lesen und
als „Passage des Mythos“.
Daß man die Vorrangstellung eines
Mythosdenkens und mythisierenden
Denkens am Werk buchstäblich
‘entdecken’ könne (8), wird wohl
kaum auf eine erwartete Zustimmung stoßen. Zu einer Interpretati-
Bücher zum Thema
onsthese präzisiert, könnte hierunter folgendes verstanden werden:
Die Anleihen bei ‘mythischem’
Denken in Benjamins Mythosinterpretation gehen auf ein allgemeineres Programm der Kritik zurück,
das selber ‘mythische’ Züge trägt
oder primär in Auseinandersetzung
mit ‘Mythen’ gewonnen und durchgeführt wird. Was Menninghaus als
„Gestalten des Zwischen“ bezeichnet, hat zu tun mit Benjamins Programm der ‘Freilegung’ verdeckter
Traditionen in geschichtsphilosophischer Absicht. Im Verfahren
spielt eine Ambivalenz der Begriffe
eine Rolle, die mit den ‘freizulegenden’ Traditionen zusammenhängen,
bzw. über die die Traditionen interpretiert werden. Eine ‘mythische
Tradition’ ist einer der Gegenstände
Benjaminschen Denkens, das Verfahren findet eine Anwendung unter
anderen Anwendungen. Gewiß setzt
die Rede von der „Passage des Mythos“ auf den Bedeutungsspielraum
des Passagen-Begriffs. Aber selbst
als oberflächliche Hommage an
Benjaminsche Pointen gelesen,
transportiert sie eine fragwürdige
Interpretationsthese. Dies belastet
jedoch weniger den Anspruch der
Arbeit, über eine konzentrierte
Textsichtung in Benjamins Mythosverständnis einzuführen und es auf
eine weiter gefaßte Mythosdiskussion beziehbar zu machen. Hervorzuheben sind die „Kontrastbestim-
mungen“ (10 ff.) und die vergleichenden Überlegungen zu M. Eliades „Kosmos und Geschichte“ (99
ff.).
Ignaz Knips
Edition Discord
Die Zukunft der Vernunft. Eine
Auseinandersetzung
Tübingen 1985 (Konkursbuchverlag)
In der heutigen Auseinandersetzung
um „Kritische Theorie“ und „Vernunftkritik“ ist das vorgelegte Unternehmen, „Diskurs“ als Programm wirklich werden zu lassen
und eben über diese Diskursethik
zu sprechen, begrüßenswert. Der
Band stellt die Protokolle dreier
Diskussionsrunden vom März 1985
vor, in denen Befürworter und
Gegner der „Theorie des kommunikativen Handelns“ versuchen zu
praktizieren, was Jürgen Habermas
theoretisch fordert: Diskurs konkret. Um es gleich zu sagen, wer ein
Nachschlagewerk oder eine gelehrte
Abhandlung über das Thema „Vernunft“ erwartet, wird von dem rund
150 Seiten umfassenden Buch enttäuscht sein. Doch diese Erwartungen zu erfüllen kann auch nicht Ziel
einer Diskussionsrunde sein. Der
Wert der Darstellung liegt in ihr
selbst.
Da der Diskurs sich um sich selbst
dreht, also sowohl Inhalt als auch
Bücher zum Thema
Methode abgibt, vollzieht sich die
Diskussion auch auf zwei Ebenen.
(1) Zum einen werden drei Themenkreise angegangen, die als Prüfsteine einer rationalitätstheoretischen und rationalitätskritischen
Auseinandersetzung gelten dürfen.
Im der ersten Runde zum Thema
„Mythos und Wissenschaft“ dominiert die Begriffsverwirrung. Sowohl
„Vernunft“ als auch „Mythos“ bleiben schillernde Worthülsen, die auf
oft nicht nachvollziehbare Weise gefüllt werden. Dieser Teil kann denn
auch als der schwächste gelten. Das
zweite Thema „Emanzipation und
Fortschritt“ geht vor allem den Begründungsleistungen der Diskursethik für an sich evidente ethische
„Intuitionen“ nach. Der dritte
Themenkreis „Kritik“ schließlich
beschäftigt sich mit der Vernunftkritik als konstruktives oder selbstentlarvendes Moment der Diskurstheorie.
(2) Daneben vollzieht sich ein „Diskussionsschicksal“ (5), das nach einem z.T. langatmigen und tastenden
Schlagabtausch in der ersten Runde
schon bald den Nerv der Auseinandersetzung zwischen der „Frankfurter“ und der „Tübinger Schule“ offenlegt. Die sog. „sachliche“ Diskussion bricht auf, wird persönlicher, Interessen werden in der Gesprächsführung erkennbar und, an
den interessantesten Stellen, konträr
und polemisch formuliert. Der kon-
krete, gegenwärtige Diskus wird
zum Thema.
Konservatismus, Quietismus, Pathos – das sind die zu Begriffen gewordenen Reibungspunkte zweier
Gruppen, die ob ihrer theoretischen
Uneinigkeit zur praktischen Verständigung nicht mehr fähig sind.
Auch mit Schuldzuweisungen wird
nicht gespart. Und doch eben in
dieser „hautnahen“ Dokumentation
wird der idealtypische Charakter des
„herrschaftsfreien Diskurs“ und die
Schwierigkeit einer realisierenden
Annäherung an ihn so deutlich wie
in keiner abstrakt-theoretischen Arbeit. Wer den Diskurs als Forderung
akzeptiert – nicht weniger als der
Gegner universal- und transzendentalpragmatischer Argumentation –
bekommt ad oculos geführt, wie
sehr Argumentationswille scheitert
und Rationalitätskritik argumentiert.
„Herrschaftsfreiheit“ blieb wohl
auch im Mai 1985 nur frommer
Wunsch.
Zum Abschluß eine kurze Bemerkung zur redaktionellen Gestaltung
der Protokolle. Eine möglichst authentische Darstellung der Diskussionsrunden ist sehr zu begrüßen,
aber an mancher Stelle wäre weniger
Authentizität mehr gewesen. Etwas
strengere Kürzungen und Streichungen verbaler Redundanz hätte
den Band lesbarer gemacht.
Matthias Rath
Bücher zum Thema
Alfons Rosenberg:
Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes
München 1986 (Kösel-Verlag), 334
S. mit 87 Abb.
Ein Buch über Engel und Dämonen, das in einer Zeit der sich breit
machenden Rationalitäts- und Vernunftkritik erscheint, setzt sich von
selbst dem Verdacht aus, auf einer
modischen Welle mitschwimmen zu
wollen, um für die eigene Weltanschauung (das ist hier die katholische) einige Anhänger zu gewinnen.
Der Verdacht wird durch den Umstand genährt, daß der Autor keine
durch die Aufklärung geläuterte
Distanz zu seinem Gegenstand
erkennen läßt.
Diesen Verdacht wird m an allerdings in dieser Pauschalität nicht
aufrecht erhalten können. Denn
zum einen ist die erste Auflage bereits 1967 im Prestel-Verlag erschienen, und zum anderen ist der
durchaus vorhandene missionarische Eifer weniger auf die sich
breitmachenden
Remythologisierungstendenzen gerichtet, als vielmehr gegen einige Aufklärungstendenzen innerhalb der Kirche. Nicht
die „weltliche“ Rationalität ist der
Kritik Rosenbergs ausgesetzt, sondern die innerkirchliche, theologische Rationalität, wann immer sie
sich in der Geschichte Geltung verschafft hat. „Die Übernahme aristo-
telischer Kategorien der durch die
Araber vermittelten spätgriechischen Philosophie wirkte sich verhängnisvoll aus: sie führte allmählich zur Abstrahierung und dadurch
zur fortschreitenden Substanzentleerung der Erfahrung der Engel“
(59 f.).
Dessen ungeachtet sind Engel und
Dämonen reale und notwendige Bestandteile der antiken und mittelalterlichen Weltbilder, deren Kenntnis
für den Historiker, besonders für
den Kunsthistoriker unverzichtbar
ist.
Rosenberg grenzt sein Thema auf
die christlichen Engel- und Dämonenmythen ein und bezieht die vorund außerchristlichen Mythen nur
insoweit mit ein, als ihr Einfluß auf
die christliche Mythologie erkennbar ist. Der assyrische Kerub und
die babylonischen Dämonen dürften wohl für die Verfasser der alttestamentlichen Schriften die Vorbilder für ihre Engel- und Dämonenvorstellungen gewesen sein; für
spätere Zeiten können dann noch
persische, griechische und im neuen
Testament auch römische Einflüsse
nachgewiesen werden. Ausführlich
geht Rosenberg auf die schriftlichen
Quellen der Engelmythen ein, denn
in beiden Teilen der Bibel gibt es
nirgends eine systematisch entwikkelte Engellehre. Wichtiger noch als
die kanonisierten Texte der Bibel
sind die sogenannten „apokryphen
Bücher zum Thema
Schriften“, die offenbar in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eifrig rezipiert wurden.
Erst in den Schriften des PseudoDionysios Areopagita findet sich
dann eine ausführliche Darstellung
der Engelshierarchien, die sich in
neun Chören um den Thron Gottes
scharen, angefangen von den Cherubim und Seraphim bis hinunter zu
den Erzengeln und Engeln. Die
bildliche Engeldarstellung und die
Engelverehrung setzt im 5. Jahrhundert ein. Bis zum Beginn der
Renaissance gehören diese Engelwesen zum Kanon der christlichen
Vorstellungswelt; die Engelverehrung wird dann durch die aufkommende Heiligenverehrung verdrängt. In der Zeit der Gegenreformation erfährt der Engelmythos
in der Gestalt der individuellen
Schutzengel eine Wiederbelebung.
Rosenbergs Darstellung ist vielschichtig und sehr informativ; man
erfährt sehr viel Unbekanntes, wie
z.B. etwas über die Engelehen und
die daraus hervorgehenden Riesen,
oder auch daß der Satan in den ersten Jahrhunderten der christlichen
Kunst als schöner Jüngling dargestellt wird. Überfrachtet wirkt Rosenbergs Darstellung dann, wenn
sein missionarischer Impetus durchscheint. Dies gilt auch dann, wenn
er den Engelsglauben mit der Archetypenlehre des Carl Gustav Jung
abzusichern versucht. Engel und
Dämonen gehören für Rosenberg
zu jenen Urbildern des Seins, die
jenseits des menschlichen Willens
und Bewußtseins wirken. Diese Archetypen prägen sich in jeder Phase
der menschlichen Kultur in immer
neuen Formen aus. War Rosenberg
gut beraten, einen fragwürdig gewordenen Bestandteil der Theologie
durch die nicht minder fragwürdige
analytische Psychologie eines C.G.
Jung abzustützen?
Das Buch ist mit vielen Abbildungen versehen, das dem kunsthistorisch interessierten Leser das Nachschlagen in anderen Bildbänden erspart. Allerdings wäre es besser und
bei der Erörterung der Farbsymbolik eigentlich geboten gewesen, einige Abbildungen in Farbe wiederzugeben. Es ist in der Kunst immer
mißlich, zu einer schwarz-weiß Reproduktion die Farben hinzudenken
zu müssen.
Martin Schraven
Burghart Schmidt
Postmoderne – Strategien des
Vergessens
Darmstadt/Neuwied 1986 (Sammlung Luchterhand)
B. Schmidt hat einen kritischen
Rapport geschrieben über das nicht
mehr ganz neue Lieblingskind der
westlichen
Intellektuellen:
die
Postmoderne. Obwohl sie mittler-
Bücher zum Thema
weile zum Modewort avancierte, ist
ihre inhaltliche Bestimmung unklar.
Das mag einen Teil ihres Reizes
ausmachen, trägt aber wenig zur
theoretischen Diskussion bei. Das
vorliegende Buch ist der Versuch,
hier Klarheit zu schaffen und Antworten zu geben. Antworten, die
von der Philosophie E. Blochs
nachhaltig geprägt sind; denn der
Autor war langjähriger Freund und
Mitarbeiter des Philosophen in Tübingen.
Schmidt skizziert ein vielschichtiges
Bild der Postmoderne. Einesteils
erkennt er in ihr den Versuch, vor
den Problemen der Gegenwart zu
resignieren. Er nennt das die „Strategien des Vergessens“ oder postmoderne Ideologie. Sie beruht auf dem
Kerngedanken, daß das Zeitalter der
Moderne mit ihren leitenden Entwürfen und Ideen (Vernunft, Freiheit, Fortschritt usw.) vorbei sei und
nun kleinere, quasi „postmoderne
Brötchen“ gebacken werden müssen. Dem liegt das gleiche, am Motiv des gerechten Austauschs orientierte Erkenntnisideal zugrunde, wie
dem konsequent zu Ende gedachten
„Kritischen Rationalismus“ P. Feyerabends. Der Autor bedenkt dies
mit der kritischen Bemerkung: „...
alles in Frage zu stellen, macht das
Fragen nicht unborniert wertfrei,
sondern wertlos ... Gleiche Gültigkeit von allem und jedem bewahrt
vorhandene Ruhe und Ordnung,
denn sie ist weder schlechter noch
besser gegenüber anderen Möglichkeiten der Zukunft: und darum besser als die Zukunft“ (12 f.).
Mit einer solchen Einschätzung
steht B. Schmidt nicht allein, und
würde sich sein Buch nur auf diesen
Aspekt beschränken, wäre es noch
keine zureichende, den Leser herausfordernde, Auseinandersetzung
mit dem Phänomen „Postmoderne“. Aus der Perspektive des Autors
bedarf es zusätzlich der Reflexion
auf die in ihm verkapselten Hoffnungspotentiale. Denn in den Hohlräumen, die die Enttäuschung besonders von den Idealen der 68er
Revolte hinterlassen hat, bildete sich
die postmoderne Atmosphäre. Diese
wirkt belebend, oder könnte es zumindest, indem sie jene Wunschbilder erneut zur Diskussion stellt.
Darüber hinausgehend wird von ihr
die Frage aufgeworfen, ob mittels
des Begriffspaares „Arbeit-Kapital“
die gegenwärtige Wirklichkeit adäquat zu interpretieren und zu verändern ist. Diese und andere Problemstellungen kulminieren in der
postmodernen Kritik der Rationalität.
Schmidt zeigt deutlich, daß der sich
darin abzeichnenden „Krise der
Aufklärung“ substantielle Bedeutung beizumessen ist. Mit dem
Vorwurf des Irrationalismus allein
sei nichts gewonnen. Er hält darum
auch die Frontstellung von J. Ha-
Bücher zum Thema
bermas gegen F. Lyotard für verfehlt. Denn Rationalität ist, wie andere Phänomene des ideellen Bereichs, das Resultat einer bisher überwiegend
unglücklichen
historischen Entwicklung. Eine Erkenntnis, die grundlegend für die
neomarxistische Theorie schon in
den 20er Jahren war; weshalb das
Buch den Versuch unternimmt, die
Diskussion über das Verhältnis von
„Ratio-Irratio“ in der Weimarer Republik zu rekonstruieren.
Zur postmodernen Atmosphäre gehört auch die öffentliche Aufwertung der Bildlichkeit bis hin zum
Mythos. Hier sieht der Autor sich
Wünsche kenntlich machen, die über die geläufigen Formen des Diskurses hinausgehen. Dem trägt er
insofern Rechnung, als er ein Buch
vorgelegt hat, das sich der üblichen
wissenschaftlichen Form verweigert.
Statt dessen beinhaltet es die Wiedergabe von Diskussionsprotokollen, Textmontagen, die sich zu fiktiven Gesprächen verdichten, sowie
die Auseinandersetzung mit den
Werken junger Künstler.
Das Buch kommt zu keinem endgültigen Urteil; wie sollte das bei
dem verhandelten Gegenstand auch
möglich sein? Aber es wird in ihm
die Anstrengung B. Schmidts deutlich, dem janusköpfigen Wesen
„Postmoderne“ auf die Spur zu
kommen und dasjenige an ihr zu
bestimmen, was als Erbschaft dieser
Zeit gelten kann.
Thomas Wimmer
Peter Sloterdijk
Der Denker auf der Bühne.
Nietzsches Materialismus
Frankfurt 1986 (Suhrkamp-Verlag)
Peter Sloterdijk ist durch sein Werk
„Kritik der zynischen Vernunft“
bekannt geworden, worin er eine
„Systemphilosophie“ moderner Prägung darbietet, wie sie von Lebensphilosophen mehrfach erarbeitet
wurden.
Verschiedene Bereiche unserer Kultur und Politik werden dort aus einem leitenden Gesichts- und Standpunkt – flott geschrieben – beurteilt. Sloterdijk entfaltet eine Kritik
des Geistes der Aufklärung, die heute ihre „zynischen Anlagen“ voll
entfaltet hat.
An etlichen Stellen seines Buches
bezieht sich Sloterdijk auf Nietzsche
als Vorbild für seine Kritik der Aufklärung. So ist es nicht verwunderlich, wenn Sloterdijk seine Nietzsche-Lektüre kommentiert und gesondert als Buch anbietet: „Der
Denker auf der Bühne. Nietzsches
Materialismus“.
Lohnt es sich, Nietzsche heute neu
zu lesen, um Antworten auf drängende Fragen der Zeit beantwortet
Bücher zum Thema
zu bekommen? Welche neuen Gesichtspunkte könnten heute beigebracht werden, die mehr beinhalten
als die Meinung, Nietzsche habe in
der geistigen Auseinandersetzung
seiner Zeit eine negative Rolle gespielt. Schließlich habe er antihumanen Reden die „zynisch-reaktionären“ Argumente geliefert (vgl.
H. Lübbe, Politische Philosophie in
Deutschland, München 1974, 168).
Daß der Nationalsozialismus Nietzsche einigermaßen bequem vereinnahmen konnte, dafür liegen Belege
nicht nur von G. Lukács vor, den
Sloterdijk sehr leicht beiseite
schiebt. Steckt in Nietzsche mehr
als „mythologischer Irrationalismus“? Sloterdijk versucht „Ordnung“ in Nietzsches Texte zu bringen, indem er einen interpretatorischen Bezugsrahmen entwickelt, der
das Gegensatzpaar „DionysischApollinisch“ (Kraftspender und
Formgeber) in ihrem Wechselspiel
herausarbeitet. Dabei bleibt er nicht
bei der bloßen Dichotomisierung
stehen, vielmehr stellt er verschiedene Bühnen, Ebenen dar, auf denen die Kräfte und Formen ihr
Spiel treiben. So entwirft Sloterdijk
ein Nietzsche-Bild, in dem wenig
noch zu fassen ist. Nietzsche hat
danach nicht einfach etwas gesagt
und geschrieben, sondern immer
nur so getan, als ob er dies meine,
um zu zeigen, was sich nicht in direkter Rede und Schreibe darstellen
ließe, daß viele überlieferte geistige
Inhalte nur eine Reihe von Schleiern
und Masken sind, hinter denen sich
der tatsächliche existentielle Grund
der Menschen nur ahnen läßt.
Selbstverständlich ist die Wahrheit
so „furchtbar“, daß sie immer „verhüllt“ und nur „verschleiert“ vorgeführt werden kann. Interpreten,
Propheten und Erzähler sind gefragt, hinschauen, experimentieren
und intersubjektiv überprüfen, stellen dagegen verzerrte Modi der
Gewalt über Welt und Mensch dar.
Gegen Ende des Buches münden
Sloterdijks Gedanken in den Begriff
„dionysischer Materialismus“ ein,
der sich „lebendiger“, gottesähnlicher gibt als etwa ein „dialektischer
Materialismus“, den Sloterdijk nur
als „brutales Zerrbild“ des ersteren
begreift.
Wird m an Nietzsche gerecht, wie
es Sloterdijk möchte, wenn man
diesen Mann als „kühnen Denker“,
als „Genie“, als „Heroen“ charakterisiert? Wahrscheinlich wird sich
Sloterdijk gegen zu wörtliche Interpretation dieser Begriffe wehren,
sind sie doch Teil eines Textes, den
m an neutral als eher literarischkünstlerisch zu kennzeichnen hätte,
stellungnehmend als aufgeblasen
und mit Worthülsen spielend. Die
Lektüre von Voltaire ist dazu im
Vergleich geeignet, kritisches Denken nicht mit seichter, Tiefe vor-
Bücher zum Thema
spiegelnder Wortmusik zu verwechseln.
Sloterdijk hat etwas gegen Reflexe,
„die sich allesamt auf den Mythos
der Praxis“ stützen (181). Insofern
wäre es verständlich, wenn Sloterdijk sich energischer gegen die Frage wenden würde, welchen Nutzen
sein Buch hat.
Zeigt Sloterdijk neue Aspekte im
Nietzsche Werk auf? Sloterdijk
führt vor, wie man Texte rettet, die
von einer zumeist „dummen Öffentlichkeit“ noch wörtlich genommen werden. Dies Verfahren erinnert an die Rettung des Glaubens,
nachdem sachhaltige Aussagen der
Bibel nicht mehr ernst genommen
werden konnten. Sloterdijk rettet
Nietzsches Mythologie durch eine
ähnlich konstruierte Hintertür.
Meiner Ansicht nach lassen sich
zahlreiche Verbindungen zur „Dialektik der Aufklärung“ und zur
„Negativen Dialektik“ aufzeigen,
worin allemal der „Aufklärung“ idealistisch ans Zeug geflickt wird, was
bisher Ausdruck einer nur teilweise
vollzogenen Aufklärung ist.
Wer wie die Sandinisten in Nicaragua praktische Gesellschaftsveränderung mit rudimentärer Aufklärung sprich Alphabetisierung verbinden, lebt und arbeitet mit der
Gefahr des Untergangs. Sie kann
man getrost für kühn halten.
Daneben kann Sloterdijk nur bestehen, indem er die „Selbstentblö-
ßung“ von Nietzsche nicht schon
für riskant hält.
Wolfgang Teune
Gerda Weiler
Der enteignete Mythos. Eine
notwendige Revision der Archetypenlehre C.G. Jungs und Erich
Neumanns
München 1985 (Verlag Frauenoffensive)
Dies ist ein gründliches Buch. So
etwas wie „Einbeziehung“ des
Weiblichen in eine männlich-patriarchal geprägte Kultur (C.G. Jung)
ist sein Anliegen nicht. Nicht um
den Feminismus als eine „starke
Kraft“ (Capra) innerhalb der heutigen Kultur geht es. „Mutter Erde“
und „Vaterland“ – solange sie sich
als (hilfloses) Objekt und (handelndes) Subjekt gegenüberstehen, ist
„Menschlichkeit“ nicht in Sicht.
Daß aber klingt so richtig es sein
mag, ziemlich allgemein.
Doch dies ist ein sehr spezielles
Buch. Gerda Weiler, der psychologisch geschulten Religionspädagogin
und Autorin eines Buches über das
verborgene Matriarchat im Alten
Testament („Ich verwerfe im Lande
die Kriege“, München, Verlag Frauenoffensive), geht es hier nicht um
eine
allgemein-unverbindliche
„Aufwertung“ matriarchalen Erbes
und deren Nutz und Frommen für
Bücher zum Thema
die Bewältigung der drängenden
Probleme der Gegenwart. Sie legt
vielmehr das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen mit der Behandlung und Deutung von Mythen in
der Analytischen Psychologie C.G.
Jungs und Erich Neumanns vor.
Mit diesen Psychologen verbindet
sie das starke Interesse am Weiblichen innerhalb der mythologischen
Überlieferung und innerhalb der
psychischen Prägung von Menschen. Daß C.G. Jung die Begriffe
„Animus“ und „Anima“ zur theoretischen Fassung der Tatsache prägte, daß Männer „weibliche“, Frauen
„männliche“ Elemente in ihrer psychischen Struktur haben, ist inzwischen Allgemeingut innerhalb feministischer Diskussionszusammenhänge geworden. Fast automatisch
fällt der Analytischen Psychologie
dadurch in vielen feministisch orientierten Schriften die Rolle des positiven, „frauenfreundlichen“ Gegenparts zur Psychoanalyse Freudscher Provenienz zu: Animus statt
Penisneid, was will „frau“ mehr?
Sie – jedenfalls Gerda Weiler – will
schon mehr: Sie will zum Beispiel
zeigen, daß für Jung der weibliche
animus, im Unbewußten angesiedelt, tendenziell ein Speicherorgan
für angelernte, vorurteilsbeladene,
von Männern kritiklos übernommene Meinungen ist, die intellektuell
nicht eigenständig verarbeitet werden können, daß Jung mithin den
animus bei der Frau gar nicht so viel
positiver sieht als sein Kollege und
Ex-Lehrer Freud den Penisneid.
Daß er – und Erich Neumann – dagegen eine Einbeziehung der animaAnteile beim Mann als Chance für
schöpferisch-künstlerische Aktivität
und Fruchtbarkeit betrachten, denn
die anima hat es im Gegensatz zum
animus nicht mit Meinungen und
Theorien zu tun, denen es nicht gut
bekommt, im Unbewußten gespeichert zu sein, sondern mit emotionalen Energien, die gerade als unbewußte besonders fruchtbar sein
können.
Gerda Weiler zeigt aber gleichzeitig
noch wesentlich mehr: Daß nämlich
die vom Mann her gedachte, auf
den Mann hin orientierte Psychologie, die m an eine patriarchale Psychologie des männlichen Menschen
nennen könnte, nicht gewissermaßen zufälliges Resultat persönlicher
Interessen Jungs und Neumanns,
sondern daß das ihr zugrunde liegende Menschenbild wesentlich älter ist. Und: daß es nicht ur-alt ist,
daß vielmehr „am Anfang“, soviel
man heute wissen kann, andere UrBilder standen. Daß also das Weibliche in der Geschichte menschlicher Mythenbildung nicht immer
passiven Untergrund, nährenden
Ausgangspunkt für männliche,
männlich-göttliche Herrschaft (Patri-archie) bildete, sondern in
zahlreichen Urbildern als herr-
Bücher zum Thema
schend (matri-arch) erscheint. Diese
Urbilder gräbt sie aus, läßt sie leben,
feiert sie bisweilen fast hymnisch:
Die Weisheit, die nährende Mutter,
die Magie der MAtriarchalen EnerGIE, die Gefäßgöttin, Nachthimmel und Möndin. Noch interessanter als diese bisweilen ins Beschwörende gehende Auflistung positivweiblicher Urbilder scheint mir dabei der Versuch der Autorin zu sein,
dem Ursprung negativer Deutung
weiblicher Göttinnengestalten in der
griechischen Mythologie und im Alten Testament nachzuspüren. Medusa zum Beispiel, deren böser
Blick den Menschen erstarren läßt:
Sie war vor Athene, der „männlichen“, dem Haupt des Zeus entsprungenen, kriegerischen JungfrauGöttin da und mußte das Schicksal
einer Umdeutung ins Zerstörerische
nur deshalb erdulden, weil ihr
Stammland kolonisiert wurde.
Oder Lilith: „Lilith – eine Große
matriarchale Göttin blickt mich an“
(153). Auch Lilith ist eine schließlich
Verdrängte, deren Ursprüngen im
altbabylonisch-sumerischen Raum
Gerda Weiler nachspürt. Sehr nachdrücklich stellt sie dabei heraus, daß
„Größe“ nicht immer Herrschaft
bedeutet, daß eine Große Göttin
nicht groß sein muß wie Alexander
der Große: „Wenn ich von Lilith als
einer ‘Großen Göttin’ spreche, meine ich, daß sie die Stammesmutter
eines sumerischen Volkes gewesen
ist, Urahnin und Begründerin eines
kleinen Volkes“ (156).
Doch anhand dieses Beispiels seien
auch zwei Bedenken angemeldet –
bescheiden, wie es sich angesichts
einer notwendigen, nützlichen und
sehr gründlichen Arbeit geziemt:
Wenn Gerda Weiler sich auch immer wieder von einem zerlegenden
patriarchalen Denken absetzt, das
etwa weibliche Gottheiten aufspaltet
in „gute“ und „dämonische“, so
wird doch dabei nicht deutlich, was
– über ein allgemein „Mütterliches“
hinaus – das „Matriarchale“ als umfassendes positives Prinzip denn
nun meint. In dem, was ihr da vorschwebt als lebenserhaltende, zukunftsweisende Kraft, die Frauen
und Männern zu Gebote steht –
nach der gründlichen Kritik an Jung
und Neumann sind sie ja nun
gleichberechtigt in ihrem Zugang zu
anima und animus, wenn sie es nur
wollen weiß sie sich wohl einig mit
allen Leser(-innen) dieses Buches.
Aber – und dies mein zweites Bedenken –: Reichen uns die alten, in
diesem Fall gar ausdrücklich die vor
den alten liegenden ur-alten Mythen, die dankenswerterweise wieder ausgegrabenen, wieder verfügbar gemachten, um über unsere
„modernen“ Analytischen Psychologen
(und
andere)
hinauszugelangen? Wird „Matriarchat“ als
Mythos so nicht eher zu m Hindernis für eine Suche nach gegenwärti-
Bücher zum Thema
ger und zukünftiger ganzheitlichmenschlicher Herrschaft, weil man
die zwischen Ur-Bild (Großer Göttin) und Jetztzeit liegende (patriarchale) Geschichte nicht einfach als
Irrtum möglichst schnell wegdenken
kann?
Aber das sind Fragen. Gut, wenn
ein Buch zu ihnen anregt.
Adelheid Müller-Lissner
Gerd Bergfleth et al.:
Zur Kritik der palavernden Aufklärung.
München 1984 (Verlag Matthes &
Seitz)
In einem Gespräch mit R. Grimmiger (vgl. Merkur 9/10, 1985, S. B54
ff.) beklagt der Verleger A. Matthes,
daß das Buch bislang nur „pauschal
verfemt“ und „nicht diskutiert“
worden sei. Er sieht den Grund in
einer Tabuisierung der nationalistisch und antisemitisch gefärbten
Pamphlete Bergfleths, die als gezielte Provokationen „unseres selbstgewissen Zeitgeistes“ zu verstehen
seien. Was fällt nun ins Gewicht,
wenn man herausfinden will, was
die ‘Originalität’ von Bergfleths
Aufklärungskritik und das ‘Subversive’ seiner Bemühungen ausmacht?
Zunächst geht es um die „vernunftkritischen“ Texte Bergfleths, danach
– im Blick auf das editorische Konzept – um Texte J. Batailles, S.
Weils und J. Baudrillards, die in den
Band aufgenommen sind.
Über eine Vorrangstellung theoretischer Vernunft und über eine erkenntnistheoretisch geleitete Metaphysikkritik schafft die Aufklärung
des 18. Jahrhunderts mit die Grundlagen für die zweckrationalen Orientierungen „technokratischer“ Gesellschaften der Moderne. Gerade
hierdurch werden die Ideale der
Aufklärung („Recht“, „Freiheit“
u.a.) hintergangen; es bleibt nur deren ‘Simulation’. Dies führt Bergfleth, teils in Anlehnung an Baudrillard, in dem Beitrag „Zehn Thesen
zur
Vernunftkritik“
aus.
„Vernunftherrschaft“ schlägt in eine
eh schon intendierte „Herrschaftsvernunft“ um. Diese kann sich, wissend um das Scheitern der Aufklärung, nur noch „palavernd“ behaupten. Es gibt jedoch noch etwas zu
retten, was Bergfleth „Weltvernunft“ nennt: ein „Organ der metaphysischen Wahrheit“. Die „Weltvernunft“ (der Leser erfährt nicht
näher, was Bergfleth damit meint)
kann nur durch eine „Todesrevolte“
gerettet werden, die die Mythen und
Rituale des „Opfertodes“ rehabilitiert (vgl. Bergfleths Baudrillardinterpretation, in: Baudrillard, Der
symbolische Tausch und der Tod,
München 1982). Dem inszenierten
‘Untergang’ wird die Perspektive einer ‘Entmachtung’ der (modernen)
gesellschaftlichen Systeme zuge-
Bücher zum Thema
sprochen, die für „Vernunftherrschaft“ resp. „Herrschaftsvernunft“
stehen.
Was Bergfleth zu den Rationalitätskrisen moderner Gesellschaften ausführt, geht z.T. auf Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ zurück. Er scheut dabei
nicht die Peinlichkeit, sich zunächst
da zu bedienen, wo er eine „palavernde Aufklärung“ am Werk sieht.
Bergfleth kritisiert die „Dialektik
der Aufklärung“ („Dialektik des
Aufklärichts“, 21) in dem Beitrag
„Der geschundene Marsyas“. In den
Thesen „Schon der Mythos ist Aufklärung“ und „Aufklärung schlägt in
Mythologie zurück“ sieht Bergfleth
den Versuch einer „rationalistischen
Vergewaltigung des Mythos“. Er
liest die besagten Thesen ‘undialektisch’ („Zugleich von Mythos und
Aufklärung“) und macht dann ein
„ungeschichtliches Verfahren“ zum
Vorwurf. So wird die These unterschlagen, daß „Aufklärung“ und
„Mythos“ vor Ort je in einem Aspekt verdeckt bleiben. Eine ‘aufgeklärte Aufklärung’ kann allenfalls die
sein, die ihr aporetisches Selbstverständnis durchschaut. Daß es sich
nicht um einen glatten Lösungsvorschlag handelt, stört Bergfleths Bild
einer vorbehaltlosen Verteidigung
„der Aufklärung“. In dem Beitrag
„Die zynische Aufklärung“ setzt
Bergfleth seine ‘Vernunftkritik’ in
anderem Tonfall fort. Es geht nun
um eine Erklärung der „linken Vorherrschaft“ einer „neuen Aufklärung“ in den sechziger und siebziger
Jahren. „Entscheidender Faktor“ sei
„die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz“ gewesen, die ihre
„letzte Chance“ erhalten habe,
„Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln“.
Bergfleth spricht von „heimatlosem
Judentum“, von einer „Auslöschung
des Individuellen“, von einem
„Deutschen“, der „nicht er selbst“
sein dürfe. Zwar distanziert sich
Bergfleth vom „Rassismus“ der nationalsozialistischen „Todesbürokraten“, aber wessen Sprache spricht er
hier?
An Bergfleths engagierter Gegnerschaft bleibt letztlich unklar, was er
unter „Vernunft“ und „Aufklärung“
versteht. Eine ‘Kritik’ von „Herrschaftsvernunft“ soll ihrerseits „die
Vernunft“ „als leidenschaftliches
Denken“
wiederherstellen.
Bergfleth ontologisiert aber zudem
ein „reines Denken“. Sollte das letztere etwas mit dem Rationalitätsverständnis ‘der Aufklärung’ zu tun haben, so doch auch etwas mit einer
„Vernunftherrschaft“, gegen die
Bergfleth zu Felde zieht. Was also
ist an den Texten ernst zu nehmen
außer dem neuen ‘völkischen’ Tonfall? Was Bergfleth ernst genommen
wissen will, ist seine polemische
Geste im Dienst einer ‘Auflehnung’
gegen „Herrschaftsvernunft“. Was
Bücher zum Thema
dem Autor aber als ‘subversiv’ vorschwebt, hat eine subtile Entsprechung in einer derzeit auf den Plan
tretenden Geschichtsschreibung, die
Kontinuität sichert, indem sie prekäre Zeitabschnitte auf scheinbar
kommensurable Identifikationsmuster hin historisiert. Bergfleths Akt
der ‘Auflehnung’ hat eine Seite des
Einverständnisses. Daß der Gegenstand über die angestrengten Bemühungen um einen heroischen Tonfall nebulös bleibt, bringt letztlich
das editorische Konzept des Buches
in Verlegenheit. Etwa sind die beiden Texte Batailles über Nietzsche
(„Nietzsches Wahnsinn“; „Nietzsche“) wohl kaum für eine bestätigende Zuordnung geeignet. Mit seiner Vorstellung einer ‘Überschreitung’
„rationalen
Denkens“
versucht Bataille, das ‘Überschrittene’ auf seinen Platz zu verweisen.
Erst das souveräne Verfügen über
„rationales Denken“ setzt für Bataille die expressiven Akte frei, die sich
vernunftgebundenen „Regeln“ entziehen. Dies unterscheidet sich
erheblich von Bergfleths Manier des
Kahlschlages.
Auch S. Weils Text „Reflexionen
über die Ursachen der Freiheit und
der Unterdrückung“ ist in diesem
Zusammenhang interessant. Mit einer „palavernden Aufklärung“ (mit
Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“) teilt S. Weil
grundlegende Aspekte eines Ge-
schichtsverständnisses. Selbst im
Blick auf einen Interviewtext
Baudrillards sind Abgrenzungen angebracht. Der Theorie der „strukturalen Revolution“ und der „Simulakren“ sind Perspektiven der Rettung
von
‘Vernunftspielarten’
verwehrt. Fatalismus (‘katastrophische Logik der Welt’) soll hier einen
(reflektierten) „Archaismus“ des
Spielens mit „Ritualen“ freisetzen –
mit offenem ‘Ende’. Bergfleth will
vor allem retten; über das Was läßt
er im unklaren.
Ignaz Knips
Peter Glotz, Günter Kunert und
Sozialistische Studiengruppen
Mythos und Politik. Über die Magischen Gesten der Rechten
Hamburg 1985 (VSA-Verlag), br.,
147 S., 18.- DM.
Die Midlife-Krise der westdeutschen Linken und die Verödung ihres politischen Theoriebodens, die
neokonservative Offensive des „reaktionären Zeitgeistes“ (J. Habermas) und der „Neue Spiritualismus“
(R. Nemitz) postmoderner Provenienz ... Dies bildet den politischideologischen Hintergrund der
Themen: Mythos/Aufklärung, Vernunft/Emotionalität (Sinnlichkeit),
Marxismus/(sozialdemokratischer)
Positivismus,
rationaler
Diskurs/Sprache als Unio mystica, im
Bücher zum Thema
Schatten von Horkheimer und Adornos „Dialektik der Aufklärung“
und ihren zwei Thesen: „schon der
Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück ...
der Fortschritt schlägt in den Rückschritt um.“ Naturbeherrschung positivistischer Fortschrittsgläubigkeit
schlägt um in Herrschaft über den
Menschen und in die Zerstörung
der natürlichen Lebensgrundlagen
bis hin zum Over-kill.
Die ökonomische, gesellschaftliche
und politisch-kulturelle Krise führte
nicht nur zu einer Verunsicherung
der – heterogenen – Linken über
das Projekt Sozialismus und den
Verlust „kultureller Hegemonie“ (P.
Glotz), sondern auch zu einem philosophisch-ideologischen Paradigmawechsel. Kultur- und Fortschrittspessimismus, einst Domäne
eines re-aktionären Konservatismus
(Spengler, Klages, Heidegger, u.a.),
er- und zersetzen Ernst Blochs
„Prinzip Hoffnung“. Linker Katastrophismus kolonialisiert die
Köpfe.
Die Sozialistischen Studiengruppen
(SOST) versuchen, diese „Sehnsucht Mythos“ (Titel) zu rekonstruieren resp. zu erklären, ausgehend vom Alltagsleben über die geschichtliche Rekonstruktion bis hin
zur heutigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, – gestützt auf
Cassirer, Hegel und Marx. Wider
den „Ruck ins romantische Rechts“
orten sie den Mythos in den vorbürgerlichen Gesellschaften als „ursprünglich“, in der bürgerlichen aber entsprungen aus dem „Gegensatz von entfremdeter Abstraktion und
entfremdeter Sinnlichkeit“ (79). Für
die Linke gelte es, die Entwicklung
einer alternativen Reformpolitik voranzutreiben, „die die Umgestaltung
des Lebensprozesses der Lohnabhängigen zum Ziel hat, um eine andere Form des Arbeitens (Marxens
‘travail attractif’ ) und Lebens, um
eine ganzheitliche Veränderung des
Lebensprozesses jenseits mythologischer Vorstellungen“ (86).
Günter Kunert sucht den „Schlüssel
zum Lebenszusammenhang“ (Titel),
indem er den Mythos versteht als
„eine frühgeschichtliche Anschauungsweise ... die der Sinnlosigkeit
und Rätselhaftigkeit des unbegreiflichen irdischen und kosmischen Geschehens zu Sinn verhilft“ (93). Dabei sind für ihn sowohl Geschichte
als auch Literatur Dienst resp. „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg);
denn „die Zukunft (gibt) keine
Antwort mehr, (so) antwortet der
Mythos.“ Bloch ist tot, es lebe der
Nihilismus. Auch „der historische
Materialismus (der dialektische steht
außer Reichweite, d.Verf.), der sich
als Wissenschaft geriert, weil er
meint, objektive Maßstäbe zu besitzen, schafft am Mythos Geschichte
weiter“ (93). Eine Blindheit, die
Verwechslung von Aufklärung und
Bücher zum Thema
Marxismus produziert, – begrifflich
diffus.
Was folgt, bleibt die politische Konfession des Stratego-Fanten der
SPD, Peter Glotz: „Die Rückkehr der
Mythen in die Sprache der Politik“
(Vortrag auf dem Germanistentag in
Passau). Für ihn entstand der Mythos in der Politik durch zweierlei:
(1) „durch die Verabsolutierung eines Wertes oder Zieles und (2)
durch das Versprechen, es gleich erreichbar zu machen“ (116 f.). Zurecht kritisiert Glotz die sottis’schen
Kohlköpfigkeiten profaner und geweihter Provenienz, ebenso die
technokratischen Topoi eines Helmut Schmidt (versus gr. ou + topos
= Utopie), – und folgert: entgegen
den beiden aufklärungsfeindlichen
Stilen der neuen Linken – „die Ersetzung des rationalen Urteils durch
Moralisierung; und die Ersetzung
von Politik durch symbolische
Handlung“ (145) – steht das Erinnern an die „Aufgabe der Aufklärung:
sich gerade auch im Politischen gegen Mythos und Zauber, die in der
Moderne allemal Herrschaft verbergen, des eigenen Verstandes zu bedienen“ (147). „Mythische Seinsgewißheit steht gegen Politik“ (122).
Als wesentlich erscheint mir der
Konnex: Mythos-Politik-Linke. In
dem – leicht lesbaren – Buch bildet
der SOST-Artikel den lesenswertesten Teil; Kunert und Glotz folgen
nach. Übertüncht verbleibt die be-
griffliche Unklarheit: wer oder was
sind „die Linken“? Bleibt letztlich
doch nur „Freistil-Klotzerei“ (Ludi
Lodovico)? SOST-lich untermauert
und v. Oertzisch verklärt („Gesellschaftliches Reformprojekt“, „Minimalkonsens“)? Aber – entgegen
der sozialdemokratischen Ausuferung –: „als analytische Theorie, als
wissenschaftlicher Sozialismus, hat
der Marxismus keineswegs ausgedient ... Die marxistische Theorie ...
hat noch immer eine ungebrochene
Kraft der Erklärung der diese Gesellschaft bewegenden Gesetzte und
der daraus resultierenden Tendenzen, auch wenn wir uns natürlich
daran gewöhnen müssen, nicht
mehr von dem Marxismus, sondern
von den Marxismen zu sprechen“
(Elmar Altvater). Sozialdemokratisches Aufklärungspathos aber verbleibt selbst wiederum im ideologisierten Mythos und politischer
Traum-Deutung: „Ich träume von
einer gerechteren Welt ...“ (Bruder
Johannes).
Hans G. Mittermüller
Claude Lévi-Strauss
Eingelöste Versprechen – Wortmeldungen aus dreissig Jahren.
Der Blick aus der Ferne, Supplemente Bd. 2 und 3 München 1985
(Fink-Verlag)
Ich habe nicht eine Philosophie machen
Bücher zum Thema
wollen, ich habe nur versucht, mir zu meinem eigenen Nutzen die philosophischen
Implikationen einiger Aspekte meiner
Arbeit klarzumachen. (Mythos und Bedeutung, Frankfurt 1980, S. 78 f.)
Durch einen wissenschaftlichen
Text wird ein Element der Inszenierungen im wissenschaftlichen Diskurs dokumentiert und eine bestimmte Form der Sprache und der
Schrift organisiert.
Die vorliegenden Textelemente dokumentieren eine „strukturalistische
Tätigkeit“ (R. Barthes) auf dem Feld
der Ethnologie, der Kunstbetrachtung sowie des wissenschaftlichen
Diskurses über „Umwelt/Ökologie“
bis hin zur „Freiheit“. Durch diese
Tätigkeit – mit der Perspektive auf
einen jeweiligen sprachlichen Ort –
wird die Analyse der jeweiligen
strukturalen Ordnung praktiziert.
Die Eigenbewegungen der Sprache
als auch eine am Ideal der „Ratio“
orientierte wissenschaftliche „Vernunft“ zeichnen den Hintergrund
dieser leidenschaftlichen Suche nach
den Verbindungslinien der systematischen Ordnung der Elemente. Eine über 30jährige Suche nach den
Spuren in Literatur, Archiven, anthropologischen Regionen, um ein
Netz des Wissens aus Vergangenem
und Gegenwärtigem zu knüpfen.
Wenn H.J. Heinrichs über dieses
Lebenswerk schreibt, es sei „nicht
der unbezwingbare Felsen“ – vielmehr ein „Netz aus Spuren eines
Weges durch die Welt alter, vergangener und neu entstandener Kulturen“ (in: Sprachkörper, Frankfurt
1983, 49), so sind in diesem kreativen Netz manch urgesteinsharte
Brocken enthalten, die manches
wissenschaftliche „Subjekt“ und
manchen „Kulturfreund“ erschauern lassen. Diese basieren z.B. auf
der Arbeit der Decodierung zum
Zwecke der Überwindung des
Dualismus von Geist und Körper
auf der Analyse der Mythologie mit
Zielsetzung der Überwindung der
Theologie.
„Man erhebt wider die Strukturalisten manchmal den Vorwurf, sie
spielten mit bloßen Abstraktionen
ohne Deckung durch das Reale.
Ich habe zu zeigen versucht, daß
die strukturale Analyse, weit davon entfernt, Zeitvertreib für Dilettanten und Ästheten zu sein, im
Geist nur in Tätigkeit tritt, weil ihr
Modell bereits im Körper vorhanden ist ... Auf Wegen, die zu unrecht als überintellektuell gelten,
führt der Strukturalismus dem
Bewußtsein tiefere Wahrheiten zu
und entdeckt sie neu, die der
Körper bereits undeutlich ausspricht; er versöhnt Leibliches
und Seelisches, Natur und
Mensch, Welt und Geist und
strebt der einzigen Form von
Materialismus entgegen, der mit
den gegenwärtigen Orientierungen
des
naturwissenschaftlichen
Weltbildes vereinbar ist. Nichts
Bücher zum Thema
des vereinbar ist. Nichts liegt da
ferner als Hegel; nichts ferner
auch als Descartes, dessen Dualismus wir überwinden möchten,
obwohl wir gleichzeitig seiner rationalistischen Denkhaltung treu
bleiben“ (Bd. 3, S. 184 f.).
Wenn gemäß nordamerikanischer
Interpretation „the Return of Grand
Theory in the Human Sciences“
(Skinner) vollzogen wird, kann das
intellektuelle Feuer einer strukturalistischen Arbeitsweise noch manches Klima erwärmen. Durch die
wissenschaftliche Beschäftigung mit
den sog. „primitiven Kulturen“, mit
Farben, Texturen, Geschmacksund
Geruchsnuancen ... kann nicht nur
ein intellektuelles Feuer genährt
werden: „So lernen wir die Natur
und die sie bevölkernden Lebewesen besser verstehen und achten,
wenn wir begreifen, daß Pflanzen
und Tiere ... dem Menschen nicht
nur seine Subsistenzmittel liefern,
sondern auch seit den ersten Anfängen der Menschheit die Quellen
ihrer intensivsten Gefühle und – im
intellektuellen und seelischen Bereich – ihrer frühesten und bereits
tiefgründigen Spekulationen waren“
(Bd. 3, S. 185 f.).
Auf die beiden Bände – mit der adäquaten Übersetzung durch R.
Rochlitz, H.H. Henschen und J.
Vogl – kann sowohl der Kenner des
Lévi-Strauss’schen Textkörpers zur
Ergänzung zurückgreifen, als auch
der Neuinteressierte zur Einführung.
Rüdiger Brede
Florian Rötzer
Französische Philosophen im
Gespräch
München 1986 (Boer-Verlag), 163
S., 19.80 DM
Über der französischen Gegenwartsphilosophie schwebt bei uns
der Verdacht, wenn nicht schon des
blanken Irrationalismus, so doch
der Frivolität eines Denkens, der
den Landsleuten westlich des
Rheins seit jeher anhängt. Florian
Rötzer hat sich mit Tonband und
Kassetten aufgemacht, um im Gespräch diesem Vorwurf auf die Spur
zu kommen. Was dabei herausgekommen ist, ist ein überraschend
buntes und konkretes Bild von den
Gemeinsamkeiten und Unterschieden der französischen Philosophen.
Im Vorwort, das Rainer Rochlitz
beigesteuert hat, beschreibt dieser
die Situation der französischen Philosophie als eine zwischen aktueller
Subversion und Tendenzen zu einer
neuen Orthodoxie, die sich hinter
dem Schilde ihrer Strategie von unten neu auftun könnte. Die folgenden insgesamt acht Gespräche, die
Rötzer mit Baudrillard, Castoriadis,
Derrida, Lyotard, Serres, Raullet,
Lévinas und Virilio geführt hat, las-
Bücher zum Thema
sen klarer werden als alle Kolportagen aus zweiter oder dritter Hand
und alle verzweifelten Kämpfe mit
den Konvoluten dieser Polygraphen, wohin ihr Denken zielt. Es
schälen sich die Motive ihres Denkens, ihre Enttäuschungen über das
Projekt des Marxismus, das im „öden Feld“ (Baudrillard) des Mitterandismus Realität wurde, ihre Suche nach Neuzugängen zum Verständnis der Gegenwart und nach
möglichen Perspektiven heraus.
Baudrillards „Simulation“, Lyotards
„Ästhetik des Erhabenen“, Derridas
„Dekomposition“ gewinnen über
ihren Schlagwortcharakter hinaus
Konturen. Ihre Hinwendung zum
Ästhetischen – in den Mittelpunkt
der Gespräche tritt immer wieder
Kants „Kritik der Urteilskraft“ – ist
für sie der Ausdruck einer Krise der
Geschichtsphilosophie, dem allerdings ganz die Häme fehlt, die so
viele deutsche „Postmodernisten“
bei dieser Analyse befällt. Mag auch
da und dort die romantische Flucht
vor der Gegenwart als Möglichkeit
anklingen, so besteht doch der von
der Bundesrepublik erhobene Irrationalismusvorwurf zu unrecht; zu
sehr sehen sie sich – bei aller
Ambivalenz – der französischcartesischen Tradition verbunden.
Zumindest bei Raullet und Serres,
in gewisser Weise auch bei Lyotard,
ist vielmehr die Suche na.ch einer
neuen Einheit zu spüren, die man
im Moment nicht finden und erst
Moment nicht finden und erst recht
nicht herbeireden kann.
Rötzer ist mit seiner Arbeit ein
höchst informatives und preiswertes
Werk gelungen, das beitragen kann,
die immer wieder bedauerte Verständnislosigkeit der gegenwärtigen
Philosophie in Frankreich zu beheben, über die allzuoft geredet wird,
ohne sie zu kennen.
Alexander von Pechmann
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 157168
Neuerscheinungen
Besprechungen
Neuerscheinungen
Gena Corea:
MUTTER MASCHINE
RBPRODUKTIONSTECHNOL
OGIEN.
Von der künstlichen Befruchtung
zur künstlichen Gebärmutter
Berlin 1986 (Rotbuch Verlag)
So wie bereits heute die Körperteile
von Frauen in der Prostitution und
in der Sexindustrie vermarktet
werden, sieht die Autorin schon
bald einen schwunghaften Handel
mit Unterleib, Gebärmutter, Eierstöcken und Bier für Zwecke der
Fortpflanzung entstehen. Noch
sind unfruchtbare Frauen (und
Paare) die wichtigste Zielgruppe für
Reproduktionstechniker.
Die Zukunft malt Gena Corea in
düstersten Farben: eine Welt, in
der alle Menschen sterilisiert sind,
Eier und Sperma tiefgekühlt in
irgendwelchen Banken lagern und
eine Elite von Medizinern darüber
entscheidet, wer sich reproduzieren
darf. Umweltgiftresistente Spezies
mit hoher Intelligenz werden im
Labor dann keimfrei geklont und
„Schwächlinge“aussortiert ...
Die Autorin, Initiatorin des heute
international arbeitenden Netzwerkes von Frauen gegen die neuen
Reproduktions- und Gentechnologien (FINNRAGE) mit Sitz in
London, hat eine vernichtende
Kritik zum Stand der gegenwärtigen
Forschung und Praxis auf diesem
noch sehr umstrittenen Wissenschaftsgebiet zusammengetragen.
Wer aber von den vielen Skeptikern denkt bei dem ethischen Problem
Reproduktionstechnologien
eigentlich an die gesundheitlichen
Folgen der behandelten Frauen?
Gena Corea schildert drastisch die
Torturen der einzelnen Eingriffe
und ihre oft schlimmen Folgen:
„Unfruchtbarkeit durch Medizinerhand“ ist eines der zahlreichen
Neuerscheinungen
Kapitel, in dem die unmittelbaren
Folgen leichtfertiger hormonel1er
und operativer Eingriffe in den
Unterleib von Frauenbeschrieben
werden.
Reproduktionstechnologie als letztendlicher Versuch des internationalen Patriarchats, die Frau als
Mutter endlich überflüssig zu
machen? Manche Thesen der
Autorin sind stark überzeichnet
und gehören wohl eher ins Reich
feministischer
Legendenbildung.
Trotzdem ist Gena Coreas Abrechnung mit Reproduktionstechnokraten ein wichtiger und spannend geschriebener Beitrag zum
Thema
künstliche Befruchtung,
Embryotransfer, Leihmutterschaft
und Genmanipulation aus der
Sicht von Frauen, der manch
„aufgeklärtem“ Zeitgenossen den
Schauer über den Rücken treibt.
Karin Gaube
Margret Jäger,
Siegfried Jäger,
Dieter Kantel, Lothar van den
Kerkhoff,
Helmut Kellershohn,
Michael Schroeter, Walter Volpert:
„DA WIRD DER GEIST EUCH
WOHL DRESSIERT ...“
KONTROLLIERT UND
ABSERVIERT. COMPUTER
IN SCHULE UND BETRIEB
Mülheim/Ruhr 1985 (Verlag Die
Schulpraxis, 350 S.. DM 19 80)
Dieses Buch trifft ins Mark des
„linken“ und gewerkschaftlichen
Medien- und
Technologieverständnisses: die Gültigkeit der
„Neutralitätsthese“,
wonach
Technik generell Werkzeugcharakter besitzt und ihre sozialen
Fragen ausschließlich von der
Form und dem Ausmaß der gesellschaftlichen, d.h. kollektiven Kontrolle abhängen, wird hier entschieden bestritten. Dem Computer als
„Denkzeug“ (S. Jäger) sei im Gegenteil
ein
urkapitalistischer
Zweck inhärent, nämlich Rationalisierung und Kontrolle, was
gleichbedeutend sei mit Profitmaximierung und Optimierung der
Ausbeutung.
Im ersten Kapitel beschäftigen sich
S. Jäger und Volpert mit den Auswirkungen des Umgangs mit dem
Computer auf das Denken, Erleben
und die Kommunikationsfähigkeit
der Programmierer und Bediener.
Jäger kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die notwendige Inhaltsreduktion bei der Digitalisierung
komplexer Zusammenhänge nicht
nur zur Transformation dialektischer Beziehungen in formallogische führt, sondern letztlich zur
Auflösung der dialektischen Einheit von Form und Inhalt: die
maschinengerechte Zurichtung der
Wirklichkeit zwingt Inhalte generell
in eine programmgerechte Form,
Neuerscheinungen
womit nicht mehr der Inhalt,
sondern die Form zum „bewegenden Moment“
wird.
„Die
damit
verbundene
Wirklichkeitszementierung
ist ein herrschaftssicherndes Element, konservativ und konservierend“ (33). Der
Mensch hat sich beim Umgang mit
dem Computer dessen Programmierregeln völlig zu unterwerfen.
Diese Unterwerfung ist Voraussetzung für den „Dialog“ mit der
Maschine, - mit der Konsequenz,
dass der Umgang mit dem Computer, weil individuelle Handlungsspielräume, Kreativität, Rationalität und Phantasie eingeschränkt
werden, eine faschistoide Persönlichkeitsdisposition erzeuge. Dieser
Gedanke, in der „Schlußbemerkung“ auch noch an exponierter
Stelle geäußert, erinnert sehr an die
bewahrpädagogischen Eiferer der
50er Jahre, nur kommen diesmal
die Bedenken von links. Dadurch
wird der sonst sehr differenzierte
Aufsatz unnötigerweise ein Stück
weit entwertet.
Hier ist Volpert überzeugender:
er vertritt als einziger Autor die
Neutralitätsthese und stellt klar, daß
die pathologischen Erscheinungsformen der „Mensch-RechnerKommunikation“
Entwicklungslinien aufzeigen, die „in unserer
Gesellschaft bereits seit längerem
wirken und für die der Umgang mit
Computern in Arbeit und Freizeit
nicht ursächlich ist“ (78).
Der Computer hat allenfalls eine
diese Entwicklung verstärkende
Funktion und löst entsprechende
Symptome bei manchen Menschen
erst aus, wie z.B. pathologisches
Programmieren.
Volpert sieht in der bestehenden
Form
der
Arbeitsteilung das
Grundproblem, sie ist sowohl die
Voraussetzung für die Computersierung als auch eine Hauptursache
für pathologische
Faszinationen
und Beziehungen mancher Menschen zur Technik und zum Maschinenhaften; sozial verträglicher
Computereinsatz ist also durchaus
möglich. - Der Beitrag von
Schroeter befaßt sich mit dem
Computer-Lernen in der Schule auf
dem
Hintergrund der heutigen
lerntheoretischen Grundlagen des
Schulunterrichts, deren behavioristische bzw. anpassende Prinzipien
dem computervermittelten Lernen
sehr entgegenkommen. Durch den
Computereinsatz im Unterricht
wird somit das „soziale Lernen“
noch ein Stück weit zugunsten
des zweckgerichteten, kategorisierten Denkens zurückgedrängt.
Die Technologisierung der Schule
und der massive „sanfte Druck“
der Computerindustrie auf Lehrerschaft und Schulverwaltung zum
Zwecke einer möglichst umfassenden Computerisierung von Unter-
Neuerscheinungen
richt und Schulverwaltung ist
auch das Thema des zweiten
Kapitels.
Kerkhoff zeigt die Argumente der
Unternehmerverbände und ihre
Strategien zur Erhöhung der Akzeptanz des Computers im Unterricht auf. Dabei wird deutlich, daß
es so gut wie keine pädagogische
Begründungsmöglichkeit für die
Einführung des Computers im
Unterricht gibt, denn es stehen
jeder pädagogisch sinnvolle Programme zur Verfügung, noch ein
gesichertes Wissen über die psychischen und kognitiven Folgen
eines
Computerunterrichts:
es
dominiert das Verkaufsinteresse. Kellershohn analysiert die Auswirkungen der Technologisierung der
Schule auf die Qualifikations- und
Selektionsprozesse auf dem Hintergrund bildungsökonomisch und
bildungspolitisch relevanter Prozesse. Ein Beitrag von Kantel über die
Probleme mit Schulinformationssystemen und die damit verbundene Zunahme von Einfluß- und
Kontrollmöglichkeiten der Kultusbürokratie auf die einzelnen
Schulen beschließt das Kapitel.
Die schier unbegrenzten Kontrollmöglichkeiten, die der Einsatz
von Personalinformationssystemen
im Betrieb bieten und die gewaltigen Möglichkeiten, die mit der
Vernetzung
von bislang relativ
kleinen und voneinander nahezu
unabhängigen
rechnergestützten
Produktions- und Verwaltungsbereichen für Rationalisierungsprozesse geschaffen werden können, sind
Gegenstand des dritten Kapitels.
Am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen IG-Metall, Betriebsrat und der Adam Opel AG um die
Einführung des Personalinformationssystems PAISY zeigt Kantel die
Schwierigkeiten
der
OpelBelegschaft auf, sich erfolgreich
gegen die Einführung zu wehren.
Ebenfalls von Kantel ist ein
Beitrag über die erfolgreiche Verhinderung der umfassenden Computerisierung der Stadtverwaltung
in Duisburg. Gerade aus diesen
beiden Beispielen wird besonders
deutlich, wie komplex die Folgen
der Computerisierung in Betrieb
und in öffentlichen Verwaltungen
sind - aber auch, welche konkreten Möglichkeiten die Beschäftigten bzw. der Betriebsrat hat,
gegen das Anlegen von Datenbanken zu intervenieren.
Margret Jäger referiert in ihrem
Beitrag das Aktionsprogramm der
IG-Metall zum Gegenstand der
neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Dabei unterzieht sie den Glauben der Gewerkschafter an die Möglichkeiten
der Technik und Rationalisierung
zur Lösung der Massenarbeitslosigkeit einer notwendigen Kritik:
Neuerscheinungen
solange die Gewerkschaften der
Modernisierungsstrategie
nicht
mehr als den vagen Kampf um
die „sozialverträgliche“
Anwendung der Computertechnologie
entgegensetzen, bleiben sie in der
Defensive. Nach Jäger müssen die
Gewerkschaften
schon auf die
Technikentwicklung Einfluß gewinnen, wenn überhaupt eine im
Interesse der Arbeiter und Angestellten liegende Technikanwendung
erkämpft werden soll.
Das Buch beschließt ein Aufsatz
Schroeters über die Geschichte der
Informationsübertragung und Verarbeitung.
Hier wird noch
einmal die Generalthese des Bandes aufgenommen und verdeutlicht:
die herrschende Technik ist die
Technik der Herrschenden. Der
Computer stellt hierzu nicht nur das
modernste, sondern auch das
potenteste Beispiel dar: er macht es
nach Schroeter in perfekter Art
möglich, die zwei Grundelemente
kapitalistischer
Produktionsweise
miteinander zu verknüpfen: Produktivitätssteigerung und Herrschaftsstabilisierung.
Das vorliegende Buch hat durchaus einige bedenkliche Schwachstellen, z.B. das zugrundeliegende
Verständnis „kapitalismuskritischer“
Auseinandersetzung mit den neuen
Informations- und Kommunikationstechnologien; da wird des
öfteren mit moralischen Appellen
argumentiert statt mit sozioökonomischen Analysen gearbeitet, manches wirkt etwas kurzatmig und unverständlich hergeleitet.
Dennoch ist dieses Buch ohne
Einschränkung zu empfehlen. Es
hat mich zwar nicht von der Ungültigkeit der „Neutralitätsthese“
überzeugen können, die aufgeworfenen Fragen sind aber nicht von
der Hand zu weisen. Das Buch
verdiente eine intensivere Auseinandersetzung, als es in diesem
Rahmen möglich ist.
Karl-Heinz Schmid
Walter Seitter:
MENSCHENFASSUNGEN.
STUDIEN ZUR
ERKENNTNISPOLITIKWISSENSCHAFT
München 1984 (Klaus Boer-Verlag)
„Endlich ist es möglich, die Differenzen des Heute zu denken, das
Heute als Differenz der Differenzen
zu denken.“
(M. Foucault: Der Ariadnefaden
ist gerissen, in: G. Deleuze/M.
Foucault: Der Faden ist gerissen,
Berlin 1977)
Sitzt der Textproduzent in einem
wirklich kalten Winter an seinem
Arbeitsplatz, am Übergang vom
universitären Ort zur Berglandschaft in selbstgewählter Einsamkeit
- liegt die Möglichkeit der „Kälte
Neuerscheinungen
der theoretischen Abstraktion“
nicht fern.
Hier vernimmt der Texter „aus
der Ferne“ einen förmlichen
Schrei nach den Besonderungen
und gelangt an „die Schwelle der
'Schneeheit“ (193).
Die Transparenz, die Unbeflecktheit, die Leichtigkeit ... einer
Schneeflocke demonstriert
dem
Betrachter einen „Reichtum der
Beziehungen und Überbrückungen“ (196). So eine „Verflechtung
von Ereignis und Struktur“ bezeichnet eine bestimmte, strukturierte
Form
als
'Verhalten'.
'Schnee' als Ereignis kommt zustande, wenn sich bestimmte
Dinge auf mehreren Parametern zu
bestimmten anderen Dingen verhalten, mit ihnen das Verhältnis
bilden, welches wir das 'Ding'
Schnee nennen. Nur als Verhalten
zwischen Elementen
'gibt es'
Schnee.
Zu solchen Verhaltensverhältnissen, in denen wir mit dem Schnee
so aneinandergeraten wie wohl auch
Pflanzen mit dem Schnee zu tun
bekommen, wenn sie von ihm
beschneit werden - kommt hinzu,
daß dem Menschen, wo er geht
und steht, sein Wissen sowie
seine historische Erfahrung von
den Dingen „sich als Etwas
zwischen ihm und die Dinge
schiebt“. Durch die Einschaltung
dieses „Zwischendings“ (H. Pless-
ner) bekommt „die spezifisch
menschliche Verhaltensweise eine
Zusatzkomplexität, die technisch
zu analysieren ist, weil sie - auch
in ihrer Zeichengerüstetheit - ein
Arrangement aus Elementen ist;
und sie bekommt eine Kontingenz,
die als Feld von Politiken zu
analysieren ist, weil sie einen
Distanzen-Raum aufreißt, der nur
noch
'arbiträre' Realisierungen
zuläßt.“
Mit diesem Text - der als einer der
ersten wissenschaftlichen Titel in
dem 1984 gegründeten Klaus
Boer Verlag erschienen ist - wird
eine Geometrie der Verhaltensverhältnisse in ihren begrifflichen
Elementen untersucht. Mit der
Knüpfung des Begriffsnetzes werden aufgezeichnet: die Konstruktion von politischen Produktionen,
die Differenz von „Außenpolitik“
und „Innenpolitik“, die Differenz
von Makro- und Mikropolitik, ihre
immanente Grenze als Differenzierung - kurz eine Topologie der
Kraftfelder „menschlicher Machenschaften“.
Die Produktionen von Politik werden an historischen, ökologischen,
meterologischen
und
wissenschaftstheoretischen
Punkten
dramatisiert, so daß durch die
gedankliche Reproduktion der
„logische
Konformismus“
(E.
Durkheim) spezifischer politikwissenschaftlicher Diskurse abgestreift
Neuerscheinungen
werden kann. Durch die wiederholte Darstellung solcher Punkte
werden die Verhältnisse und
Relationen von Verhalten und
Strukturen aus begriffslosen Akten
der Verkennung zu vergnüglichen
Akten des Erkennens.
Im ersten Teil des Buches werden
als wissenschaftshistorische Elemente nachfolgende Elemente von
Politiken untersucht:
das Darstellungs-System der Heraldik
als
EinheitsherstellungsTechnik, der Zusammenhang der
Christus-...-Relation
(KirchePapst/Staat-Kaiser) mit einer Allwissenheits-Technik,
die „reine
Statistik“
als
erste
'PolizeyWissenschaft als Ordnungs- und
Erziehungs-Technik. (Die grundlegende Bedeutung dieser
BasisElemente für politische Prozesse
benötigt wohl keiner ausführlichen
Erläuterung.)
Das Anliegen dieser theoretischen
Arbeit formuliert der Textproduzent wie folgt (61):
„Ich stelle ein historisches Triptychon voran, um anhand von
Techniken, anhand von Geschichten vor Augen zu führen, daß Politik das Zueinander und Gegeneinander von Machen schaften ist, in
denen den Menschen Schicksale
gemacht werden - von Menschen.
Aber 'was' die und die Menschen
sind, das steht nicht von vornherein fest und wird auch nie endgültig
'entfaltet'. Wohl greifen die Machenschaften 'in' die Menschen
ein, doch machen sie ihnen kein
Wesen, sondern 'nur' Schicksale.
Daß Politik das Auftreten, das Aneinandergeraten,
das
SichVerschränken, das Sich-Brechen
von Techniken ist, daß Politikwissenschaft über Historie und Analyse von Techniken laufen muß dies muß nicht nur
betont, sondern immer wieder geleistet werden.“
Von daher gesehen ist Erkenntnispolitikwissenschaft eine wissenschaftliche Analytik der Produktion
von Politik/en. Die Verkettung
von Begriffen erfolgt, um die
Produktivität der
menschlichen
Verhaltensakte als Verhaltensverhältnisse - als praktische und
zugleich theoretische Diskurse zu
begreifen. Eine solche Analytik
der diskursiven Produktionsweisen
kann die materiellen, politischen
Prozesse im Detail und in ihrer
strukturellen Verbundenheit erkennen - anders als eine Theorie der
„kommunikativen
Bationalität“,
die
von
einem wesenhaften
'Sprach-Apriori' her ihre Konstruktion begründet und vor lauter 'Rationalität’ fast nie zur Analyse der
Wirklichkeit gelangt!
Der Versuch, die Möglichkeiten
einer Wissenschaft der Produktion
von Politik neuzusehen und zu
Neuerscheinungen
vervielfältigen, ist mit diesem Text
voll gelungen.
Eine Wissenschaft der Produktion
von Politiken (zur theoretischen
Entfaltung des Begriffs „Produktion“ siehe auch 185 ff.) oder der
politischen Produktion von Verhalten untersucht die diskursiven
Konstruktionen von Verhaltensverhältnissen. Zugleich bringt ein
solcher wissenschaftlicher Diskus
selbst eine je spezifische Erkenntnispolitik hervor und ist mit seinen
strukturalen Elementen selbst an
die Bedingungen der Produktion
gebunden, von den Formationen
des Politischen eingeschlossen.
Abschließend kann vermerkt werden: Endlich ist es möglich, die
Differenzen des Politischen, insbesondere der Erkenntnispolitik/theorie auseinanderzuhalten!
Rüdiger Brede
Franz M. Wuketits:
EVOLUTION, ERKENNTNIS,
ETHIK.
FOLGERUNGEN AUS DER
MODERNEN BIOLOGIE
Darmstadt 1984 (Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, geb., 239 S., DM
34,-)
Die Diskussion über die „evolutionäre
Erkenntnistheorie“
ist
heute eine der brisantesten Auseinandersetzungen zwischen den
Naturwissenschaften, vor allem
der Biologie, und der Philosophie.
Dabei geht es um nicht weniger
als um den Anspruch, die philosophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie, der Ethik und Kulturwissenschaften auf ein solides natur
wissenschaftliches Fundament zu
stellen.
Die Arbeit des Wiener Philosophiedozenten und Lorenzschülers
Franz Wuketits versteht sich zum
einen als Zusammenfassung der
bisher erreichten Positionen der
„evolutionären Erkenntnistheorie“,
zum anderen als ein Angebot an
die Philosophen, auf die durch die
Biologie entwickelten Antworten
auf Grundfragen der Philosophie
einzugehen. Nimmt man dies Angebot an, so scheint das Buch
recht genau die Stärken und die
Schwächen der „evolutionären
Erkenntnistheorie“ widerzuspiegeln.
Gelungen und kompakt ist der erste
Teil des Buches zur Theorie der
Evolution, der einen guten Überblick über deren Stand, die
Kenntnis des genetischen Codes,
Eigens Modell der Hyperzyklen
und Prigogines Theorie der Selbstorganisation der Materie durch die
dissipativen Strukturen gibt, und der
die entsprechenden philosophischen
Schlußfolgerungen aus diesen Erkenntnissen zieht: die Grenze
zwischen anorganischer und organischer Materie ist verschwunden,
Neuerscheinungen
die Natur ist ein dynamischer,
sich selbstorganisierender und
evolutiver Prozeß, in den der
Mensch eingebunden ist.
Weniger überzeugend erscheint
mir allerdings der zweite Teil, der
sich mit den erkenntnistheoretischen Fragen befaßt.
Hier erscheinen die Schlußfolgerungen, die Wuketits aus den Resultaten der neurologischen und
phylogenetischen Untersuchungen
zieht, noch recht undeutlich. So
eindeutig er dafür Stellung nimmt,
daß das Denken keine eigene
Substanz ist, sondern daß unser
Erkennen, das Bewußtsein und
Denken das - durch evolutionäre
Anpassung entstandene - Gehirn
zur materiellen Grundlage hat, so
sehr herrscht doch darüber Konfusion, wie nun näher das Verhältnis von Gehirn und Bewußtsein,
Leib und Seele, Geist und Materie
bestimmt ist.
So ist das Gehirn für Wuketits
einmal „Grundlage“ des Denkens,
dann ist das Bewußtsein „Qualität“
der Hirnleistungen, dann wiederum
„entspricht“ jedem mentalen ein
neuronales Ereignis;
einerseits
gehen
die
Leistungen
des
menschlichen Denkens weit über
den Rahmen der biologischen
Evolution hinaus, dann wiederum
ist das Denken doch nur wieder
Eigenschaft des - biologischen Gehirns. Solch kategoriale Unge-
nauigkeit weist darauf hin, daß
auch die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ kein - der Theorie des
Lebens vergleichbares - Modell des
Bewußtseins hat.
Schwach ist der dritte Teil, der die
Ethik zum Gegenstand hat. Wuketits referiert ausführlich die Ergebnisse der Soziobiologie, die auch
das menschliche Verhalten aus
biologischen Vorprägungen ableiten will, weist aber darauf hin,
welche ethischen Gefahren eine
solch biologische Betrachtungsweise
mit sich bringt, die den Menschen
nur als „Überlebensmaschine“
betrachtet. Er weiß sich dann
jedoch in den Fragen der Ethik
nicht anders zu helfen, als eine
ganze Litanei von abstrakten Sollens- und Müssensforderungen, von
Appellen an die „Menschlichkeit“
und die „humane Vernunft“ angesichts der Menschheitsprobleme
anzuführen, die zwar schön klingt,
aber folgenlos bleiben wird. Anstatt wissenschaftlicher
Begründungen folgen jetzt bekannte
Appelle ans „Umdenken“.
Das Buch scheint mir gut den Stand
der heutigen „evolutionären Evolutionstheorie“ mit all ihren Stärken
auf Seiten des Biologischen und
ihren Schwächen auf dem Gebiet
der
Gesellschaftswissenschaften
widerzuspiegeln; - es gibt einen in
seiner manchmal naiven Wissenschaftsgläubigkeit
erfrischenden
Neuerscheinungen
Einblick in den Stand der überwiegend wienerischen Diskussion
(Club 2!); eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit den kontroversen Positionen in der Philosophie
jedoch wäre zum eigenen Nutzen
nicht unangebracht.
Alexander v. Pechmann
Louis Althusser:
PHILOSOPHIE UND
SPONTANE PHILOSOPHIE
DER WISSENSCHAFTLER.
Schriften, Band 4. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem
Nachwort von Frieder Otto Wolf,
hrsg. von Peter Schöttler und F.0.
Wolf in Verbindung mit Louis
Althusser und Etienne Balibar.
Berlin-W. 1985 (Argument-Verlag,
br., 171 S., DM 24,-)
Im Winter 1967/68 fand an der
Ecole Normale Superieure in Paris
ein „Philosophiekurs für Wissenschaftler“ statt, an dem - neben
Macherey, Balibar u.a. - auch
Althusser teilnahm, dessen Vorlesung „Philosophie et Philosophie
spontanee des savants“ den Einleitungsteil bildete. In diesem nunmehr überarbeiteten - Essay
„finden sich erste Formulierungen,
die eine Wende in unseren Untersuchungen über die Philosophie
im allgemeinen sowie über die marxistische Philosophie im besonde-
ren 'eröffnet' haben ...: In der
Philosophie, die keinen Gegenstand
mehr hat (in der Art, wie eine Wissenschaft einen Gegenstand hat),
geht es um Einsätze
(d.h. um etwas, das 'auf dem Spiel
steht'); die Philosophie produziert
keine Erkenntnisse, sondern stellt
Thesen auf usf. Diese Thesen
eröffnen den Weg, um die Probleme der wissenschaftlichen Praxis
in richtiger Weise zu stellen“ (14).
Dieser Einführung geht es nicht um
eine „Theorie der Philosophie,
(sondern) um eine Beschreibung der
Art und Weise, in der die Philosophie existiert und agiert, also kurz
gesagt, um ihre Praxis“ (17). Theoretische Propositionen (Aussagen) „immer auch durch die Praxis
heimgesucht“ (20) - sind daher
richtig/unrichtig,
nicht
aber
wahr/unwahr, analog der Politik.
Im Gegensatz zu den Philosophen,
die dies beständig tun,
aber nur selten auch sagen, „setzen
wir uns von diesen Philosophen ab
... indem wir es zugeben. Gerade
indem wir die Praxis der Philosophie zur Kenntnis nehmen, praktizieren wir die Philosophie, allerdings um sie zu transformieren“
(21).
In ihrem spezifischen Verhältnis
zu den Wissenschaften hat die
Philosophie jene immer schon „zu
apologetischen Zwecken“ ausgebeutet, „und zwar jeweils zugunsten
Neuerscheinungen
der 'Werte' (...) der praktischen
Ideologien: der religiösen, moralischen, juristischen,
ästhetischen,
politischen usw.
Ideologien“
(87).
Auf dem Felde der „juristischen
Ideologie“ reflektiert (reflectit) die
Philosophie die Kategorie „des
Subjekts“ und „seines“ Objekts
auf spezifisch philosophische Weise
die juristische
Kategorie des
„Rechtssubjekts“ (und) so geht es
auch dem 'Bewußtsein'. Es ist
Eigentümer seiner selbst (Selbstbewußtsein) und seiner Güter (Bewußtsein seines Objekts bzw.
seiner Objekte)“ (96 f.). Auch die
materialistischen
Philosophien
unterliegen diesen Gesetzen. Eine
Philosophie, orientiert an der
politischen Formulierung Lenins
und
Marxens „Erkenntnis der
praktischen Ideologie“, könnte es
ermöglichen, „das ihr eigene
organische Band, das sie an die
praktische Ideologie bindet, zu
kontrollieren und zu kritisieren“
(100).
Althusser fußt hier auf Lenins
„Materialismus und Empiriokritizismus“, dem er auch seine zentralen Begriffe wie „Demarkationslinie ziehen“, „Thesen“ (Lenins
„Aprilthesen“) oder das Adjektiv
„richtig“ entlehnt. Philosophie
bedeutet demnach, „Demarkationslinien zu ziehen ... zwischen dem
Wissenschaftlichen und dem Ideologischen“, und sie antwortet darauf, „indem sie Thesen formuliert, ..., die ihrerseits neue Demarkationslinien ziehen und so neue
philosophische Fragen aufkommen
lassen“ (55). Vor dem Hintergrund
der zentralen Fragen „Was ist
Philosophie?“ und „Was unterscheidet die Philosophie von den
Wissenschaften?“ bzw. „Was unterscheidet die Wissenschaften
vom
Ideologischen?“ bezieht
Althusser 'Position' (These = Position):
„These 12: Die Philosophie formuliert Thesen ...
Aber da die Philosophie
weder eine Wissenschaft
ist, noch gar die Wissenschaft vom Ganzen, liefert sie keine Lösungen
für die Probleme. Ihr
Eingriff
(Intervention,
Anm.) ist ganz anderer
Art: Er besteht darin,
Thesen zu formulieren,
die dazu beitragen, den
Weg für eine richtige
Stellung frei zu machen.
These 13: Die Philosophie formuliert Thesen, die
... philosophische Kategorien (verknüpfen und
produzieren).
These 14: Die Gesamtheit
der philosophischen The-
Neuerscheinungen
sen und der von ihnen
produzierten Kategorien
läßt sich zu einer philosophischen Methode zusammenfassen ...
These 15: Die philosophische Methode unterscheidet sich durch ihre
Modalität und Funktionsweise
von einer wissenschaftlichen Methode“ (29).
Das Rätsel der Philosophie liegt für
Althusser in der Differenz. „die
zwischen der Realität, in die sie
eingreift (Bereich der Wissenschaften + theoretische Ideologien +
Philosophie), und dem Ergebnis
besteht, das ihr Eingriff produziert
(die Unterscheidung des Wissenschaftlichen vom Ideologischen)“ (66). Auf diesem „Kampfplatz“ (l. Kant) der Philosophiegeschichte - „dem Kampf zwischen
idealistischen und materialistischen
Tendenzen, ..., des ideologischen
Kampfes (zwischen oder innerhalb
der praktischen Ideologien) und
denen des Klassenkampfes“ (80) gilt es, „Demarkationslinien“ zu
ziehen, die geeignet (sind), den Weg
für eine Richtigstellung (im Sinne
von justesse; Anm.) der Probleme
der
'Krise'
(der
Wissenschaften;
Anm.) freizumachen, ... um die
Praxis der Philosophie zu begreifen“ (81) - im Sinne Lenins!
Des weiteren ist ein Bündnis der
Wissenschaftler mit der materialistischen Philosophie notwendig,
um das Kräfteverhältnis innerhalb der „spontanen Philosophie
der Wissenschaftler“ zu verändern,
i.e. jener „(bewußten oder unbewußten) Vorstellungen, die ihre
wissenschaftliche Praxis und die
Wissenschaft betreffen“ (102), ein
Kampf gegen die praktischen Idealismen der Ideologien. Bedrohlich
bleibt bei Althussers Position die
Ableitung philosophischer Prozesse
und Kategorien aus (politischer)
Taktik und Strategie für den (ideologischen) Klassenkampf. Philosophia ancilla rei publicae, Magd des
Staates, politische Theologie. Denn
wenn philosophische Kategorien
wie „wahr/falsch“ ersetzt werden
durch
politische
wie
„richtig/unrichtig“, so wird Wahrheit
dem politischen Kalkül anheimgestellt oder auch - dem deutschen
Leser schwer verständlichen Sprachspiel
unterworfen
(die
Differenz zwischen der Realität,
in die die Philosophie eingreift,
und dem Ergebnis tritt für
Althusser „als ein Unterschied zwischen Worten auf“) (66 f.).
Andererseits setzt er Philosophie
mit dem dialektischen Materialismus gleich, der historische verbleibt der Wissenschaft: die
(marxistische) Philosophie dagegen
ist der blinde Fleck in seinen Arbei-
Neuerscheinungen
ten. Und „er, der soviel Wert legt
auf die Kritik der Wörter, läßt
solche überfrachteten Vehikel wie
'dialektischer
Materialismus',
'historischer Materialismus', 'Philosophie', 'Wissenschaft' oder 'Marxismus-Leninismus' unkontrolliert
passieren“ (Georges Labica). Seine
indirekte Kritik des herrschenden
Marxismus-Leninismus, sein Versuch, u.a. eine materialistische
Praxis der Philosophie zu entwickeln, sowie den Begriff des Ideologischen zu spezifizieren, machen
nicht nur dieses Buch, sondern auch
die zukünftig erscheinenden Schriften zu Notwendigkeit für einen
konstruktiv weiterführenden marxistisch-philosophischen Diskurs.
Den Herausgebern gilt der Dank,
längst Fälliges projektiert zu
haben.
Jean-Michelle Haviticion / Hans Mittermüller
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 169171
Autor: Wolgang Höppe
Glosse
GLOSSE
Wolfgang Höppe:
Zeit – Geist – Heil – Zeit
Toxicate your brain
with what I'rn sayin'
9. Oktober 1986, 21 Uhr. Mehrere Tausend in der Halle vor Ort, rund 10
Millionen vor den Bildschirmen bei den Lieben zu Haus. Doch nicht Boris Becker schlägt auf, das ZDF schlägt zu. Auf der ätherischen Basis der
Motti "Gesund durch Gedankenenergie" und "Selbstheilung im gemeinsamen Kraftfeld" lotst ein Hobbymoderator von der anstaltseigenen Okkulturabteilung das Berufsgeistheilerehepaar Freddy und Silvia Wallimann (aus der Schweiz, oddrr?) durch eine Sendung, die zur Mission gerät, und erklimmt von seinem gut besuchten Basislager aus exakt eine
Woche, bevor Reinhold Messner seinen letzten Achttausender dieser
Erde bezwingt, einen neuen Gipfel unsäglicher TV-Produktion ZDF
proudly präsentiert.
Wir sind wieder wer und soweit so werden sich zu mindest die Geistheiler unter den Jenseitsideologen der Postmoderne ins allzeit empfangsbereite Fäustchen lachen, da ihnen das ZDF ein Promotion5spektakel in
Szene setzt, das selbst ausgebufften Heildegen vom Köhnlechnerkaliber
die Wangen mit sattem Neidesgrün überzieht.
Licht weg. Das Licht im Saale wird zurückgefahren, allerdings nicht, um
den Mitspielern und Zuschauern das Kommende wenigstens optisch zu
ersparen. Spot auf Frau Wallimann. Die Augen schließen Mystik kommt
Glosse Höppe
von griechisch mystein: die Augen schließen. Das zahlende Publikum im
Saal, teils durchschnittlich Mühselige und Beladene wie du und ich, teils
von ihren Leiden extrem gedrückte und geknechtete Menschen, gehorcht. Während Herr Wallimann Spezialgebiet: Fernheilen auf eigene
Faust nach innen emigriert, um unterstützend Heilkräfte zu akkumulieren, spricht Wallifrau die Anwesenden gemeinschaftlich ramdösig, um sie
für die Segnungen ihres Gewerbes zu initiieren und auf Empfang zu polen.
Nach Abrüstung des wachen Ich nämlich öffnet sich der Teilnehmer im
richtigen Leben der Kunde für die eigenen, die fremden, ja die kollektiven geistigen Heilkräfte und Kraftfelder, gelangt mit den unverhofften
Gedankenenergien zu einem höheren geistigen Bewußtsein, zu Harmonie und Einheit mit sich selbst und steckt folglich von gelegentlicher
Migräne über hartnäckige Geschwulste bis hin zur verkorksten Weltanschauung alles locker weg. Echt easy. Der Geistheiler, der sich nicht wie
der Naturheiler mit dem Griff in den irdischen Arzneischrank des Herrn
bescheiden kann, sondern nach den Sternen und weiter greifen muß,
spielt den Part des besonders prädestinierten mental-ätherischen Transmitters, der die nicht-materiellen, übrigens einem in den kosmischen Tiefen behausten "Weltgeist" da staunt der Philosoph, da lacht sich eins der
Hegel geschuldeten Energien, vielleicht gemäß der materiellen Kraft des
Klienten, kanalisiert. Da es sich um unstoffliche Energien handelt, spielen Entfernungen keine Rolle der logische locus nascendi des Fernheilers
Wallimann, der, anders als seine nah- und mittelstreckenheilenden konventionellen Kollegen, ein lupenreiner Heimarbeiter ist Foto genügt.
Als der für derlei nicht ausgelegte Berstschutz der Arena angesichts der
protuberierenden Energy-Schübe zu havarieren droht:
Licht an. Nun macht sich Sportsfreund Harry Valerien mit einem kleinen
Team auf die Socken, von den gerade zu sich kommenden und sich zusammenrappelnden Gästen Reaktionen und erste Stellungnahmen zu erheischen. Einige geben schnöde vor, nichts verspürt zu haben, einer gibt
indigniert ein weggeschlafenes Bein zu Protokoll bei Lembke im Ersten
hätte er immerhin ein Schweinderl nach Hause getragen. Andererseits
vertraut eine Mitspielerin den Fernsehkameras an, auf eine hübsche
Blumenshow entführt worden zu sein, weitere Interviewte versichern,
sich herrlich geborgen und eins mit den Anderen gefühlt zu haben der
narzißtisch Vorgebildete erinnert die freundlichen ozeanischen Weiten
seiner Selbstentgrenzungserfahrungen, ist's zufrieden und, genießt. Ein
Herr berichtet aufgeräumt und gutgelaunt, er fühle sich großartig ent-
Glosse Höppe
spannt und erholt, eine Erfahrung, die der gern mittagsschlafende Autor
dieses Glösschens zu teilen und zu schätzen weiß.
Sendezeit um. Mit dem Ausdruck der Hoffnung, der Zuschauer zu Hause hielte dies alles nicht für Scheiß, werden 10 Millionen ins HeuteJournal oder zu Udo Jürgens bei der ARD entlassen. Nicht die Anwesenden im Saale. Sie werden nun mit per Fernsprecher einlaufenden
Fernheilbotschaften beschossen. Ruhe ist erst, als eine Bombendrohung,
die der Autor natürlich scharf mißbilligt, der Veranstaltung den Garaus
macht.
Eine Folge des heillosen Trips: Solidarität. Kirche (evangel wie kathol)
und Gerätemedizinerschaft, die sich bei normalem Geschäftsgang arbeitsteilig um die Seelen und die Leiber der Untertanen sorgen, winken
unisono ab: Humbug, Scharlatanerie, schnaub! Die verdächtig vehement
vorgetragene Schmähkritik trifft natürlich nicht den Kern Eigenkritik, die
es dann auch sein müßte, stinkt zwar nicht, schadet aber und rechtfertigt
daher auch nicht das eigene Tun.
Die wichtigere Kritik(fähigkeit) von seiten der Menschen in der Halle hat
offensichtlich der Wind des Zeitgeistes, der bei diesem mediengestützten
Coming-out des Unfaßbaren ordentlich bläst, verweht. Daß trotz der gar
nicht moderaten Verheißungen niemand repariert und nichts geheilt
würde, war zu erwarten. Daß außer ein bißchen Basic in autogenem
Training und Rudimentärstem an Meditation nichts Reelles stattfinden
würde, war zu vermuten der Rest: Massensuggestion im Rahmen einer
Public-Relations-Show, deren Manager hier ausnahmsweise nicht mit
birnrissigen Vergleichen mit Goebbels oder Gorbatschow bedacht werden sollen. Daß sich niemand darüber aufregen würde, war zu befürchten.
Gruftis kritisches Bewußtsein ist eh out. Angesagt ist das neue Bewußtsein des New Age, einer Bewegung, die (in ihrer Form) zu neu ist, um als
Nachkriegsschnickschnack abgetan zu werden, zu blind, sich als genuine
Vorkriegsströmung selbst zu begreifen. Einklang soll die Parole sein, etwa für den aus seiner Wohnung Gekündigten, Harmonie, z.B. für den
außer Brot Gesetzten, Optimismus für den Homo Chernobyl contaminatus.
Ach so! Die Sendung, die den Blackout oder wenigstens die Gnade einer
späteren Sendezeit (etwa zwischen 24 und Null Uhr) verdient hätte, hieß
"Probe aufs Exempel". Wieso? Vier vorgestellte Humankaninchen der
Tierversuch hätte wohl zu viel Ärger eingebracht waren ein langes Jahr
lang von Freddy, dem Intercontinentalheiler, ferngeisttherapiert worden.
Glosse Höppe
Es sollten nun die Ergebnisse auf den Tisch. Und? Dreien dieser Vier
geht es spürbar besser. Wie der Heilerfolg? Man kehrt unter den Tisch,
daß sie ihre traditionelle ärztliche Behandlung nie aufgegeben haben.
Echt einfach, gell? Und der Vierte? Unbewußte Blockaden, sperrt sich!
Echt selber schuld, echt.
P.S.: Frage: Hätte sich Bayern, wäre es eine ARD-Sendung gewesen, abgeschaltet, etwa wegen Kabarettverdachts, oder hätte Bayern, verdammt,
einen Teufel getan?
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 172175
Autor: Richard Albrecht
Leserbrief
Leserbrief
Richard Albrecht
Gesellschaft als Organismus
oder wider den Biologismus als Ideologie
Als der britische Naturforscher Charles Robert Darwin 1859 sein Buch
„On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ veröffentlichte, erfuhr seine Selektionstheorie der natürlichen Auswahl der Geeignetsten – „natural selection of the fittest“ – als allgemeine naturgesetzliche
Deutung von Entwicklungsgesetzen der Natur eine breite Aufnahme.
Charles Darwin ging es nicht zuletzt u m eine plausible Erklärung der
Entwicklung der Arten einerseits und um die Aufhellung der dunklen
Vorgeschichte der menschlichen Gattung andererseits. Und zugleich
wandte der Naturwissenschaftler Darwin selbst seine Selektions- oder
Auswahltheorie nur sehr behutsam auf gesellschaftliche Entwicklungen
an.
Aus dem Darwinismus durch Übertragung des Selektionsprinzips auf
den homo sapiens und vor allem: die menschliche Gesellschaft den Sozialdarwinismus zu machen und eine Analogie natürlicher und sozialer
Entwicklungen und Prozesse zu behaupten blieb anderen den Epigonen,
überlassen. Der weltpolitische Kampf um Kolonien, Märkte und Absatzgebiete von Waren und Kapital, schließlich Sklavenhalterei und Rassenunterdrückung mußte angesichts der Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit massenwirksam begründet werden. Die ideologischen Anliegen vermengten sich im neunzehnten Jahrhundert mit der
Leserbrief
Gegenaufklärung: „Kampf ums Dasein“ und „Überleben der Besten“
wurden die entsprechenden Parolen. Und bis in die Arbeiterklassen Europas, die um ihre Emanzipation organisiert zu kämpfen begannen, hineingetragen als – so die Kritik aus klassenbewußter Sicht – „Sozialismus
der dummen Kerls“.
Ideologisch ging es damals – wie in der historischen Anthropologie des
französischen Grafen Joseph Arthur Gobineau – in der Tat um die Begründung der „Ungleichheit der Menschenrassen“ und die Überlegenheit
der „germanischen“ Rasse. Albert Schäffle entwickelte in Deutschland
ein organisches Konzept von Gesellschaft als „socialem Körper“. Und
im Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts proklamierten die österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowitz und vor allem Gustav Ratzenhofer das sozialdarwinistische Muster der blanken Obertragung universeller Gesetze der Naturentwicklung auf soziale Prozesse, das heißt auch:
Kampf der Rassen um Dasein und Lebensraum zum Zwecke des Überlebens der Tüchtigsten und Stärksten.
Der bedeutendste und zugleich kriminellste sozialdarwinistische Ideologe
und Praktiker unseres Jahrhunderts war zweifellos der zwölf Jahre lang
amtierende Führer und Reichskanzler Adolf Hitler. In seinem Dritten
Reich entschied tatsächlich das Reichssippenamt, wer der sogenannten
„arischen Rasse“ angehörte und wer durch Herkunft und Geburt – also
durch biologisch-genealogische Bestimmung unabänderlich – als Fremdrassiger aus der deutschen Volksgemeinschaft auszustoßen sei und
schließlich als „unwertes Leben“ der „Ausmerze“ oder auch der „Vernichtung durch Arbeit“ zuzuführen war.
Was angesichts dieser geschichtlichen Erfahrung namentlich im bürgerlichen Deutschland seitdem zu Recht als menschenfeindlich galt, erfährt
nun seit Jahren einen unübersehbaren und zunächst: ideologischen
Boom. Biologische Kategorien zur Deutung menschlichen Handelns einerseits und gesellschaftlicher Entwicklung andererseits sind nicht nur
im Vormarsch, sondern mehr noch: im sozialen Aufwind. Und zwar
gleich in doppelter Hinsicht: einmal in gesellschaftlich-allgemeiner oder
auch: ideologischer Weise – was auch durch Entdeckungen der Biologie
als Wissenschaft in den letzten zwanzig Jahren, vor allem der sogenann-
Richard Albrecht
ten Gen- und Genmanipulationstechnik, begünstigt, – aber dadurch
nicht erklärbar ist.
Zum anderen gibt es einen unübersehbaren Trend der Biologisierung
auch in den wissenschaftlichen Fachdisziplinen – etwa Soziologie oder
Politikwissenschaft –, in denen dies’ am wenigsten zu erwarten wäre.
Hier dürfte der letzte Trend im Westen eine als „biopolitics“ bisher noch
nicht eingedeutschte Forschungsrichtung sein. Sie schließt an die vergleichende Verhaltenslehre – etwa die Ethologie des Konrad Lorenz mit
seinen Graugänsen – an und bemüht sich um eine Begründung der Biologie auch des politischen Verhaltens.
Und in soziologischen Entwürfen der weitgehend pragmatischhemdsärmlig ausgerichteten US-amerikanischen Soziobiologie geht es
erklärtermaßen erneut um den „Eignungsgedanken“ oder so ein inzwischen auch deutsch übersetztes Lehrbuch „Soziobiologie und Verhalten“
von David P. Barash – um die „biologischen Grundlagen des
Sozialverhaltens“ und damit in der Tat um eine Biologisierung des
menschlichen und sozialen Handelns. Dies nun wird wie bei Professor
Heiner Flohr als dem bundesdeutschen Protagonisten von „biopolitics“
verbunden mit Polemiken gegen den sogenannten „Kulturismus“ oder
den angeblichen „kulturistischen Fehlschluß“ – die Metaphern sind
offensichtlich als falsche Freunde amerikanische Wendungen und
werden plan aufgenommen. Und was schließlich, ginge es um
Forschungskonzepte, zu leisten wäre: die Herausarbeitung der
widersprüchlichen Einheit von Biologischem und Sozialem im
menschlichen Verhalten wie in gesellschaftlichen Prozessen – bleibt nach
wie vor
Was
immer
systematisch
auch außer
vernachlässigt.
der Besetzung geeigneter Lehrstühle und sonstiger Pfründe diese neuen Bio-Wissenschaftler bewegen mag – um Wissenschaft als methodische, systematische und kritische Suche nach Erkenntnis und Wahrheit dürfte es auch hier nur am Rande gehen. Vielmehr lassen sich gerade die neuren sozialbiologischen Ansätze und
Konzeptionen recht wohl – und nicht nur in der Bundesrepublik – in eine neukonservativ formierte ideologische Landschaft einpassen und hier
im besonderen als entscheidende sozialanthropologische Begründungsstränge praktischer politischer Maßnahmen vor allem im gesamten Bildungsbereich ausmachen.
Leserbrief
Wenn zum Beispiel der britische Psychologe Hans Jürgen Eysenck vor
dem „Aufstieg der Mittelmäßigkeit“ warnt und so einer neukonservativen Elitebildung geschmeidig das Wort redet, dann scheint nicht nur die
Rücknahme aller fortschrittlich-bürgerlichen Bildungsmaßnahmen mit
ihrem verkündeten Bürgerrecht auf Bildung und Chancengleichheit auf,
sondern zugleich auch ein Stück volks- und massenfeindlicher Herrenmenschen-Mentalität.
Die bundeskanzlerische Warnung vor dem „Sozialneid“ und die gegenscherte Verteuflung von steuerpolitischen Forderungen als „Neidsteuer“
durch Kohls noch immer amtierenden Stellvertreter sind – so gesehen –
auch nicht nur pathologischer Ausdruck der politisch-psychologischen
Mentalität und geistigen Physiognomie führender Wendeleute und
Rechtskräfte, sondern ideologiepolitisch völlig folgerichtig.
Der Biologisierung als neuer Leitideologie dieser politisch-sozialen Kräfte entspricht auf der operativen Ebene des politisch Machbaren eine –
neue und zugleich doch so alte – Elitevorstellung. Sie wird, auf biologischer Grundlage sozial verallgemeinert, zusammengehalten von einem
Begabungs- und Intelligenzverständnis, das zweierlei leisten soll: erstens
gegen jede Vorstellung von Gleichheit der Chancen Sturm zu laufen und
zweitens – unter den Bedingungen der Bundesrepublik – auch die zartesten, sozialliberal beförderten Ansätze nach Verwirklichung dieser Chancengleichheit rabiat zurückzunehmen ... wobei in der Optik unserer neukonservativen Rechtskräfte schon kompromißlerisch angelegte und
halbherzig betriebene Gesamtschulen nordrhein-westfälischer oder hessischer Prägung als gleichmacherisches Teufelswerk gelten.
Die biologistische Herrenmenschen-Ideologie in ihren derzeitigen christlich-sozialen, christlich- und freidemokratischen politischen Varianten
und blauweiß, rotweiß und blaugelb getönten Facetten verbindet, wie
unseren neukonservativen Herrschaftsblock überhaupt, aber noch ein
weiteres zentrales ideologisches Element: das Verständnis von Intelligenz und Begabung als letztlich doch genetisch programmierter sozialer
und individueller Erscheinung. Weshalb denn auch ganz folgerichtig gesellschaftliche Führungspositionen nur wenigen Auserlesenen und damit
einer schmalen intelligenten Elite zustünden.
Richard Albrecht
Berufen mögen sich also viele fühlen – auserwählt können immer nur
wenige sein.
Diese alte, ja schrunzlige Vorstellung von Gesellschaft als biologischem
„sozialen Körper“ sollte denn auch in unserer Zeit erfahrungswissenschaftlich, also durch sogenannte empirische Untersuchungen, belegt,
bestätigt und bewiesen werden. Die Intelligenz-Debatte fand vor allem in
den USA Mitte der siebziger Jahre und vor dem Hintergrund der sozialen Emanzipationsbestrebungen von Schwarzen statt. Wissenschaftlicher
Kronzeuge der These von der Biologisierung der Intelligenz und ihrer
Vererbung war – neben Professor Arthur Jensen – vor allem der Londoner Psychologe Sir Cyril Burt. Professor Burt veröffentlichte drei Jahrzehnte lang – Mitte der vierziger bis Mitte der siebziger Jahre – zahlreiche Aufsätze über, so ein Aufsatztitel im „British Journal of Psychology“
1966, „Die genetischen Bestimmungen von Unterschieden der Intelligenz“. Er präsentierte auch hier Daten von empirischen Reihenuntersuchungen unter anderem an eineiigen Zwillingen, die beredt für die Erblichkeit des Faktors: Intelligenz und damit allgemein für Intelligenz als
genetisch bestimmtem Merkmal sprachen.
Allein hatte Sir Burts eingängige These einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler: seine empirischen Daten waren nämlich so die
Wissenschaftsjournalisten William Broad und Nicholas Wade im
Anschluß an Sir Burts Biographen in ihrem Buch „Betrug und Täuschung in der Wissenschaft“ – ganz einfach erstunken und erlogen und
die zahlreichen empirischen Untersuchungen des Professors wie auch
immer erfunden: jedenfalls niemals durchgeführt.
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 176177
AutorenInnen
AutorInnen
Albrecht, Richard
Brede, Rüdiger
Butzer, Günter
Dittlmann, Arthur
Evers, Tilman
Freytag, Carl
Gaube, Karin
Gomez-Muller, Alfred
Günter, Manuela
Haviticion, Jean
Henckmann, Wolfhart
Höppe, Wolfgang
Kansy, Angelika
Knips, Ignaz
Kocka, Jürgen
Kühnl, Reinhard
Lotter, Konrad
Marks, Ralph
Mittermüller, Hans
Dr. phil., Mannheim
Dr. phil., Grevenbroich
Student der Philosophie, München
Dipl.-theol., Student der Germanistik, München
Dr. phil., Ev. Akademie Hofgeismar
Dr. rer. nat., Physiker, München
M.A., Journalistin, München
Dr., Redakteur bei "Concordia-intern. Zeitschrift für Philosophie", Paris
Studentin der Philosophie, München
Student der Philosophie, Montpellier
Dr. phil., Professor für Philosophie, München
Dr. phil., freier Wissenschaftler,
München
Studentin der Pädagogik, München
Doktorand der Philosophie, Köln
Dr. phil., Professor für Geschichte, Bielefeld
Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft, Marburg
Dr. phil., Philosoph, München
Dr. phil., Historiker, München
M.A., Doktorand der Philosophie,
München
Verzeichnis der AutorenInnen
Müller-Lissner, Adelheid
v. Pechmann, Alexander
Rath, Matthias
Rauch, Angelika
Schmid, Karl-Heinz
Schraven, Martin
Schulte, Günter
Stürmer, Michael
Teune, Wolfgang
Treptow, Elmar
Wenzel, Wolfram
Wieschebrink, Udo
Wimmer, Thomas
Dr. phil., Übersetzerin, München
Dr. phil., Lehrbeauftragter
der Volkshochschule, München
Dr. phil., Akad. Rat. a.Z.
für Philosophie, Eichstätt
Studentin der Germanistik,
München
Magistrand der Pädagogik,
München
M.A., Doktorand der Philosophie, München
Dr. rer. nat., Professor für
Philosophie, Köln
Dr. phil., Professor für
neuere Geschichte, Erlangen
Dipl.-Kaufmann, Monheim
Dr. phil.. Universitätsdozent für Philosophie, München
M.A. der Philosophie,
wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent der Volkshochschule, München
M.A., Doktorand der Philosophie, München
M.A., Doktorand der Philosophie, München
In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 178
Impressum
Impressum
WIDERSPRUCH
Münchner Zeitschrift für Philosophie
8. Jahrgang Nr. 16 (1986)
Verleger
Alexander v. Pechmann (Dozent, München),
und Inhaber: Tengstraße 14, 8000 München 40
Redaktion:
Martin Schraven (verantwortlich). Riesstraße 60,
8000 München 50; Manuela Günter; Konrad Lotter;
Hans Mittermüller; Alexander v. Pechmann; Elmar
Treptow; Wolfram Wenzel; Udo Wieschebrink; Thomas Wimmer
Anzeigen:
Redaktion, Tengstr. 14,8000 München 40, Tel.
089/2720437
Typoskript:
Schreibstudio I. Odau, Preysingstraße 7,
8000 München 80
Druck:
Fotodruck Frank GmbH, Gabelsbergerstr.15,
8 München 2
- 0722 - 8104
Preis: DM 4,—
Impressum
Abo:
DM 3,50 (zuzügl. Versandkosten)
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt
die Meinung der Redaktion wieder.
WIDEBSPRUCH bietet ein Forum der offenen Diskussion, das zum
jeweiligen Schwerpunktthema Beiträge aus unterschiedlichen Richtungen und Zugangsweisen enthält. Im Zentrum steht dabei die
philosophische Reflexion gegenwärtiger Problemfelder in Hinblick
auf die Begründbarkeit ihrer Lösungen
WIDERSPRUCH wendet sich vor allem an Philosophen, Sozialwissenschafter, Lehrer und Meinungsträger.
WIDERSPRUCH enthält philosophische Beiträge, Diskussionen und
Rezensionen zum jeweiligen Schwerpunktthema; Besprechungen von
Neuerscheinungen, Notizen und Berichte.
WIDERSPRUCH eröffnet Studenten die Möglichkeit, eigenständig
Artikel oder Buchbesprechungen zu publizieren.
WIDERSPRUCH existiert im 6. Jahr und erscheint derzeit mit einer
Auflage von 1.300 Exemplaren. Er erscheint zweimal im Jahr (l x pro
Semester). Der Preis für das Einzelheft beträgt 4,-; für
das Abonnement 3,50 zuzügl. Versandkosten.
Herunterladen