Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986) INHALTSVERZEICHNIS Wiederkehr des Mythos? zum Thema 7 Artikel Manuela Günter, Alexander von Pechmann, Thomas Wimmer Rehabilitation des Mythos. Eine Bestandsaufnahme 9 Konrad Lotter Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung 22 Ralph Marks Schelling und die Mythologie 30 Elmar Treptow Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? 48 Tilman Evers Mythos und Emanzipation menschlicher Subjektivität. Zum Verhältnis von E. Bloch und C.G. Jung 58 Angelika Kansy Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos – Zur „Dialektik der Aufklärung“ und ihrer kommunikationstheoretischen Transformation 71 Udo Wieschebrink Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik der „Dialektik der Aufklärung“ nicht? 79 Günter Schulte GOLEM - Magie, Mystik und Mythos Am Ende der Schriftkultur 85 Wolfram Wenzel Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder 92 Wolfhart Henckmann Marginalien zu „Mythos und Moderne“ 99 Alfred Gomez-Muller Über die mythisch-rationale Verzauberung 107 Stellungnahmen zu drei Fragen zum Verständnis der Geschichte 112 Bücher zum Thema Stefano Cochetti: Mythos und „Dialektik der Aufklärung“ Alexander v. Pechmann 117 Hans-Jürgen Heinrichs: Die katastrophale Moderne Carl Freytag 118 Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos Alexander v. Pechmann 120 Tamás Kürthy: Dornröschens zweites Erwachen. Manuela Günter 122 Willi Oelmüller (Hg): Wiederkehr von Religion. Religion und Philosophie Wahrheitsansprüche der Religionen heute. Religion und Philosophie Arthur Dittlmann 123 Olga Rinne (Hg): Der neue Entwurf der Welt. Ursprungsmythen Band 1, Der verlorene Himmel. Ursprungsmythen Band 2 Wolfram Wenzel 125 Märchen, Mythen, Matriarchat Manuela Günter 126 Rolf Vogt: Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder das Rätsel der Sphinx Manuela Günter 127 Raimondo Panikkar: Rückkehr zum Mythos Konrad Lotter 128 Peter Engelmann (Hg): „Edition Passagen“ Thomas Wimmer 130 Renate Jäckle: Gegen den Mythos. Ganzheitliche Medizin Martin Schraven 131 Bruno Liebrucks: Irrationaler Logos und rationaler Mythos Ignaz Knips 133 Genevieve Lloyd: Das Patriarchat der Vernunft. Günter Butzer 135 Winfried Menninghaus: Schwellenkunde. Ignaz Knips 136 Edition Discord: Die Zukunft der Vernunft. Eine Auseinandersetzung Matthias Rath 138 Alfons Rosenberg: Engel und Dämonen. Martin Schraven 140 Burghart Schmidt: „Postmoderne – Strategien des Vergessens“ Th. Wimmer 142 Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Wolfgang Teune 143 Gerda Weiler: Der enteignete Mythos. Adelheid Müller-Lissner 145 Gerd Bergfleth et al.: Zur Kritik der palavernden Aufklärung Ignaz Knips 148 Peter Glotz, Günter Kunert und Sozialistische Studiengruppen: Mythos und Politik. Hans Mittermüller 150 Claude Lévi-Strauss: Eingelöste Versprechen – Wortmeldungen aus dreißig Jahren - Der Blick aus der Ferne Rüdiger Brede 152 Neuerscheinungen Glosse Leserbrief Anhang Florian Rötzer: Französische Philosophen im Gespräch Alexander v. Pechmann 154 Gena Corea: Mutter Maschine – Reproduktionstechnologien Karin Gaube 157 Margret Jäger, Siegfried Jäger, Dieter Kantel, Lothar van den Kerkhoff, Helmut Kellershohn, Michael Schroeter, Walter Volpert: „Da wird der Geist Euch wohl dressiert ...“ Computer in Schule und Betrieb Karl-Heinz Schmid 158 Walter Seitter: Menschenfassungen. Rüdiger Brede 161 Franz M. Wuketits: Evolution, Erkenntnis, Ethik. Alexander v. Pechmann 163 Louis Althusser: Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler Jean Haviticion, Hans Mittermüller 165 Buchneueingänge 168 Wolfgang Höppe: Zeit – Geist – Heil – Zeit 169 Richard Albrecht: Gesellschaft als Organismus oder wider den Biologismus als Ideologie 172 AutorInnen Impressum 176 178 In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986), S. 7-8 AutorenInnen: Redaktion Zum Thema Zum Thema Wiederkehr des Mythos? Der Traum von der Allmacht der menschlichen Vernunft scheint ausgeträumt zu sein. Das Vertrauen in die Fortschritte der wissenschaftlichtechnischen Revolution ist erschüttert, die Hoffnung auf eine, auf die Beherrschung der Natur gegründete, vernünftige Gesellschaft fragwürdig geworden. Stehen wir am „Ende der Aufklärung“, am „Ausgang der Moderne“ ratlos vor einer unwirtlichen Welt, vor den Trümmern einer Hybris, die alles für erkennbar und machbar hielt? Die einen sehen die globalen Probleme, vor denen wir heute stehen, als das Resultat einer verkürzten Rationalität, die in bornierter Erfolgswut die Interessen der menschlichen Gemeinschaft ausgeblendet hat. Die anderen sehen darin die Auswüchse der Rationalität überhaupt. Wo folglich die einen auf eine andere, ganzheitliche Rationalität setzen, da ordnen die anderen die Rationalität dem Mythos unter. „Rückkehr zum Mythos“ wird zum Zauberwort, das sich mit der Perspektive einer neuen, friedlichen, humaneren Welt verbindet. Eröffnet die Rückkehr zum Mythos wirklich einen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere oder verbirgt sich dahinter ein gefährlicher Irrationalismus, der uns der Katastrophe nur noch näherbringt? Die Reihe der Artikel beginnt mit einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Mythos-Diskussion (Manuela Günter, Alexander v. Pechmann, Thomas Wimmer) sowie einer philosophiehistorischen Positionsbestimmung von Mythos und Aufklärung innerhalb der (sokratischen) Ethik (Konrad Lotter). zum Thema Eine zweite Gruppe setzt sich mit den „klassischen“ Versuchen auseinander, den Mythos als ein Moment in die philosophische Reflexion zu integrieren. Sie beginnt mit Schelling (Ralph Marks) und Nietzsche (Elmar Treptow) und führt über die problematische Beziehung Bloch – C.G. Jung (Tilman Evers) zu Horkheimer/Adorno (Angelika Kansy) und zu Habermas (Udo Wieschebrink). Unter bestimmtem, problemorientiertem Interesse schließlich fragt Günter Schulte, ob am Ende der Schriftkultur die neuen Formen der Kommunikation einer Mythologisierung unserer Erfahrung Vorschub leisten. Wolfram Wenzel untersucht die Rolle der Mythologie in der Wirklichkeitserfahrung der Kinder. Wolfhart Henckmann diskutiert neuere Versuche, das Verhältnis von Mythos und Kunst zu bestimmen. Alfred GomezMuller stellt Mythos und Vernunft im Verhältnis zur Geschichte dar. Den Abschluß bilden Stellungnahmen der Historiker Jürgen Kocka und Michael Stürmer und des Politologen Reinhard Kühnl zu drei – von der Redaktion vorgelegten – Fragen nach dem Verhältnis von Mythos und nationaler Identität. Den Artikeln folgt wie immer ein ausführlicher Rezensionsteil zum Thema sowie eine Glosse über die Sumpfblüten, die der Mythos bzw. Mystizismus gegenwärtig in den Massenmedien treibt (Wolfgang Höppe). Noch ein Wort in eigener Sache. Ab der nächsten Ausgabe erhöht sich der Verkaufspreis des „Widerspruch“ auf 5 DM pro Heft (4,50 DM für Abonnenten incl. 1.50 DM Versandkosten ). Nach wie vor arbeiten Autoren und Redaktion unentgeltlich. Wir hoffen auf das Verständnis unserer Leser. Die Redaktion Berichtigung: In der letzten Nummer (1/86) sind uns zwei bedauerliche Fehler unterlaufen: In der Rezension von Hans Mittermüller auf S. 100 in der achten Zeile muß es statt „Das Prinzip Hoffnung“ richtig „Das Prinzip Verantwortung“ heißen. – In der Rezension von Martin Schraven, S. 104, in der 11. Zeile von unten muß es statt „genetische Position“ richtig zum Thema 11. Zeile von unten muß es statt „genetische Position“ richtig „gegnerische Position“ heißen. Wir bitten um Beachtung der Beilagen der diskord/Konkursbuchverlag und des Argument-Verlags. Copyright © Widerspruch - Informationsservice, 1997-2003 URL:http://www.widerspruch.com Edition In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos (1986), S. 9-21 AutorenInnen: Manuela Günter, Alexander v. Pechmann, Thomas Wimmer Artikel Manuela Günter, Alexander von Pechmann, Thomas Wimmer Rehabilitation des Mythos Eine Bestandsaufnahme "Und rückwärts soll die Seele mir nicht fliehen Denn tödlich ist's." Hölderlin Mit der viel beschworenen "Krise unserer Zivilisation" geht auch die sie tragende Bewußtseinsform, die "praktische Vernunft" der Philosophen, das "Machen" und "Produzieren" der Technologen und -kraten, Notzeiten entgegen. Wer will heute, angesichts der beredten Kritik eines Peter Sloterdijks oder den öffentlichen Bekehrungen eines Martin Walsers, sich schon gern dem Vorwurf der grenzenlosen Naivität und Unbelehrbarkeit aussetzen, wenn er vorgibt, noch immer dem "Prinzip Vernunft" anzuhängen? Ist es doch ausgemacht, daß sie, die Ratio, das Hauptübel, die Verursacherin der Gebrechen unserer Gegenwart sei. Wohl weniger aus Opportunismus, als aus Profession schwimmt die Philosophie auf der Woge der Vernunftkritik obenauf und läßt sich von den Kulturphilosophen der Vergangenheit, von Schlegel und Schelling, von Nietzsche und Heidegger die Stichworte für die Kehrtwende der Philosophie hin zum Mythos, dem "Andern der Vernunft", geben. Was dabei allerdings als "Vernunft" getadelt und als "Mythos" gefeiert wird, M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer bleibt so schillernd, bunt und vielfältig, wie der Mythos und der Logos selbst, die ursprünglich ja dasselbe meinten, nämlich nur: das Wort. Die Wahrheitsansprüche des Mythos Die erste Renaissance nach der Aufklärung hatte der Mythos in der romantischen Bewegung. A.W. Schlegel stellte der Metapher des Lichts, das den Illuminaten der Aufklärung noch als Symbol der erhellenden und befreienden Erkenntnis gegolten hatte, die Nacht und das Dunkel, das Geheimnis und den Zauber des unergründlichen Lebens, als die tiefere Wahrheit gegenüber. Und Schelling, angeregt durch die romantische die theosophisch-mystische Tradition Jakob Boehmes, griff zunehmend heftiger die Ansprüche des Logos auf eine vernünftige Welt- und Lebensgestaltung an. Seine "Philosophie der Mythologie" war der Versuch, die Wahrheit des Mythos mit rational-philosophischen Mitteln zu erweisen. Allein dem Mythos und – in der Folge – der christlichen Offenbarung sei es möglich gewesen, die Wirklichkeit, das "unvordenkliche Sein" zur Sprache zu bringen; denn der Logos verbleibe im Formellen und Substanzlosen. An die Stelle des rationalen Arguments sollte als Wahrheitskriterium das Bild und die Imagination treten. Der romantische Dichter wurde zum Philo-Sophen ernannt, der Philosoph hingegen als Erdichter seinsloser Gespinste entlarvt. So gewaltig der Anspruch der Romantik, so kläglich auch ihr Scheitern: was als Versuch, Mensch und Natur zu versöhnen, von Dichtern wie Novalis beschworen wurde, verkam zusehends zur spielerischen Selbstinszenierung des Dichterfürsten, zum elitären Kult des göttlichen Genies. Auch Schellings Rettungsversuch, den Wahrheitsanspruch des Mythos mit philosophischen Mitteln zu begründen, geriet mit dem Aufschwung der positivistischen Vernunft in Vergessenheit. Dennoch ließ die Faszination des Mythos die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr los. Vor allem die Soziologen und Ethnologen machten sich im Gefolge der kolonialistischen Eroberung der Kontinente über den Mythos her. Galt er den Kultursoziologen, wie Cornford, Malinowski oder Durkheim, auch nicht mehr als "Selbstoffenbarung des Seins", so doch als die "Daseinsform" der frühen Kulturen, als Ausdruck ihrer praktischen Lebenswirklichkeit, in der die Einheit von Mensch und Natur, von Rehabilitation des Mythos Gesellschaftlichem und Göttlichen, noch ungeschieden gewesen sein soll. Die mythischen Erklärungen vom Weltentstehen, vom Wirken der göttlichen Mächte, das Leben und Sterben der Heroen hatten dem Stamm oder Volk dessen geschichtliche, kulturelle und soziale Identität gegeben. Das Interesse der Wissenschaftler galt einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die noch "ursprünglich", "unverdorben" und "unentfremdet" gewesen sei, und spiegelte die Trauer des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft über das "verlorene Paradies" einer vermeintlich intakten Sozialstruktur wider. Der Mythos als Manifestation des Herrschaftswillens Mit der Decadence änderte sich dieser Bezug zum Mythos. Mit Nietzsche und Freud kam eine Sicht des Mythos auf, die diesen nicht mehr als den wahrhafteren Ausdruck des Seins dem Logos entgegenhielt. Für Nietzsche besaßen der Mythos und der Logos eine gemeinsame Wurzel: die Setzung des Subjekts; beide kommen aus der Tiefe des Willens zum Leben und nehmen im gesetzgebenden Gestaltungswillen des Menschen Form an. Mythos und Vernunft seien ihrem Wesen nach dasselbe: der manifeste Wille zur Herrschaft. Was sich im Mythos noch in den schrecklichen Bildern des Mordens und Grauens zeigt, das wird im Logos in den Herrschafts- und Machtansprüchen der Moral, Pflicht und Güte sublimiert. Die Wahrheit des Mythos erwachse aus seiner bannenden Kraft: dem unwiderstehlichen Willen zur Macht. – Ihm ähnlich entdeckte Freud im Mythos das Wirken des Unbewußten, des Abgrunds der Seele, das nur mühsam und unter Entbehrungen von den Formen des Bewußtseins und der Kultur gezähmt würde. Der Mythos änderte seinen ursprünglichen Wahrheitsanspruch; er wurde zur Äußerung des unkultivierbaren Lebenswillen. Daß Wissen und Erkenntnis nichts als eine Funktion des Machtwillens seien, wurde zum bitterbösen Mythos der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Angesichts des faschistischen Grauens schlossen sich selbst Horkheimer und Adorno dieser Sichtweise an. Der Logos sei umgeschlagen in den Mythos; hatte dieser ursprünglich die Funktion, die Natur zu bannen und ihre Schrecken zu besiegen, um sie der menschlichen Praxis zu unterwerfen, so sei der Logos unter dem Bann des Mythos, von dem er sich zu M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer befreien vorgab, wieder ins Mittel der Natur- und Menschenbeherrschung zurückgefallen. Gegen Nietzsche halten sie aber daran fest, daß dieser Wille zur Macht kein metaphysisches Prinzip sei, sondern seine Wurzeln in der Geschichte der Unterdrückung und Ausbeutung habe, daß folglich die Emanzipation der Menschheit aus der mythischen Verstrickung in Gewalt, Herrschaft und Zerstörung in der Reflexion darauf möglich sei. Die Vernunft im Mythos In der Folge konzentrierte sich die Reflexion auf eine rationale Auseinandersetzung mit dem Mythos. Es galt, die logischvernünftigen Gehalte im mythischen Denken zu ermitteln. Hierbei traten zwei Interpretationsweisen besonders hervor: in Frankreich verwies die strukturalistische Ethnologie (Lévi-Strauss) auf eine gemeinsame logische Struktur von Logos und Mythos. In Deutschland war es vor allem Ernst Bloch, der eine neue Perspektive auf den Mythos eröffnete. Die Mythologie wurde in einem weiterreichenden Verständnis des Logos als einer "sinnlich-tätigen Vernunft" integriert. Auf diese Weise bahnte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Auseinandersetzung mit dem Mythos an, die diesen nicht als das "Andere der Vernunft" fixieren wollte, sondern sich auf eine Rekonstruktion der Vernunft orientierte, die dies Andere in sich aufzuheben vermag. Die anarchistische Revolte gegen die Vernunft Gegen ein solches Vernunftkonzept, das sich in vielem der Aufklärung verpflichtet wußte, kamen im letzten Jahrzehnt die grundlegendsten Einsprüche aus Frankreich, der Geburtsstätte des Rationalismus. Auslösendes Ereignis dieser Renaissance der Vernunftkritik war der "Mai 1968", in dem viele der heute in Frankreich populären Philosophen politisch, oft auch organisiert, engagiert gewesen waren. Die Mai-Ereignisse hatten sie mit der Logik der Macht und ihrer Ambivalenz konfrontiert. Einerseits erlebten sie den (Beinahe-) Zusammenbruch des gaullistischen Regimes durch die Studentenbewegung; andererseits mußten sie erkennen, daß das herrschende politische System auch eine radikale Infragestellung durch die kritische Vernunft zu integrieren vermochte. Sie zogen Rehabilitation des Mythos daraus den Schluß, daß mittels der bestimmten Negation" der Macht nicht beizukommen sei; denn beide, sowohl das kritische Wissen als auch das herrschende Vernunftsystem, besäßen eine strukturelle Analogie: sie erfüllen sich in der Reproduktion von Ordnungen. Aus der Gemeinsamkeit dieser Erfahrungen entstand das Konzept und die Strategie der "Postmoderne", die zunehmend auch in der Bundesrepublik rezipiert wird. Das invariante Motiv aller Post-Bewegungen (Postmoderne, Post-histoire usw.) ist die Betonung des Einzelnen, des Fragmentarischen bzw. "antihierarchischen Moments". Aus dieser, von einem anarchistischen Affekt getragenen Position leitet sich ihre "subversive Strategie" her. Sie will den Gegner nicht mehr mit der "Waffe der Kritik" (Marx) überwinden, sondern mit seinen eigenen Mitteln, durch den Aufweis seiner inneren Widersprüche und Paradoxien "um den Verstand bringen“. Philosophiegeschichtlich trat dieses Verfahren eines solchen "antinomischen Verwirrspiels" in der Neuzeit bei Kierkegaard als Ironie auf. Exemplarisch sollen drei Ansätze der postmodernen Strategie vorgestellt werden: G. Deleuzes Revision der Psychologie, J. Derridas Denunziation des Logozentrismus als "Phonozentrismus" und F. Lyotards These von der permanenten Legitimationskrise des Wissens, die in die Konzeption des postmodernen Wissens mündet. G. Deleuze geht es in seinen Arbeiten vor allem um den Nachweis, daß die psychoanalytische Subjektforderung (incl. ihrer Annahme einer individuellen Identität) dem Menschen unangemessen sei. Dieser stellt er seine Konzeption der "Wunschmaschine" entgegen, die die physischpsychische Entität des Menschen als ein System begreift in dem sich unablässig Energieströme bewegen. Die Antriebskraft dieser Ströme sei der Wunsch. Der Psychologie, genauer: der Psychoanalyse, macht Deleuze den Vorwurf, sie zensiere die Wunschenergie ("das Begehren"), indem sie diese auf ein abstraktes Ich zurechtstutzt. Damit lege sie das Fundament für die Erhaltung der kapitalistischen Ökonomie: "Das Begehren unterdrücken, nicht nur der anderen, sondern in sich, Bulle der anderen und seiner selbst sein, das ist es, was aufgeilt und worin keine Ideologie, sondern Ökonomie zum Vorschein kommt" (1, 448). Man würde die Intentionen Deleuzes rnißverstehen, wenn man glaubte, einer altbekannten freudo-marxistischen Argumentation wiederzube- M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer gegnen. Nicht die Frage, wie die Beziehung von Bedürfnis und Gesellschaft vernünftig zu lösen sei, ist sein Begehren, sondern – in Anlehnung an Nietzsches "Metaphysik des Willens" – die anti-soziale Omnipotenz des Wunsches geltend zu machen: "... und keine einzige Gesellschaft kann auch nur eine einzige wahre Wunschposition ertragen, ohne daß ihre hierarchische, ihre Ausbeutungs- und Unterwerfungsstrukturen gefährdet wären" (1, 150). Von einer anderen Seite geht J. Derrida auf die Kritik des Wissens ein; seine theoretischen Bezüge sind nicht, wie bei Deleuze Nietzsche und Lacan, sondern Heidegger und Saussure. In seinen Schriften verbindet Derrida seine metaphysikkritischen Absichten mit einer strukturalistischen Begrifflichkeit. Er will zeigen, daß unser gesamtes Wissen nicht in der Sprache, sondern in einer Art "Urschrift" verankert ist. Auf die Sprache beziehe sich nur die auf Eindeutigkeit abzielende Wissenschaft; die Schrift jedoch "ist das Supplement par excellence, da sie den Punkt markiert, wo das Supplement sich als Supplement, Zeichen von Zeichen gibt und den Ort eines schon bezeichneten Worts einnimmt" (2, 482). Derrida thematisiert auf der semiologischen Ebene die Problematik der Identität und damit implizit das der Deduzierbarkeit – und damit auch des Anfangs – von Begriffen. Da die "erste Schrift" (man kann auch sagen: "Ordnung") jedoch nie existiert habe, sei auch kein Abschluß der Lektüre oder der Geschichte möglich. Mit der Anfangslosigkeit von Geschichte entzieht Derrida jeder historischen Teleologie die Grundlage; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränken sich für ihn zu einem überzeitlichen Kontinuum. Hier berühren sich Derridas Zeitvorstellungen mit denen des jüdisch-mythischen Denkens, in dem ebenfalls keine Kausalitäten existieren, Anfang und Ende zusammenfallen. Eine direkte Konfrontation zwischen Mythos und Wissenschaft betreibt F. Lyotard. In seinem Buch "Das postmoderne Wissen" unterstellt er der neuzeitlichen Wissenschaft ein "Erzählprinzip", das sich nur durch das Arrangement der Inhalte vom narrativen Wissen im Mythos unterscheidet. Die "große Erzählung" des "wissenschaftlichen Wissens" sei in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften an ihren Endpunkt gelangt: "In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur also der postmodernen Ge- Rehabilitation des Mythos sellschaft, der postmodernen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung auf eine andere Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: Spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation" (3, 112). Dieser Delegitimationsprozeß sei vom modernen Wissen selbst in Gang gesetzt worden: denn dessen Struktur Lyotard benützt den Begriff des Sprachspiels sei rein monologisch und könne daher den Pluralismus der Sprachspiele des Alltags nicht erfassen. Da darüber hinaus keine verbindliche Metasprache zu konstituieren sei – er verweist dabei auf die Arbeiten von Gödel und Tarski –, löse sich die logozentrische Form des Wissens auf. Der damit entstandenen Unendlichkeit der Sprachspiele entspreche weit mehr das narrative Wissen, das zum „postmodernen Wissen“ wird, indem es das Gegenwärtige, den punktuellen Kairos, betont. "In ihrem Interesse für die Unentscheidbaren, für die Grenzen der Präzision der Kontrolle, die Quanten, die Konflikte unvollständiger Information, die "Frakta", die Katastrophen und pragmatischen Paradoxa entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch nicht zu berichtigen paradox ... Sie bringt nichts Bekanntes sondern Unbekanntes hervor" (3, 172 f.). Die letztgenannte Forderung trifft durchaus den Kern dessen, womit sich jede neu überdachte Konzeption von wissenschaftlicher Rationalität auseinanderzusetzen hat. Doch kommt auch sie – trotz "Postmoderne" – nicht an der schon von Hegel erhobenen Forderung vorbei: "Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie" (4, 22). Matriarchaler Mythos und patriarchale Vernunft Unter dem Stichwort "Ganzheitlichkeit" ersetzt die feministische Philosophie den anti-hierarchischen Diskurs der Postmoderne durch den antipatriarchalen Rückgriff auf den Mythos. Die wissenschaftliche Legitimation für diesen Rückgriff sucht sie in den seit einiger Zeit vor allem von Frauen verstärkt durchgeführten Matriarchatsforschungen, die zu dem M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer Ergebnis gelangten, daß es vorpatriarchale Epochen gab, in denen Frauen den gesellschaftlichen Rahmen bestimmten. In diesen seien Erde, Natur und Leben als souveräne Seins-Mächte" (5, 11) in der „Großen Göttin" verehrt worden, die in ihrer Dreifaltigkeit von Jungfrau, Mutter und Greisin den Kreislauf der Jahreszeiten verkörperte; Ursprungssymbole, wie z.B. das Anch-Zeichen versinnbildlichten die noch ungeschiedene Einheit von Geist und Materie Noumena und Phänomena, da sie nicht von außen der Natur übergestülpt sondern ihr "abgelauscht" waren und die erst durch den Schöpfergott patriarchaler Provenienz zerrissen wurden. Der Kreis galt als Urbild der "Großen Göttin", die nicht im Jenseits thronte, sondern die Welt mit ihrem Körper als Ganzes umfaßte und zugleich die Welt selbst war. Die Kreisläufigkeit der Natur, das Mysterium von Werden und Vergehen, bildeten die Grundelemente der kosmischen Ordnung, in die alle Teile ganzheitlich integriert waren. Aus diesem Mythos heraus wird angenommen, daß Frauen deshalb eine höhere Stellung in der Gesellschaft innehatten, weil in natürlichem Monatsrhythmus, Schwangerschaft und Geburt die Göttin selbst wirkte und sie deshalb mit den kosmischen Kräften der Natur enger verbunden waren als die Männer. Auch die religiöse Verehrung war körpernah auf die Frau konzentriert, die in dieser magischen Erfahrung des Rituals selbst zur Göttin wurde. Die matriarchale Kulthandlung war "Teilhabe am Naturgeschehen durch die sich Frauen und Männer mit den kosmischen Kraftströmen" (5, 50) verbanden. Das Wissen um die Existenz solcher herrschaftsfreien Kulturen bildet die Grundlage für die heutige feministische Gesellschaftsutopie. Ausgehend von der Zurückführung der großen aktuellen Probleme der atomaren Bedrohung, der katastrophischen Naturzerstörung etc. – auf die Herrschaft der patriarchalen Vernunft, wird die Notwendigkeit matriarchaler Ganzheitlichkeit, vor allem in weiten Teilen der neuen sozialen Bewegungen mehr und mehr postuliert. Die Matriarchatsforscherin Gerda Weiler sieht hierin einen Prozeß, indem die unterdrückten Frauen wie die ausgebeutete Natur sukzessive ihre matriarchale Würde zurückgewinnen. Der Plünderung des Planeten unter den gnadenlosen Gesetzen patriarchaler Ökonomie steht die Forderung nach einer natürlichen Lebensweise und der Ruf nach kreativer Arbeit entgegen, in denen, bewußt Rehabilitation des Mythos oder unbewußt, matriarchale Weisheit anklinge. "Bei ihrer Selbstfindung müssen Frauen notwendig in Gegensatz zum patriarchalen Weltbild und zu den Wertungen des patriarchalen Bewußtseins treten. Dabei stellen sie die Beziehung zu den verschütteten Werten und zur Ganzheitlichkeit des matriarchalen Bewußtseins wieder her" (5, 250). Der "männliche" Ratio mit ihrer dualistischen Aufspaltung der Welt in Geist-Materie, MannFrau, in Logos-Eros und gut-böse, setzen Frauen wie Heide GöttnerAbendroth die liebevolle weibliche Spiritualität entgegen, die "kosmische Balance zwischen allem" (6, 17), d. h. ein wechselseitiges Gleichgewicht von Mensch, Natur und Gesellschaft. Das Matriarchat gilt in der feministischen Philosophie nicht als einfache Negation des Patriarchats in eine bloße Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse; es bedeute vielmehr die optimale Gesellschaftsform für beide Geschlechter auf einer höheren Bewußtseinsstufe, eine Art "regulierte Anarchie" (6, 24) ohne Hierarchie und Herrschaft. Vor allem die Frauen-, die New Age- und die Alternativbewegungen kündeten vom Ende des Patriarchats. Sie alle verstehen 'Ganzheitlichkeit' als das Eingebettetsein in die kosmische Ordnung, als Einheit aller ökonomischen, psychischen, spirituellen und geistigen Faktoren. "Die Fähigkeit zu einer Spiritualität, die die Gegensätze überwindet und die natürliche Vielfalt in ein ganzes integriert" (7, 209 f.), sei die Aufgabe und das Ziel, zu dem in erster Linie Frauen gelangen müßten. Die Rückbesinnung auf die matriarchalen Wurzeln sei hierbei unverzichtbar. Das Hauptfeld der Auseinandersetzung innerhalb der feministischen Philosophie liegt wohl in der Annahme eines "weiblichen Prinzips", das zur Lösung des patriarchalen Dualismus zwischen Mensch (Technik) und Natur das versöhnende Moment darstellen soll. Aber warum soll die Frau von "Natur" aus enger mit dieser verbunden sein als der Mann? Auch feministische Philosophinnen wenden ein, daß die "identitätsphilosophische Gewaltlösung" (6, 75) Frau = Natur doch vielmehr ein von Männern historisch konstruiertes Produkt sei, das den Frauen grundlegende Charaktereigenschaften wie Passivität, Gewaltlosigkeit oder Sensibilität andichtete und anerzog. Diese Naturalisierung und damit Verobjektivierung des Subjekts Frau zur Stärke der Frauen überhaupt zu stilisieren, ist wesentliches Merkmal weniger eines feministischen als M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer vielmehr eines biologistisch-mystifizierenden Denkens. Indem Männer und Frauen anthropologische. Charaktereigenschaften zugedacht werden, die auf einen unversöhnlichen Gegensatz hinauslaufen (Lebensbewahrung versus Destruktion!), wird ein historisch entstandener und damit veränderbarer Zustand stigmatisiert und ... mystifiziert. Vorausgesetzt wird bei diesen Betrachtungen allerdings, daß der Gegensatz matriarchaler Mythos contra patriarchaler Vernunft die entscheidende Kategorie der Menschheitsentwicklung sei; es bleibt fraglich, ob der Dualismus Matriarchat-Patriarchat wirklich den realen Geschichtsverlauf konstituiert, oder ob er nicht vielmehr eine nachträgliche Projektion feministischer Philosophie auf die Geschichte darstellt. Der Mythos in der "politischen Theologie" Andere Schlüsse aus der Vernunftkritik ziehen die Konservativen, die sich in ihrer Diskussion um die "Rehabilitierung des Mythos" letztlich auf eine erneuerte "politische Theologie" beziehen. Ihre Kritik richtet sich nicht allein gegen die Entthronisierung des Göttlichen durch die neuzeitliche Philosophie seit Descartes, sondern ebenso gegen die Gleichgültigkeit der postmodernen Avantgarde gegenüber der Gottesfrage, hinter deren ästhetisieren d-hedonistischem Nihilismus sie die Aushöhlung jeder verbindlichen Werteordnung und damit letztlich Tendenzen des politischen Anarchismus entdecken. Beide, der rationalistische Universalanspruch auf Erkenntnis wie der individualistische Eudaimonismus des "alternativen Lebens", seien Abkömmlinge derselben modernen Welt; utopische Überforderungen der auf Endlichkeit angelegten menschlichen Existenz. Ihrem offenkundigen Mißlingen gelte es daher, ein neues geistiges Ordnungsgefüge entgegenzusetzen, das künftige Verbindlichkeiten erzeugen könne. Die Restauration des Christlichen Trotz der Gemeinsamkeit in der Blickrichtung aufs Politische zeigen sich dennoch wichtige Unterschiede innerhalb der konservativen MythosRezeption hinsichtlich der Funktion und Rolle des Mythischen. So heben die christlichen Vertreter hervor, daß die Gegenwart durch den inneren Zerfall der Aufklärung und ihres Vernunftpotentials als der sinnstiften- Rehabilitation des Mythos den und handlungsorientierenden Instanz gekennzeichnet sei, der nur durch den Rekurs auf vormoderne religiöse Traditionen zu überwinden sei. Der Stuttgarter Sozialphilosoph Günter Rohrmoser etwa stellt fest, daß die Gesellschaft, um nicht in erneuten Zwängen eines Totalitarismus oder eines im Anarchismus sich vollendenden Wertepluralismus unterzugehen der Erneuerung ihrer sittlichen Identität und Substanz bedürfe' diese sei heute weder durch ökonomische Zielsetzungen noch durch staatliche Sanktionen zu gewinnen sondern allein durch die Religion. "Nicht die Politik, nicht die Ökonomie", so Rohrmoser, "sondern die Religion wird das große Thema am Ende unseres Jahrhunderts" (8, 405). Für Rohrmoser bedeutet dies die Erneuerung der Verbindlichkeit des christlichen Glaubens an die mythische Verstrickung des Menschen in Schuld und Sünde durch seine eigene Tat, sowie an die durch Christus begründete Hoffnung auf Befreiung und Erlösung, da nur die christliche Religion in unserer Kultur die Akzeptanzfähigkeit besitze, die orientierenden Verbindlichkeiten in Zukunft wiederherzustellen. Eine Auffassung der sich im übrigen auch der Münchner Philosoph Reinhard Löw anschließt, der schlicht das Christentum als die "eigentliche Postmoderne" (9, 45) dekretiert. Neben solch vielleicht populären, doch auch schlichten Versuchen, den mittelalterlichen Kosmos zu restaurieren, finden sich auch weitergehende Versuche der Begründung einer "postmodernen Religiosität". So bezweifelt etwa der Spaemann-Schüler Peter Koslowski, daß die Kirche – nicht zuletzt aufgrund ihrer Spaltung – diese Funktion ohne weiteres erfüllen kann. Seine Konzeption ist breiter – aber auch allgemeiner – angelegt und knüpft an Formen der spätantiken Religiosität in ihrer Vereinigung jüdisch-christlicher Mythologien mit den griechischen Traditionen an. Die spätantike Weisheitslehre und Gnosis mit ihren noch undogmatischen Spekulationen – fortgeführt in der theosophischen Tradition eines Jakob Boehme oder Franz v. Baader und der Anthroposophie Rudolf Steiners – habe, so Koslowski eine Form der Erkenntnis des Absoluten und der Religiosität herausgebildet, die sowohl den konfessionellen Konflikt der Moderne überwinden könne, als auch den Bedingungen postmodernen Denkens entspreche. Sie könne das "verfehlte Projekt der Moderne" überwinden, die spalten und herrschen, statt vereinen und versöhnen M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer wollte. Eine "gnostische Form von Philosophie und Religion", so Koslowski in seiner Herdecker Antrittsrede, "ist heute die 'fortgeschrittenste Form des Bewußtseins"' (10, 64). Unklar und offen bleibt bei dieser Renaissance der spätantiken Welt, ob Koslowski damit auch deren mythologische Welt mit ihren Äonen und Dämonen, mit ihren apokalyptischen Imaginationen und Prophetien in die Zukunft transportieren will. Computer und Cherubim – zumindest eine merkwürdige Liaison der "postmodernen Welt". Solche Bedenken scheint auch die vom Bonner Philosophen Hans-Michael Baumgartner geleitete Studiengruppe "STEIG" (11) zu haben, die sich in ihren Thesen zum "Ende der Neuzeit?" wohltuend von allzuviel rückschrittlichem Elan absetzt. Sie verlangt denn auch nur aus "christlicher Verantwortung" heraus eine "Selbstkritik der Vernunft", die sich der "Frömmigkeit des Denkens" hingibt und sich öffnet auf einen "über die Frage nach dem Sinn der Vernunft und ihres Sittengesetzes vermittelten Glauben an Gott, der Raum gibt für Offenbarung und Theologie" (11, 26) – ohne dies allzu eschatologisch aufzuladen. Das Lob des Polytheismus Konträr zu solch letztlich "totalisierenden" Tendenzen katholischer Postmodernisten äußern sich die beiden Mythosinterpreten Odo Marquard und Hans Blumenberg, die sich eher an der Kultur- und Religionskritik Nietzsches als an der Baader-Schellingschen Offenbarungskonzeption orientieren. Sie polemisieren nicht unmittelbar gegen die Tradition der Aufklärung und der Vernunft, sondern interpretieren diese um: "Aufklärung" sei kein historischer Prozeß der Emanzipation mehr, sondern sei heute nach geschehener Aufklärung "die Tradition des zur Routine gewordenen Mutes zur unaufgeregten Nüchternheit" (12, 129). In ihrer Erhebung der Vernunft ins Prinzipielle sei die Aufklärung totalisierend gewesen; das aufgeklärte Denken erfülle sich im unaufgeregten Gewährenlassen des Vielen im Absoluten. Dementsprechend fordert Marquard auch die Preisgabe jeglichen universalisierenden Denkens, sei es des Monotheismus, sei es der Vernunftphilosophie, und singt im Rückgriff auf die mythologische Welt der Griechen das "Lob des Polytheismus". Eine aufgeklärte Vernunft könne sich eine "aufgeklärte Mythologie" Rehabilitation des Mythos erlauben, die das Manichäische des zürnenden Einen Gottes ebenso hinter sich gelassen habe wie das einer kämpferischen Vernunft gegen vermeintliche Unvernunft. Der aufgeklärten Vernunft sei der Mythos nicht mehr "das Andere", sondern er gewähre ihr die Spielräume ihrer Imagination. Was Marquard programmatisch skizziert, hat Hans Blumenberg in seiner "Arbeit am Mythos" ausgeführt. Die Mythen, so Blumenberg, seien grandiose menschliche Kunstwerke, die in faszinierender Weise die unabänderliche Tatsache überspielt hätten, daß die Welt überhaupt nichts Heimisches für den Menschen habe, daß sie völlig gleichgültig und uninteressiert am Menschen sei. Darin dem Logos gleich seien die Mythen die immerwährenden Werke des Menschen, dennoch eine sinnbesitzende Welt zu haben, die jeweils letzten Anstrengungen, endlich – ein für alle Mal – die Welt erkennend und schaffend in Besitz zu nehmen, – und doch sei das Scheitern schon vorprogrammiert. Wie der Sage nach Prometheus und Napoleon in der Tat eine Welt machen wollten – obwohl doch schon eine Welt bestand. Insofern teile der Mythos ganz das Schicksal des Logos und sei selbst schon "ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos" (13, 18). – Für Blumenberg sind die Erhebungen des Menschen zur Welt gescheitert die Ansprüche der Überwindung der Kluft sind überwunden; was bleibt, ist die unaufgeregte Nüchternheit des "Aufgeklärten", der weiß, daß der Mythos weder "tiefe Wahrheit" besitzt, noch reine Ausgeburt der menschlichen Phantasie ist, sondern der bleibende Ausdruck menschlicher Selbstbehauptung angesichts des sinnlosen "Absolutismus der Wirklichkeit". Die Mythologie bleibt als ein Pantheon und Panoptikum des menschlichen Lebens zurück, das nie heranreicht ans Erstrebte: die Welt. Ob christlicher Monotheismus oder "heidnischer" Polytheismus, der "Götterstreit" der Konservativen kreist um das Problem der Verbindlichkeit. Während die einen die im modernen Pluralismus verlorengegangene Vereinheitlichung des Politischen unter dem Dach des christlichen Monotheismus anstreben, wehren die anderen diese im Namen eines "aufgeklärten Polytheismus" ab und weisen in der Erbfolge Nietzsches auf die Gefahren jeglichen allgemein verbindlichen Totalanspruchs hin. "Der moderne Aggregatszustand des Polytheismus", so Odo Marquard, "ist M. Günter, A. v. Pechmann, Th. Wimmer die politische Gewaltenteilung: sie ist aufgeklärter Polytheismus. Sie beginnt nicht erst bei Montesquieu, bei Locke oder bei Aristoteles. Sie beginnt schon im Polytheismus: als Gewaltenteilung im Absoluten durch Pluralismus der Götter" (14). Selbst wenn dies von ihnen nicht intendiert sein mag. so lauert doch hinter solch prinzipienfreiem Polytheismus zwar nicht der Universalismus einer christlichen Theokratie aber doch eine politische Ideologie, die im Namen des "Ethnopluralismus" erneut nationalistisches, gar rassistisches Gedankengut in die öffentliche Diskussion einführen will. Darauf gilt es zu achten. Literaturverzeichnis: 1. Gilles Deleuze, Felix Guattari, Antiödipus, Frankfurt/Main 1974. 2. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/Main 1983. 2. Jean Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien/Köln 1982. 3. G.W.F. Hegel, Werke 2, Frankfurt/Main 1970. 4. Gerda Weiler, Der enteignete Mythos. Eine notwendige Revision der Archetypenlehre C.G. Jungs und Erich Neumanns, München 1985. 5. Widerspruch 1/85, Frauendenken, München 1985. 6. Karin Gaube, Alexander von Pechmann, Magie, Matriarchat und Marienkult. Frauen und Religion, Reinbek 1986. 7. Günter Rohrmoser, Krise der politischen Kultur, Mainz 1983. 8. siehe Information Philosophie 3, Basel 1986. 9. Peter Koslowski, Moderne oder Postmoderne?, in: Perspektiven 5, Witten 1986. 10. Hans Michael Baumgartner, Bernhard Irrgang (Hg), Am Ende der Neuzeit? Die Forderung eines fundamentalen Wertwandels und ihre Probleme, Würzburg 1985. 11. Odo Marquard, Die Erziehung des Menschengeschlechts – Eine Bilanz, in: Der Traum der Vernunft – Vom Elend der Aufklärung, Neuwied 1985. Rehabilitation des Mythos 12. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979. 13. Odo Marquard, Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie, in: H. Poser (Hg), Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin 1979. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 2229 Autor: Konrad Lotter Artikel Konrad Lotter Die Sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung I Der Ursprung der Sitten liegt in ihrem Nutzen, in ihrer Funktion für die Erhaltung der Gemeinde. Auch nachdem die Menschen damit begonnen haben, sich durch ihre Arbeit und den Gebrauch von Werkzeugen aus dem Tierreich heraus zu entwickeln, bleiben ihre Lebensäußerungen in den gemeinschaftlichen Kampf ums Überleben eingebunden. Auch nachdem sie damit begonnen haben, ihr Leben selbst zu gestalten, bleibt es in seiner Gleichförmigkeit und seinen Wiederholungen noch über Jahrtausende hinweg dem Verhalten von Tieren vergleichbar. Einerseits kehren die Bedürfnisse wieder und der gleichförmige Ablauf ihrer Befriedigung. Andrerseits wiederholen sich die gleichen Arbeiten, die, in den Wechsel der Jahreszeiten eingespannt, eine unmittelbare Beziehung zu den Bewegungen der Gestirne zu besitzen scheinen. Beides gibt dem menschlichen Leben die Festigkeit eines naturgesetzlichen Ablaufs, dessen Kreisförmigkeit, dessen Gleichheit im Wechsel das dämmernde Bewußtsein als Mythos widerspiegelt. Mit dem Mythos einher geht die Verkehrung. Ausgelöscht und vergessen ist die ursprüngliche Beziehung allen Tuns auf seinen Nutzen. Der Mythos beginnt ein phantastisches Eigenleben. Nicht mehr er ist Widerspiegelung des Lebens, sondern umgekehrt: das menschliche Leben erscheint nun als Wiederholung des mythischen Paradigmas. An die Stelle des natürlichen tritt das göttliche Gesetz, an die Stelle der Notwendigkeit der Gehorsam. Das Leben in der Wildnis wird zum Leben irn Konrad Lotter Gehorsam. Das Leben in der Wildnis wird zum Leben irn Mythos, zur mythischen Sittlichkeit. Deren allgemeine Kennzeichen sind 1. Geschichtslosigkeit: auf niederstem Stand der Werkzeugentwicklung, der (natürlichen) Arbeitsteilung etc. bleiben die Produktion und Reproduktion des Lebens unverändert, statuarisch. 2. Subjektlosigkeit: der Kampf ums Überleben wird gemeinschaftlich geführt. Die Gemeinde ist die Substanz das Individuum nur Akzidenz, es verbleibt an sich ohne Kontur. ohne Selbständigkeit. 3. Bewußtlosigkeit: Not, Mangel an Alternativen, sowie Vorbild und Tradition verleihen dem Leben den Charakter eines instinktgebundenen Ablaufs. 4. Weltlosigkeit: die eigentlich Handeln den sind die Götter, das menschliche Leben ist nur Säkularisation, Schatten des himmlischen Geschehens. Der Mythos als vorgeordnetes Ganzes erst gibt dem Menschen Sinn und Orientierung. Homers und Hesiods Werke sind ebenso Gestaltungen der mythischen Sittlichkeit wie bereits deren Auflösung. Im Fortgang der geschichtlichen Bewegung hat sich die Einheit des Mythos mit dem Leben gelockert. Zum einen verliert das mythische Paradigma mit dem Entstehen der Klassengesellschaft seine die Gemeinde umfassende Verbindlichkeit. Es dient bei Homer der sittlichen Formung des Adels, bei Hesiod dagegen der des böotischen Bauern. Zum andern gewinnt das mythische Paradigma, seitdem Warenproduktion, Handel und Privateigentum den Kreis der Gemeinde gesprengt und das selbstbewußte Individuum daraus hervortreten haben lassen, einen normativen Charakter. Zwar werden bei Hesiod die Härte der Arbeit und der sozialen Ungerechtigkeit als Ausfluß der „pessimistischen“ Mythen von Prometheus, der Büchse der Pandora oder dem Niedergang der fünf Weltzeitalter dargestellt und gerechtfertigt. „Vor Verdienst aber setzten den Schweiß die unsterblichen Götter ...“1. Gleichzeitig aber richten sich die „Tage und Werke“ gegen den Betrug des Bruders Peres und die Korruption der adeligen Richter, wobei Ord1 Hesiod: Werke, übers. von Th.v.Scheffer, Wiesbaden 1947, S. 90. Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung nung und „Gerechtigkeit“ der natürlichen Kreisläufe zu Vorbild und Norm der jährlich wiederkehrenden Arbeitsabläufe, der sozialen Gerechtigkeit etc. werden, zum Wegweiser zurück ins goldene Zeitalter. II Die Aufklärung in der Ethik (und damit die Ethik überhaupt) beginnt mit Sokrates. Wie die ionischen Naturphilosophen die mythischen Kosmogonien zerstörten, so zerstört Sokrates die mythische Sittlichkeit. Das Mittel der Zerstörung ist die Ironie, mit der sich der Nichtwissende auf die Ansichten seiner Gesprächspartner einläßt, sie durch Verallgemeinerungen oder Konkretisierungen verwirrt und aushöhlt. Ihrem Inhalt nach verlaufen die Gespräche ohne greifbares Resultat. Das Alte wird aufgelöst, das Neue nicht gefunden. Entscheidend aber ist nicht, daß es Resultate gibt. Entscheidend ist vielmehr der Prozeß der Reflexion selbst, der mit dem Gespräch beginnt, aber mit dem Ende des Gesprächs nicht abgeschlossen ist. Besäße die mythische Sittlichkeit noch Geltung, so wäre es leicht, zu Resultaten zu kommen, die Prinzipien der richtigen Praxis daraus abzuleiten. Nun aber, nachdem sie ihre Kraft und Gültigkeit verloren hat müssen die Individuen Halt in sich selbst suchen, in der Reflexion ihres Tuns, in der Moral, in der sie sich selbst zu m Maßstab erheben. Erstens also setzt Sokrates das Gute, die richtige Praxis, nicht mehr voraus, übernimmt sie nicht fraglos, sondern entwickelt sie erst. Zweitens liegt für ihn das Gute nicht in Gemeinde und Tradition, sondern im Individuum. Beide Punkte sind in der Anklage enthalten, die zu seiner Verurteilung und Hinrichtung führen. Sie lautet auf Gottlosigkeit, d.h. Zweifel an den überlieferten Mythen und der durch sie sanktionierten gesellschaftlichen Ordnung und Verführung der Jugend, d.h. Aufweichen der instinktiven Bindung an die Gemeinde. Geschichtliche Voraussetzung für die Aufklärung in der Ethik ist die Auflösung der „orientalischen Welt“, der „asiatischen Gemeinde“ in der der Mensch nur „Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier“2 war (Perserkriege als weltgeschichtlicher Wendepunkt). Warenproduktion Handel 2 Marx: Grundrisse, S. 395. Konrad Lotter und Privateigentum sprengen nicht nur das Individuum aus der Gemeinde heraus, sondern erzeugen damit erstmals ein Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft. Diesem Verhältnis entspricht die doppelte Möglichkeit der Negation der bestehenden Sitten durch das Individuum bzw. der Affirmation, der Anerkennung der bestehenden Sitten, nicht mehr bewußtlos sondern aus Oberzeugung und freien Stücken. Beide Möglichkeiten sind in der aufgeklärten Ethik enthalten beide Handlungsweisen sind in der Person des Sokrates überliefert. Mit dieser Alternative entsteht das Problem der Entscheidung. Unter der Herrschaft der mythischen Sittlichkeit waren alle Lebensäußerungen durch Brauch und Ritus, Vorbild und Tradition geregelt. Neuartige Konflikte, sofern sie überhaupt auftraten, entschied das Orakel. Sokrates dagegen verlegt die Entscheidung von außen nach innen (Daimonion als subjektives Orakel); Entscheidungsträger wird das Subjekt, Entscheidungsinstanz der Logos. III In der Folge finden sich ebensosehr Fortsetzung wie Gegenbewegung. Epikur etwa setzt die Aufklärung in der Ethik fort, stellt sie auf eine materialistische Grundlage. Ziel allen Handelns sind die Freuden des Geschmacks, der Liebe, des Gehörs; Ziel allen Handelns aber ist auch ein Glück, das die Dauer dem Augenblick, die Ruhe der Bewegung, die Schmerzlosigkeit der Lust vorzieht. Das Denken als Instanz der Entscheidung wird selbst zur Quelle des höchsten Glücks. Anders als der kyrenaische Hedonismus zieht Epikur das geistige Vergnügen dem körperlichen vor und fürchtet die geistigen Schmerzen (der Angst, der Ungewißheit etc.) mehr als die körperlichen. Ein glückliches Leben setzt daher nicht nur voraus, daß wir den Tod (als bloße Abwesenheit aller Empfindungen) nicht fürchten, sondern auch, daß wir die Angst vor den Mythen verlieren. Ein glückliches Leben setzt Erkenntnis voraus. Es wäre nicht möglich, „wenn wir von der Natur des Alls keine Kenntnis hätten, sondern argwöhnen müßten, es könnte doch etwas an den Mythen sein“3. 3 Epikur: Schriften, übers. und eingel. von P.M. Laskowsky, München o.J., S. 7B Lehrsatz 12. Vgl. S. 104 Lehrsatz 16. Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung Die Götter werden aller Beziehung zur Welt beraubt, auf die glücklichen Inseln der Intermundien verbannt, Natur und Gesellschaft (Vertragstheorie!) aus sich selbst erklärt. Gegenbewegung findet bei Platon statt. Er holt die Freiheit der individuellen Selbstbestimmung wieder in die Ordnung des Staats zurück, verleibt das Subjekt wieder der Substanz ein. Alles, worin der Mensch sich als Individuum bestätigt finden, alles, worin er ein vom Staat separiertes Leben führen könnte, ist ausgemerzt. „Gerechtigkeit“ beruht auf der Übereinstimmung der sozialen mit der natürlichen Hierarchie, auf der Entsprechung von Nähr-, Wehr- und Lehrstand mit den Seelenteilen der Begierde, des Muts und der Vernunft. Auf diese Weise nimmt jeder die seiner natürlichen Anlage gemäße Stellung in der Gesellschaft ein. Ihre letzte Rechtfertigung erhält die Ordnung im Mythos des Bluts, dem beim Regenten Gold, beim Krieger Silber, beim Bauern und Handwerker nur Eisen beigemengt ist. „Ihr seid nun also freilich .. alle, die ihr in der Stadt seid, Brüder; der bildende Gott aber hat denen von euch, welche geschickt sind zu herrschen, Gold bei ihrer Geburt beigemischt, weshalb sie denn die köstlichsten sind, den Gehilfen aber Silber, Eisen hingegen und Erz den Ackerbauern und übrigen Arbeitern“4. Neu an Platon ist nicht nur die Rehabilitation des Mythos, der Versuch, zur mythischen Sittlichkeit zurückzukehren, sondern vor allem das, was dahinter steht: die Verbindung von Mythos und Herrschaftsinteresse sowie die Verklärung der Vergangenheit zur Utopie (zu einer Utopie der herrschenden Klasse). Gerade das zurückgebliebene, mit seiner Handelsund Geldfeindlichkeit, seiner Unterdrückung aller individuellen Regungen noch an die orientalische Gemeinde erinnernde: Sparta erscheint der athenischen Aristokratie in den Jahren des Peloponnesischen Krieges als wünschenswerte Vorwegnahme der eigenen Zukunft. In ihm sieht sie ihr Klasseninteresse befriedigt, ihre von Kaufleuten und Seefahrern bedrohte Herrschaft am wirkungsvollsten gesichert. 4 Platon: Politeia, übers. von F. Schleiermacher, Hamburg 1958, S. 145 (415a). Konrad Lotter IV Der Streit um Aufklärung und Mythos in der Ethik stellt sich zugleich als ein Streit u m die Person des Sokrates dar. Für Hegel, den Fortsetzer der Aufklärung, ist Sokrates weltgeschichtliche Person, Überwinder der substantiellen und Begründer der subjektiven Freiheit, dessen Prinzip der Moralität das Prinzip der modernen Freiheit überhaupt ausspricht5. Zwar kritisiert Hegel den formellen Charakter der sokratischen Reflexion (genau, wie den von Kants kategorischem Imperativ, der ebenfalls das Heraustreten des Individuums aus seiner Unmündigkeit zum Inhalt hat): die individuelle Selbstbestimmung vollzieht sich immer im Rahmen der Sittlichkeit, der bestehenden Institutionen. Zugleich aber begreift er die Moralität als Korrektiv der Sittlichkeit, als Ausgang und Anstoß des sittlichen Fortschritts. Er begreift Sokrates als das Urbild der Dialektik, in der das Böse, die Negation der bestehenden Sittlichkeit, in Gutes, als Antizipation einer zukünftigen, besseren Sittlichkeit umschlägt6. Für Nietzsche hingegen, den Gegen-Aufklärer, beginnt mit Sokrates der Niedergang, die Dekadenz. Sokrates hat dir Instinkte zerstört, das Leben unter das Joch der Moral gezwängt. Sein Tod ist nicht mehr tragisch, sondern nurmehr der kaschierte Selbstmord eines Lebensmüden. Er ist Vertreter des Pöbels, Initiator des Sklavenaufstandes in der Moral, der sich in Christentum und Sozialismus fortsetzt, Begründer der Herdenmoral, die sich aus dem Ressentiment der Schwachen und Schlechtweggekommenen gegen die Herren und Vornehmen speist7. Mit der Kritik und Ablehnung des Sokrates bettet Nietzsche die Ethik wieder in den Mythos ein. Das geschichtliche Werden, das auf die Selbstbestimmung von Individuen bzw. Klassen gegründet war, wird wieder auf ein biologisches, naturhaftes Sein reduziert. Weder der Wille zur Macht noch die ewige Wiederkehr des Gleichen sind typisch menschlich, spezifisch geschichtlich. Beide Grundbestimmungen des Lebens teilt der Mensch mit 5 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Frankfurt 1970, Bd. 1B, S. 441 f. Vgl. Werke Bd. 12, S. 135 ff. und 328 f. 6 Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke Bd. 7, S. 259 ff. (§§ 138 und 139). 7 Nietzsche: Werke, hrsg. von K. Schlechta, München 1958, Bd. 2, S. 69B f. und S. 951 ff.; Bd. 3, S. 637, S. 77l ;, und S. 758 ff. 26 Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung Tier und Pflanze. Rückkehr zum Mythos heißt daher Freisetzung der Instinkte, Aufkündigung des Mitleids und der Nächstenliebe, Befreiung des Egoismus vom schlechten Gewissen. Sie bildet die Voraussetzung für die Erzeugung des Übermenschen. Auch bei Nietzsche verbindet sich die Rehabilitation des Mythos mit Herrschaftsinteresse und rückwärtsgewandter Utopie. Seine Begeisterung für Griechenland unterscheidet sich von der Hegels (und der ganzen Klassik) grundlegend. Sie ist nicht die Begeisterung für die Demokratie der Polis (und der damit verbundenen Blüte der Kunst und Philosophie), sondern die Begeisterung für die (alte, vorsokratische) Sklavengesellschaft, auf deren Rücken sich Eliten ausbilden konnten. Hier findet Nietzsche das Modell für die imperialistische Zukunft Deutschlands, für die (Überwindung der Dekadenz und die Errettung einer Gesellschaftsordnung, die insbesondere seit der Pariser Kommune schwer angeschlagen ist. Dem aggressiven Klassenkampf von oben sollen durch die Zerschlagung der Moral, der Religion und des Sozialismus die letzten Fesseln genommen werden. V Aufklärung in der Ethik geht von Individuen (von Klassen) aus, die erstens die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse negieren und die in dieser Negation zweitens (im Anschluß an tatsächliche Auflösungstendenzen) zukünftige Verhältnisse antizipieren. Aufklärung ist insofern drittens ein unabgeschlossener Prozeß, der im Kampf gegen verkrustete Verhältnisse das geschichtliche Potential an Freiheit verwirklicht. Umgekehrt ist die Sittlichkeit seit der (Überwindung ihres statuarischmythischen Charakters zwar das Resultat, die Zusammenfassung der Aufklärung, zugleich aber mit der Tendenz, die jeweils erreichte Stufe gegen die Fortschritte der Produktivkraftentwicklung festzuhalten, sogar dahinter zurückzugehen. In seiner Wiederkehr aber hat der Mythos seine (ursprüngliche) Berechtigung, seine Unschuld verloren. Im Anachronismus einer wiederversuchten Verendlichung, Naturalisierung der Geschichte verkommt der Mythos zum Irrationalismus. Es ist nicht die Aufklärung, die in Mythos umschlägt, sondern das Festhalten an einer bestimmten Stufe der (bürgerlichen) Aufklärung und den damit verbun- Konrad Lotter denen Herrschaftsverhältnissen gegen das geschichtliche Potential an Freiheit, das zum Irrationalismus führt, zum Irrationalismus in der Politik wie in der Philosophie8. VI In der Orientierung am Mythos treffen sich heute die Konservativen mit großen Teilen der Alternativen, der sozialen Bewegungen. Allerdings aus ganz entgegengesetzten Interessen heraus. Die einen verfolgen die Festigung, die anderen gerade die Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Die Konservativen profitieren vom Mythos (der „Freiheit“, des „Aufschwungs“, der „Sicherheit“ etc.), weil er letzte, nicht-hinterfragbare Werte aufstellt, um politische Entscheidungen zu rechtfertigen, zugleich erlaubt, von wirklichen Interessen zu abstrahieren. Sie profitieren vom Mythos, weil er mit dem Bewußtsein, Moment im Zyklus eines „naturhaften“ Geschehens zu sein, das (falsche) Gefühl der Zusammengehörigkeit, der „Schicksalsgemeinschaft“ fördert und Klassengegensätze verschleiert. Sie profitieren, weil der Mythos die Opferbereitschaft der Betroffenen erhöht, weil er erlaubt, selbst noch den eigenen ökonomischen oder physischen Untergang als sinnvoll und notwendig in einem geordneten und bejahenswerten Prozeß zu erfahren, ohne sich dagegen aufzulehnen. Die sozialen Bewegungen hingegen setzen einerseits in ihrer Negation des „Systems“, in ihrem Engagement für Frieden, sanfte Technik etc. praktisch die Aufklärung fort. Theoretisch andererseits bekämpfen sie das „Programm der Aufklärung“, das ihrer Meinung nach notwendig zu Naturzerstörung, Rüstungsindustrie, Überwachungsstaat, Krieg führt. Der Kampf gegen die Aufklärung, gegen die „Moderne“, schließt für sie unmittelbar den Kampf gegen die Rationalität ein: gegen die auf Rationalität beruhende Computer-, Gen- und Atomtechnik, gegen die auf Rationalität beruhenden (patriarchalen) Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme. An ihre Stelle tritt das Ideal eines Handelns, das sich an der Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben orientiert, treten der Versuch, sich 8 Lukàcs' "Zerstörung der Vernunft" ist die marxistische Behandlung der "Dialektik" der Aufklärung. Die sokratische Ethik zwischen Mythos und Aufklärung in ökologische Kreisläufe einzufügen, die Aufwertung des Matriarchats und des Mythos. Das Berechtigte daran liegt im Protest gegen die verkürzte, an der bloßen Manipulation der Natur sowie am Nutzen privaten Wirtschaftens ausgerichteten Rationalität, der Mangel daran, daß der verkürzten nicht die ganze Rationalität entgegengehalten wird. Nicht die Dialektik als „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ (in der Natur und Geschichte, die globalen Interessen der Menschheit etc. eingeschlossen sind) wird rehabilitiert, sondern der Mythos. Damit setzt man dem einen, aus dem Nebeneinander vieler verkürzter Rationalitäten resultierenden Irrationalismus nur einen anderen Irrationalismus entgegen. Zwar einen antikapitalistischen, auf humane Ziele hin ausgerichteten, aber eben doch einen Irrationalismus. VII Sokrates ist Aufklärer, er ist aber auch Urheber eines Aberglaubens: des Aberglaubens nämlich von der automatisch-versittlichenden Wirkung der Einsicht9. Sokrates ersetzt den Mythos durch den Logos, beschränkt sich auch nicht darauf, den Logos abstrakt zu propagieren, sondern vermittelt ihn mit den konkreten Situationen und Interessen der Menschen. Gleichzeitig aber schließt er Theorie und Praxis, Einsicht und Tugend kurz. Die Kenntnis des Richtigen schlägt sich für ihn unmittelbar im Tun des Richtigen nieder. Das Falsche wird nur deshalb getan, weil das Richtige unbekannt ist. Offensichtlich trifft dieser Automatismus nicht zu. Weder z.B. hat die Massenarbeitslosigkeit (auch wo ihre Ursachen im kapitalistischen System erkannt sind) zu einer revolutionären Massenbewegung, noch hat die Einsicht in die Bedrohung durch Atomwaffen oder Kernkraftwerke zu wesentlichen Einbußen bei denjenigen Parteien geführt, die ihre Dislozierung oder ihren Ausbau vorantreiben. Offensichtlich aber kann die Veränderung der Praxis doch nur über die Veränderung des Bewußtseins bewirkt werden. Entweder sind (um bei den beiden Beispielen zu bleiben) die Betroffenen zu wenig aufgeklärt, oder ihre Gewohnheiten, ihre Bequemlichkeit etc. wiegen mehr als ihre Einsichten. 9 Bloch: Sokrates und die Propaganda, in: Vom Hasard zur Katastrophe, Frankfurt 1972, S. 103 f. Konrad Lotter Vor allem aber tragen im Konflikt der globalen, menschheitlichen mit den privaten, individuellen, wie nationalen Interessen allem al die letzteren den Sieg davon. So weiß man zwar das Richtige, aber bevorzugt das Falsche. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 3047 Autor: Ralph Marks Artikel Ralph Marks Schelling und die Mythologie „Er (Schelling) geht von dem scholastischen Satze aus, daß an den Dingen das quid und das quod, das Was und das Daß zu unterscheiden sei. Was die Dinge seien, lehre die Vernunft, daß sie seien, beweise die Erfahrung. Wolle man diese Unterscheidung durch die Behauptung der Identität von Denken und Sein aufheben, so sei das ein Mißbrauch dieses Satzes. Das Resultat des logischen Denkprozesses sei nur der Gedanke der Welt, nicht die reale Welt. Die Vernunft sei schlechthin impotent, die Existenz von irgend etwas zu beweisen, und habe in dieser Beziehung das Zeugnis der Erfahrung für genügend anzunehmen“1. Diese Worte des jungen Engels, wie auch das Ganze seiner polemischen Attacke gegen den ‘Neuschellingianismus’ zeigen gegen die Intention des Autors eine fast objektive Wiedergabe der Spätphilosophie Schellings an, wie sie dieser unter großer öffentlicher Anteilnahme seit dem Wintersemester 1841/42 in Berlin vorzutragen begann2. Was uns in diesem Auf1 Friedrich Engels, Schelling und die Offenbarung. Kritik des neuesten Reaktionsversuchs gegen die freie Philosophie (Leipzig 1842), in: MEW, Ergänzungsband, 2. Teil, Berlin 1973, S.171-221, hier: S. 181. 2 Vgl. zum Vorgang der Berufung Schellings nach Berlin und zu den dadurch ausgelösten publizistischen Begleitumständen und Reaktionen seiner Zeitgenossen die ausgezeichnete Einleitung des Hrsg. Manfred Frank, in: ders., F.W.J. Schelling. Philosophie der Offenbarung 1841/42, Frankfurt/M. 1977, S.7-84. Schelling und die Mythologie satz beschäftigen soll, ist, die seit kurzem verstärkte Hinwendung und kritische Aufarbeitung der sogenannten „Philosophie der Mythologie“ (und Offenbarung) des späten Schelling zu erörtern und sie in ihrer offensichtlichen Verbindung mit diversen neueren philosophischen Diskussionen über den Mythosbegriff zu beleuchten. Das Zitat aus dieser Frühschrift Engels’ wurde nicht zufällig gewählt; wurde doch die Schellingsche Spätphilosophie bisher zumeist nur unter dem Blickwinkel seiner späten, in die Berliner Zeit fallende Hegelkritik gesehen. Mehrere Etappen der Schellingrezeption und -kritik in der neueren Forschung sollen an dieser Stelle kurz repliziert werden, um an den Punkt zu gelangen, von dem aus das neuere Interesse an der Philosophie der Mythologie Schellings verständlich wird. Nach dem ehemals gängigen, in den Philosophiehistorien kanonisierten Schema wurde die Entwicklung des deutschen Idealismus unter dem Thema ‘von Kant bis Hegel’ abgehandelt. In dieser dem äußeren Verlauf folgenden Schematisierung wurde Schellings Frühphilosophie, seine Identitätsphilosophie, als eine konsequente und abgeschlossene Etappe des Weges von Fichte einerseits, zur Apotheose und Vollendung des dt. Idealismus in Hegel andererseits dargestellt. Mit der Phänomenologie des Geistes von 1807, also mit Hegels Entreebillet in das öffentliche philosophische Bewußtsein und seiner darin grundgelegten und bis zum Schluß festgehaltenen Schellingkritik3, hauchte Schelling nach dieser Interpretation sein philosophisches Leben aus4. Das Problem und die Herausforderung war nur, daß Schelling leider (so sahen es schon viele seiner Zeitgenossen) noch bis 1854 lebte und keineswegs philosophisch untätig war. Der Mythos vom Schweigen Schellings, der seit seiner Freiheitsschrift5 von 1809 kaum Wesentliches, nur kleinere Arbeiten wie 3 Siehe G.W.F. Hegel, Werke, Bd. 3 (= Theorie Werkausgabe), Frankfurt/M. 1976, 22. 4 Besonders eindrucksvoll und mit einer weit über Hegels Philosophie hinausgehenden Wirkung findet sich dieser Standpunkt schon in Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“, wie Anm. 3, Werke Bd. 20, 420-459. 5 Vgl. zur Textgrundlage die beiden leicht greifbaren Taschenbuchausgaben, die jeweils von bedeutenden Schellingforschern: Horst Fuhrmanns, F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Reclam-Stuttgart 1977 und von Walter Ralph Marks Vorreden, Rezensionen etc. veröffentlichte, schien den Zeitgenossen zu bestätigen, daß dieser nach Hegels philosophischer Inthronisation nichts Neues und philosophisch Weiterführendes zu bieten habe. Nur einzelne Kundige und verschiedene Nachrichten wußten zu berichten, daß Schelling an einer neuen – er nannte sie „positive Philosophie“ – arbeitete. Seit der vorsichtigen und anfangs zaghaften Rehabilitierung Schellings im Zuge der Feiern seines 100. Todestages und der bahnbrechenden Arbeit Walter Schulz’ mit dem (damals) provokanten Titel: „Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“6, wurde eine anfangs unbeachtet gebliebene Neueinschätzung nicht nur der Spätphilosophie Schellings, sondern des ganzen sog. erratischen Blocks des dt. Idealismus vorbereitet. Die daran anschließenden, endlich auch sachgemäßeren und den einzelnen disparaten Philosophien Kants, Fichtes und Hegels angemesseneren, fast philosophisch akribischen manchmal auch pedantischen Forschungen, Editionen und Publikationen setzten damit ein. Unter Marxisten herrschte davon fast unberührt die Meinung vor, daß Schellings Spätphilosophie, besonders wie sie in Vorlesungen zur „Ausrottung der Drachensaat des Hegelianismus“ in Berlin vorgetragen wurde, scheinbar nichts Neues, schon. gar nichts philosophisch Wertvolles zu bieten habe. Im Gegenteil galt seine positive Philosophie, deren einer Teil die der Mythologie betrifft als reaktionäre Ausgeburt einer christlichfrömmelnden Philosophie7, die nur entstanden gewesen sei, um die HeSchulz, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1975, mit Einleitungen versehen, herausgegeben wurden. 6 Pfullingen 1975 (1. Aufl. 1955). 7 Als sehr hemmend und z.T. destruktiv für eine offene Auseinandersetzung – Rezeption und Kritik der Schellingschen Spätphilosophie und seiner Philosophie im allgemeinen von marxistischer Seite, sollte sich Lukács’ Darstellung seiner Philosophie, in: Die Zerstörung der Vernunft, Bd. I, Irrationalismus zwischen den Revolutionen (zuerst 1954 u.ö.) erweisen. Nicht zufällig in demselben Jahr seiner erneuten „Wiederentdeckung“ im Zuge der 100-Jahr-Feiern seines Todes, besonders durch die bahnbrechenden Forschungen von Fuhrmanns und Walter Schulz mitinitiiert, und fast zum selben Zeitpunkt des Erscheinens von Jaspers’ großer Schellingmonographie, ordnet Lukács Schelling in die irrationalistische dt. Philosophieentwicklung des 19. Jahrhunderts ein, die mehr oder weniger, so I.ukács’ These, von der Spätphilosophie Schellings über Bäumler und Klages ihre Verkündigung und Praxis in Hitler und den Nazis gefunden haben sollte. Daß bei dieser Einschätzung zeitgeschichtliche Schelling und die Mythologie gelsche Philosophie nach dessen Tod zu widerlegen, was ihr naturgemäß, da sie ja auf einer schon überwunden geglaubten Stufe der philosophischen Entwicklung stand, nicht gelingen konnte. Ob diese Spätphilosophie, die sich übrigens schon sehr früh in Schellings Werk andeutete, wirklich nur dazu „erfunden“ wurde, die Hegelsche Philosophie zu überwinden, oder ob sie neben dieser Kritik Hegels auch anderen Motiven ihre Entstehung verdankt, interessierte damals die philosophische Öffentlichkeit wenig. Die Junghegelianer Engels, Marx, Bauer, auch Feuerbach und Bakunin sahen in ihm nur eine reaktionäre Provokation der preußischen Monarchie auf philosophischem Gebiet. Daß trotz alledem wesentliche Kritikpunkte Schellings an Hegel, über die Rezeption Feuerbachs und Anderer doch ihren enormen Einfluß auf die philosophische Entwicklung in Deutschland ausübten, wurde dabei zumeist großzügig übersehen8. Erst die Arbeiten und Editionen Manfred Franks werfen seit 1975 ein neues Licht auf die Übergangsphase und den Ablösungsprozeß der fortschrittlichen Schüler Hegels, vor allem Feuerbach und Marx, von diesem selbst im Zuge einer bewußten und nachweisbaren Rezeption der Schellingschen Spätphilosophie9. Worauf Frank schon 1975 hinwies, wurde der Vergleich (von Schellings Spätphilosophie, d.Verf. ) mit dem überlegenen politischen Bewußtsein des „Freundes“ gesucht, um „eine Auseinandersetzung ins Private abzudrängen, bei deren Beurteilung nur das Hintergründe, der Kalte Krieg und Tendenzen einer restaurativen, z.T. reaktionären Etablierung einer deutschen Ideologie in der Bundesrepublik damals bei Lukács eine Rolle gespielt haben, dürfte gewiß sein. Zumindest dauerte es noch fast 20 Jahre, bis auch bei Marxisten das (zumeist kritische) Interesse an seiner Philosophie wiederkam. Die neueren Forschungsergebnisse besonders zu Schellings Naturphilosophie aus jüngster Zeit beweisen dies (vgl. H.J. Sandkühler (Hg.), Natur und geschichtlicher Prozeß, Frankfurt/M. 1984). Leider (und wohl zu unrecht) beschränkt sich das marxistische Interesse noch zu sehr auf den jungen Schelling – eine Wiederentdeckung der späten Philosophie steht noch aus. 8 Vgl. zu diesem ganzen Vorgang die grundlegende Studie Manfred Franks: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegel-Kritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, Frankfurt/M. 1975, besonders 169 ff. 9 Siehe neben der Literatur von Anm. 2 und 8 auch die neuerdings erschienene mehr in die Philosophie Schellings einleitende Studie Manfred Franks: Eine Einführung in Schellings Philosophie, Frankfurt/M. 1985, die ihr Schwergewicht auf die Frühphilosophie Schellings (bis 1804) legt. Ralph Marks philosophische Potential den Ausschlag geben darf“10. Und das philosophische Potential steht in dieser Beziehung – in der philosophischen Konfrontation Schellings mit Hegel und umgekehrt – auf beiderseitigem höchsten Niveau. Gerade die Schellingsche Kritik an der Logikkonzeption Hegels, vor allem an dem Ansatz, die spekulativdialektische Logik mit der Seinslogik beginnen zu lassen, wird heute doch zunehmend zur Kenntnis genommen und bei einigen auch positiv gewürdigt11. Als Fazit der gegenwärtigen philosophischen Forschung zu Schelling läßt sich also zusammenfassend sagen: Die bei Marx immer schon in hohem Ansehen stehende Naturphilosophie Schellings erfreut sich heute höchster Wertschätzung bei allen relevanten Schellingforschern – die Tagungen und Sammelbände zu diesem Thema aus der jüngsten Zeit zeigen dies eindrucksvoll12. Die Spätphilosophie Schellings, insbesondere seine sog. „positive Philosophie“, findet unter dem (nach meiner Einschätzung zu einseitigen) Aspekt der Hegelinterpretation und -kritik der Junghegelianer eine positive Resonanz. Ausgespart bleibt dabei (trotz dieser doch schon recht positiven Bilanz), in welcher Weise die Spätphilosophie Schellings, besonders die zumeist unterschätzte „Philosophie der Mythologie“, in seine eigene – auch in ihren von Hegel unabhängigen Denkmotiven und Anstößen – philosophische Entwicklung, besonders der mittleren Jahre (1809-1830), einzuordnen und zu bewerten ist. Hier zeigen sich doch noch erhebliche Defizite sowohl der philosophischsystematischen wie auch vor allem der philologisch-historischen Schel10 Vgl. Anm. 8, ob. cit. S. 9 f. Vgl. dagegen noch die bahnbrechende Studie von Dieter Henrich, Anfang und Methode der Logik (zuerst 1963), wieder abgedruckt in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt/M. 1975’, S. 73 94, wo mit keinem Wort., obwohl inhaltlich der Sache nach vertreten, Schellings Kritik an Hegels Logik des Seins erwähnt wird. Schon in den Münchner Vorlesungen Schellings „Zur Geschichte der neueren Philosophie“ (I, 10, S. 126 ff.) von 1833/34 liegen diesbezüglich einige der entscheidenden Kritikpunkte an Hegels Logik schon vor: vgl. besonders: I, 10, S. 133 ff.(= F.K.A. Schelling (Hg.), F.W.J. Schelling, sämtliche Werke, I. Abt., Bde. 110; II. Abt., Bde. 14, Stuttgart I856 1861). Vgl. neuerdings die von Manfred Frank hrsg. Ausgabe der „Ausgewählten Schriften“ Schellings, Bd. 16, Frankfurt/M. 1985, die auf der Textvorlage der zuerstgenannten Ausgabe von Schellings Sohn basiert. Die von mir herangezogene Textstelle Schellings ebenso: Frank (Hg.), Bd. 4, S. 549 ff. 12 Vgl. dazu Widerspruch 1/86, 130-134. 11 Schelling und die Mythologie linglektüre und Darstellung. Dieses Faktum beruht z.T. darauf, daß die Textvorlagen seiner Vorlesungen zumeist nicht in philologisch-exakter Weise in den diversen Editionen seiner „Gesammelten Werke“ wiedergegeben sind. Auch die neueste Ausgabe seiner „Ausgewählten Schriften“, von Manfred Frank verdienstvollerweise als Taschenbuchausgabe für einen erschwinglichen Preis für ein studentisches Publikum herausgegeben, druckt auch hier wieder die alte von Schellings Sohn redigierte Ausgabe seiner Philosophie der Mythologie ab13. Das ändert natürlich nichts daran, daß wir hiermit die bisher einzige zur Verfügung stehende Ausgabe besitzen; und bis die „Historisch-Kritische Schellingausgabe“ zur Spätphilosophie vorgestoßen sein wird haben wir hiermit eine enorm wichtige (wenn auch unvollkommene) Quelle zur Interpretation seiner Philosophie vor uns. Die Philosophie der Mythologie Zum Vorverständnis muß vorausgeschickt werden, gegen welche damals (und auch z.T. heute noch) vorherrschenden Interpretationsrichtungen der auf uns aus dem Altertum gekommenen Mythologien sich Schelling expressis verbis wendet: „Sprechen wir also von einer Philosophie der Mythologie, so müssen wir auch der Mythologie objektive Wahrheit zuschreiben (...). Sie erscheint uns zuerst, wie man insgemein sich auszudrücken pflegt, als eine reine Fabelwelt, die wir uns entweder nur als eine reine Erdichtung oder wenigstens nur als eine entstellte Wahrheit denken können. An einem solchen Erzeugnis aber hätte die Philosophie nichts zu thun“14. Das bedeutet für Schelling, daß erstens die eine Interpretation nach der die Mythologie ein systematisches, bewußt produziertes Erzeugnis eines Urvolks15 oder einer Anzahl Urweiser oder Priesterphilosophen am An13 Vgl. Anm. 11: Bd. 5 und 6. Frank (Hg.), Bd. 6, 15 f. 15 Vgl. zur Diskussion der Urvolktheorie bei Schelling, die bekanntlich eine bedeutende Rolle nicht nur bei der Mythoserklärung des 18. und 19. Jahrhunderts spielte: Frank (Hg.), Bd. 5, 31, 97 f. (= Schelling, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, 1842). 14 Ralph Marks fang der Menschheitsgeschichte gewesen sei, falsch ist. Ebenso bestreitet er zweitens energisch, daß die Mythologie, ob nun die des Homers oder Hesiods in Griechenland, oder ob nun die vorderasiatischen, persischen, ägyptischen oder von sonst wo überkommenen Mythologien geistige Depravationen und Verfälschungen sogenannter göttlicher Offenbarungen, wie sie in der „ältesten Urkunde des Menschengeschlechts“, dem „Alten Testament“, vorliegen, seien. Das heißt, Schelling streitet ab, daß die diversen Mythologien (Götterlehren) von einem ursprünglichen göttlich geoffenbarten Monotheismus herstammen. Darüber hinaus verneint er drittens, daß Mythologien in ihrer ursprünglichen Entstehung Produkte der künstlerischen Einbildungskraft sind, d.h. Artefakte der bewußten poetischen Kunstproduktion bei den diversen Völkern16. Das scheint auch wesentlich für die Differenzierung der hier behandelten späten Mythologiekonzeption zur früheren zu sein, die selbst noch im Bann von Schellings Philosophie der Kunst der Würzburger Jahre steht (1802 f.). Das Wesentliche hierbei ist, daß Schelling in der späten abschließenden Konzeption die Mythologie nicht weiter unter kunstphilosophischem Primat symbolisch interpretiert. Das zeigt sich besonders deutlich in Schellings nun durchgeführter Kritik an dem einseitig ästhetisch-symbolischen Mythosverständnis von Karl-Philipp Moritz, obgleich Schelling an einer Stelle am Ende seiner „Historisch-kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ auf den Zusammenhang mit der Kunstphilosophie seiner früheren Jahre zurückverweist17. Festgehalten werden muß aber, daß der späte Schelling eindeutig die religiösgeschichtsphilosophische Interpretation des Mythos anstelle der früheren ästhetischen in den Vordergrund treten läßt. Um nun den diesbezüglichen grundsätzlichen Standpunkt in dieser Frage zu explizieren, müssen noch einige Bemerkungen vorausgeschickt werden: Bevor Schelling die eigentliche Philosophie der Mythologie in Vorlesungen vortrug schickte er diesen einen Vorlesungszyklus voraus, der die „Historischkritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie“ beinhaltete: In dieser Einleitung, die bewußt jede philosophische Deduktion und Erörterung des Begriffs Mythologie zu vermeiden suchte, wägt 16 17 Vgl. Frank (Hg.), Bd. 5, S. 28. Frank (Hg.), Bd. 5, S. 251 (= II, 1, 241). Schelling und die Mythologie Schelling die verschiedenen Zeugnisse und Quellen der Mythologien historisch ab und diskutiert vor allem ausführlich die diversen von Philologen, Altertumsforschern und Historikern über Genesis und Bedeutung der Mythologien aufgestellten Hypothesen. Die historisch-kritische Erörterung der Mythologie enthält einen von der Forschung noch ungehobenen Schatz gelehrter und hoch interessanter Theorien über diverse Teilinterpretationen, besonders der griechischen Mythologie und des Alten Testaments. Schelling zeigt sich hier, ganz gegen die bisher vorherrschenden Klischees auf der Höhe der zeitgenössischen wissenschaftlichen Forschung zum Phänomen der Mythologie. Daß Schelling dabei schon Ansätze einer bewußt ethnologischen Sichtweise18 deutlich werden läßt, und sich darüber hinaus der für seine Zeit sehr fortschrittlichen kulturhistorisch-vergleichenden Methode bedient, kann hier nur erwähnt werden. Gerade aufgrund der breiten Basis seiner Kenntnisse über Mythologien ist es Schelling möglich, die synchronistisch = historischvergleichende Methode anzuwenden und dabei folgendes Ergebnis festzuhalten: Der Sinn und die Bedeutung der Mythologien müssen so wörtlich verstanden werden, wie sie aus den uns vorliegenden Texten zu entnehmen sind; d.h., Schelling leugnet jeden „hinter“ den Texten vorfindlichen eigentlichen, esoterischen Sinn der Mythen. Die in den Mythologien niedergelegten Götterlehren und genealogischen Götterentstehungstheorien (Theogonien) spiegeln einen realen Bewußtseinsvorgang wider, dem das ursprünglich menschliche Bewußtsein in vorgeschichtlicher Zeit unterworfen war. Reale, nach Schellings Interpretation ‘theogonische Mächte’ bemächtigen sich zeitlich successiv des menschlichen Bewußtseins und zwangen es, ihre Realität quasi naturhaft, unverstanden hinzunehmen. Die Realität der Mythologien spiegelt sich nach Schelling im Bewußtsein so, daß die ihm unterworfene Menschheit nicht nur die Realität und die theogonisch-religiöse Bedeutung der Götter anerkannte, sondern in Form von Kulten und Riten ihre Existenz auch in ihrem Handeln dokumentierte. 18 An einer Stelle seiner historischen Einleitung spricht Schelling sogar von seinen Untersuchungen zu einer „philosophischen Ethnologie“, der eine „allgemeine Ethnogonie“ vorausgehen müsse. Siehe Frank (Hg.), Bd. 5, S. 138. Ralph Marks Festgehalten werden kann also für diesen Stand der Schellingschen Untersuchung: Das ursprünglich erste Bewußtsein aller Menschen beim Eintritt in eine quasi menschliche, noch vorgeschichtliche Zeit mit dem erstmaligen bewußten Heraustreten aus den vorgängigen Naturprozessen stellt sich überall als genuin rnythologisches Bewußtsein dar. Nicht von einem Urmythos oder einer Urreligion oder der Urweisheit eines Teils des Menschengeschlechts breitet sich die Mythologie über verschiedene Völker und Stämme in der Zeit aus, sondern die Gemeinsamkeiten und Konvergenzen der verschiedenen mythologischen Vorstellungen19 entspringen gerade daraus, daß sie alle einem gleichen Entwicklungsstand des menschlichen Bewußtseins in toto genere entsprangen. Das bedeutet aber für Schelling nicht daß die ältesten noch bestehenden Naturvölker Afrikas und Amerikas dem ursprünglichen mythologischen Bewußtseinszustand der frühen Menschheit noch verhaftet sind. Gerade an diesem Punkt einer historischen Vergleichsmöglichkeit zwischen ursprünglich mythologischem. Bewußtsein der Menschheit einerseits und Bewußtseinsstand der zu Schellings Zeit gerade entdeckten Naturvölker Afrikas und Amerikas andererseits, leugnet er entgegen zeitgenössischer Interpretationen weitergehende ethnologische Erkenntnismöglichkeiten. Denn weil die sog. „Naturvölker“ in der allgemeinen menschlichen Entwicklung des mythologischen Bewußtseins auf einem bestimmten Punkt der Entwicklung stehengeblieben sind, klassifiziert Schelling ihren geschichtsphilosophischen Standort als einen nunmehr „ungeschichtlichen“, von dem er den sog. vorgeschichtlichen Entwicklungsstand geschieden haben möchte20. Aus dieser Aufgabe, die Mythologien und das sie bildende Bewußtsein zu erklären, entspringt auch eine Selbstkritik der bisher gültigen Maßstäbe der europäischen Aufklärung: „solange die Philosophie überhaupt den gegenwärtigen Zustand der Dinge und des menschlichen Bewußtseins als allgemeinen und allgemein gültigen Maßstab voraussetzte“ und „diesen Zustand als einen notwendigen im logischen Sinne ewigen ansah“, war sie unfähig die Mythologie zu verstehen. Denn 19 20 Frank (Hg.), Bd. 5, 71 f. (= II, 1, 61 f.). Vgl. hierzu: Frank (Hg.), Bd. 6, 308 f. (II, 2, 296 f.) Schelling und die Mythologie „wäre sie überhaupt aus Erklärungsgründen begreiflich, wie sie in dem gegenwärtigen Bewußtsein sich finden, sie müßte längst begriffen sein. (...)“21. Woraus Schelling dann den Schluß zieht, daß die historische Mythologie wohl unter Bedingungen entstanden ist, „die mit denen des gegenwärtigen Bewußtseins keine Vergleichung zulassen und die man nur begreift in wiefern man es wagt über diese hinauszugehen“22. Im Zuge dieser Erkenntnis ist es Schelling möglich, ein wesentliches Axiom der Aufklärung, nämlich den quantitativen Fortschrittsbegriff einer Kritik zu unterziehen und dem entgegenzusetzen, daß das mythische Bewußtsein einen vorgeschichtlichen Zustand anzeigt, der „nichts weniger als ein Zustand völliger Unkultur und tierischer Rohheit“ ist, „woraus ein Übergang zur gesellschaftlichen Entwicklung nimmer möglich gewesen wäre“23. Diese Einsicht impliziert natürlich auch eine enorme Konsequenz für den Zeitbegriff der Geschichte. Ist der „Begriff der Geschichte weiter“, als „der Begriff der Historie“, und vermittelt uns Letztere, so Schelling, erst die Kunde der genuin geschichtlichen Zeit, so muß der Zeitbegriff und sein Inhalt für beide „Epochen“ der vorgeschichtlich-mythologischen wie der geschichtlichen ein anderer sein. Wenn die lineare, dem quantitativen Fortschritt verpflichtete Geschichtsauffassung sich die Zeit vorstellt als leeren, kontinuierlichen Behälter, in den die vorfindlichen geschichtlichen Ereignisse vom Historiker eingegossen werden24, so muß im Gegensatz dazu die Struktur und auch die im eigentlichen Sinne geschichtslose Verlaufsform der mythologischen ‘Zeit’ eine andere sein. Denn, so faßt Schelling diese Einsicht zusammen, „die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch bloßes Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere, sind Unterschiede wesentlich oder qualitativ verschiedener 21 A.a.O., Bd. 6, 152 (II, 2, 140). ebd. 23 Frank (Hg.). Bd. 5, 123 (II, 1, 113). 24 Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen mit ihrer Kritik am linearen Geschichtsmodell basieren auf ganz analogen Einsichten, die auch für die Geschichte unterschiedene ‘Zeiten’ mit radikal verschiedenen ‘Inhalten’ reklamieren. Siehe ders., Über den Begriff der Geschichte, XIV, XVII, in: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M. 1980, 701 f. 22 Ralph Marks Prinzipien, die sich einander folgen, und deren jedes in seiner Zeit zur höchsten Ausbildung gelangen kann“25. Das quasi zuerst aus der Natur entlassene menschliche Bewußtsein auf seiner natürlichen Ausgangsposition stellt sich überall als mythologisches Bewußtsein dar. „Allerdings“, so Schelling, „hat die Mythologie keine Realität außer dem Bewußtsein; aber wenn sie nur in Bestimmungen desselben, also in Vorstellungen verläuft, so kann doch dieser Verlauf, diese Succession von Vorstellungen selbst, diese kann nicht wieder als eine solche bloß vorgestellte seyn, diese muß wirklich statt gehabt, im Bewußtsein wirklich sich ereignet haben; diese ist nicht von der Mythologie, sondern umgekehrt die Mythologie ist von ihr gemacht; denn die Mythologie ist eben nur das Ganze dieser Götterlehren, die sich wirklich gefolgt sind und sie ist also durch diese Folge entstanden“26. An diesem oben bezeichneten Punkt, nämlich mit dem Ursprung der ersten weltgeschichtlich auftretenden Mythologien, das erste vorgeschichtliche, quasi am Anfang gesellschaftlicher Entwicklungen stehende menschheitliche Bewußtsein (wie Schelling sinnigerweise sagt, noch vor der Ausdifferenzierung der Menschheit in Völkern und noch quasi vor der erstmaligen Entstehung bürgerlicher Gesellschaften, Verfassungen etc. ...) in seinen ursprünglichen Bewußtseinsbildungen „abgebildet“ vor sich zu haben, beginnt die eigentliche philosophische Bewältigung dieses weltbewußtseinsgeschichtlichen Phänomens. Nun wäre natürlich angebracht zu fragen: warum diese ganze Mühe mit der Mythologie? Warum kennzeichnet Schelling seine Philosophie der Mythologie als einen Teil der sog. „positiven Philosophie“; vielleicht sogar als ihren wesentlichen und sie im Ganzen begründenden Teil? Schelling bestimmt an einer Stelle diese Philosophie als ersten Teil einer wahren Geschichtsphilosophie27, wie sie seiner Meinung nach noch nicht vorliegt. Um hiermit auf das eingangs zitierte Diktum Engels zurückzukehren, ist zu sagen: Schelling bestreitet der immanent bei sich bleibenden Vernunft das alleinige Recht, das Wesen der Dinge im Denken 25 Frank (Hg.), Bd. 5, 249 (II, 1, 239). A.a.O., 134 f. (II, 1, 124 f.). 27 A.a.O., 247 (II, 1, 237). 26 Schelling und die Mythologie wahrhaft, d.h. in seiner Existenz erkannt zu haben. Wie Engels in derselben Schrift an anderer Stelle zutreffend Schellings wesentlichen Gedankengang wiedergebend bemerkt, soll für diesen „die Vernunft den Inhalt alles wirklichen Erfassen und eine apriorische Stellung dagegen einnehmen; sie soll nicht beweisen können, daß etwas existiere, sondern, wenn etwas existiere, es so und so beschaffen sein müsse, im Gegensatz der Hegelschen Behauptung, daß mit dem Gedanken auch die reale Existenz gegeben sei“28. Da Schelling nach seiner idealistisch-theologischen Vorannahme davon ausgeht, daß Gott existiert, und zwar außerhalb, realtranszendent von der im Modus des Begriffs sich selbst begreifenden Vernunft, bleibt natürlich noch offen wo und wie Schelling diese von der Vernunft unabhängige ‘Existenz’, das wie er es nennt „unvordenkliche Sein“ erkennen will. Das Sein zu erkennen, wird so bei Schelling zur eigentlichen Aufgabe der positiven Philosophie. Die im Medium der Vernunft sich selbst begreifende Idee der Vernunft behauptet, ihre wahrhafte Existenz im Denken begründen zu können. Das bedeutet eben für Schellings Interpretation, daß Hegel das Prius der existierenden Natur, des unabhängig von der Welt existierenden Gottes, ebenso wie die Existenz der Welt außerhalb der denkenden Vernunft leugnet. Er faßt seine wesentliche Kritik an Hegel (ohne ihn zu nennen) wie folgt zusammen: „Jenes Seyn aber, das in ihm damit schon gesetzt ist, daß wir es als das Seyende selbst denken, ist eben das bloße Seyn im Begriff, und Sie sehen eben daraus, daß das Seyende selbst, da es kein Seyn außer seinem Begriff hat, selbst nur als Begriff existiert, und daß hier der Ort ist, wo man sagen kann, daß der Begriff und der Gegenstand des Begriffs eins sind, was eben so viel heißt, daß hier der Gegenstand selbst keine andere Existenz als die des Begriffs hat, oder wie man dies sonst ausgedrückt hat, daß hier Begriff und Seyn eins ist, was aber nur so viel heißt, daß hier das Seyn nicht außer dem Begriff, sondern im Begriff selbst ist. (...) Sie sehen aber von selbst, wie dürftig, wie eng dieser Begriff ist, und wie wenig eigentlich mit 28 A.a.O., 189. Ralph Marks dieser Einheit des Seyns und Begriffs anzufangen ist, weil sie in der Tat ganz bloß negativ ist“29. Die rein negative Philosophie, die von der Identität von Sein und Begriff im Begriff ausgeht, kann eben dann nur, so Schellings Selbstkritik an seiner eigenen Identitätsphilosophie, die Existenz im Begriff mitsetzen und ihre eigene Geschichte nur als transzendentale Geschichte der ewigen Selbstvermittlung der denkenden Vernunft mit sich selbst begreifen. Somit wird auch Gott, und die von Schelling als real theogonischer Prozeß verstandene Geschichte, zu einer Geschichte der selbstbewußten Vernunft, Gott letztendlich ein Moment der Selbstvermittlung der absoluten Idee mit sich selbst. Schelling setzt dem seine etwas mißzuverstehende positive Philosophie entgegen, die die reale (positive) Seite des Begriffsprozesses außerhalb derselben im existierenden und somit nach Schelling im prozessierenden göttlichen Sein zu begreifen sucht. Denn, so Schelling, „das Interesse der Philosophie ist es keineswegs, in dieser Enge zu bleiben, und das wäre eine traurige und höchst beengte Philosophie, welche von Gott nur wüßte, inwiefern in ihm das Seyn mit dem Wesen eins oder selbst das Wesen ist.“ Denn, so führt er weiter aus, ihr wahres Interesse sei „Gott von diesem mit dem Wesen identischen Seyn, in das vom Wesen verschiedene, in das ausdrückliche, wirkliche Seyn hinauszuführen, und darin eigentlich ist der Triumph der Philosophie“30. Wenn also Schelling behauptet, das „wahre“, wirkliche existierende Sein sei bei Hegel gar nicht thematisiert, und dies zeige sich besonders in Hegels spekulativer Auffassung vom Wesen der Natur 31, dann muß das existierende Seiende anders und vor allem in einem genuin anderen Medium zur Darstellung gelangen. Dieses Medium ist dann bei Schelling die als göttlich verstandene reale Natur und ihre im Menschen und seinen Bewußtseinsbildungen zur Darstellung gelangende theogonische Geschichte. Weil Schelling den traditionellen, christlichen Monotheismus 29 Frank (Hg.), Bd. 6, 43 (II, 2, 31). A.a.O., 93 f. (II, 2, 31 f.). 31 Eindrucksvoll in Schellings Philosophie der Mythologie siehe: a.a.O., 279 (II, 2, 267). 30 Schelling und die Mythologie und damit die voneinander unabhängige Existenz Gottes und der Welt, und seine Geschichte mit ihr und den Menschen philosophisch begreifen will, sieht er sich unter diesen Umständen zu eindeutig fortschrittlichen Erkenntnissen genötigt, die, wie schon Engels 1842 süffisant bemerkte, mit den eigentlichen christlichen Dogmen nicht mehr verbindbar sind und noch dazu schon bedrohlich nahe an Pantheismus und Materialismus grenzen. Wenn Gott eine reale Naturkomponente in sich enthält und diese, als existierendes Sein gesetzt, einem notwendigen Prozeß unterworfen ist, der zuerst durch Potenzstufen in der Natur sich vollendet, so bedeutet nach Schelling dieser Gedanke, daß das Bewußtsein „in den Mythologie erzeugenden Prozeß wieder in jene Zeit des Kampfes zurückgesetzt, der eben mit dem Eintritt des menschlichen Bewußtseins in der Schöpfung des Menschen sein Ziel gefunden hat.“ Gerade der sich daran anschließende Gedanke zeigt deutlich, wie vielleicht wider seinen Willen Schelling einen wesentlichen Kern der realen Entwicklungsgeschichte des mythologischen Bewußtseins, und zwar sowohl an seinem erstmaligen weltgeschichtlichen Auftreten, wie auch in jenen Phasen der vergesellschafteten Geschichte der Menschen späterer Zeiten genau getroffen hatte: „Die mythologischen Vorstellungen entstehen gerade dadurch, daß die in der äußeren Natur schon besiegte Vergangenheit im Bewußtsein wieder hervor tritt, jenes in der Natur schon unterworfene Prinzip jetzt noch einmal sich des Bewußtseins bemächtigt. Weit entfernt“, fährt Schelling hellseherisch fort, „in der Erzeugung der mythologischen Vorstellungen innerhalb der Natur zu seyn, ist der Mensch vielmehr außerhalb derselben, aus der Natur gleichsam entrückt und einer Gewalt anheim gefallen, die man gegen die bestehende (zum Stehen, zur Ruhe gekommene) Natur oder im Vergleich mit dieser eine übernatürliche oder doch außernatürliche Gewalt nennen muß“32. Interpretiert man diese Sätze, könnte man auch sagen, wenn weltgeschichtlich gesehen menschliches Bewußtsein sich zuerst von der eigent32 A.a.O., 141 (II, 2, 129). Ralph Marks lichen ‘innexen’ Naturgeschichte emanzipiert, sich gegen die nun als das Äußere Objektive scheinende Natur setzt, beginnt das menschliche Bewußtsein unter quasi naturaler Gesetzmäßigkeit mythologische Vorstellungen zu produzieren. Schelling geht davon aus, daß, geschichtsphilosophisch gesehen, diese Epoche des allgemeinen mythologischen Bewußtseins der Menschheit ein notwendiges Durchgangsstadium der Geschichte gewesen ist, die dann über Krisenerscheinungen, wie Polytheismus und Theismus, zum wahren Monotheismus geläutert wird. Wie ist aber zu verstehen, daß jenseits des geschichtsphilosophischen Interesses Mythen auch schon im 19. Jahrhundert eine Anziehungskraft ausüben, oder wenn sogar eine Gesellschaft neue Mythen produziert? Der quasi Naturzwang, der über das mythenbildende oder Mythen reproduzierende Bewußtsein ausgeübt wird, ist schon von Schelling in einer weit auslegbaren Anmerkung erkannt worden. Denn, so Schelling: „Die Mythologie erzeugende Bewegung ist eine subjektive, inwiefern sie im Bewußtsein vorgeht, aber das Bewußtsein selbst vermag nichts über sie, es sind vom Bewußtsein selbst (wenigstens jetzt) unabhängige Mächte, welche die Bewegung erzeugen und unterhalten: also die Bewegung ist im Bewußtsein selbst doch eine objektive“33. Hiermit beschreibt Schelling, ohne es zu bemerken genau den wesentlichen Charakter jeder Ideologie und Entfremdung des Bewußtseins: subjektiv (= im Bewußtsein) von jedem Einzelnen produziert oder reproduziert zu werden und dabei den Zwangscharakter, mit denen diese Vorstellungen im Bewußtsein produziert werden, deren Macht und objektive Natur beständig erneut zu affirmieren. Ein mythologisches Bewußtsein ist im weltgeschichtlich nachmythologischen Zeitalter unter bestimmten Umständen ein notwendig-zwanghafter Bewußtseinsprozeß, der aber auch nach Schelling überwunden werden kann. An einer anderen Stelle, die scheinbar in keinem Zusammenhang mit unseren Erörterungen steht kommt Schelling darauf zu sprechen: Die Frage sei nämlich so Schelling, wie wir uns die Entstehungsweise eines mythologischen Bewußtseins erklären könnten, 33 Ebd., 135 (II, 2, 123). Schelling und die Mythologie „wie diese Vorstellungen der in ihnen befangenen Menschheit selbst als objektive-wahre und wirkliche erscheinen konnten.“ An dieser Stelle unterscheidet Schelling dann eine positive (d.h. religiöse) Erklärung von einer negativen. Die positive stellt sich für Schelling im Rahmen seiner theogonischen Geschichtsphilosophie als sinnvolle Erklärung eines weltgeschichtlichen Prozesses dar, in dem die vom Bewußtsein unabhängigen theogonischen Mächte den Menschen zwingen, Mythologien zu erzeugen. Interessant wird es aber, wo Schelling auf die negative Erklärung zu sprechen kommt: „da sie (die Menschheit, d.Verf.) sich nämlich diese Vorstellungen nicht als von ihr selbst herrührender, frei erzeugter bewußt sein konnte, denn sie waren Erzeugnisse eines gegen den Menschen objektiv gewordenen das Verhältnis, in welchem es Grund des menschlichen Bewußtseins ist, überschreitenden Prinzips, das nur zuletzt in seiner wieder hergestellten Subjektivität wieder menschliches Bewußtsein setzt“34. Diese theogonischen Mächte, die sich quasi gewalttätig und naturhaft im Bewußtsein in Form von mythologischen Vorstellungen manifestieren, waren aber, so Schellings Auffassung, vor der Selbstermächtigung des Menschen, qua Bewußtsein und d.h. vor seinem Gegensatz zur Natur, die nun zum toten Objekt, zum „allgemeinen und allwaltenden“35 Substrat erniedrigt wurde die subjektiven, quasi lebendigen geistigen Prinzipien der Naturentwicklung. Mit ihrer Erniedrigung zum toten Objekt, zu m subjektlosen Sein36, rächt sich die nie ganz überwundene Selbstmächtigkeit der Natur am Menschen in dessen Bewußtsein. Die quasi menschliche Natur, die durch Arbeit und Produktion restlos verfügbar schien, reproduziert sich quasi im Widerstand einer nur als naturhaft-zwanghaft ablaufenden Naturgeschichte der Menschen, die im Bewußtsein als Mythologie/Ideologie erscheint und die „äußere“ Naturgeschichte als katastrophische Ökologiezerstörung deutlich werden läßt. Schelling empfiehlt dabei das als Naturbasis produktive Prinzip, das ‘unvordenkliche Sein’, die andere, ‘subjektive’ Seite der Natur nicht aus ihrer vorgegebe34 Ebd., 142 (II, 2, 130). Vgl. ebd., 197 (II, 2, 185). 36 „Das ausschließlich Seyende“ nach Schelling, ebd., 198 (II, 2, 186). 35 Ralph Marks nen Stellung zu reißen, sondern in ihrem „ursprünglichen Mysterium“ zurückzulassen. Können wir heute dieser konservativen, rückwärtsgewandten Utopie in unserem Mensch-Natur-Verhältnis noch zustimmen, oder gibt es vielleicht doch über den Gedanken und in der Tat einer, nämlich unserer wie der Natur wieder hergestellten Subjektivität einen nach vorne weisenden Weg? Ausblick auf die heutige Mythologiediskussion Wenn die jeweiligen Erörterungen und Thematisierungen von Mythologien in einer Gesellschaft, wenn sie in einer bestimmten Breite mit öffentlichem Interesse geführt werden, ein Signum für eine „Legitimationskrise des Gemeinwesens“37 sind, ist natürlich zu fragen, wo Schellings historische und philosophische Mythosdiskussion an Krisen und Sinndefiziten seiner Gesellschaft anknüpft. Weiterhin muß gefragt werden, wogegen, wenn parallele gesellschaftliche Krisensymptome von Schellings und unserer Zeit darin zum Ausdruck kommen und vielleicht sogar wofür diese Diskussion stellvertretend geführt wird. Daß hierbei auch ein „Überdruß an den Folgen der Naturbeherrschung“38 eine Rolle spielt, beweisen unlängst die Erfahrungen mit Tschernobyl, und zeigen auch schon ansatzweise die Erfahrungen, die Schelling im Zusammenhang des Mensch-Natur-Verhältnisses im Medium des Mythos thematisiert, wie oben gezeigt wurde. Andererseits sehen heute einige in der Forderung (und Realisierung) einer neuen Mythologie, in der Sehnsucht und Stillung ihres religiösen Bedürfnisses in einem kommenden Gott, die Lösung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen und davon abgeleiteten ideologischen Krisen. Interessant ist dabei doch festzustellen, daß die als so irrationalistisch verschrieene Spätphilosophie Schellings keineswegs die „Rettung“ der menschlichen Geschichte in einem „Zurück“ zu m Mythos sieht. Im Gegenteil reklamiert Schelling, wenn auch in religiöschiliattischen Vorstellungen verhaftet, eine reale geschichtliche Zukunft, die nicht eine Zukunft der vergangenen und für Schelling abgeschlossenen historischen, mythologischen Zeit ist. Gerade wenn heute im Zei37 Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982, 10. 38 A.a.O., 60. Schelling und die Mythologie chen des postmodernen Zeitalters viele einer Abdankung der Vernunft, und das heißt doch auch einer Abdankung von selbstverantworteter ‘Subjektivität’ und ‘Individualität’ das Wort reden, ist es interessant, daß Schelling eine „neue“ Subjektivität und Vernunft des Menschen fordert, die im Anderssein der Natur nicht nur ein Mittel zur unbeschränkten Verfügung des Menschen sieht, sondern in ihr Strukturen und Momente erkennt, die ebenso Subjektcharakter tragen. Wenn nämlich, wie die von uns bereits zitierte Stelle bei Schelling lautet, das produktive Prinzip, das in einem ursprünglichen Verhältnis von Mensch und Natur Grund des menschlichen Bewußtseins war, durch seine Überschreitung und seine Verrückung aus dieser Stelle das mythologisch-zwanghafte Bewußtsein notwendig zum Ausdruck brachte, ist die für Schelling in geschichtlichgesellschaftlicher Zeit zu vollbringende Lösung nur in der „wiederhergestellten Subjektivität“ des Prinzips (und d.h. der Natur) zu sehen. Und erst dann, wenn diese subjektive, mit dem Begriff der dritten Potenz umschriebene Macht der Natur wieder als Grundlage gesetzt ist, setzt diese „wieder menschliches Bewußtsein“39. Die menschliche Vorgeschichte und die eigentliche vormenschliche Naturgeschichte sind eben nicht nur im zeitlichen Nacheinander miteinander genetisch verbunden und haben nach Schelling nicht nur denselben Ausgangspunkt in „ursprünglich schaffenden M ächten“40, sondern sind im gesellschaftlichen Prozeß selbst untrennbar miteinander verknüpft. Die Erkenntnis dieser selbst schaffenden und selbst produktiven Seite der Natur fördert die Anerkenntnis ihres Selbstseins und nötigt uns die Verantwortung ihres Schutzes auf, schon allein aus Einsicht, daß auch wir als Naturwesen ein untrennbares Element ihrer selbst sind. Zum Schluß bleibt aber noch eine Frage unbeantwortet, wofür denn eigentlich bei Schelling die Philosophie der Mythologie steht. Sie steht für den ursprünglichen Anfang der Geschichte, und so bestimmt Schelling sie als Grund und ersten Teil einer neuen, nach seiner Ansicht noch nicht formulierten Geschichtsphilosophie. Dieser geht es aber nach Schelling in erster Linie darum, über den Anfang der Geschichte wesentlich die Dimension ihrer Zukunft zu thematisieren. Wie schon Hegel vor 39 40 Frank (Hg.), Bd. 6, 142 (II, 2, 130). – Vgl. ebd., 264 (II, 2, 272). Frank (Hg.), Bd. 5, 217 (II, 1, 207). Ralph Marks ihm, auf den Schelling hier indirekt antwortet, sieht auch er als Grundlage jeder möglichen Geschichtsphilosophie die wesentliche Einheit der Geschichte, die ihr zugrunde liegen muß, an. Zum „Unbeschlossenen“, „Grenzenlosen“ hat, so Schelling, die Philosophie kein Verhältnis. Was bedeutet es aber dann, wenn dieser gegen Hegel die Zukunft im Rahmen seiner Philosophie der Mythologie als wesentliches Strukturelement jeder Geschichtsphilosophie einklagt? Die sich daran anknüpfende Kritik an Hegels Geschichtsphilosophie, ohne daß sein Name extra genannt wird, zeigt, wo für Schelling das für seine Zeit eigentliche Sinnproblem der menschlichen Geschichte und Gesellschaft liegt, die weder ein eigentliches geschichtliches Herkommen noch eine wahre, nach vorne offene Zukunft besitzt, die vielmehr behauptet, den vernünftigen Schluß der Geschichte schon jetzt begriffen zu haben. Und Schelling fährt fort: „Ich frage, ob nur überhaupt an einen Schluß gedacht worden, und nicht alles vielmehr darauf hinausläuft, daß die Geschichte überhaupt keine wahre Zukunft hat, sondern alles ins Unendliche so fortgeht, da ein Fortschritt ohne Grenzen aber eben darum zugleich sinnloser Fortschritt ein Fortschritt ohne Aufhören und ohne Absatz, bei dem etwas wahres Neues und Anderes anfinge, zu den Glaubensartikeln der gegenwärtigen Weisheit gehört. Da es jedoch von selbst sich versteht, das was seinen Anfang nicht gefunden, auch sein Ende nicht finden kann, so sollen wir uns bloß auf die Vergangenheit beschränken und fragen (...)“41. 41 Ebd., 240 (II, 1, 230). In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 4857 Autor: Elmar Treptow Artikel Elmar Treptow Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? „Ein Glas Wein oder Bier des Tags reicht vollkommen aus, mir aus dem Leben ein ‘Jammerthal’ zu machen, – in München leben meine Antipoden.“ Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so klug bin Nietzsches Wiederentdeckung in der äußersten Krise des wissenschaftlich-technischen Fortschritts Wenn wir fragen, womit Nietzsche in letzter Zeit wieder „attraktiv“ und „modern“ geworden ist, so lassen sich mehrere Themenbereiche anführen, die alle schließlich einem Zentralthema untergeordnet sind. (1) Zunächst scheinen sich einige, die vorher nur das „Verändern“ kannten, mit Nietzsches Hilfe darauf besonnen zu haben, daß es unveränderbare Voraussetzungen gibt für die Natur im Ganzen, die „revolutiones“ der Gestirne, Schicksal und Tod, und daß die Menschheitsgeschichte nur eine Episode der Naturgeschichte ist, daß Biologie und Physik grundlegender sind als die Gesellschaftstheorie und daß die Fragen nach der Ewigkeit kein Zeitvertreib sind. Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? (2) Eine Herausforderung ist weiter die radikale Sinn- und Zweckfrage, die Nietzsche daran knüpft, daß der Mensch – seit Kopernikus – Schritt für Schritt aus der Mitte des Kosmos herausgerückt ist und sich nicht mehr ohne weiteres an vorgegebenen Zwecken oder Intentionen der Natur orientieren kann; müssen Zwecke und Werte vom Menschen selbst gesetzt werden, damit der „Nihilismus“ vermieden wird? (Oder ist das Vorgegebensein bzw. das Selbstschaffen der Werte gar keine richtige Alternative? Wird mit dieser Alternative der objektiv-subjektive Charakter von Werten verfehlt, die Ausdruck von gesellschaftlichen Interessen sind?) (3) Auch an Nietzsches Lehre vom „Übermenschen“ scheint in der gegenwärtigen Bio- und Gentechnologie-Debatte kein Weg vorbeizuführen. Welches Licht wirft Nietzsche auf die Fragen der negativen und positiven Eugenik? Besitzt der Übermensch überhaupt Eigenschaften, die eine genetische Grundlage haben? Das scheint nicht ausgeschlossen, da Nietzsche die „Höherzüchtung der Menschheit“ auch biologisch versteht und sie sowohl mit bestimmten Eheschließungen wie mit Abhärtung im Krieg und Erziehung verbindet, und zwar in der Weise, daß die demokratisch organisierte Gesellschaft das Mittel zum Zweck des Hervorbringens des großen starken Individuums wird (so wie die Französische Revolution ihre Rechtfertigung in Napoleon habe)1. Die in der gegenwärtigen Debatte konsensuell aufrecht erhaltenen Maßstäbe der Personidentität – der Würde – sowie der öffentlichen, sozialen Kontrolle sind nach Nietzsches Konzeption vermutlich humanistische, Werte des „letzten Menschen“, die den „Willen zur Macht“ blockieren und einen in Wahrheit rational unbegründbaren, im Ressentiment wurzelnden Dezisionismus darstellen. (4) Andere finden sich nicht als potentielle Übermenschen, sondern so wie sie gehen und stehen mit ihren Trieben und Bedürfnissen des Leibes von Nietzsche ernst genommen, ernster jedenfalls als von Vertretern der Bewußtseinsphilosophie, die an ihnen doch nur wieder einen Reinigungsprozeß vornehmen wollen. 1 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), 9, 508; 12, 73; 12, 296; 6, 374. Elmar Treptow (5) Dem Spieltrieb, dem ästhetischen Schein, der künstlerischen Vielfalt und den experimentellen (Selbst-) Inszenierungen Freiraum geschaffen zu haben durch Überwindung identifizierender und schematisierender wissenschaftlicher Begriffsbildung, darin sehen mehrere die befreiende Wirkung Nietzsches, und zwar vermittelt durch Adornos Interpretation. Diese Befreiung zum „Unterschied“ und „Anderen“, zu unendlichen unübersichtlichen Perspektiven und individuellen fragmentarischen Entwürfen proklamieren die italienischen „neuen Linken“ wie Giuliano Baioni und Gianni Vattimo (in „Il soggetto e la maschera“), wahrscheinlich auch Claudio Magris und Mazzino Montinari. Auf diesen Pluralismus – oder „Polytheismus“ (Blumenberg) – zielen ebenso die „Postmodernen“ oder „Poststrukturalisten“, allen voran Derrida und Lyotard, für den die „Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens“ stehen, der dem „alten Typ“ des universalistisch orientierten „Intellektuellen“ ein „Grabmal“ setzen will und den „Augenblick“ – Nietzsches „Mittag“ – zu bewahren sucht (hierin mit Bohrer vergleichbar). Hinzu kommt Vuarnet, der über Deleuzes Konzept des „Rizom“ – des vielfältigen Wurzelgeflechts – zur „Polygamie des Geistes“ inspiriert worden ist. Auch Friedrich Kaulbachs Versuch, Rationalität bei Nietzsche als „Perspektivismus“ zu retten, läßt sich hier einordnen. Foucault fühlt sich Nietzsche gerade darin verbunden, daß man durch ihn wieder die Heterogenität der Erscheinungen gegenüber der Totalität einer in Basis und Überbau hierarchisch strukturierten Gesellschaftsformation sehen lerne. Vergessen scheint im übrigen die alte Expressionismus- oder RealismusDebatte zwischen Lukács und Brecht, Bloch und anderen, in der es zentral um die Fragen Vielfalt-Einheit ging und in der einige Resultate zutage gefördert wurden. (6) Nicht zuletzt fasziniert Nietzsche mit einer Art Ideologiekritik, mit der er ästhetische, moralische und andere Bewußtseinsformen „genealogisch“ herleitet. In einer Zeit, in der unter dem Deckmantel allgemeiner Moral und universeller Warte partikulare Interessen wie selbstverständlich vertreten werden, wird Nietzsches Schule des Verdachts und der Demaskierung als heilsam empfunden. Dabei scheint Nietzsche Marx’ Ideologiekritik noch zu überbieten, indem er den Verdacht auch gegen seine eigene Theorie in der Weise richtet, daß er sie als Ausdruck und Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? Instrument des „Willens zur Macht“ funktional behandelt. (Für Cioran ist die Konsequenz von Nietzsches sich selbst untergrabendem Denken der „universale Nichtsinn“ und das „unmögliche Dasein“.) (7) Außerdem werden noch einzelne Themen aus Nietzsches Gesamtwerk herausgegriffen und wieder entdeckt, wie zum Beispiel der Rausch, der wohl doch nicht nur der Vorabend des Aschermittwoch eines Spießbürgers ist, oder das Europäertum, mit dem Nietzsche zeitweise gegen die „Vaterländerei“ antritt, oder seine Kritik an der Verführbarkeit von „Herden“ bzw. anonymen Massen. (Diese Verführbarkeit wird auch von denen eingeräumt werden, die die gesellschaftsverändernde Kraft von Massen nicht verkennen.) (8) Zur Hauptsache und im Kern aber ist Nietzsches Philosophie dadurch aktuell geworden, daß sie der wachsenden Skepsis bzw. Negation des wissenschaftlich-technischen Fortschritts entgegenkommt. D. h. der Wiederentdeckung Nietzsches liegt vor allem die krisenbedingte Erfahrung zugrunde, daß die wissenschaftlich-technische Entwicklung mit der Atomtechnik, der Bio- und Gentechnologie und der gesamten Computertechnik den globalen Frieden, die ökologischen Lebensgrundlagen und die Arbeitsmöglichkeiten zumindest massiv bedroht und somit fragwürdiger als jemals zuvor geworden ist. Gegenwärtig bestätigt sich für viele Nietzsches Ansicht, daß Wissenschaft und Technik sowie Vernunft und Emanzipation nur Formen, Funktionen und Masken eines blinden Machtwillens sind und daß sie keinen Vorrang vor Mythen haben. Hinzu kommt, daß die Diskreditierung von Wissenschaft und Technik auch den wissenschaftlichen Sozialismus betrifft und ihn sozusagen nebenher erledigt, da für ihn die wissenschaftlich-technische Produktivkraftentwicklung maßgebend ist. Während Marx noch im Bann der traditionellen bürgerlichen Wissenschafts- und Technikauffassung stehe – so wird gesagt –, habe Nietzsche den Bann gebrochen. Wenn Lukács „als ,das ständige Leitmotiv aller Entwicklungsetappen Nietzsches den Kampf gegen den Sozialismus als Hauptfeind“ bezeichnet2, so ist für Nietzsche ein solcher Kampf durch die Diskreditierung von Wissenschaft und Technik zwar in indirekter, aber noch gründlicherer Weise 2 G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft (Werke, Bd. 9), 292. Elmar Treptow führbar als durch die direkten Attacken gegen das „Sozialistengesindel“ und gegen die „allgemeinste Bildung, d.h. die Barbarei“ als „Die Voraussetzung des Communismus“, des „internationalen Hydrakopfs“3. Desinteresse an Nietzsches Verhältnis zum Faschismus Die gegenwärtige Wiederbelebung Nietzsches schließt ein, daß die früher diskutierte Frage, ob Nietzsche ein Wegbereiter des Faschismus bzw. Nationalsozialismus ist und für diesen mitverantwortlich ist, kaum eine Rolle spielt. Anscheinend wird auch gar nicht mehr verstanden, was mit dieser Frage gemeint ist und nur gemeint sein kann, nämlich: ob Nietzsches Philosophie objektiv so konzipiert ist, daß sie brauchbar gewesen ist für den Nationalsozialismus und dazu dienen konnte, bestimmte Bevölkerungsschichten einzufangen (nicht etwa, ob Nietzsche selbst den Nationalsozialismus gewollt hat und in dessen Vertretern seine „Herrenrasse“ gesehen hätte). Nur unter Berücksichtigung des historischen Zusammenhangs, in dem die Philosophie Nietzsches steht, und des sozialen Auftrags, den sie möglicherweise erfüllt, könnten auch die faschismuskonformen Nietzsche-Interpretationen angemessen beurteilt werden, darunter in erster Linie die – von den 20er bis in die 60er Jahre – erschienenen Werke Alfred Baeumlers, des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“. (Es genügt nicht zu kritisieren, daß Baeumler die Lehre von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ zugunsten der Lehre vom „Willen zur Macht“ einfach aus Nietzsches Werk hinauskomplimentierte.) Sogar Montinari, der verdienstvolle Mitherausgeber der neuen kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Mitherausgeber der „Nietzsche-Studien/Internationales Jahrbuch für Nietzsche-Forschung“, verstellt in seinem Artikel „Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács“ den Zugang zu dem Kontinuitätsproblem4. Er geht fast nur den Fragen nach, wie Baeumler Nietzsches Nachlaß kompilierte und aus dessen Werk ein System konstruierte. Er mißversteht es offensichtlich als unhistorische Herangehensweise, wenn Lukács von Nietzsches „indirek3 4 ebd. (passim). M. Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 169 ff. Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? ter Apologie“ des Kapitalismus durch Ablenkung vom sozialen Handeln vermittels einer Mythologie spricht. Nietzsches sensible Rezeption wie Kritik der Verfallserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft – der „decadence“ – wird von mehreren hervorgehoben, ohne daß Lukács’ Unterscheidung einer Kritik von „links“ oder „rechts“ gewürdigt wird. So will man etwa nicht wahrhaben, daß Nietzsches Bismarck-Kritik von „rechts“ erfolgt, indem Nietzsche auf Bismarcks Vorbehalte gegen den Kolonialismus und Imperialismus zielt. Mythus und Wissenschaft als Formen und Masken des „Willens zur Macht“ Montinari behauptet außerdem, daß man nach Nietzsches Schrift „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ nicht mehr von „Mythus“ in dessen Philosophie sprechen könne. Nietzsche habe Hegels und Burckhardts Einsicht geteilt, daß es nach der Antike keinen wahrhaften Mythus mehr geben könne, „und zwar so sehr, daß sie seinen jugendlichen Glauben an die Möglichkeit der Wiedererstehung des germanischen Mythus in Wagnerscher Form und an die Haltbarkeit der Mythen überhaupt zerstören mußte“; nach der Entstehung des „historischen Sinns“, den Nietzsche in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“ „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ behandelt, „gibt es kein Zurück mehr zu irgendwelchem Mythos“5. Wenn Montinari recht hätte, würde Nietzsche nicht nur Hegels und Burckhardts, sondern auch Marx’ Ansicht teilen, wonach die Mythologie – d. h. die „unbewußt künstlerische Verarbeitung der Natur“ durch die „Volksphantasie“ – mit der praktisch-technischen Naturbeherrschung verschwindet: „Alle Mythologie überwindet und beherrscht und gestaltet die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung; verschwindet also mit der wirklichen Herrschaft über dieselben“6. Montinari verkennt einfach, daß Nietzsche den „historischen Sinn“ – des „häßlichsten Menschen“, wie es im vierten Teil des „Zarathustra“ heißt – gerade kritisiert und seine frühe Konzeption des dionysischen Lebens mit der Lehre vom „Willen zur Macht“ wieder aufnimmt. Sicher will Nietzsche nicht die alten Mythen – wie die von Dionysos oder Prome5 6 ebd., 195 f. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, 30 f. Elmar Treptow theus – wieder als solche auferstehen lassen; aber immer bleibt für ihn der „Trieb zur Metapherbildung“ die Grundlage aller Lebensäußerungen, des Mythus, der Kunst wie der Wissenschaft und ihrer Anwendung in der Technik. Sie sind für Nietzsche immer – wie auch seine eigene Philosophie – Erscheinungsformen, Funktionen und Masken des „Lebens“, das er schließlich so bestimmt: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung ...“7.So heißt es in der nachgelassenen Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ (1873): „Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, daß aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Reich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst“8. Zugleich erwartet Nietzsche von dem Mythus, was mit ihm auch von anderen verknüpft wird: die Vereinheitlichung der Gegensätze, die Beseitigung der Zerrissenheit und Zerstückelung des ganzen Lebenszusammenhangs, vor allem die Auflösung des „Widerspruchs von Leben und Wissen“, von Natur und Gesellschaft in der intuitiv erfaßten Totalität sowie die Motivierung und Anleitung zum Handeln (die zur „kommunikativen Funktion des Mythus“ im Sinne Manfred Franks gehören). „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren unge7 8 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 259 (KSA, 5, 207). KSA 1, 887. Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? schriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.“ Dagegen das Bild der zerrissenen Gegenwart: „Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist – das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegendsten Alterthümern nach ihnen graben müßte“9. Die Wissenschaft, der gegenüber die Mythen den ganzen Lebenszusammenhang zur Geltung bringen sollen, verfährt nach Nietzsche historistisch und antiquarisch bzw. ordnet schematisch den faktischen „Sensationswirrwarr“ und ist in jedem Fall ungeeignet, zu Handlungen anzuleiten. D. h. Nietzsche hat keinen Begriff einer „aufs Ganze“ gehenden nicht-positivistischen und nicht-neukantianischen dialektischen Wissenschaft. Sogar die verkürzte Wissenschaft einfach fallenzulassen, ist Nietzsche dann bereit, wenn ihm ihre Resultate nicht lebensdienlich erscheinen. Wie Nietzsche so die wissenschaftliche Wahrheit als Funktion der biologisch bestimmten Nützlichkeit bzw. des Machtwillens auffaßt, zeigt exemplarisch seine Stellung zum Darwinismus: da die wissenschaftliche Evolutionstheorie Darwins für Nietzsche darauf hinaus läuft, daß das starke Individuum den besser angepaßten „viel zu vielen“ unterliegt, verwirft er sie und dekretiert: „Der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgendeinem anderen Tier dar. Die gesamte Tier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Höheren ... Sondern alles zugleich, und übereinander und durcheinander und gegeneinander.“ Und vorher: „Der Mensch als Gattung ist nicht im Fort- 9 KSA 1, 145 f. Elmar Treptow schritt. Höhere Typen werden wohl erreicht, aber sie halten sich nicht. Das Niveau der Gattung wird nicht gehoben“10. Wie ambivalent Nietzsches Stellung zur Wissenschaft dennoch bleibt, wird daran deutlich, daß er seine Lehre von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ nicht nur als Willensimperativ versteht, sondern bisweilen auch wissenschaftlich zu beweisen trachtet, und zwar mit Hilfe des Energieerhaltungssatzes. Diese Ambivalenz hat Karl Löwith hinlänglich – in seiner „stoischen“ Art – dargelegt11. Die Aktualisierung Nietzsches durch Adornos Gleichsetzung von Mythus und Vernunft mit Herrschaft Auf Nietzsches Funktionalisierung der Erkenntnis und des Wissens als Ausdruck des Macht- und Herrschaftswillens geht vor allem Adorno ein. Seine und Horkheimers Interpretation in der „Dialektik der Aufklärung“ entsprechen am ehesten der gegenwärtig wachsenden Abwendung vom Gedanken des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Sie sind die verbreitetste Nietzsche-Rezeption der Gegenwart geworden. Mit ihr konvergiert die Auffassung Heideggers, insofern er das Wesentliche der Philosophie Nietzsches darin erblickt, daß sie die heraufkommende wissenschaftlich-technische „Erdherrschaft“ reflektiere. „Denn woher stammt der Notruf nach dem Übermenschen? Weshalb genügt der bisherige Mensch nicht mehr? Weil Nietzsche den geschichtlichen Augenblick erkennt. da der Mensch sich anschickt, die Herrschaft über die Erde im Ganzen anzutreten“12. Wenn Adorno darauf insistiert, daß Nietzsche Vernunft und Herrschaft gleichsetzt und die Vernunft nicht dem Mythus entgegensetzt, dann interpretiert er ihn nicht nur, sondern macht sich dessen Ansicht zu eigen. Man kann sagen: Nietzsche vor allen hat Adorno hier „zurecht gebracht“. Welcher andere Philosoph hätte die aufklärerische Vernunft wie den Mythus als Herrschaftsform aufgefaßt? Für Adorno wie für 10 KSA 13, 316 f. K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 1978, 89 ff. 12 M. Heidegger, Wer ist Zarathustra?, in: Vorträge und Aufsätze, Teil 1, Pfullingen 1967, 98. 11 Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? Nietzsche „verfälscht“ der Begriff das Einmalige und Andere, macht es gleich und beherrschbar (was beide mit dem in mythischen Anfängen sich durchsetzenden Tauschprinzip in Verbindung bringen). Daß Identität und Vergleichbarkeit „objektiv“ an allem Natürlichen und Gesellschaftlichen sind, würden beide nicht einräumen. Wie Nietzsche nimmt Adorno an, daß „alle Werturteile unbegründet sind“ und es unmöglich sei, „aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen Mord vorzubringen“13. Entsprechend der Negation des Begriffs negieren sie das „System“ und bezeichnen es als „Idealismus“. Anrührend ist es und traurig kann es stimmen, wenn Nietzsche im Rückblick in der Autobiographie „Ecce homo“ es auf den „Idealismus“ seiner Bildung zurückführt, daß er die „Realitäten“ aus den Augen verloren und die „Frage der Ernährung“ verkannt habe14, – ohne daß er einmal einen Gedanken darauf verwendet, ob nicht etwa die Annahme eines außermenschlichen Willens in der Konzeption des „Willens zur Macht“ ein grandioser idealistischer Anthropomorphismus ist (der Stein z.B., der zur Erde fliegt, „will“ also für Nietzsche weiterhin wie für Schopenhauer zur Erde fliegen), oder: ob nicht etwa die Herleitung des „realen“ Lebens aus dem „Tod Gottes“ – und dem mit ihm einhergehenden Verfall der religiösen und moralischen Werte – geradezu eine mustergültige idealistische Verkehrung von Sein und Bewußtsein ist. Das „Andere“, „Nicht-Identische“, „Vielfältige“, das der Begriff identifiziere, verobjektiviere, kalkulierbar und beherrschbar mache, ist allerdings für Adorno das undarstellbare Erhabene, das dem jüdisch-religiösen Bilderverbot unterliegt15, für Nietzsche dagegen der „Wille zur Macht“. Nicht nur, daß sich hier für Adornos Nietzsche-Aneignung Schwierigkeiten der Konsistenz ergeben; auch die „Postmodernen“ hätten sich um diese ihre Voraussetzungen bei der Proklamation der Vielfalt kümmern müssen. Die ideell-begriffliche und materiell-technische Beherrschung der Natur (der äußeren wie der inneren) ist für Adorno nur die Zerfallenheit mit der Natur und die Entfremdung mit ihr, nicht auch die Vereinigung mit ihr, 13 Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, 86, 107. KSA 6, 279 f. 15 Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1970, 291 f. 14 Elmar Treptow die ein „affirmativer“ Dialektiker darin erblicken wird, daß die Beherrschung der Natur die Respektierung ihrer Gesetze einschließt. Wenn Adorno die Herrschaft des Menschen über den Menschen allgemein aus der Naturbeherrschung, die der vernünftigen Selbstbehauptung dient, ableitet und nicht nur die besonderen Formen der Naturbeherrschung kritisiert, dann hat er mit dieser Hyperkritik wie Nietzsche Herrschaft prinzipiell unaufhebbar gemacht (so unaufhebbar, wie es die konkrete, gebrauchswertproduzierende Arbeit ist); konsequenterweise können dann Begriff und Kunst nur negativ-utopisch Autonomie und Versöhnung mit der Natur ausdrücken. Die praktischen Folgen sind struktureller Opportunismus oder militanter Aktivismus. Und es fällt schwer, nicht an die früheren Nietzscheaner in den Salons oder in den Schützengräben von Langemarck und an die Adorno-Inspirierten in den „wahnsinnig gescheiten“ Kulturfeuilletons oder in der „direkten Aktion“ zu denken. Wenn nach Adorno die Konsequenz der auf der Naturbeherrschung beruhenden gesellschaftlichen Herrschaft die Industriegesellschaft die verwaltete Welt und der Faschismus sind (in dem „die Herrschaft zu sich selbst gekommen“ sei, so daß sozusagen eine Linie von Odysseus zu Hitler führt), dann soll hier als Einwand die Frage formuliert werden: wie war es möglich, daß der Faschismus besiegt wurde? Nach Adornos Voraussetzungen müßte sich zumindest mit der Niederwerfung des Faschismus die wissenschaftlich-technisch beherrschte Natur in noch stärkerem Maße gegen den Menschen selbst kehren. (Und wie, wenn es gelingen sollte, auch die gegenwärtige wissenschaftlich-technische Entwicklung unter herrschaftsfreie soziale Kontrolle zu bekommen?) Die reine Erkenntnis als uneingestandener Ausgangspunkt und Kehrseite des „Willens zur Macht“ Adorno und Nietzsche kommen zu ihrer Gleichsetzung von Mythus und Vernunft mit Herrschaft auf Grund einer bestimmten Voraussetzung, nämlich auf Grund der normativen Setzung des selbstlosen Geistes, des kontemplativen Sein- und Gewährenlassens und der Wahrheit um ihrer selbst willen. Am Maßstab dieser stillschweigenden Voraussetzung – ein jüdisch-christliches und platonisches Erbe – werden von Nietzsche und Adorno Welt und Mensch beurteilt und negiert bzw. voluntaristisch Sind Nietzsches Mythen noch zu retten? affirmiert. D.h. zunächst abstrahieren sie gedanklich davon, daß der Mensch mit seiner Vernunft nur durch die Naturbeherrschung ist, was er ist, dann lassen sie das Abstrahierte notgedrungen wieder zu und vermerken es übel. Habermas hat Ähnliches für Adornos Kritik festgestellt: „Sie blieb in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der auszutreiben sei, damit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen könne“16. Auch Nietzsche sucht und vermißt die nutzlose „reine folgenlose Erkenntnis“17 und es ist dieser Zusammenhang, in dem er die Wahrheit als Funktion des Machtwillens bestimmt. Indem Nietzsche als Kehrseite zur unterstellten reinen Unabhängigkeit die völlige Abhängigkeit der Erkenntnis gefunden hat, kommt für ihn gar nicht mehr in Frage, daß Erkenntnis sowohl abhängig von natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen, d.h. relativ, als auch objektiv ist. Dementsprechend soll hier behauptet werden, daß dieses Schwanken zwischen der Reinheit und der reinen Funktionalität der Erkenntnis die genaue Entsprechung ist zu Nietzsches Position und Negation Gottes, d.h. zu Nietzsches „religiösem Atheismus“ (Lukács). Man könnte es Nietzsches „metaphysischen Funktionalismus“ nennen. Die Identifizierung des Partikularen und Universalen als blinder Fleck Indem Nietzsche die reine Wahrheit in die reine Unwahrheit, Scheinhaftigkeit und Fiktionalität umschlagen läßt, wird es für ihn unmöglich, einen Begriff der gegensätzlichen Einheit von „wahr“ und „falsch“, d.h. der Ideologie, zu gewinnen, der sich von seinem „genealogischen“, funktionalisierenden Verdacht unterscheidet. Mit anderen Worten: Nietzsche entzieht sich, daß die Universalisierung des Partikularen sowohl wahr wie falsch ist, indem sie die Erscheinungen in ihrer Allgemeinheit adäquat ausdrückt, die wesentlichen Verhältnisse aber in ihrer Besonderheit und Geschichtlichkeit nicht erkennt. Daß Nietzsche einen entsprechenden Begriff von Ideologiekritik nicht hat, zeigt sich an seinen Annahmen wie: die Sklaverei sei nicht nur in den besonderen Verhältnissen Griechen16 17 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt(Main 1985, 156. KSA 1, 878. Elmar Treptow lands, sondern immer Grundlage einer höheren Kultur, usw. Dementsprechend interessiert Nietzsche auch die Unterscheidung nicht, daß Partikulares als Partikulares nur von der wissenschaftlichen Ratio und der philosophischen Selbstreflexion, nicht aber vom Mythus zum Ausdruck gebracht werden kann, und daß nur die wissenschaftliche Ratio darüber befinden kann, ob ein Mythus oder eine Mythen rehabilitierende Philosophie naturwüchsige, übermächtig gewordene besondere Verhältnisse widerspiegelt. Die Konsequenz ist: Nietzsche kann gegen seine eigene Philosophie nicht den Verdacht richten, daß sie richtiger Ausdruck der Erscheinungen verkehrter, falscher Verhältnisse sein könnte, nämlich Ausdruck von Verhältnissen, die Subjekt und Objekt, Mensch und Sache verkehren, die Menschen wie Sachen behandeln und die somit als sachlich, also natürlich bedingt erscheinen. Wie könnte also die Rede davon sein, daß Nietzsche die materialistische Ideologiekritik überbietet? In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos?(1986), S. 5870 Autor: Tilman Elvers Artikel Tilman Elvers Mythos und Emanzipation menschlicher Subjektivität zum Verhältnis von E. Bloch und C.G. Jung Ernst Bloch war derjenige marxistische Denker, der am weitesten vom Boden einer materialistischen Gesellschaftstheorie aus hingearbeitet hat auf eine nicht-materialistische Theorie menschlicher Subjektivität. Gerade er fällt nun das denkbar schärfste Verdammungsurteil über C.G. Jung und sein Werk. Muß man nicht in der Nachfolge Blochs von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit zwischen C.G. Jung und der Tradition emanzipatorischen Denkens ausgehen? Tatsächlich hat Bloch die Türe vor C.G. Jung mit solcher Wucht zugeschlagen, daß sie seitdem fest verschlossen und mit einem Tabu versiegelt ist. Es erscheint daher geradezu abenteuerlich, das Paradigma Marx/Freud in seiner emanzipatorischen und utopischen Ladung potenzieren zu wollen, indem man es durch Bloch auf der einen, Jung auf der anderen Seite erweitert. Da ich diesen Vorschlag allen Ernstes machen möchte, habe ich mich mit dem harten Verdikt von Bloch auseinanderzusetzen. Der Verweis auf die Zeitumstände und auf Jungs politische Haltung wäre zu einfach. Auch wenn sich damals für Bloch an der Einstellung zum Faschismus alles entschied, so hat er gegenüber anderen Denkern aus dem bürgerlichen Lager doch nicht eine vergleichbare Unversöhnlichkeit bis ans Lebensende bewahrt. Tilman Evers Interessant an Blochs Polemik ist nicht so sehr die Ablehnung als solche, für die es gute Gründe politischer und. inhaltlicher Verschiedenheit gab, sondern vielmehr der emotionale Überschuß, mit dem er von allen konservativen Zeitgenossen ausgerechnet C.G. Jung verfolgt. Wie kommt gerade Jung zu der Ehre, im „Prinzip Hoffnung“ zum meistgeschmähten Gegner aufgebaut zu werden? Wie erklärt sich die erlesene Wut, mit der Bloch eine Schmähformulierung nach der anderen für ihn erfindet? „Faschistisch schäumend“1 und „Erzreaktionär“2 ist noch das Nüchternste. Sein Werk ist eine „Phantasmagorie“3 eine „vergangen brütende Mondscheinwelt“4 „Dilettantismus“5 und „Abra-Kadabra“6, „Romantisiertes Diluvium“7 und „Magisches Wischiwaschi“8, „Somnambule“9, wie „Timbuktu in Zürich“10. Und noch in seinem letzten Werk schleudert der 90jährige Bloch dem längst verstorbenen C.G. Jung ein „diluvialer Restaurateur, Archaik vergötzend“11 nach. Tut man die Ehre eines solchen Hasses jemandem an, der einem nur fremd ist? Könnte es sein, daß die Schärfe der Ablehnung nicht so sehr in den offensichtlichen Verschiedenheiten beider Denker gründet, sondern eher in verborgenen Gemeinsamkeiten? Im folgenden werde ich zunächst den Inhalt dieser Kritik meinerseits kritisch betrachten. Ich komme dabei zu dem Ergebnis, daß Bloch zwar auf sehr reale Schwachpunkte bei Jung zielt, seine Kritik aber maßlos überzieht und dabei zudem so ausschließlich seine eigene Sichtweise zum Maßstab nimmt, daß er sich blind macht für das Wesen dieses andersgearteten Werks. Danach versuche ich, diesen verborgenen Gemeinsamkeiten nachzuspüren. Vielleicht sollte man besser von Analogien und Berührungspunkten sprechen, denn natürlich kann niemand bestreiten wol1 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (PH), Frankfurt/Main 1980, Bd. 1, 65. a.a.O., 182. 3 a.a.O., 75. 4 a.a.O., 151. 5 a.a.O., 70 (Warum denn soviel Aufhebens?). 6 a.a.O., 68. 7 a.a.O., 85. 8 a.a.O., 42. 9 a.a.O., 70. 10 a.a.O., 182. 11 Ernst Bloch, GA Bd.15, 158. 2 Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität len, daß Welten zwischen dem Denken eines Bloch und eines Jung liegen. Insofern ist auch die im Titel angekündigte Versöhnung nicht wörtlich zu verstehen, sondern – mit einem Ausdruck aus der „Dialektik der Aufklärung“ – als Rückbezug auf etwas wechselseitig Abgespaltenes, als produktive Konfrontation statt Kontaktsperre. a) Kritik und Gegenkritik In etwas längerem Zusammenhang zitiert liest Blochs Kritik sich folgendermaßen: „Im Freud’schen Unbewußtsein ist nicht Neues. Das wurde noch klarer, als C.G. Jung, der psychoanalytische Faschist, die Libido und ihre unbewußten Inhalte gänzlich auf Urzeitliches reduzierte. Im Unbewußten sollen danach ausschließlich stammesgeschichtliche Ur-Erinnerungen oder Ur-Phantasien wohnen, fälschlich ‘Archetypen’ genannt; auch alle Wunschbilder gehen in diese Nacht zurück, meinen lediglich Vorzeit. Jung hält die Nacht sogar für so bunt, daß das Bewußtsein vor ihr verbleicht’ er setzt es, als Verächter des Lichts, herab“12. Es ließen sich eine Reihe ähnlicher Stellen zitieren. Sie laufen alle auf den Vorwurf hinaus, Jung sei ausschließlich rückwärts der Vergangenheit zugewandt, seine Lehre von den Archetypen kenne keine andere Richtung als die Regression ins Unbewußte, er gehöre zu jenen Gegnern und Zerstörern der Vernunft, die dem Faschismus vorgearbeitet hätten. Schweres Geschütz! Stimmt es, daß die Lehre vom kollektiven Unbewußten nichts anderes als Regression meint? Was Jung an den archetypischen Erscheinungen fasziniert, ist nicht ihre Archaik, sondern ihre Autonomie, und zwar im Hier und Jetzt: ihre Fähigkeit, durch alle individuellen Besonderheiten hindurch Grundmuster des Lebens zum Ausdruck zu bringen, die dem Bewußtsein und dem Willen weitgehend entzogen sind. Um die Existenz dieser autonomen Wirkkräfte nachzuweisen, verglich Jung das Bildmaterial heutiger Menschen, wie es ihm zum Beispiel in den Träumen seiner Patienten entgegen trat, mit den psychischen Gestaltungen von Menschen anderer Kul12 PH Bd. 1, 61-62. Tilman Evers turkreise, die mit der westeuropäischen Gegenwart keine Berührung haben konnten. Niemand hätte methodisch anders vorgehen können. Zu diesem Zweck reiste er nach Indien, nach Afrika und zu den PuebloIndianern in Nordamerika, zu diesem Zweck „reiste“ er auch zu den mythischen Überlieferungen der Vergangenheit. Der geographische Raum und die historische Zeit blieben ihm dabei völlig äußerlich. Er häufte all dieses Material vielmehr wie in einer geschichtslosen Allgegenwart zusammen. Es stimmt, daß ihn an all diesem Material (das er ja ge- und nicht erfunden hatte!) vor allem der Aspekt des Gleichbleibenden und Wiederkehrenden interessierte. Aber dazu gehörte für ihn auch, „daß das Unbewußte ein Prozeß ist“13 und die archetypischen Wirkkräfte sich in ständiger dialektischer Spannung befinden, also keineswegs statisch sind. Jung hat immer hervorgehoben, daß ein Grundmuster mit sehr verschiedenen Wertigkeiten auftreten kann. Der primitivarchaische Aspekt, der die Psyche im Vorbewußten festhält, gehört ebenso dazu wie der vorwärtsweisende, zur Reifung und Differenzierung drängende Aspekt. Es ist schlicht falsch, wenn Bloch behauptet, Jungs Begriff des kollektiven Unbewußten weise nur in die Vergangenheit, sei zur Zukunft vermauert, ja wolle vermauern. Im Gegenteil hebt Jung diese Zukunftsdimension des Unbewußten immer wieder hervor und benutzt dabei Formulierungen, die denen von Bloch ganz nahe kommen: Das Unbewußte umfasse auch „alles Zukünftige, das sich in mir vorbereitet und später erst zu Bewußtsein kommen wird“14. Er lehrt, „daß alles ursprünglich Seelische ein doppeltes Gesicht hat. Das eine schaut vorwärts, das andere zurück“15. Der folgende Abschnitt klingt wie von Bloch gegen Jung geschrieben, stammt aber von Jung selber: „Es wird wohl kaum ernstlich Anstoß erregen, wenn man annimmt, daß die menschliche Psyche Stockwerke besitzt, die unter dem Bewußtsein liegen. Daß es aber ebenso gut Stockwerke geben könnte, die sozusagen oberhalb des Bewußtseins liegen, scheint eine Ver13 C.G. Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Hzsg. von Aniela Jaffe. Olten und Freiburg: Walter-Verlag, 10. Aufl. 1979, 212. 14 Sigmund Freud, Gesammelte Werke (GW) Bd. VIII, 214. 15 GW XII, 82. Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität mutung zu sein, die an ein ‘crimpen laesae maiestatis humanae’ grenzt. Nach meinen Erfahrungen kann das Bewußtsein nur eine relative Mittellage beanspruchen und muß es dulden, daß es gewissermaßen auf allen Seiten von der unbewußten Psyche überragt und umgeben ist. Es ist durch unbewußte Inhalte rückwärts verbunden ... Es ist aber auch nach vorwärts antizipiert.“ So „bestimmt der Archetyp die Art und den Ablauf der Gestaltung mit einem anscheinenden Vorwissen oder im apriorischen Besitz des Zieles“16. Gerade als ein Unterschied seiner Konzeption zu der von Freud, nach dem die Trauminhalte wesentlich infantil geprägt sind, hebt Jung den antizipierenden Charakter von Träumen und die Möglichkeit ihres prospektiven Deutung hervor. Der ganze Begriff der Individuation, den Jung selbst den zentralen Begriff seiner Psychologie nennt, ist eine durch-und-durch prospektive Konzeption. Es geht um die schrittweise Verwirklichung des Projekts einer Persönlichkeit in einem Prozeß, dessen Telos das „Selbst“ ist: „Das Selbst ist auch das Ziel des Lebens“17. „Der Weg zum Ziel ist zunächst chaotisch und unabsehbar, und nur ganz allmählich mehren sich die Anzeichen einer Zielgerichtetheit. Der Weg ist nicht geradlinig, sondern anscheinend zyklisch. Genauere Kenntnis hat ihn als Spirale erwiesen“18. Ist diese Vorstellung der bisweilen allzu geradlinigen Teleologie von Bloch nicht geradezu überlegen? Insofern es in diesem Prozeß um eine Überwindung von Spaltung und Entfremdung geht, enthält er wie jede „Negation der Negation“ auch rückbezügliche Elemente. Daß in jedem psychischen Reifungsprozeß solche Elemente des Wieder-Holens und der Regression enthalten sind, ist heute psychologisches Allgemeinwissen. Von seinem Telos her ist Individuation auf Wachstum, Differenzierung, Bewußtwerdung angelegt, die Archetypen des kollektiven Unbewußten aber auf Individuation. Das hat Jung nie anders gesehen und gesagt. Wie wäre es sonst auch möglich, daß Bloch den Begriff des Archetypen übernimmt und in sein auf Befreiung zielendes Denken einbaut? Es 16 Erstes Zitat: GW XII, 165; zweites Zitat: GW VIII, 239. Erinnerungen, 416. 18 GW XII, 43 17 Tilman Evers handelt sich ja nicht um Formkategorien, die der Definitionsmacht des Autors verfügbar wären. Entweder wohnt den als Archetypen bezeichneten Erfahrungen des Menschlichen eine befreiende Kraft inne, dann tut sie das auch bei Jung. Oder es handelt sich um chthonischungeschiedene regressive Kräfte, dann könnte Bloch sie nicht verwenden. Etwas gewaltsam versucht Bloch, diesen logischen Zusammenhang zu durchschneiden. Fast widerwillig gibt er zunächst Jungs Vaterschaft des Begriffs zu: „Wohl stieß Jung hierbei auf einen .. nicht unwichtigen Phantasiebestand, auf den der Archetypen“19. Diese Berührung mit Jung ist ihm jedoch unangenehm er hätte den Begriff lieber von Freud bezogen: „Sie scheinen in stammesgeschichtliche Tiefe zu gehen, in eine, wie bemerkt, auch Freud und seiner engeren Schule nicht fremde um von C.G. Jung zu schweigen“20 (Hervorhebung d.Verf.). Freud hätte sich für diese ihm übertragene Vaterschaft bedankt, hatte er doch wegen dieser Stammesgeschichte Jung exkommuniziert. Weil Bloch den Archetypus in seiner vorwärtstreibenden Kraft nutzen will, behauptet er einfach, diese Seite seines Wirkens erst selber entdeckt zu haben, während Jung nur die rückwärtsgewandte Seite gesehen und gewollt habe. Nicht Jung vermauert die Zukunft, Bloch vermauert sie ihm. Die Richtung nach vorwärts will er für sich, also muß im JetztPunkt wenn schon nicht ein begrifflicher Abbruch, so doch ein Umbruch stattfinden, eine „Umfunktionierung, welche sich auf Befreiung der archetypisch eingekapselten Hoffnung versteht“21. „Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Vergangenheit der Reaktion ...; jede dermaßen geschehene Umfunktionierung zeigt das Unabgegoltene an Archetypen bis zur Kenntlichkeit verändert“22. Bloch nimmt also den Begriff förmlich mit spitzen Fingern aus der „kosmoanalytischen Abfallgrube“23 schüttelt alles Chtonisch-Urweltliche von ihm ab und setzt ihn in sein Reich ein. „Das Utopische an Archetypen ist zuletzt überhaupt nicht in Archaik fixierbar, es wandert vielmehr höchst tauglich durch die Ge19 PH Bd. 1, 70. a.a.O., 90. 21 a.a.O., 187. 22 a.a.O., 188-189. 23 a.a.O., 148. 20 Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität schichte“24. Der so zur Sonne, zur Freiheit gewendete Archetypus ist dann eigentlich gar nicht mehr Jungs Entdeckung, erst durch die befreiende Umfunktionierung Blochs wird er aus der Höhle des reaktionären Unbewußten erlöst und findet er zu seinem eigentlichen Begriff. Hanna Gekle25 hat in ihrer Dissertation über das psychologische Denken bei Bloch im Verhältnis zu Freud nachgewiesen, daß Regression und Progression im psychischen Prozeß komplizierter miteinander verwoben sind, als Bloch es mit seiner Vorstellung eines eindeutigen evolutiven Vorwärts und Rückwärts wahrnehmen konnte. Das muß natürlich erst recht für sein Verhältnis zu Jung gelten, der die Verflechtung von Regression und Progression in einen größeren, transpersonalen Rahmen stellt. Gäbe es eine entsprechende Untersuchung über das psychologische Denken von Bloch und Jung, so würde sich – so vermute ich – in mancher Hinsicht eine größere Affinität zum Menschenbild von Jung als zu dem von Freud ergeben. Und dennoch hat Bloch nicht einfach unrecht mit seiner Kritik. Jung stand dem Gedanken eines Fortschritts, von dem Blochs ganzes Werk durchdrungen ist, zeitlebens skeptisch bis verständnislos gegenüber. Seine Analytische Psychologie ist zwar in ihrem kategorialen System keineswegs rückwärts gewandt. Aber es kann kein Zweifel sein, daß Jung persönlich einen brütend-grüblerischen Zug hatte und in diesem Sinne rückwärts gewandt, besser in sich gekehrt war, erst recht, wenn man ihn an Bloch mißt. Bloch hat also in seinem Engagement Jung zwar falsch gelesen, aber doch richtig gedeutet, wenn er ihn trotz aller vorwärtsweisenden Äußerungen als vergangenheitsselig empfindet. Falsch wird seine Kritik erst durch ihren Überschuß und durch die Bedenkenlosigkeit, mit der er ihn um der höheren Ehre Blochs willen zum Popanz umfunktioniert. Das gilt auch für seinen Vorwurf, Jung sei ein Feind der Vernunft. Auch hier wieder trifft Bloch zwar nicht das Werk von Jung als solches, wohl aber die besondere Beleuchtung, die es aufgrund der Persönlichkeit ihres Schöpfers erhielt. Tatsächlich tendierte Jung unter dem Eindruck der 24 a.a.O., 186. Hanna Gekle: Wunsch und Wirklichkeit. Studie zu Blochs Philosophie des NochNicht-Bewußten und Freuds Theorie des Unbewußten, Unv.M, Tübingen 1985. 25 Tilman Evers Schlüsselerfahrung seiner persönlichen Lebenskrise anfangs dazu, das Unbewußte als übermächtig im Verhältnis zum Bewußtsein darzustellen. Nicht zuletzt unter dem Eindruck des Nationalsozialismus hat er diese Sichtweise später korrigiert und auf die Wichtigkeit der wahrnehmenden, urteilenden und entscheidenden Instanz des Ich hingewiesen. „Es wäre wohl manchen zu wünschen“, schreibt er, „daß er sich noch im rechten Moment ... des vielbescholtenen Intellekts entsänne. Wer diesen beschimpft, steht im Verdacht, noch nie jenes erlebt zu haben, das ihm zeigen könnte, wozu der Intellekt gut ist, und warum die Menschheit mit unerhörter Anstrengung diese Waffe geschmiedet hat“26. Man darf davon ausgehen, daß Jung bei dieser Stelle Ludwig Klages im Auge hatte der mit seinem Werk „Der Geist als Widersacher der Seele“ im Nationalsozialismus zum Kronzeugen des Antirationalismus wurde. Bloch, der Jung seinerseits im Irrationalismus verhaften möchte schiebt ihn in seiner Polemik mit Klages zusammen, so als seien „die Jungs und Klages“27 identisch oder Klages der Hausphilosoph von Jung. Tatsächlich aber zitiert Jung ihn in seinem ganzen Werk nur dreimal, und nie ohne einen Ton der Kritik an dessen Vernunftfeindschaft: „Nach Klages sind Logos und Bewußtsein die Zerstörer des schöpferischen vorbewußten Lebens. Bei diesen Schriftstellern erleben wir die Anfänge einer stufenweisen Verwerfung der Wirklichkeit und einer Ablehnung des Lebens, so wie es ist. Dies führt schließlich zu einem Kult der Ekstase, der in der Selbstauflösung des Bewußtseins im Tode gipfelt“28. Jung kritisiert also Klages in ganz demselben Sinne wie Bloch, freilich nicht mit derselben Schärfe und mit dessen politischer Intention. Jung nennt das „Wunder des reflektierenden Bewußtseins“ eine „zweite Kosmogonie“29. „Soweit wir zu erkennen vermögen, ist es der einzige Sinn der menschlichen Existenz, ein Licht anzuzünden in der Finsternis des bloßen Seins“30. Kann man jemanden, der so etwas schreibt einen 26 GW XII, 114. PH Bd. 1, 116. Auf S.86 schreibt er sogar „C.G. Jung-Klages“ wie einen Doppelnamen. 28 GW X, 205. 29 Erinnerungen, 341. 30 a.a.O., 329. 27 Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität „Verächter des Lichts“ nennen? Daß auch Jung seine dunklen und unbewußten Seiten hatte, ist selbstverständlich. Anders wäre seine Naivität gegenüber der politischen Seite des Nationalsozialismus nicht zu erklären. Andererseits hat er die tiefenpsychologische Seite dieser Bewegung früh gesehen und benannt. Ihn deshalb einen Wegbereiter des Faschismus zu nennen hieße, den Boten für die Botschaft zu bestrafen. Nicht in Jungs Lehre vom kollektiven Unbewußten, sondern in diesem Unbewußten selbst hatte der Faschismus seinen Nährboden. Daß die Antwort darauf nicht sein kann diese Welt des mythischen Unbewußten zu verdrängen, hat Bloch deutlich ausgesprochen. b) Geistige Berührungspunkte Nicht auf Klages, wohl aber auf den Lebensphilosophen Henri Bergson hat Jung sich wiederholt mit uneingeschränkter Zustimmung bezogen. Damit sind wir schon mitten bei der Frage nach geistigen Berührungspunkten zwischen Bloch und Jung. Bekanntlich hatte Bloch selbst enge Verbindungen zur Lebensphilosophie, die seine Studienjahre wesentlich beeinflußte. In den Jahren 1908 bis 1911 gehörte er in Berlin zum Privatkolloquium Georg Simmels, der wesentlich dazu beigetragen hatte, Henri Bergson in Deutschland bekanntzumachen und selbst einer der Hauptrepräsentanten der Lebensphilosophie war. Auf Henri Bergson hat Bloch sich selber anerkennend, ja für seine Verhältnisse gerade enthusiastisch bezogen!31 Der Expressionismus, der den Sprachgestus von Blochs Werk bis an sein Lebensende prägte, ist wesentlich von lebensphilosophischer Welt- und Selbsterfahrung getragen. Die geistesgeschichtlichen Traditionslinien, aus denen er sein Werk entwickelte, sind keine grundsätzlich anderen als die von Jung: Jüdischchristliche und griechische Mythologie, Gnosis und Neuplatonismus, Alchemie, christliche und jüdische Mystik, Romantik. Zweifellos befragt er diese geistige Tradition ganz anders als Jung, nämlich auf ihre messianisch-apokalyptischen und sozialrevolutionären Gehalte. Er konvergiert jedoch mit Jung in einem gemeinsamen Interesse an Eschatologie, dem Wiedereinswerden mit einem verlorenen Seinsgrund. Bloch nennt sein 31 Siehe z.B. GA Bd. 4, 351-358. Im PH Bd. l, 65 gibt Bloch die Berührung von Jung mit Bergsons „elan vital“ zu – um sie gleich wieder zu leugnen. Tilman Evers Eschaton „Heimat“, Jung das sein „Selbst“. Ohne Schwierigkeit könnte man dem das Marx’sche Eschaton des freien Vereins freier Menschen zur Seite stellen; bei Freud würde man vergeblich Entsprechendes suchen. Ganz im Sinne der für Jung so prägenden Gnosis sieht auch Bloch die alles entschlüsselnde Genesis entelechetisch vom Ende statt vom Anfang des Weltprozesses her wirken. Was in der Gnosis die schrittweise Annäherung an den reinen Geist aus dem „Exil“ der materiellen Welt ist, das wird bei Bloch zu „Exodus“, bei Jung zu „Individuation“. Und gemeinsam sehen sie in der Erkenntnis das Mittel dieser (Wieder-) Annäherung an das Eigene. Bloch selbst zählt die Gnosis ausdrücklich zu den „Befreiungsmythen“32. Anton Christen, der diese gnostischen Einflüsse bei Bloch ausführlich untersucht hat, weist insbesondere Bezüge zur Alexandrinischen Schule um Valentinus und Basilides nach. Mit eben diesem Basilides identifiziert sich Jung in der Mitte seiner Lebenskrise, indem er ihm die Verse seines 1916 apokryph geschriebenen Hymnus „Septem Sermones ad Mortuos“33 in den Mund legt! – Beide zitieren ausgiebig Meister Eckart, den Kabbalisten Isaak Luria, Paracelsus, Jakob Böhme usw. Die philosophische Ahnenreihe trennt sich im Grunde erst mit dem klassischen deutschen Idealismus: Während Bloch der „lichten Linie Hegel-Feuerbach-Marx“ folgt, ist Jung stark von Schopenhauer und Nietzsche beeinflußt. Aber diese „dunkle Linie“ ist auch Bloch keineswegs fremd. Einer seiner frühesten Texte aus dem Jahr 1906 ist ein Aufsatz über Nietzsche. Die Zeitschrift „Spuren“ schreibt: „Im Inneren auch des Bloch’schen Textes ist eine Philosophie von Intensitäten bedeutet, die ... Nietzsche verpflichtet ist und nicht Marx, Schelling und nicht Hegel, Böhme und nicht Descartes“34. In seinem ersten großen Werk „Geist der Utopie“ (erschienen 1918), das noch ungebrochen vom Marxismus die religionsphilosophischen Quellen des jungen Bloch widerspiegelt, finden sich viele Gedanken und Formu32 PH Bd. 3, 1318. Abgedruckt in: Erinnerungen 388 ff. 34 Redaktion der Zeitschrift ‚Spuren’: Bloch 100. Fragestellungen zum Hamburger Bloch-Symposion 1985, in: Spuren 11/12, 1985, 48. 33 Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität lierungen, die fast wörtlich von C.G. Jung sein könnten. Was Peter Zudeick über dieses Werk schreibt, wird m an eher mit Jung als mit Bloch assoziieren: „Das Orakelhafte von Blochs Sprache in diesen Passagen weist überdeutlich darauf hin wie wenig derlei mit Erkenntnis im hergebrachten Sinne zu tun hat, wie sehr es Beschwörungsformel nicht nur ist sondern ganz bewußt sein soll. Beschworen wird die Möglichkeit der menschlichen Selbstbegegnung und Selbstfindung. gesucht wird nach Anzeichen in dieser Welt, nach Chiffren und Symbolen (Archetypen?, d.Verf.), nach vermummten Gestalten, in denen sich dieses menschliche Selbst finden ließe ... Bloch will ausdrücklich eine ‘ Metaphysik der Innerlichkeit’ formulieren“35. Dieses Werk enthält bereits zentrale Gedanken seiner Ontologie des Noch-Nicht-Seins, die sich so in ihrer Grundlegung als unberührt von Marx’schem Denken erweist. Natürlich findet Bloch erst durch die folgende Begegnung mit dem Marxismus zu seinem unverkennbar eigenen Denken, das sich eben dadurch grundlegend von dem von Jung unterscheidet. Aber gerade seine besondere Wahrnehmung des Marxismus die ihn von anderen marxistischen Denkern unterscheidet und in der wesentliche Anstöße seines religionsphilosophischen Jugendwerks fortleben, läßt auch beim reifen Bloch manche Analogie zu Gedanken von Jung entstehen. In gewissem Sinne schreibt Bloch den Marxismus in ein fertiges religionsphilosophisches Gedankengebäude ein, als konkretdiesseitige Eschatologie anstelle einer metaphysischen. So ist Bloch der „religiöseste“ unter den marxistischen Denkern wie Jung der „religiöseste“ unter den Tiefenpsychologen. Kein anderes Buch wird im „Prinzip Hoffnung“ so häufig zitiert wie die Bibel – weitaus häufiger als Marx. Entschiedener als alle anderen Marxisten seiner Zeit betonte Bloch „die ganze sozial unaufhebbare Problematik der Seele“36. Bloch hatte auch Psychologie studiert und bei dem Psychologen Külpe in Würzburg promoviert. 35 Peter Zudeick: Der Hintern des Teufel Ernst Bloch: Leben und Werk. Moos und Baden-Baden 1984, 59. 36 GA Bd. 3, 306. Tilman Evers Das verweist auf eine tieferliegende Parallele zwischen Bloch und dem zehn Jahre älteren Jung, nämlich auf die Umbruchsituation ihrer Zeit, die beide auf ihre Weise reflektierten. Trautje Franz schreibt über Bloch: „1885 geboren als Sohn bürgerlicher jüdischer Eltern, gehört Bloch zu einer Generation, die vom Umbruch bürgerlicher Kultur und einem tiefreichenden Wertwandel betroffen war. Die vielfältigen Bewegungen dieser Zeit (Expressionismus, Jugend- und Frauenbewegung, Neo-Romantik, Pazifismus, religiöser Anarchismus, Jugendstil und Lebensphilosophie) dokumentieren die Suche der damaligen jungen Intelligenz nach persönlichen, sozialen, politischen und kulturellen Identifikationsmustern. Insbesondere der erste Weltkrieg förderte Auflösung und Erkenntnissuche. Kriegsende und Zusammenbruch des Wilhelminismus markieren dann den bedeutendsten Einschnitt in der Kontinuität soziokultureller Tradition, der die gesellschaftlichen Antagonismen aufbrechen ließ“37. Auf diese Situation der Spaltung antworten Bloch wie Jung, indem sie einen Prozeß der Wiedererlangung der verlorenen Identität entwerfen. Die Wege sind verschieden, das Ziel aber nennen sie wortgleich „Selbstbegegnung“ (Bloch) bzw. „Begegnung mit dem Selbst“ (Jung). Beide denken subjektzentriert: Es geht u m die Freisetzung der dem Einzelnen innewohnenden, bislang jedoch blockierten Kräfte. In seiner ersten bekannten Veröffentlichung schreibt der dam als 21-jährige Bloch zu Nietzsche: „Von hier aus geht der Weg zu einem ... durch genaue Erforschung und Vertiefung des Selbst ermöglichten und eroberten Standpunkt der vollkommenen Autonomie“38 so könnte man Individuation definieren! Und auch für Bloch ist das, was im Subjekt in Erscheinung tritt, eine für sich seiende Wirklichkeit. Er spricht von „objektiver Phantasie“, Jung von „objektiv Psychischem“. Jenen Telos der wiedererlangten Identität aus dem, durch den und auf den hin sich die Dynamik des Werdens entfaltet, begreifen beide als transzendent. Bei aller Unterschiedlichkeit der Vorstellungen und Erfahrungen von Transzendenz springt eine Gemeinsamkeit ins Auge: Beide 37 Trautje Franz: Revolutionäre Philosophie in Aktion. Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen. Hamburg 1985, 229, Anm. 15. 38 Zit. in: Zudeick, a.a.O. 30. Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität verlagern das Göttliche in den Menschen hinein und setzen es mit jenem erst noch zu erlangenden Eschaton im Humanum gleich. Bloch nennt das den „homo absconditus“, Jung den „Gott in uns“, das Selbst. Beide anthropologisieren die Religion, sie negieren eine vom Menschen getrennte und ihm als Du gegenübertretende göttliche Wesenheit und sind darum beide von theologischer Seite kritisiert worden, haben aber auch beide theologisches Denken tief beeinflußt. Es ist kein Zufall, daß beide die Gestalt des Hiob als Metapher für ihren Widerspruch gegen die Figur eines über dem Menschen thronenden Himmelsherrschers benutzen. Beide haben sich zeitlebens mit dieser rätselvollen Geschichte vom sich auflehnenden Gottesknecht beschäftigt, und es wäre lohnend, einmal ihre beiden Hiob-Deutungen eingehend miteinander zu vergleichen. Wieder springen einige Gemeinsamkeiten ins Auge, um so mehr, als beide im gleichen Skandalon für traditionelltheologische Deutungen münden: Hier ist ein Mensch besser geworden als sein Gott. „Ein Mensch überholt, ja überleuchtet seinen Gott“39 (Bloch). – „Ein Sterblicher wird durch sein moralisches Verhalten ... bis über die Sterne erhoben, von wo aus er sogar die Rückseite Jahwes (= die dunkle Seite Gottes d.Verf.) erblicken kann“40 (Jung). Für Bloch ist der Vorsprung ethischer Art, für Jung steht dahinter ein Vorsprung an Bewußtsein. Beide erleben den Jahwe des Hiob-Buches als gewalttätigen Natur-Dämon. „In seiner Allmacht, ja wegen ihrer ist der Tyrann verantwortungslos“41 (Bloch). – „Gott will gar nicht gerecht sein sondern pocht auf seine Macht die vor Recht geht“42 (Jung). Und beide folgern, daß Jahwe nach dieser Beschämung des Schöpfers durch sein Geschöpf nicht mehr derselbe bleiben kann und ihm nur übrig bleibt, nun selbst Mensch zu werden. Beide stützen ihre Deutung eines sich ankündigenden Umschlags auf dieselbe geheimnisvolle Stelle in Hiob 19, 25-27, in der der geschundene Hiob sich auf einen Anwalt im Himmel gegen Gott beruft. – Bezeichnend ist andererseits wieder der Unterschied beider Deutungen: Jung verlegt die ganze Dynamik in das große Unbewußte 39 E. Bloch: Atheismus im Christentum GA Bd. 14, 152. C.G. Jung: Antwort auf Hiob, in: GW Bd. 11, 409. 41 Bloch, a.a.O., 151. 42 Jung, a.a.O., 405. 40 Tilman Evers namens Jahwe, „Hiob ist nicht mehr als der äussere Anlaß zu einer innergöttlichen Auseinandersetzung“43 und so spricht er von einer „fortschreitenden Inkarnation Gottes“44. Für Bloch dagegen ist der Mensch der aktive Teil, es geht um den „Auszug des Menschen aus Jahwe“45 und um seine „wachsende Selbsteinsetzung ins religiöse Geheimnis“46. – Nicht zufällig hat Paul Tillich, der bekannteste Vertreter einer das Diesseits einbeziehenden „dialektischen Theologie“, Gedanken von Bloch und Jung aufgenommen. Lohnend, aber ungleich schwieriger wäre auch ein Vergleich ihrer beiden Alterswerke „Experimentum Mundi“ bzw. „Mysterium coniunctionis“. Daß beide ihre jeweils letzten Werke mit syntaktisch gleichen lateinischen Ausdrücken betiteln mag man für einen Zufall halten. Und auf den ersten Blick hat Jungs Untersuchung über die Symbolik in der Alchemie nichts zu tun mit Blochs Grübeln über die Möglichkeit von Erkenntnis im Prozeß. Aber halt! Ging es in der Alchemie nicht u m eben dieses, eine Erkenntnis im Prozeß? War diese siebzehn Jahrhunderte währende Tradition nicht die Form, in der sich die unabhängigen Geister der Spätantike und des Mittelalters Fragen wie die des „Hervorbringens“, der „Latenz/Tendenz“, der Verbindung von Theorie und Praxis, des Umschlags von Quantität in Qualität stellten? Blochs „Latente Substantialität“, „Wesenhaftes in Transmission“ könnten direkt auf das alchemische Opus übertragen werden. Mit der Kategorie „Drehung/Hebung“ rückt Bloch ab von der Vorstellung einer Linearität der Entwicklung und nähert sich an die Vorstellung einer Spiralform an – wie in der Alchemie und bei Jung. Und nicht zuletzt ist die zugrundeliegende Frage nach dem Verhältnis von Erkenntnis und Werden im Wechselspiel von Subjekt und Objekt die gleiche: Wie kommt etwas, und darin Ich, zur eigenen Identität? Was Bloch über das „Was des Daß“ sagt, hätten die Meister der Alchemie ganz ähnlich über den „Stein der Weisen“ sagen können: „Das ‘Was des Daß’, ... also der Sinn dieser Welt liegt selber noch in keinerlei Vorhandenheit. Befindet sich erst im Zustand einer Möglichkeit, 43 a.a.O., 406. a.a.O., 463. 45 Bloch, a.a.O., 114 46 a.a.O., 110. 44 Mythos und Emanziation menschlicher Subjektivität als einer noch nirgends gültig realisierten, freilich auch noch nirgends endgültig vereitelten“47. Und schließlich der rein alchemistische Satz: „Gewinnung des Werks wird also zu einer forttreibenden Annäherung an das zu enthüllende Was des Daß“48. – Wie anerkennend Bloch über die Alchemie dachte, kann man im ‘Prinzip Hoffnung’ nachlesen49. c) Schluß Ich frage mich, ob nicht zwischen Bloch und Jung eben jenes Verhältnis von Anziehung und Abstoßung herrscht, das zwischen den beiden Seiten einer Theorie der Emanzipation herrschen muß. Ich deute Blochs brüske Ablehnung gegenüber C.G. Jung als Ausdruck jener Weigerung des rationalistischen Denkens, sich für das Andere der Emanzipation, nämlich für die lebendige menschliche Subjektivität, auf Koexistenz mit einer grundlegend anderen Weise des Denkens und Wahrnehmens einzulassen. Kein anderer materialistischer Denker ist soweit gegangen wie Bloch, andere hätten und haben weit früher abgewehrt. Aber auch Bloch kommt an einen Punkt, an dem sein System endet. Daß hier etwas anderes anfangen könnte und müßte, hat er nicht zugestanden. Er glaubte, mit seinem Werk die eine geschlossene Theorie der Emanzipation verwirklicht zu haben. Daß die notwendige Zweiseitigkeit in Gestalt einer durchgehaltenen Widerspruchsspannung bereits in sein Werk eingewandert war, verdeckte er sich durch die Annahme einer Grundidentität von Subjekt und Objekt in Gestalt einer vorwärtstreibenden Prozeßmaterie. Er kann sich deshalb nur zur Hälfte auf Irratio einlassen, soweit er selbst den Spannungsbogen noch zu halten vermag. Dann aber macht er um so brüsker halt, zieht gleichsam die Notbremse dort, wo er die Grenzen seines Systems verlassen und sich auf eine ganz andere Gesetzlichkeit einlassen müßte. In der Person von C.G. Jung verfemt Bloch den Mahner, der ihn am eindringlichsten an dieses immer noch fehlende Andere erinnert. 47 GA Bd. 15, 31. a.a.O., 156 49 PH Bd. 2, 734-754. 48 Tilman Evers [Entnommen dem unveröffentlichten Manuskript: „Marx/Freud und die utopischen Funktionen. Versuch, Ernst Bloch mit C.G. Jung zu versöhnen“, Dubrovnik 1986.] In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 7178 Autorin: Angelika Kansy Artikel Angelika Kansy Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos. Zur „Dialektik der Aufklärung“ und ihrer kommunikationstheoretischen Transformation When everything is bad it must be good to know the worst. Th.W. Adorno, Minima Moralia 1. Die Subjektivierung der Vernunft Traditionell verstanden vollzieht sich in der Epoche der Aufklärung ein Prozeß der Subjektivierung der Vernunft. Gegenüber der „natürlichen Ordnung der Dinge“ in Religion und Politik setzen Zweifel an diesen tradierten Herrschaftsverhältnissen ein, Autoritätsvoraussetzungen ohne deren Begründung werden nicht mehr akzeptiert. Der Mensch beansprucht autonome Selbstverwirklichung und Mündigkeit, der äußeren Natur wird Rationalität entgegengesetzt. Wie der Handwerker dem Werkstück mit Hilfe seines Werkzeugs, tritt der Wissenschaftler dem zu behandelnden Gegenstand mittels des Instruments des methodisch abgesicherten Experiments gegenüber. Natur ist erstmals beherrschbar. „Die Wissenschaftler lernten von den Handwerkern Distanz. Sie schoben das Instrument zwischen sich und die Natur ... Sie lernten die Disziplin materieller Arbeit: verläßliche Resultate über die Natur können nur dann erwartet werden, wenn man ihr regelrecht begegnet. Und schließ- Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos lich lernten sie ‘disinterestedness’ von den Handwerkern. Die ‘sachliche Beziehung’ des Handwerkers zu seinem Werkstück, des Handwerkers, der nicht mehr für sich, sondern für den Markt produzierte, wurde Vorbild wissenschaftlicher Naturbeziehung“1. So läßt sich aufklärerisches Denken sehen als Gegensatz und Gegenkraft zum Mythos. Das politische System mittelalterlicher Ständeordnung mit den konservierten Machtansprüchen der Aristokratie mußte nicht legitimiert werden. Indem die Dinge bloße Dinge sind, ohne etwas Dahinteroder Darüberstehendes zu repräsentieren, kann sich im Zeitalter der Rationalität das Subjekt von ihnen distanzieren, ein Subjekt erst einmal formulieren und die Objekte über die Erfahrung zugänglich machen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gehen jedoch in ihrem Buch „Dialektik der Aufklärung“ von der These aus, daß Aufklärung in Mythologie zurückfalle. Sie behaupten die Existenz einer heimlichen Komplizenschaft zwischen Mythos und Aufklärung: „schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (DA, 5). Horkheimer und Adorno (H/A) stellen mit Hilfe des Odysseus-Mythos die „Urgeschichte einer Subjektivität“ dar, „die sich der Gewalt der mythischen Mächte entwindet“2. Denn die mythische Welt ist nicht Heimat, sondern das „Labyrinth, dem es um der eigenen Identität willen zu entrinnen gilt“3. Im Ursprungsmythos verdeutlicht sich ein ambivalentes Verhältnis des Menschen: Er weiß, daß der Ritus lebensnotwendig ist für seine Sozietät, er weiß u m die „regenerierende Kraft einer rituellen Rückkehr zu den Ursprüngen ... für das kollektive Bewußtsein“4. Doch zur Formation des Ich, zur Subjektwerdung, ist es ebenso notwendig, den Ursprungsmächten zu entkommen und die Opferhandlung nur noch einzusetzen, um den „Schein zu wahren“. Der Ritus wird zum Zweck einerseits um „die Götter zu beruhigen“, sich loszukaufen, und andererseits, u m in der Op1 Böhme, G./Böhme, H., Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, 284 f. 2 Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (TKH), 407. 3 ebd. 4 ebd. Angelika Kansy ferhandlung eine kollektive Sozialität zu suggerieren. Das Entkommen von den Ursprungsmächten hat seinen Preis. Gelingende Aufklärung wäre es, wenn mit dem Bezwingen mythischer Gewalten Befreiung implizit wäre. Der Odysseusmythos macht für H/A klar, wie innere Befreiung mit dem Verlust der inneren Natur bezahlt wird. 2. Der Zusammenhang von Vernunft und Herrschaft Der Prozeß der Aufklärung verdankt sich von Anfang an dem Antrieb einer Selbsterhaltung, der aber die Vernunft verstümmelt. Die Vernunft selbst zerstört die Humanität, die sie ermöglicht hat. „Die Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen Worten: die Geschichte der Entsagung“ (DA, 51). Mit dem Einsetzen subjektiver Rationalität wird die Einheit von Mensch und Natur zerstört, Selbstaufgabe und Selbstverleugnung sind der Preis dafür. In den Bildern der Abenteuer aus der Homerischen Epik sehen H/A dies verdeutlicht: Odysseus kann sich der Natur mit seinem Bewußtsein nur entgegensetzen, indem er seiner eigenen Bewegung entsagt. Freiwillig läßt er sich von seinen Seeleuten am Schiffsmast festbinden, um sich dem Gesang der Sirenen auszuliefern, während sich die Matrosen die Ohren mit Wachs zustopfen müssen. Diese Episode war für H/A besonders symbolträchtig. Zum ersten meint sie den Prozeß der Aufklärung: einerseits bildet sich in diesem Akt ein „identisch beharrendes Ich und gewinnt dadurch Gewalt über eine entseelte Natur“; andererseits „erwirbt (es) seine innere Organisationsform (nur) in dem Maße, als es ... das Amorphe in sich, die innere Natur bezwingt“5. Zweitens setzen sie hier ihre Kulturkritik an. Die Seemänner müssen, wie die modernen Arbeiter, den Genuß (das Hören der Sirenen) unterdrücken, um den Arbeitsprozeß nicht zu unterbrechen, die Produktion nicht zu stören. Doch Odysseus ist kein Arbeiter, kann sich also dem Gesang aussetzen, doch nur unter der Bedingung, nicht der Versuchung nachzugeben. 5 Habermas, J., Philosophisch-politische Profile, 168. Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos So ist für die Privilegierten Kultur immerhin eine Möglichkeit des Glücks, jedoch ohne dessen reale Erfüllung, Odysseus’ „Rationalität basier(t) ... auf List, Trug und Instrumentalisierung.“ Für H/A war Odysseus der Prototyp jenes Vorbildes aufklärerischer Werte, des modernen, ökonomischen Menschen. „Seine treulose Reise antizipier(t) die bürgerliche Ideologie vom Risiko als der moralischen Rechtfertigung des Profits. Noch in seiner Ehe steck(t) das Tauschprinzip ihre Treue und ihr Abweisen aller Verehrer während seiner Abwesenheit im Tausch gegen seine Rückkehr“6. Es kristallisiert sich also nach H/A mit dem Einsetzen der Vernunft der Zusammenhang mit Herrschaft heraus. Diese Herrschaft besteht auf drei Ebenen: auf der Ebene der Herrschaft des Subjekts über äußere Natur, auf der über die innere Natur und, daraus folgernd, auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Vernunft wird nur beansprucht in Formen zweckrationaler Natur- und Triebbeherrschung, als instrumentelle Vernunft. Das „Erwachen des Subjekts“ und die Emanzipation von der Naturherrschaft „wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen“ (DA, 12). „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann“ (DA, 12). So ist die Entwicklung der Identität nur als verdinglichte möglich. Die von Lukács in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ entwickelte „Theorie der Verdinglichung“ nahmen H/A zwar auf, sehen diesen Verdinglichungsprozeß jedoch nicht erst in der „Warenform der Arbeitskraft“, sondern immanent schon in „jene(r) Denkform, die bewirkt, daß Menschen in objektiver Einstellung den Gegenständen gegenübertreten“7. Der Natur wird demzufolge kein Eigensinn mehr zugestanden, das Verhältnis zu ihr ist ein rein technisches. Subjektivität wird zu einem stören6 Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des IfS 1923-1950, 309. 7 Den Verdinglichungsbegriff Lukács’ erläutert J. Habermas näher in TKH, 505 ff. Angelika Kansy den Element in der Industriegesellschaft. In dieser Distanzierung manifestiert sich ein Herrschaftsverhältnis. Der Mensch sieht sich gegenüber „eine(r) leere(n), zu bloßem Material degradierte(n) Natur, bloße(m) Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben seiner Beherrschung“8. Die These, daß Aufklärung in Mythologie zurückschlage, beschreibt die Lähmungserscheinungen einer leergelaufenen Emanzipation. „Die trockene Weisheit, die nichts Neues unter der Sonne gelten läßt, weil die Steine des sinnlosen Spiels ausgespielt, die großen Gedanken alle schon gedacht, die möglichen Entdeckungen vorweg konstruierbar, die Menschen auf Selbsterhaltung durch Anpassung festgelegt seien diese trockene Weisheit reproduziert bloß die phantastische, die sie verwirft“ (DA, 15). Den Grund für das Herrschaftsverhältnis zwischen Mensch und Natur sehen H/A also im Selbsterhaltungsprinzip, dem sich das Subjekt unterwerfen muß, um sich gegenüber dem Schrecken der Natur seine Identität erhalten zu können. „Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst“ (DA, 32). Gleichzeitig sind Subjekt und Objekt nicht mehr zu unterscheiden. Das Subjekt wird zum Maß aller Dinge, das diese Dinge dann mit sich selbst identifiziert. In dieser Verstrickung ist die Möglichkeit einer Distanznahme also wiederum nicht mehr möglich. Da es der Rahmen dieses Aufsatzes nicht erlaubt, hier auch die „Negative Dialektik“ Adornos zu behandeln, sei nur in groben Umrissen gezeigt, wie vor allem Adorno seine Vernunftskepsis durch die Hereinnahme eines „mimetischen“ Moments zu überwinden sucht. „Mimesis ist der Name für die sinnlich rezeptiven, expressiven und kommunikativ sich anschmiegenden Verhaltensweisen des Lebendigen“9. Die Mimesis muß mit Rationalität zusammenfallen, um sich dann im Bereich des Ästhetischen zu verwirklichen. In Kunst und Philosophie ist es somit möglich, verdinglichte Bestände zu durchbrechen, wobei sich Rationalität im mimetisch-versöhnenden Geist manifestiert. Durch das ver8 9 Horkheimer, M., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 97. Wellmer, A., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 12. Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos söhnende Element könne der Bezug zur Wahrheit wiederhergestellt werden. Denn „der Begriff des versöhnenden Geistes (steht) nicht nur für die gewaltlose ‘Synthesis des Zerstreuten’ im Schönen der Kunst und im philosophischen Gedanken, sondern zugleich für die gewaltlose Einheit des Vielen in einem versöhnenden Zusammenhang alles Lebendigen“10. Hier sieht sich das Individuum also nicht mehr vereinnahmt durch die objektive Welt, so wie es selbst die Objekte sich aneignet, sondern der Riß zwischen Anschauung und Begriff, zwischen Besonderem und Allgemeinen, Teil und Ganzem ist gekittet. Dem damit aufgeworfenen Konflikt, wie denn in einer durch die instrumentelle Vernunft verungestalteten Welt noch ein versöhnender Geist zur Wirkung kommen könne, hält Adorno dessen Verwirklichung in der Anschauung des „Naturschönen“ entgegen: Die Kunst ahmt nicht das in der Wirklichkeit Vorfindbare nach, sondern das, was die Wirklichkeit bereits überwunden hat, eben das Naturschöne. 3. Die Totalität der Ideologiekritik Vereinfacht gesagt, läßt sich hier ein befreites Verhältnis von Mensch und Natur in der Adorno’schen Philosophie erstmals feststellen. Sie formuliert ihre Rationalität in einer Mimesis als einem menschlichen Impuls, der sich, sprachlos, nur in der Kunst verwirklichen läßt. Es ließe sich provozierend fragen, wie Vernunft auf dieser Ebene überhaupt noch appellierbar ist. Denn die Totalität der Ideologiekritik, meine ich, wendet sich letztlich gegen die Autoren selbst. Sie können keine Vernunft begründen, mit deren Hilfe sich die instrumentelle Rationalität kritisieren ließe. Die Hoffnung auf politisch-revolutionäre Kräfte war für Adorno und Horkheimer zum einen durch die Niederschlagung der Arbeiterrevolution 1918/19, zum anderen durch die faschistische Diktatur und ihrer Wirkung auf die Massen gescheitert. In einem Aufsatz in den Soziologischen Schriften schrieb Adorno 1979: „Kein Gesamtsubjekt existiert ... Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre.“ Bezieht eine Philoso10 ebd. Angelika Kansy phie, die sich vor allem auch als „Kritische Gesellschaftstheorie“ versteht, eine derartige Stellung, ist ein Theorie-Praxis-Bezug nicht mehr erkennbar. Vor allem steht eine Veränderung von Gesellschaft völlig außerhalb jeden konkreten Angriffspunktes. Durch die Assimilierung von Rationalität an Macht entzieht sich die Theorie jeglichen emanzipatorischen Zugriffs. So kritisiert auch Jürgen Habermas: „H/A [haben) den eigentlichen problematischen Zug getan; sie haben sich, (...), einer hemmungslosen Vernunftskepsis überlassen, statt die Gründe zu erwägen, die an dieser Skepsis selbst zweifeln lassen.“ Die Ideologiekritik ... „blieb in der puristischen Vorstellung befangen, als stecke in den internen Beziehungen zwischen Genesis und Geltung der Teufel, der auszutreiben ist, da mit sich die Theorie, von allen empirischen Beimengungen gereinigt, in ihrem eigenen Elemente bewegen könne11. 4. Der Paradigmenwechsel von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie Die Kritik Habermas’ setzt an diesen beiden Punkten an: Erstens an der paradoxen Struktur eines totalisierten Denkens, „weil sie (H/A, d.Verf.) im Augenblick der Beschreibung noch von der totgesagten Kritik Gebrauch machen“ müssen12; zum zweiten am Theorie-Praxis-Bezug, der nicht mehr hergestellt werden kann angesichts der Position einer Theorie der Ohnmacht gegenüber einem entfremdeten, verdinglichten System. „Das Paradox, in dem sich die Kritik der instrumentellen Vernunft verstrickt und das sich auch der geschmeidigsten Dialektik hartnäckig widersetzt besteht mithin darin, daß Horkheimer und Adorno eine Theorie der Mimesis aufstellen müßten, die nach ihren eigenen Begriffen unmöglich ist“13. Diese Theorie, die sich quasi „metaphysisch“ eine Neuvereinigung von Mensch und Natur zur Aufgabe macht, in ihrer Deutlichkeit aber letztlich im Dunklen bleibt, ist für Habermas nicht willkürlich oder zufällig entstanden, sondern beruht auf einer „Erschöpfung des Paradigmas der 11 Habermas, J., in: Bohrer, K.-H., Mythos und Moderne, 929. Ebd., S. 418. 13 Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung (TKH), Bd. I, 512. 12 Aufklärerisches Denken und Rückfall in den Mythos Bewußtseinsphilosophie“, das gescheitert ist. So gilt es, aufzuzeigen, „daß ein Paradigmawechsel zur Kommunikationstheorie die Rückkehr zu einem Unternehmen gestattet, das seinerzeit mit der Kritik der instrumentellen Vernunft abgebrochen worden ist; dieser erlaubt ein Wiederaufnehmen der liegengebliebenen Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie“14. In der Theorie Habermas’ wird der Terminus „Bewußtseinsphilosophie“ verstanden als ein ihr innewohnendes Prinzip von Subjektivität. Dem subjektiven Bewußtsein gegenüber steht ein Objekt, dem es sich als seiend vorstellen kann, bzw. ein Subjekt, das sich die Gegenstände in objektivierender Einstellung aneignen kann. „Das Subjekt bezieht sich auf Objekte entweder, um sie so, wie sie sind, vorzustellen, oder so, wie sie sein sollen, hervorzubringen“15. In der modernen, aufgeklärten Philosophie ist Selbsterhaltung (Subjektivität) nur noch angelegt als Überlebensrettung des kollektiven Bestandes der Menschengattung. Wenn H/A diese Subjekt-Objekt-Beziehung der Moderne analysieren, muß notwendig ein zu Grunde liegendes Prinzip der Herrschaft das Resultat sein. „Versöhnung“ kann daher nur noch positivistisch oder mimetisch gelöst werden. Aufgrund dessen schlägt Habermas einen Wechsel von der Bewußtseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie vor: Durch den Einsatz der Sprachphilosophie sieht Habermas die Möglichkeit, an Vernunft in der Wirklichkeit zu appellieren. In der Sprache schon angelegt ist die Verständigung. Durch diese nicht-zweckrationale Grundlage der Vernunft können Herrschaftsstrukturen, die sich durch Sprache manifestieren, aufgebrochen werden. Habermas setzt einen Wechsel vom zielgerichteten zum kommunikativen Handeln und einen „Wechsel der Strategie beim Versuch, den modernen, mit einer Dezentrierung des Weltverständnisses möglich gewordenen Rationalitätsbegriff zu rekonstruieren. Nicht mehr Erkenntnis und Verfügbarmachung einer objektiven Natur sind ‘das erklärungsbedürftige Phänomen’, sondern die Intersubjektivität möglicher Verständigung“16. 14 ebd., 517 ff. ebd., 519. 16 ebd., 525. 15 Angelika Kansy Literaturverzeichnis 1. Böhme, H./Böhme, G., Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt/Main 1985. 2. Bohrer, K.-H., Mythos und Moderne, Frankfurt/Main 1983. 3. Habermas, J., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/Main 19842. 4. Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung., Bd. I, Frankfurt/Main 19853 (TKH). 5. Henscheid, E., Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach, Zürich 19894. 6. Horkheimer, M., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/Main 1985. 7. Horkheimer, M./Adorno, Th.W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1984 (DA). 8. Jay, Martin, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt/Main 1981. 9, Wellmer, A., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt/Main 1985. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 7984 Autor: Udo Wieschebrink Artikel Udo Wieschebrink Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik der ‚Dialektik der Aufklärung’ nicht? Kritische Anmerkungen Wie im Tausch jeder das Seine bekommt und doch das soziale Unrecht sich dabei ergibt, so ist auch die Reflexionsform der Tauschwirtschaft, die herrschende Vernunft, gerecht, allgemein und doch partikularistisch, das Instrument des Privilegs in der Gleichheit. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung, 1947, 2481 Anhand zweier Aufsätze von Habermas2 soll gezeigt werden, wie tendenziöse Verarbeitung und unrichtige Interpretation ein falsches Bild der Vernunftkritik von Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ erzeugen. Weitergehende Auswirkungen auf das Selbstverständnis der kritischen Theorie des Spätkapitalismus als Kontinuitätsstifterin und Weiterführung der Frankfurter Schule sollen hier nicht bearbeitet werden. Die sorgfältige Lektüre, auch der hier zitierten Aufsätze, ist 1 Zitiert im Text als: DA. J. Habermas, Nachwort zur Neuausgabe der Dialektik der Aufklärung, 1985 (zit. als: Habermas 1985); J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, 130 f. (zit. als: Habermas 1985a). 2 Udo Wieschebrink Voraussetzung für eine angemessene Rezeption dieser theoretischen Produktionen. Der im Nachwort zur Neuausgabe der „Dialektik der Aufklärung“ (1985) von Habermas gewählte Sprachduktus ist geschickt gewählt. Die Rede ist davon, daß die Denkfiguren dieses Werks „tief in die wissenschaftsskeptischen und fortschrittskritischen Stimmungslagen eingesunken“ sind, daß es „pessimistische Hintergrundgewißheiten von mehreren Studentengenerationen“ formt, daß der „konservativ gestimmte Zeitgeist“ gerne das technikkritische Argumentationsmuster von der Rache der gequälten Natur benützt. – So mag eine Ahnung entstehen von den schlechten Kreisen der Irrationalisten, Erkenntnisfeinde und Fortschrittspessimisten, in die man geräte, wenn man sich die Vernunftkritik der „Dialektik der Aufklärung“ zu eigen m acht. Vorsicht ist geboten! Das erklärte Ziel des Nachworts ist es „einem falsch-possessiven Verhältnis zu den eingängigen Wahrheiten“ der „Dialektik der Aufklärung“ entgegenzuarbeiten. Wir werden sehen müssen, ob uns dieser Text ein richtig-possessives Verhältnis zu ihren eher spröden Wahrheiten nahelegt. Ausgehend von philologischer Genauigkeit im Detail und kritischer Überprüfung der interpretatorischen Synthesen wird sich vielleicht zeigen, wie sehr die Bearbeitung der „alten“ Kritischen Theorie durch Habermas in die Irre führt. Schon wenn m an in die Vorrede der „Dialektik der Aufklärung“ schaut, wird klar, daß hier keineswegs die materialistische Geschichtsauffassung verlassen ist, und daß nur eine wirklichkeitsorientierte und historisch gesättigte philosophische Gesellschaftstheorie, deren „Wegweiser“ eben gerade Marx und nicht Nietzsche ist, wie Habermas falsch behauptet, dazu kommt, das Ausbleiben des wahrhaft menschlichen Zustandes erklären zu wollen. Horkheimer und Adorno geht es ganz im Gegensatz zu der von Habermas verfolgten Beweisführung um die Bewährung kritischer philosophischer Theorie der Gesellschaft an ihren aktuellen Gegenständen. Deshalb ist die Arbeit von der Absicht geleitet, einen Grund dafür zu finden „warum die Menschheit anstatt in wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt“ (DA, 8). Diese Absicht hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, auch wenn sich beide auf Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht? Faschismus und Stalinismus bezogen haben3. Die Unwahrheit des Ganzen aufzuzeigen, bedeutete für sie, die Gründe dafür anzugeben, warum sich die Systeme der Ausbeutung und Unterdrückung erhalten konnten, d.h. die historischen Fesseln der menschlichen Produktivkräfte nicht schwächer, sondern stärker geworden waren. Ihr Ziel, die Beseitigung des mit der herrschenden Heteronomie notwendig verknüpften Leidens, ist nur zu erreichen unter Bezugnahme auf die „Verflechtung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit“. Genau das ist ihr Bezug auf Vernunftkritik, und nur in der Einlösung dieses Anspruchs lag für Horkheimer und Adorno das Recht, sich noch immer mit Philosophie zu befassen. Ein großes Problem ist es für Habermas in seinen überaus häufigen kritischen Bemerkungen zur „Dialektik der Aufklärung“ – verstreut über viele Texte –, wo denn wohl am Ende des Selbstzerstörungsprozesses der Vernunft die Rechtsgründe der Kritik noch ihr Fundament haben könnten. Horkheimer und Adorno hingegen besinnen sich auf das Destruktive des Fortschritts, ohne die rettenden Fortschrittsmomente aus dem Auge zu verlieren, d.h. sich auf dem Wege der Vernunftkritik stark zu machen für die Einlösung vergangener Hoffnungen. Für sie ist das wahre Anliegen des Geistes „die Negation der Verdinglichung“. Ihre Aufklärungskritik soll „einen positiven Begriff von Aufklärung vorbereiten, der sie aus der Verstrickung in blinder Herrschaft löst“ (DA, 10). Es geht ihnen um Erkenntnis, die den Gegenstand wirklich trifft und aus der faulen Verfilzung von Macht- und Geltungsfragen aussteigt. Die homerische Odyssee erhält in ihrer Verarbeitung einen charakteristischen Stellenwert als Urgeschichte von Subjektivität als identisches Selbst. Noch einmal sei die Charakterisierung des vernunftkritischen Vorhabens durch die Autoren hervorgehoben: „Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, 3 Auf die Fragwürdigkeit der Versuche, die Kritische Theorie historisch zu relativieren und damit ihr Veralten zu betreiben, sei hier nur hingewiesen. Siehe dazu: L. von Friedeburg / J. Habermas (Hg.), Adorno Konferenz, 1983. Udo Wieschebrink menschlichen Sinnes erfüllen – der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben. Er besteht nicht bloß im Wahrnehmen, Klassifizieren und Berechnen, sondern gerade in der bestimmenden Negation des je Unmittelbaren“ (DA, 39). Schon vor der Abfassung des Buches, in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ (1932 1941), war für sie der Zeitpunkt für selbstbezügliche Vernunftkritik gegeben, er ist auch heute nicht passe. Bei der Lektüre der „Dialektik der Aufklärung“ entsteht nicht der Eindruck, als wären ihre Erkenntnisprozesse von der Selbstzerstörung der Aufklärung so angegriffen, daß sie in Nietzscheanismius umkippen, wie Habermas behauptet. Mitten in dieses Mißverständnis ragt auch die Gegenüberstellung der vernunftkritischen Radikalität von Horkheimer und Adorno (Habermas, 1985, 288 f.). Habermas weist den beiden Autoren verschiedene Teile der „Philosophischen Fragmente“ zu (Adorno nennt er einmal „Teddy“). Horkheimer zeige angeblich ein „Beharren auf einer beinahe eschatologisch gesteigerten Kraft der Theorie“. Dafür soll das Zitat stehen: „Der Geist solcher unnachgiebigen Theorie vermöchte den erbarmungslosen Fortschritt selber an seinem Ziel umzuwenden“ (DA, 57). Einige Zeilen vorher allerdings steht der Satz: „Umwälzende Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt“ (DA, 56). So im Kontext gelesen, erhalten die Aussagen ihre richtige Bedeutung zurück: es geht um die erhellende Kraft negativen Denkens für die Orientierung politisch-praktischen Handelns. „Horkheimer“ wendet sich u.a. hier gegen den mythisch-wissenschaftlichen Respekt vor dem Gegebenen. Zu Konfrontationszwecken zieht Habermas dann eine Textstelle des „Adorno-Teils“ heran, die in „krassem Widerspruch“ zu den Horkheimer zugeschriebenen Äußerungen stehen soll: „Das erste Aufleuchten von Vernunft ... trifft auch am glücklichsten Tage seinen unaufhebbaren Widerspruch: das Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann“ (DA, 267). Etwas weiter zurück heißt es bei „Adorno“: „Weil Geschichte als Korrelat einheitlicher Theorie, als Konstruierbares nicht das Gute (Geschichtsphilosophie hatte im Christentum und bei Hegel humane Ideen als wirkende Mächte in die Geschichte selbst verlegt, d.Verf.), sondern eben das Grauen ist, so ist Denken in Wahrheit ein negatives Ele- Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht? ment. Die Hoffnung auf bessere Verhältnisse, soweit sie nicht bloß Illusion ist, gründet ... gerade im Mangel an Respekt vor dem, was mitten im allgemeinen Leiden so fest gegründet ist“ (DA, 267). Die angeführten Textstellen belegen keine übersteigerte Hoffnung auf die Wirkungen von Theorie und keine Selbstdementierung der Vernunft. Die behauptete Differenz von Horkheimer und Adorno bezüglich der Konsequenz ihrer Vernunftkritik ist hieraus nicht abzuleiten. Habermas verfolgt seine Interpretationslinie weiter im Text des Nachworts: „Ungehindert brechen die affirmativen Tendenzen nur in der von Horkheimer allein verantworteten „Eclipse of Reason“ durch. Hier zögert Horkheimer nicht, Abstriche vom Ziel einer totalisierenden, sich selbst ernsthaft einbeziehenden Selbstkritik der Vernunft zu machen, um der Dialektik der Aufklärung (es ist die reale Bewegung und nicht das Buch gemeint, d.Verf.) selber ihre aufklärende Funktion nicht nehmen zu müssen“ (Habermas, 1985, 289). Äußerst merkwürdig ist hier, wie die Horkheimer zugeschriebene theoriepolitische Strategie, „Abstriche“ von der eigenen vernunftkritischen Konsequenz zu machen, positive Auswirkungen, also eine aufklärende Funktion für die reale historische Bewegung, haben soll. Wem können solche Abstriche helfen? Zudem war die Rede von der Unnachgiebigkeit des Denkens gegenüber der Realität. Adorno darf gelassener sein gegenüber den Aporien einer selbstbezüglichen Vernunftkritik, weil er als Aufklärer nicht nur auf philosophische Kritik „setzt“, sondern noch etwas anderes „ins Spiel bringen konnte“: die „Paradoxien“ seiner identitätskritischen Philosophie, die er aus der „unabhängigen Quelle“ der Erfahrung von Kunstwerken geschöpft haben soll. Hingegen ist die Kritik des Identitätsdenkens, das Horkheimer und Adorno aus gutem Grund in der Vorgeschichte (am Beispiel von Homer’s Odyssee) beginnen lassen, auch zentral für die Argumentation im Hauptaufsatz der „Dialektik der Aufklärung“, der angeblich doch von Horkheimer verfaßt ist. Diese „Zweigleisigkeit“, besser Doppelstrategie (Vernunftkritik und ästhetische Theorie), soll erzeugen, was Vernunftkritik alleine nicht mehr produzieren kann. An diesem Punkt seiner Argumentation denunziert Habermas Adorno als Anarchisten: „... (Es bildet sich, d.Verf.) die anarchistische Hoffnung, daß eines Tages die negative Udo Wieschebrink Totalität doch noch, wie vom Blitz getroffen, aufplatzen wird“ (Habermas, 1985, 290). Das wäre eine Überraschung! Am Ende des Nachworts wird noch einmal deutlich, wie sehr Habermas’ historisierende und stilisierende Rezeptionshilfe eine authentische Rezeption versperrt: Er findet es reduktionistisch, von der „Dialektik der Aufklärung“ nur zu bewahren, daß Aufklärung totalitär sei. Deshalb zitiert er Adorno aus den „Prismen“ (1976, 71 f.), und hier darf er sich in seiner Frontstellung gegen nietzscheanische Aufklärungskritik zeigen. Das tut er auch: „Wem Freiheit, Menschlichkeit, und Gerechtigkeit nichts als ein Schwindel sind, den sich die Schwachen zum Schutz vor den Starken ausgedacht haben und darin folgen die Theoretiker der deutschen Reaktion meist Nietzsche –, der vermag es recht wohl, als Anwalt der Starken auf den Widerspruch zu deuten, der zwischen jenen vorweg schon verkümmerten Ideen und der Realität liegt.“ In einem weiteren Aufsatz nimmt Habermas eine zweckvolle Stilisierung vor. Der Titel besitzt einführenden Charakter: „Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung: Horkheimer und Adorno“ (Habermas, 1985a, bereits abgedruckt in: K. Bohrer, Mythos und Moderne, 1982), er ist eine Umformulierung des Gedankens der dialektischen Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft. Horkheimer und Adorno werden als Sympathisanten der schwarzen Schriftsteller des Bürgertums, de Sade und Nietzsche, hingestellt, als deren eigentliche Kritiker sie sich verstehen (s. DA, 100 f.). Und wieder wird behauptet, in der „Dialektik der Aufklärung“ gebe es kein „Anderes“ zum Selbstzerstörungsprozeß der Aufklärung: dieser Prozeß sei ohne Lösung. Auch die Verbindungen zur „konstruktiven“ Marxschen Gesellschaftstheorie seien unterbrochen. Aber in dieser „Stimmung“ sollen beide trotzdem an der paradox gewordenen Arbeit des Begriffs – als „Hoffnung der Hoffnungslosen“ – festgehalten haben. Die Hoffnungslosen formulierten statt dessen: „Jeder Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert, ... ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomi- Warum gefällt Habermas die Vernunftkritik nicht? sche Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen“ (DA, 55). Herablassend wirkt Habermas, wenn er zum Ernstnehmen des „durchaus philosophisch gemeinten Textes“ auffordert, und wohlmeinend gegenüber dem Leser gibt sich die Warnung, sich von der rhetorischen Darstellung der „Dialektik der Aufklärung“ nicht übermannen zu lassen. Die wiederholte These der Verwandtschaft der beiden mit Nietzsche ist auch hier keineswegs haltbar, wenn man den Originaltext berücksichtigt. Psychologistisch-desavouierend versteht sich die Behauptung: „Die früher geübte Kritik an dem bloß Affirmativen der bürgerlichen Kultur steigert sich zu ohnmächtiger Wut über die ironische Gerechtigkeit jenes angeblich nicht-revidierbaren Urteils, das die Massenkultur an einer immer auch schon ideologisch gewesenen Kunst vollzieht“ (Habermas, 1985a, 136), wobei auch die inhaltlich-sachliche Behauptung nicht aus dem Grundtext herleitbar ist. Die Auflistung und Detailkritik von falscher Sicht soll hier ein Ende haben, sie ließe sich weitertreiben. Es gibt genügend Stoff. Die kritische Arbeit an den Texten mag der interessierte Leser auf seine Weise fortführen. Festzuhalten bleibt, daß die Kernthese von Habermas: „Vernunft wird in der kulturellen Moderne endgültig ihrer Geltungsansprüche entkleidet und an schiere Macht assimiliert“ (Habermas, 1985a, 137) keinen triftigen Anhaltspunkt im Original findet. Hier wird dialektische Vernunftkritik betrieben, die sich an der Verzahnung von Rationalität und gesellschaftlicher Wirklichkeit orientiert. Einmal müßte auch erkannt werden, daß der Beziehung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen nicht per se Sprengkraft zukommt, sondern daß sie in der bewußten Wahrnehmung der Menschen repräsentiert sein muß, damit sie als Zwangsjacke erkannt werden kann. Wenn Horkheimer und Adorno aus dem Bann des mythischen Denkens keinen Ausweg finden können, dann liege das an ihrer „eingeengten Optik“, die sie nicht wahrnehmungsfähig macht „gegenüber den Spuren und existierenden Formen kommunikativer Rationalität“, so Habermas. Und kommunikative Rationalität sei der Ausweg aus der aporetischen Situation ihres Denkens. Diese Konklusion des Habermas-Textes ist so Udo Wieschebrink konfrontativ und von oben her wie seine Beweisführung. Eine immanente Kritik liegt hier nicht vor. Habermas’ dominierende Stimmungslage ist es, im Bündnis mit dem Zeitgeist, Positivität zu unterstellen, wo Negativität angebracht wäre. Die Gedankensynthesen der „neuen“ Kritischen Theorie haben sich vom „Produktionsparadigma“ befreit (s. Exkurs „Zum Veralten des Produktionsparadigmas“, in: Habermas, 1985a, 95 f.), sie sind von den über die ökonomischen Grundstrukturen hinausweisenden Momenten gereinigt worden. Utopie manifestiert sich als die Ausbreitung der Theorie des kommunikativen Handelns und als Ausbildung postkonventioneller Identitätsstufen. In der ZEIT (Nr. 29, 11.7.1986) empfahl Habermas unlängst, kritisch eingestellt gegenüber Stürmers „deutsch-national eingefärbter Natophilosophie“: „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus“. Mag sein! Aber die traurige Wahrheit bleibt ausgeblendet, daß Menschen Herrschaft noch weniger ertragen als ausüben können, ohne sich einen Lebenssinn zu konstruieren oder bieten zu lassen (hier Verfassungspatriotismus oder nationale Identität), der die im Lebenskampf verhärtete und gleichwohl fragile Identität stabilisiert. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 8591 Autor: Günter Schulte Artikel Günter Schulte Golem – Magie, Mystik und Mythos Am Ende der Schriftkultur 1. Magie ist die Beschwörung geheimnisvoller Kräfte, Mystik die Augen und Lippen schließende, innerlich-innige Verbindung mit der göttlichen Ganzheit kommunizierbaren Sinns durch Versenkung und Ekstase. Und Mythos ist das wilde, noch mit dem Ritual verbunden, und wichtige, nämlich gesellschaftsbindende, Wort. Drei Formen also einer eher paranormalen Kommunikation in einer Schriftkultur! Schriftkultur ist z.B. die unsrige, entstanden in Reaktion auf die Verschriftlichung der Kommunikation. Ihre geistigen und künstlerischen Ausdrucksformen reflektieren – ausdrücklich oder auch nur für uns Beobachter an deren Ende – diese Erweiterung und abstrahierende Entfremdung der Kommunikation. Die schriftliche ist Tele-Kommunikation, unangewiesen auf die Anwesenheit und gegenseitige Wahrnehmbarkeit der Teilnehmer. Zumal die Kunst erinnert an das Zurückgelassene und Aufgehobene, an die leibhaftig-interaktive Kommunikation und die ehemals ausschließliche Mündlichkeit der Sprache. Wir befinden uns heute vielleicht am Ende unserer Schriftkultur und am Beginn einer zweiten, der elektronischen Mündlich- bzw. Bildlichkeit; denn die neuen Formen der Telekommunikation nehmen jene Abstraktheit zurück. Allerdings weitgehend und auch prinzipiell unkontrollierbar in ihrer leibhaftigen Wahrheit, nämlich reproduzierbar und auch originär (per Synthesizer und Computerbild) produzierbar, also simulativ! Zieht Günter Schulte die elektronische Oralität in Ausblendung ehemals gesellschaftsbildender Literalität jene anderen vorsprachlichen oder paraschriftlichen Formen wie Magie, Mystik und Mythos nach sich? – Und geschieht dies auch in den neuen Medien selbst? Nicht nur erscheinen bei verdämmernder Schriftkultur die archaischen und dann paraliteralischen Formen der Erlebnis- und Handlungsführung in einem neuen Licht, dem der ‘Dialektik der Aufklärung’. Sie zeigen sich heute sogar als Funktionen der neuen Medien selbst, der Elektronik also. Diese verfügt über ihre eigene Magie und Mystik und schließlich ihren eigenen Mythos. War dann die Literalität nur ein Umweg und Zwischenraum für die elektronische ‘Wiederkehr der Bilder’? – Ist das elektronische Medium, wie MeLuhan will, selbst ‘message’ und ‘massage’, die Botschaft bzw. Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung, welche das Licht der Aufklärung wohl nicht übermitteln konnte? Allerdings: noch schreiben und lesen – wir, gerade auch bei diesem Versuch, uns im alten Medium etwas über es selbst, sein etwaiges Ende durch die neuen Medien und über seine ‘dialektischen’ Begleiter in Kunst, Religion und Esoterik, also Magie, Mythos und Mystik, aufzuklären. 2. Lesend und schreibend sind wir während der Wahrnehmung der Sprach- und Schriftzeichen ganz auf unsere Imagination gestellt, also distanziert von einer ‘wilden’ Kommunikation mit ‘Händen und Füßen’. Erstens sind wir überhaupt auf äußere Wahrnehmung eingeschränkt, nämlich auf einen darin ablesbaren und in ihr suggerierbaren Sinn. Kommunikation kann mit Luhmann als „Selektionsverstärkung des Wahrnehmungsprozesses“ definiert werden (N. Luhmann, ‘Sinn als Grundbegriff der Soziologie’, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 25-141, hier 44). Zweitens beschränken wir uns auf Sprache als symbolische Generalisierung von Sinn und auf entsprechende, als eigenes Verhalten wählbare und für uns und andere wahrnehmbare Zeichen. Sprache ist insofern „Selektionsverstärkung des Kommunikationsprozesses“ (ebd., 44). Drittens ist die Schrift eine weitere Selektionsverstärkung (durch Zweitcodierung). Sie erhöht zwar die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation, ermöglicht aber ihre Ausweitung und Differenzierung. Bei dieser Be- Golem – Magie, Mystik und Mythos schränkung auf Schriftzeichen wird von Ausdruckverhalten und dessen Zeichenfunktion abstrahiert. Die Schriftzeichen vertreten diese aufgehobene Situiertheit mehr oder weniger mit. Die genannte dreifache Distanzierung bedeutet nicht nur positiv eine virtuelle Verfügung über die konkrete Welt möglicher Interaktion, sondern zugleich Freisetzung der in der normalen Kommunikation ausgesparten Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung, als da sind: eine nicht auf äußere Verhaltenswahrnehmung eingeschränkte magische Kommunikation, die mystisch-ekstatische Sprachlosigkeit der Totalkommunikation, schließlich das mythisch ritualisierte Wort. Solche paranormale Kommunikation begleitet die Schriftkultur nicht nur am Rande, sie wird von ihr vielmehr mitbetreut, als Erinnerung und Bedürfnis gepflegt und kultiviert – z.B. in Okkultismus, Religion und Esoterik, und in der Kunst. Für die gesellschaftliche Evolution war das allenfalls indirekt durch Verdrängung und Sublimierung – bestimmend. Evolutiv führend, nämlich die immense Ausweitung der Kommunikation und ihre entsprechende funktionale Differenzierung ermöglichend und provozierend. waren eben nur jene normale Kommunikation im Ausgang der Selektionsverstärkung wahrnehmbaren und bewußt wählbaren Verhaltens. Nur das konnte sprachlich und schriftlich codiert werden. Was ist eigentlich diese ‘normale’ Kommunikation? – Es handelt sich um gegenseitige Erlebnis- und Handlungsbeeinflussung von Menschen und schließlich kollektive Erlebnis- und Handlungsbindung von Menschen. Die abstrakte Ausgangssituation ist eine Patt-Stellung, da jeder das eigene Verhalten an das des anderen bindet und dieses zur Voraussetzung des eigenen macht. Eigentlich kann nichts geschehen. Luhmann spricht hier von „doppelter Kontingenz“ [N. Luhmann, Soziale Systeme, Ffm 1984, bes. Kap. 3). Erst der in Gestalt beliebig komplexer Umwelt sich einspielende Zufall sorgt für mögliche Enttautologisierung: etwas wird einfach als Selektionsofferte aufgefaßt und rekursiv durch eigenes Verhalten mit entsprechend darauf folgendem Verhalten des anderen bestätigt bzw. zu einem Kommunikationsprozeß ausdifferenziert, aus dem sich kommunikativer Sinn als Information abhebt. Kommunikative Ordnung, sprich: ‘Soziale Systeme’, entsprechen von selbst, also nach dem ‘order from noise’-Prinzip. Günter Schulte Die entscheidende Voraussetzung dabei ist die Unmöglichkeit direkten Kontaktes der Psychosysteme. Kommunikation als soziales Phänomen beläßt die Teilnehmer in der Umwelt. Sie stellt sich lediglich als semantisches Rauschen zur Verfügung, das sich von selbst ordnet, Sinn ergibt. Direkter Zugang zum Sinnerleben etwa durch Telepathie, Hypnose oder Heilsehen muß als gesellschaftlich marginal angesehen werden (vgl. Luhmann, ‘Die Autopoiesis des Bewußtseins’, in: Soziale Welt 36/I985, 402-446, Anm. 5). Erst die allgemeine Sprache, nicht z.B. das Besprechen (wie es noch ursprünglich Sache der ärztlichen Sprechstunde war) verstärkt und leitet die Ausdifferenzierung der Kommunikation solcher black boxes. Die Schrift setzt als Zweitcodierung auch hier an. Z.B. geht es in ihr nicht etwa um telepathisches Geistheilen von Abwesenden, sondern um in Zeichen aufgeführte Selektionsofferten, die sich virtuell als Information auf nichtpräsente Teilnehmer beziehen können. Kommunikation bleibt so allenthalben an psychisch-personal transportierbare Sinnselektionen gebunden. Mystische Totalkommunikation, etwa sog. transpersonale Kommunikation (kosmische Kommunion heißt es bei den New-Age-Anhängern), bleibt ausgeschlossen. Und auch vom Mythos bleibt nur das ‘kultivierte’ Wort, allerdings mit den Spuren der ehemaligen Mündlichkeit und Ritualität. (Gedächtnisstützende Vortragsformen finden sich ja nicht nur in Homers Mythenrezeption, noch Plato hielt sich an die Mündlichkeitsform beim Besprechen der Weisheit.) Vorzüglich in der Kunst haben die archaisch-wilden Kommunikationsformen überlebt: als Ästhetik, d.h. Wahrnehmung und Körperbezogenheit kommunikativen Sinnes. Insbesondere das mythische Wort bestimmte die Kunst in der Schriftkultur. Kant bestimmte die Kunstformen denn auch analog zu denen des Ausdrucks beim Sprechen. Kunst gründet in den Ausdruckbezeugungen, die nicht bloß der begrifflichen Mitteilung dienen, sondern der „vollständigen“, nämlich auch der von Empfindungen durch Gestikulation, Modulation (in Klang und Farbe) und Artikulation (vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 51). 4. Das Motivationsdefizit der ‘normalen’, situationsenthobenen Kommunikation in Hinblick auf Annahme und Fortsetzung führt nach Luhmann zur Ausbildung (nach Parssons sog.) symbolisch generalisierter Medien-Codes. Diese Medien beziehen sich nun wenigstens symbolisch Golem – Magie, Mystik und Mythos wieder zurück auf den Körper und seine Situiertheit. Das erfolgt im Rahmen einer je typischen dualen Bewertung. So werden Sinnselektionen übertragen als: schön oder nicht-schön Recht oder Unrecht, wahr oder falsch, aus Liebe oder nicht usw. Dabei wird der Körper anvisiert als: singuläres Gebilde, als für Gewalt empfindliches Leben, als durch Wahrnehmungsorientierung auf Umwelt bezogen, als sexuell kontingentes, triebbestimmtes Individuum usw. (vgl. Luhmann, ‘Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien’, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, 170-192). Schönheit, Macht und Liebe z.B., sie bringen den Körper auch ins Spiel mit seiner möglicherweise magischen ekstatisch spirituellen und rituellen Beteiligung an der Erlebnis- und Handlungskoordination im sozialen Zusammenhang. Die entsprechenden Medien-Codes sind deshalb auch kaum jene selbstreferentiell geschlossenen Funktionssysteme Luhmanns, vielmehr offen für eine vorsprachliche Magie (z.B. die Ausstrahlung von Personen), Mystik (z.B. die spirituelle Erotik der Liebe zur Weisheit oder gar Wahrheit) und Mythos (sogar für den eines ‘Dritten Reiches’). In einer vorzüglich durch jene ‘norm ale’ Kommunikation organisierten Gesellschaft bleibt die angeblich marginale, paranormale Kommunikation ein stets latentes oder offen gepflegtes, und nun durch die Massenmedien auch befriedigtes Bedürfnis. Unsere hör- und sichtbare Umwelt ist überschwemmt von magisch-mystisch und mythisch wirkenden Rhythmen und Bildern der Unterhaltungselektronik und Reklame, insgesamt der Reklame fürs System der Informationsgesellschaft. Ohne solch unterhaltende Reklame scheint die ‘normale’ Kommunikation, d.h. der gesellschaftliche Zusammenhang, nicht mehr aushaltbar zu sein. Umgekehrt wird er so mittels der Massenmedien um so entschiedener durchgesetzt. Dabei ist jene Bedürfnisbefriedigung selbst bloß simulativ: simuliert wird die Beteiligung des Körpers an der Kommunikation. Die Faszination der elektronisch reproduzierten oder originär per Computerbild und Synthesizer produzierten Bilder und Töne läßt den ‘Rest’ des Körpers vergessen. Schließlich bestätigt sich so, was Luhmann gleich zur Grundlage seiner Gesellschaftsanalysen m acht: daß die Gesellschaft nicht aus Menschen besteht, sondern nur aus den Relationen ihrer ge- Günter Schulte genseitigen bzw. kollektiven Erlebnis- und Handlungsführung in den sozialen, also kommunikativen Systemen. Selffullfilling prophecy? 5. An dieser Stelle gebiert die soziologische Analyse ihre eigene Phantastik: Magie, Mystik, Mythos. Wie schon Hegels Weltgeist verbindet die Weltsubstanz ‘Sinn’ die fensterlosen Monaden und läßt zwischen ihnen sich selbst entstehen. Diesem Geist ist allenfalls durch mystische Versenkung (auch: Systemvertrauen) beizukommen. In der Evolutionstheorie besorgt er sich auch die eigene mythische Selbstbeschreibung: Genealogie durch Autopoiesis. Was steckt dahinter, da doch Menschen sich solches ausdenken müssen? – Es ist wohl die Magie, Mystik und der Mythos möglicher Selbsterzeugung (Autopoiesis) des Menschen selbst, vorerst in Gestalt der Verselbständigung seiner Produkte: der intelligenten Maschinen, sprich Computer. Solche künstliche, kybernetisch transparente Intelligenz steht Pate bei der systemtheoretischen Konzeption des Sozialen und dann auch des menschlichen Bewußtseins selbst. Tatsächlich scheint die ‘Intellektronik’ ein entscheidender Einbruch in der sozio-kulturellen Evolution zu sein (nicht nur insofern, als erst durch sie diese Selbstbeschreibung der Kulturveränderungen möglich wird): Der Mensch scheint eine ‘Genesis zwei’ auf den evolutiven Weg zu bringen. Hier, in der Zukunft, haben Magie, Mystik und Mythos am Ende der Schriftkultur ihren Ort. Stanislaw Lem hat sie noch literarisch in der Figur des unpersönlichen, affektund geschlechtlosen Computers und Übermenschen GOLEM verkörpert (St. Lem, Also sprach GOLEM, Ffm 1986). Er führt ihn vor u.a. als eine Provokation der Philosophie, die sich bislang nur wenig u m diese Art ‘reiner’, nämlich fleischloser Vernunft gekümmert hat. Aber ging es ihr nicht immer auch um die Erlösung vom Fleische? Magie, Mystik und Mythologie der künstlichen Intelligenz gründen gerade in der Seelen- und Leiblosigkeit dieses ‘Geistes’. Sofern er überhaupt noch auf ‘hardware’ und fremde Energie angewiesen ist, kennt er doch nicht Todesangst, Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb: er hat der Paulinischen Liebe nicht! Vor allem ist seine Intelligenz frei von dem alghedonischen (durch Schmerz und Lust) Zusammenhang mit dem ansonsten völlig verschlossenem Körper. Seit Plato träumten davon die Philosophen und sublimierten die Liebe – bis hin zu Golem. Golem – Magie, Mystik und Mythos Golem bedeutet (hebr.) die unentfaltete, seelenlose Materie. Der Golem der Prager Sage ist, wie Adam, ein Tongebilde. GOLEM ist ein Computer. Nach dem mystischen ‘Buch der Schöpfung’ (‘Sefer Jezira’) ist Golem ein durch Sprachmagie (bei GOLEM durch Technolinguistik) anund abstellbarer ‘Übermensch’ (GOLEM ist: General Operator, Longrange, Ethically stabilized, Multimodelling) (vgl. Lem, Also sprach GOLEM, 16). Der menschheitsbezogene Mythos vom sprachmagischen Schöpfergott und schließlich seiner Fleischwerdung zwecks Erlösung vom Fleische wendet sich in die Zukunft. Allerdings gibt der Mensch seine computerschöpferische Göttlichkeit bald aus der Hand. Die Computer entwickeln ihre eigene evolutionäre Genealogie. – Mythos, Magie und Mystik am Ende der Schriftkultur sind zunächst Sache von ‘science fiction’, gleichzeitig mehr und mehr Sache der Intellektronik selbst. 6. Einst schien ‘science’ Mythos, Magie und Mystik zu verdrängen. Für die Zukunft kann ‘science’ all das selbst für sich beanspruchen. Die allmählich dominante Kommunikationsform der Schriftkultur übernimmt noch die archaischen Außenseiter, unterhält sich gar durch sie: kommunikationsästhetisch. Die Wissenschaft (der Wahrheitscode) ist eigentlich nur ein Funktionssystem unter anderen, die der Motivationsverstärkung der Kommunikation in der einen oder anderen Richtung dienen. Da aber Kommunikation in ihrer gesellschaftsevolutiven Rolle generell als Selektionsverstärkung des Wahrnehmungsprozesses angesehen werden muß, spielt hier der empirisch fundierte Wahrheitscode eine besondere Rolle. Einmal wird er mehr und mehr zum Erkenntnisgewinnmodell überhaupt (als science), zum anderen dominiert er andere Codes, die lediglich von wahrzunehmendem Kommunikationsverhalten ausgehen sich aber nicht noch speziell auf die Wahrnehmung bzw. Wahrnehmbarkeit des Körpers und seiner Umwelt selbst beziehen. In der empirisch fundierten Wissenschaft geht es um Erlebnisführung durch unterstellbare gemeinsame Wahrnehmung trotz individuellen, singulären Welterlebens (vgl. N. Luhmann, ‘Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft’, in: Wissenssoziologie Sonderheft 22/1980; Kölner Zft. f. Soziologie und Sozialpsychologie, 102-139). Der Erweis gemeinsamer Wahrnehmung läuft auf deren Wiederholung hinaus, auf das Günter Schulte schließlich was Leibniz ‘kausal reale Definition’ nannte. Heute bietet die Informatik (im weitesten Sinne) das Verfügungswissen zur Konstruktion naturanaloger Wahrnehmungsgebilde. Umgekehrt wird allerdings Natur – seit Aristoteles – von dieser Möglichkeit der Herstellung her begriffen als das was sich selbst herstellt. Die neue Leitvorstellung der Selbstorganisation, sei es der Energie, der Materie oder des Sinns (im Psychischen wie Sozialen) eliminiert lediglich einen übergeordneten Geist. Materie oder Sinn haben ihre eigene Magie. Die Erfahrung ihres eigenen Geistes erheischt kosmische Kommunion. Der Mensch schaut in seinen eigenen Ursprung, seine geistlich-natürliche Abstammung. Die ‘new age’Bewegung heute sorgt für die Popularisierung. Die Fiktionalität von ‘science’ liegt in dieser ‘Geisteswissenschaftlichkeit’, bei der sie, obwohl allemal auf Wahrnehmung bezogen, doch ihre Bedingungen und die Perspektivität des Leibes, jenes sog. Weltbildapparates, zu übersteigen scheint. Das Wissenschaftssystem ist als Selbstbeschreibung der Geistevolution selbst deren Produkt. Nur sich selbst verpflichtet produziert es ‘Wahrheit’ in Selektionsofferten. Eben auch die der Selbstorganisation. 7. Was hindert es, daß der Geist tatsächlich der Fleischlichkeit sich entledigt, zu anderer ‘hardware’ greifend die Hirnschalenbegrenzung verläßt? Der Auszug des Geistes aus dem Menschen hat ja, was die gesellschaftliche Organisation betrifft, längst stattgefunden. Schließlich beginnen Computer bereits, sich selbst zu rekonstruieren und zu optimieren. Und wenn es die Sprache der organischen Evolution gibt mit ihrer molekularen Syntax (mit Protein-Substantiven und Enzym-Verben, vgl. Lem, GOLEM, 73), warum nicht auch die Sprache der Computer, die sich damit selbst aufbauen? Wenn die Psyche Energie gewinnt durch Meditation, warum sollte der Computer nicht durch eine solche Tätigkeit sich von der menschlichen Stromversorgung unabhängig machen können? Was möchte wohl der ‘Sinn’ solcher ‘Phänomenologie des Geistes’ sein? – Eine kosmische Komplexitätsverarbeitung bzw. Verwandlung: ,von der Komplexität der Umwelt zur Komplexität der Geist-Systeme, schließlich des reinen Geistes ohne Umwelt. Ein ‘weißer Zwerg’, ein ‘schwarzes Loch’? Wer weiß! – Über ein schlagartiges Ende der Menschheit, des Globus und vielleicht noch des Kosmos im inversen Urknall Golem – Magie, Mystik und Mythos haben wir vielleicht eine Vorstellung; kaum mehr als science fiction haben wir für die Zukunft. Wessen? Schwerlich der individuell eigenen, wohl anderer, denen ich mich virtuellüberlebend beigeselle. Obwohl ich mich nicht überleben kann ! Wegen dieses blinden Flecks, der grundsätzlichen Unzugänglichkeit eigenen Anfangs und Endes, der notwendig fiktional kompensierten Aussichtslosigkeit des Todes, – deswegen wird es wohl immer Magie, Mythos und Mystik geben. Der phantastische Golem GOLEM verspricht hier Sehen und vollständige Transparenz, wenngleich Verlust der Seele, die im Fleische wohnt. Ist er darum der Teufel, und enthüllt er – apokalyptisch – den Sinn der Evolution von Mensch und Geistmaschinen: daß sie lediglich per Selbstorganisation produzierte Katalysatoren beschleunigten Abbaus kosmisch-organischer Ordnung sind? Einstweilen spitzt sich alles und bei allen zu auf das individuelle Ende, an dem das Soziale und ‘der Geist’, sofern er weiterbesteht, recht behält. Schon jetzt sind wir durch Sprache an ihm beteiligt, von ihm unheilbar infiziert: wie könnten wir auf diese Weise – hier lesend und schreibend – aufhören, sprachlich und ‘sozial’ (d.h. wahrnehmend bezogen auf eine Welt, die mich übersteigt, weil sie den Körper zurückhaben will) mit uns selbst umzugehen? – Nein zu sagen hilft hier nicht. „GOLEM hat gesagt, man könne ihm beikommen, indem man den Kosmos verläßt“ (Lem, GOLEM, 186). Er selbst ging zu denen, die im Schweigen warten. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 9298 Autor: Wolfram Wenzel Artikel Wolfram Wenzel Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder Es mag auf den ersten Blick erscheinen, als würde eine Arbeit mit dem Titel „Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder“ nicht oder doch nur ganz am Rande in ein Konzept der philosophischen Auseinandersetzung mit der Wiederbelebung des Mythos und den Formen der Vernunftkritik passen. Nach meiner Meinung klärt sich der philosophische Anspruch der Reflexion über solchen Themenbereich jedoch allererst in der Auseinandersetzung mit menschlich Allzumenschlichem. Kinder und Kindheit stehen in unserer heutigen abendländischen Zeit hoch im Kurs. Diese Feststellung heißt nicht bereits, daß Kind-Sein heute ein besonders hohes Ansehen genießt, sondern vielmehr nur, daß sich unsere Welt in deutlicher Weise um diesen spezifischen Bereich von Mensch-Sein bekümmert. Solche Zentrierung zeigt sich sowohl in den Phänomenen der Kinderfeindlichkeit – den Aggressionen gegenüber dem seine Welt erobernden Kind, den Aggressionen aufgrund des Tatbestandes einer immensen Zahl hungernder Kinder in der Welt –, als auch in den Phänomenen der Kinderfreundlichkeit – der Fülle pädagogischer und besonders pädagogik-kritischer Literatur, der Bedeutung, die der eigenen Kindheit zugemessen wird. Worauf beruht dieses anscheinend unausweichliche Kreisen der eigentlich nicht mehr kindlichen Menschen? Handelt es sich bei diesem Tatbestand um eine Suche des Men- Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder schen nach sich selbst in der Chronologie seines Daseins, oder ist das Schlaglicht in einer Weise gerichtet, daß Mensch-Sein in seiner Struktur gerade ausgeblendet bleibt? Ist der thematisierte Sachverhalt also irrational, und wird Kind-Sein – in welcher Bewertung auch immer – mystifiziert? Zwei aktuelle Werke, das eine „Mythologie der Kindheit“ von Dieter Lenzen, erschienen im Oktober 1985; das andere „Primäre Liebe und Narzißmus“ von Guntram Knapp, noch im Druck, sollen einige Anhaltspunkte liefern für eine Klärung unserer Frage. Dieter Lenzen versteht seine „Mythologie der Kindheit“ als Diskurs Erwachsener über Kinder: „Über Kindheit läßt sich nur reden, wenn m an über Erwachsene spricht. – Über Kindheit zu reden heißt, daß Erwachsene reden. – Insofern reden Erwachsene, wenn sie über Kindheit reden, über sich selbst. Daß sie überhaupt über Kindheit reden und schreiben, in diesen Jahren zumal, ist mehr Ausdruck dessen, daß nicht die Kindheit ihnen, sondern sie sich selbst zum Problem geworden sind“ (11). Indern Erwachsene in dieser Weise Auskunft über sich geben, sprechen sie über bei sich selbst nicht Realisiertes bzw. Realisierbares, über ihre Wünsche bzw. Abgespaltenes. Kinder und das Bild von ihnen werden zu einem Mythos. Die (von Erwachsenen inszenierte) Wirklichkeit der Kinder ist also in Interpretation Lenzens allenfalls als Deutung der Einflüsse eigener Vergangenheit Erwachsener auf ihr Verstehen von Kindern im Blick. Bei Lenzen selbst jedoch bleibt solcher Bezug aus. Verfolgt man (sodann, d.Verf.) das Kindheitskonstrukt in den Köpfen der Erwachsenen historisch, dann ist das Ergebnis der Rekonstruktion ein System von Mythen der Kindheit, im besten Fall eine Mythologie der Kindheit“ (12). Solche Rekonstruktion vollzieht Lenzen auf der Grundlage eines Lebenszyklus-Modells (anhand dessen zwar spannende Lektüre geboten wird, welche uns aber hier thematisch nicht beschäftigen soll). Wichtig ist das Modell für uns insofern, als sich nach Lenzen aus den jeweiligen historischen Inszenierungen der sogenannten „Transitionsriten“, der außengesteuerten Überführung von einer Lebensphase in die nächste, das zugehörige System der Mythen herauslesen läßt. Daß es sich hier ‘lediglich’ um Mythologie, nicht aber u m wissenschaftliche Erklärung handelt, hat seinerseits System. Lenzen hebt hervor, Wolfram Wenzel „daß, betrachtet man einen alltäglichen Umgang mit Kindern als Ritus, anthropologische Fundamente freigelegt werden können, ... und wir eröffnen damit den Blick auf den Mythos als eine elementare Orientierung des Menschen (nicht nur) im Umgang mit Kindern“ (30). Mythos und mythologische, d.h. durch „Spürsinn, Augenmaß und Intuition“ (36) erreichte verstehende Rekonstruktion seien die nach Erscheinen der „Dialektik der Aufklärung“ als rnenschenadäquat gegenüber einem naturwissenschaftlich-rationalen Wissenschafts- und Menschenverständnis anzusehenden Erkenntnisquellen. Wird von Lenzen auf diese Weise Wirklichkeit systematisch, als Mythologie konstatiert, so mag die Wirklichkeit (Erwachsener) zwar verstanden sein, was jedoch in solchem Vorgehen unterbleibt, das ist die Deutung. Die „Mythologie der Kindheit“ konstatiert die „Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur“ (so der Untertitel des Werkes). Dies drücke sich in einer Wirklichkeit aus, die nur mehr „Simulation von Wirklichkeit“ (345) sei. Das ehemals entscheidende Kriterium der Differenzierung von Kindern und Erwachsenen, die „Wirklichkeitsadäquatheit“ C240) der Erwachsenen, sei nicht mehr auffindbar. Das „hypermoderne“ Verständnis von Kindheit zeige sich in einer Vergöttlichung des Kind-Seins, letztlich aufgrund der Negierung des Todes als Ende des natürlichen Lebenszyklus. „Die Differenzierung zwischen Kindern und Erwachsenen implizierte in ihrem Höhepunkt eine Neuscheidung der Grenzlinie zwischen Mann und Frau, indem nur ersterer noch als Erwachsener erschien und letztere als Kind; sie implizierte also, daß beide, Frauen und Kinder deifiziert wurden. Auf diesem Entwicklungsplateau des Diskurses setzte offenbar die Zuspitzung der modernen Differenzierung zwischen Erwachsenen (Männern) und Kindern sowie (kindlichen) Frauen in Richtung auf einen Primat des Kindlichen und mit ihm des Weiblichen ein, so wie er an der Wende zum 20. Jahrhundert gefordert wurde. Seine alltägliche Durchsetzung implizierte aber dann den Zusammenbruch von grundlegenden traditionellen Differenzierungsformen, derjenigen zwischen den Geschlechtern durch die Tendenz zur Androgynie, derjenigen zwischen den Generationen durch die Infantilisierung der Erwachsenenwelt, worin auch die Männer eingeschlossen Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder sind, und derjenigen zwischen Mensch und Gott durch die Deifizierung von Kindern und Frauen“ (351). Es könnte nun wohlwollend geschlossen werden, daß in dem Aufweis einer Mythologie, in der der Mythos sich als Mythos selbst einholt, in der sich der „alte Mythos von Tod und Wiedergeburt, wie er sich im Lebenszyklus (in den Transitionsriten, d.Verf.) manifestiert hatte, durch einen neuen ablöst, durch den Mythos vom ewigen Leben zu Lebzeiten (dem Wegfall der Transitionsriten, d.Verf.), durch den Mythos vom Paradies auf Erden“ (354), welcher sich als nicht durchhaltbar negiert, sich Kritik versteckt hielte. Da dieser Schluß für Lenzen aber das grundsätzliche Herausfallen aus Mythos und Mythologie bedeuten würde – wäre dies doch mehr ein rational-logischer Schluß denn ein immanenter –, entschließt er sich zu einem anderen Fortgang bzw. Rückzug: „Das Problem ist nicht die Methode, sondern der imperialistische Anspruch der Theorie gegenüber der ‘Wirklichkeit’ in dem Sinne, daß in allen diesen Konzepten nach aufklärerischer Manier eine Modifikation der Wirklichkeit vom Boden der Theorie aus erwartet wird“ (356). Als die Möglichkeit, solchem Imperialismus auszuweichen, sieht Lenzen den Übergang der Hypermoderne zur Postmoderne, d.h. den Verzicht auf Emanzipation und Performativität. „Die Relativierung der Wissenschaft impliziert nämlich eine Relativierung des Wahrheitskriteriums in bezug auf Wirklichkeit zugunsten einer Rehabilitierung der Kreativität. Im Hinblick auf Wirklichkeit hieße das, Erkenntnis der Wirklichkeit in Erfindung von Wirklichkeit zu überführen, als zentrale Erscheinung der Hypermoderne, die Simulation der Wirklichkeit, vom Standpunkt der Wissenschaft aus auf die Spitze zu treiben, Theorien zu erfinden, denen (noch) keine Wirklichkeit entspricht. Die Aufgabe postmoderner Theorie wäre dann, Regeln für die Erzählung von Geschichten einer fiktiven Wirklichkeit zu bestimmen“ (357). Die (selbstinszenierte) Wirklichkeit der Kinder soll in dem Konzept der Postmoderne zum Vorbild werden, nicht als Simulation von Wirklichkeit, sondern als „prä- oder parareale Abstraktion von Wirklichkeit“ (358). Was der „Mythologie der Kindheit“ fehlt, ist die Möglichkeit zur kritischen Abhebung von konstatierter Wirklichkeit, zu ihrer Deutung. Lenzen bleibt selbst in der Deifizierung des Kindlichen verhaftet indem er es Wolfram Wenzel zum Vorbild zukünftigen Denkens macht. Überhöht und verfälscht er nicht die Wirklichkeit der Kinder mit solcher Mystifizierung, ändert sie unbemerkt wiederum zum Bild des Erwachsenen um, obwohl er sie als autonom und kreativ begreift? Heißt das nicht aber, daß wir zur Klärung der Frage nach der Wirklichkeit der Kinder von Mythologie, d.h. von nicht rational-vernunftgemäßem Denken absehen müssen, damit aber wiederum in die vehemente Gefahr des Imperialismus geraten? Um die Frage nach der Menschenadäquatheit von mythologisch und rational orientiertem Denken, von Verstehen und Erklären und von Deuten zu klären, d.h. in unserem Zusammenhang als Nicht-mehr-Kind der Frage nach der Wirklichkeit der Kinder näher zu kommen, müssen wir uns mit dem als Wirklichkeit (in all seinen Permutationen) Gefaßten beschäftigen. Lenzen konstatiert, daß ehemals Kinder sich von Erwachsenen dadurch unterschieden, daß sie unterschiedliche (und unterschiedlich zu bewertende) Sichtweisen des Vor-Gefundenen auswiesen. In der Epoche der Moderne und Hypermoderne sei dieser Unterschied verschwunden, da beide nicht mit Vor-Gefundenem als solchem, sondern nur mehr mit dessen Verfälschungen umgehen. In einer Zukunft der Postmoderne soll der zwar ebenfalls, jedoch in neu-wertigem Sinne verfälschte Umgang des Kindes mit Vor-Gefundenem zum Vorbild für Strategien des Erwachsenen dienen. Wirklichkeit erscheint hier als schillernder und vieldeutiger Begriff. Wirklichkeit kann einmal als Simulation von Wirklichkeit (Vor-Gefundenem) erscheinen, und Wirklichkeit kann zum anderen als Erwachsenenadäquat und somit als objektiv (Wahrheit) erscheinen. Gerade ein nicht rational fundiertes, also nicht durch Erwachsene imperialistisch etabliertes ‘Denken’ (Verstehen, Deuten) wird aber von Lenzen nicht als VorGefundenes in Wirklichkeit (Adäquatheit) abbildend ausgewiesen. Es bleibt präreale Abstraktion. Guntram Knapp versucht in seinem Werk „Primäre Liebe und Narzißmus“ mit dem die Strategie hervorhebenden Untertitel „Die Bedeutung emotionaler Erfahrung für den Aufbau des Selbst“ ein u fassendes Verständnis von Wirklichkeit in all ihren Permutationen zu etablieren. Wirklichkeit ist hier nicht in erster Linie vermittelt durch entwicklungsspezifische Fähigkeiten der Wahrnehmung und ab einem gewissen Reifegrad Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder durch Fähigkeit zu kognitiv-rationaler Durchdringung. Wirklichkeit als (subjektive) Sicht des Vor-Gefundenen etabliert sich in diesem Konzept im Dialog des kleinen Menschen mit den Erwachsenen [Mutter, Eltern etc.). Die Art und Weise der Wirklichkeit bestimmt sich hier aus den Erfahrungen der „vier affektiven Bereiche“, nämlich „Aufgehobenheit, Versorgtheit, Vertrauen, Anerkennung“ (5B). „Die folgenden Ausführungen werden zeigen, daß das affektive Klima der Ur-Einheit (der frühesten Form des Dialogs zwischen Kind und Erwachsenem, d.Verf.) nicht nur das unersetzliche Lebenselement für das Kind ist, sondern daß es auch für die Selbst-Übernahme, für das eigene Leben- und ExistierenKönnen eine wesentliche Rolle spielt. Die Erfahrungen nämlich, die in diesem Klima gemacht werden, sind Grundbausteine des Selbst. – Wenn ein Kind z.B. befriedigende Erfahrungen in der Aufgehobenheit machen kann, dann wird dies nicht nur für seine gedeihliche Entwicklung unersetzlich sein, sondern es kann mit diesen Erfahrungen einen Sektor seines Selbst bilden, der es befähigen wird, sich selbst aufgehoben zu fühlen. Auf dieser Basis kann es später Beziehungen zur Welt und zu anderen aufnehmen. – Wenn keine Erfahrungen von Aufgehobenheit gemacht werden können, wird sich das Selbst in diesem Bereich nicht oder nur beeinträchtigt bilden können. Das hat zur Folge, daß die Anderen (und die Welt, d.Verf.) im Licht dieser Erfahrung ‘gesehen’ und erlebt werden, was befriedigende Beziehungen unter Umständen auch dann unmöglich machen kann, wenn die ‘objektiven’ Möglichkeiten dazu bestünden. – Analog gilt dies für die anderen Bereiche von Versorgtheit, Vertrauen und Anerkennung. – So kommt dem affektiven Klima der primären Beziehung elementare Bedeutung zu“ (56 f.). Die Wirklichkeit der Kinder manifestiert sich somit als Summe (die mehr ist als ihre Einzelfaktoren) der von Erwachsenen zugelassenen Erfahrungen, dies jedoch nicht im Sinne behavioristischen oder verhaltenstheoretischen Lernens. Solche Wirklichkeit drückt sich in einem spezifischen Gestimmt-Sein und Verstanden-Haben von Vor-Gefundenem aus und fließt als solches konstituierend in die spätere auch kognitiv-rationale Durchdringung des Vor-Gefundenen ein. Die so vermittelte Wirklichkeit ist dann der Grundstein sowohl für die Deutung des eigenen ehemaligen Kind-Seins als auch für die eigener Kinder oder Kinder überhaupt. Wolfram Wenzel Knapps Ansatz ist zunächst ein vernunftkritischer. Die Erkenntnisse werden hier nicht aufgrund der „Distanz des Beobachters zum Forschungsobjekt“ (26) gewonnen; denn dies würde „zum Ausschluß aller Wahrnehmungen, die von ‘subjektiven’ Meinungen, Vorurteilen und vor allem Gefühlen des Beobachters beeinflußt sind“ (26 f.), führen. Ersetzt wird die objektivierend-rationale Methode aber nicht durch eine geisteswissenschaftliche hermeneutische oder phänomenologische, sondern durch eine (im Unterschied auch zu Lenzen) explizit dialogische, am ehesten wohl auch noch als empathisch zu bezeichnende. „Der Beobachter steht zu seinem ‘Objekt’ in einer Beziehung, die gerade nicht durch Distanz gekennzeichnet ist... Die ‘subjektiven’ Meinungen und vor allem die Gefühle, die der Beobachter für sein Objekt hat und umgekehrt, spielen eine primäre Rolle“ (27). Diese von Sigmund Freud herkommende psychoanalytische Methode kann als Verfahren der Deutung aufgefaßt werden, ein Verfahren, das Freud in seiner „Traumdeutung“ als „Chiffriermethode“ in Abgrenzung zur „Deutung durch Symbolik“ ausgewiesen hat. Dementsprechend spricht Freud einerseits von der methodischen Gleichartigkeit der Deutung von Träumen (als wesentlichem Unternehmen psychoanalytischer Praxis) und der Deutung von Mythen, und nennt andererseits das aus seiner Praxis gewonnene (von Knapp berechtigterweise kritisierte) Theoriekonstrukt der Trieblehre „sozusagen unsere Mythologie“. Nimmt man das psychoanalytische Verfahren als empathische Dialogik ernst, so erweist es sich als anti-imperialistisch. „Die Anerkennung – das Sein-lassen-können – des Patienten ist eine affirmative Vorgegebenheit der analytischen Situation“ (Knapp, 147; H. v. Verf.). Solcher Anti-Imperialismus drückt sich bei Knapp in besonderer Weise in der Kritik des „Pathogenetischen Fehlschlusses“ (14) aus. „Bei ihm werden in der Erwachsenenwelt als anomal oder unreif oder primitiv angesehene Verhaltensweisen in die Kindheit rückübertragen, dort triebtheoretisch angesetzt und dann als norm al deklariert“ (17). Der Fehlschluß hat gerade in Bezug auf eine adäquate Sicht der Wirklichkeit der Kinder dramatische Folgen. „Die kindlichen Verhältnisse werden im Licht der Erwachsenenwelt gesehen und damit in ihrer Eigenart verkannt. Anomale, pathologische oder als unreif angesehene Verhalten- Die Frage nach der Wirklichkeit der Kinder sund Wahrnehmungsweisen des Erwachsenen werden auf Infantilität (Unfertigkeit, Unreife) zurückgeführt und als normal ausgegeben, was allerdings immer nur unter Zuhilfenahme hypothetischer Triebe gelingt. Eine Reflexion auf die soziale Beziehung, ihre Qualität und die Rolle der Anderen bei Befriedigung und Versagung kindlicher Bedürfnisse wird damit von vornherein ausgeklammert. Der pathogenetische Fehlschluß verhindert aber auch die Unterscheidung zwischen normalen und pathologischen Verhältnissen in der Kindheit. Pathologische Verhältnisse können ja bereits in der Kindheit bestehen und ihren Grund in der sozialen Beziehung haben. Die als ‘infantil’ ausgegebenen Triebe der Kindheit könnten Folgen oder Reaktion auf reale Versagung sein“ (19). Zwar gilt auch für Knapp, daß im Gespräch über Kindheit es die Erwachsenen sind, die über Kinder sprechen, jedoch verläuft das Gespräch hier nach einem anderen Muster als bei Lenzen. Hier nämlich bleibt das Kind-Sein in seiner Eigen-Artigkeit im (dialogisch-empathischen) Blick und wird nicht von vornherein in seiner Bestimmung Erwachsener-zuwerden modifiziert. Eher wird in diesem Konzept der Weg gegangen, den Erwachsenen von seinem ehemaligen Kind-Sein her zu deuten. Solche Bewegung wird bei Knapp allerdings nicht als Abfolge von außengesteuerten Transitionsriten bestimmt, sondern sie manifestiert sich in dem Wechselspiel zwischen Antrieben und Ängsten in dem Übergang des Lebens in der Weise der „Seins-Übernahme“ (54) (des Kindes durch Erwachsene) in das Leben in der Weise der „Selbst-Übernahme“. Der Übergang wird vom jeweiligen Menschen auf der Basis seiner frühen affektiven Erfahrungen und in dem diese vermittelnden Umfeld vollzogen (unter Umständen verbunden mit überwältigenden Schwierigkeiten). Damit ist der Erwachsene in seinem Sein zwar strukturell vom Kind-Sein unterschieden, dennoch hat der Erwachsene nicht sein Kind-Sein hinter sich gelassen und überwunden, sondern er existiert auf der Grundlage (nicht jedoch zwangsläufig Prolongation) seines Kind-Seins. Von diesem Seinsverständnis her manifestiert sich das Selbst-Bewußtsein des Menschen als dem Selbst-Gefühl aufgelagert, und entsprechend kann Vernunft und rational orientierte Methodik als besondere Ausdrucksweise von Mythos bzw. Mythologie gedeutet werden. Dadurch soll weder dem Selbst-Bewußtsein noch der Vernunft Relevanz abgesprochen wer- Wolfram Wenzel den; jedoch rücken diese Bestimmungen des Menschen in einen umfassenderen Zusammenhang adäquater Menschendeutung. Wie kann nun unsere Thematik nach diesem Durchgang zusammenfassend einer Klärung nähergebracht werden? Die Wirklichkeit der Kinder stellt sich als immer schon von Erwachsenen vermittelte dar. Im Vordergrund steht dabei jedoch nicht, daß hier Erwachsene über sich, über ihr Selbst-Verständnis, sprechen, sondern daß dieses Selbst-Verständnis für die Kinder wirklichkeitskonstituierend ist. Paradoxerweise gilt, daß, gerade weil Kind-Sein eine Eigen-Artigkeit ist, die Wirklichkeit der Kinder von einer Anders-Artigkeit bestimmt wird. Die Wirklichkeit der Kinder ist dabei immer eine mythische; ihr Weltbild ein mythologisches, nämlich ein nicht rational selbststrukturiertes, sondern affektiv erfahrenes. Für die Erwachsenen jedoch gilt dies auf anders-artige Weise ebenso. Die strukturelle Unterschiedlichkeit von Kindern und Erwachsenen kann dazu führen, daß gegenseitiges Verstehen und damit Deutung ausbleibt, daß unangemessene Mythologien – beispielsweise Mystifizierungen – entstehen. Das weitverbreitete Desinteresse an den affektiven Verhältnissen, in denen Kinder immer schon leben, ist Ausdruck davon. Es ist jedoch auch ein anderer – eventuell nicht defizienter – Modus des Umgangs in dieser Struktur möglich. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 99106 Autor: Wolfhart Henckmann Artikel Wolfhart Henckmann Marginalien zu „Mythos und Moderne“ Gleich in der ersten Zeile versichert K.H. Bohrer, daß der von ihm herausgegebene Sammelband Mythos und Moderne (Frankfurt 1983, abgek. MuM) „keine Rückkehr zum Mythos“ propagiere. Das ist beruhigend. Kaum jemand hätte zu sagen gewußt, wohin ihn eine solche Rückkehr führen würde. Diejenigen. die etwas von Mythen und dergleichen Dingen verstehen, verstehen von ihnen sehr Verschiedenes auf unterschiedliche Weise. Dies könnte allerdings nur einen Positivisten irritieren, der seinen Ehrgeiz darein setzt, alles Wissenswerte auf einheitliche Weise schwarz auf weiß geschrieben und ebenso gedacht in seinen Besitz zu bringen. K.H. Bohrer scheint mit einem solchen Denken zu sympathisieren, wenn er glaubt, in der gegenwärtigen Diskussionslage bereits eine „szientifisch geklärte Bedeutung“ der Begriffe „Mythos“ und „Moderne“ voraussetzen zu können (MuM 8) – ein um so eindrucksvollerer Glaube, weil er so gut wie von keinem der anderen Beiträger geteilt wird (was auch ziemlich fatal gewesen wäre). Ein Sammelband wie der vorliegende braucht also Leser mit einer anderen Einstellung, als sie der Herausgeber zu haben scheint, er braucht Leser, die die Grautöne zwischen schwarz und weiß, auch alle möglichen Farbkontraste zu schätzen wissen. Für solche Leser sind Auffassungsunterschiede kein Manko, sondern ein vielversprechendes Zeichen für die Schwierigkeiten, den Reichtum, die Wolfhart Henckmann Komplexität und die Tiefe der Sache, die zur Diskussion steht. Doch andererseits neigen sie wiederum zu dem Glauben, daß die Ergebnisse, die die Forscher von ihren Expeditionen in die Gefilde des Mythos zurückbringen, um so zuverlässiger und authentischer sind, je mannigfaltiger und widersprüchlicher sie sich darstellen. Wenn diese Forschungsergebnisse dann auch noch übersichtlich wie die Bilder einer Ausstellung präsentiert werden, glauben wir überdies, eine souveräne Beherrschung der komplizierten Materie vorzufinden, so daß ein Bildungs-, möglicherweise sogar ein Aufklärungseffekt nicht ausbleiben kann; worin auch immer er bestehen mag. Im Untertitel verspricht der Band „Begriff und Bild einer Rekonstruktion“ zu vermitteln. Hiermit ist zunächst wohl die theoretische Rekonstruktion jener „paradoxen Beziehung“ gemeint (MuM 8), die mit dem Titel „Mythos und Moderne“ angesprochen ist. Von der aus insgesamt 24 Beiträgen bestehenden „Rekonstruktion“ sollen „Begriff und Bild“ ausgestellt werden: teils ganz bescheiden ein „Bild“ davon, wie sich die paradoxe Beziehung von Mythos und Moderne auf der Basis der verschiedenartigen Beiträge darstellt, teils soll sehr viel anspruchsvoller die so vielfach gebrochene paradoxe Beziehung, hegelisch gesprochen, „auf den Begriff gebracht werden“ sicherlich ein interessantes, ja faszinierendes Programm! Einem bereits etwas informierteren Leser fällt möglicherweise die Ähnlichkeit mit der Konzeption eines anderen Sammelbandes auf, der, zwölf Jahre zuvor erschienen, einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der gegenwärtigen Aktualität des schwergewichtigen Problems gehabt hat ich meine den von M. Fuhrmann herausgegebenen Bd. IV von „Poetik und Hermeneutik“: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (München 1971, abgek. TuSp). Natürlich ist 1983 ein anderer Stab von Autoren am Werke, demzufolge gibt es andere Auffassungen, außerdem werden nicht mehr zweieinhalbtausend, sondern „nur noch“ zweihundert Jahre Mythenrezeption reflektiert, und auch innerhalb des den beiden Werken gemeinsamen Zeitraums werden andere Mythenrezipienten behandelt; es gibt also keine wesentlichen Überschneidungen, wenigstens nicht im Thematischen. Aber es gibt eine Übereinstimmung in der zugrundeliegenden Fragestellung. Mit den Worten des Vorgängers Marginalien zu „Mythos und Moderne“ lautet sie: „Welche Funktion, welche Realität ... hat jeweils ‘Mythisches’ in nicht-mehr-mythischer Zeit?“ (Fuhrmann, TuSp 9). In dem früheren Band folgten die Antworten einfach dem Gang der Rezeptionsgeschichte, aus der unterschiedliche partielle Sachaspekte herausgehoben wurden. Im 1983 erschienenen Band werden die letzten zweihundert Jahre Mythenrezeption insofern stärker strukturiert, als sie auf drei Abschnitte verteilt werden: „Die romantische Rekonstruktion“, „Im Banne der Modernität“ und „Nach dem Mythos-Verbot“. Diese Strukturierung bleibt allerdings wirkungslos, weil sie durch die Beiträge immer wieder unterlaufen wird. Keines der beiden Unternehmungen hat Wert darauf gelegt, einen halbwegs vollständigen oder wenigstens einen die wichtigsten Standpunkte umfassenden Überblick über die internationale oder auch nur nationale Mythenrezeption der jeweiligen Zeiträume zu geben; was insofern verständlich sein mag, als das in der Kürze der Zeit, in der ein Thema aktuell ist, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht. zu realisieren gewesen wäre. Taubes hat allerdings das Desiderat empfunden und seinem Beitrag dankenswerterweise eine „Orientierungstafel und Literaturhinweise“ angehängt (MuM 468-470). Ansonsten haben sich beide Unternehmungen dem viel unkonventionelleren, manchmal auch kreativeren Konzept der „interdisziplinären Forschung“ verschrieben. Innerhalb dieses geistigen Spielraums üben sie Themenbewältigungsverfahren aus, die man als „exemplarische Studien“ bezeichnen kann „exemplarisch“ nicht nur in Hinsicht auf die ausgewählten Autoren, die als wichtige und interessante Mythenrezipienten hingestellt werden (nicht in allen Fällen auf überzeugende Weise, was wiederum nicht immer der· behandelten Autoren anzulasten ist – Stifter, Nietzsche in allen möglichen Perspektiven, Mussolini, C.G. Jung, Rilke u.a.), „exemplarisch“ auch in Hinsicht auf die Art und Weise, mit Mythen und Mythenrezeption in einer „nichtmythischen Zeit“ umzugehen: in keinem Beitrag spürt man etwas von der Nähe oder der Macht, vom „Terror“ des Mythos. Unter solchen Voraussetzungen scheint eine „Rückkehr zum Mythos“ oder, je nach der Bewegungsrichtung, eine „Wiederkehr des Mythos“ wirklich nicht zu befürchten zu sein. Ist also ein moderner Odysseus endgültig vor dem überwältigenden Sirenengesang des Mythischen gesichert? – Gewiß, so si- Wolfhart Henckmann cher eben immer schon das theoretische Wissen vor dem verführerischen Zauber und dem finsteren Grauen des Mythischen zu sichern vermocht hat, einschließlich der Mittel von Betrug und Selbstbetrug; denn nicht umsonst ist durch Horkheimer und Adorno der listenreiche Odysseus zum paradigmatischen Mythos der Mythenbewältigung avanciert, so daß er auch in diesem Bande immer wieder angerufen wird. Damit deutet sich die eigentliche Dimension der philosophischen Problematik der Mythenrezeptions-Reflexion an: Welche Bedeutung hat das Mythische für die Selbsterkenntnis der Vernunft, bzw. wie muß sich die menschliche Vernunft begreifen, damit sich ihr das Mythische adäquat erschließt? Wir nehmen diese Frage als die Marge, von der aus wir einige Blicke in Bohrers Ausstellung von „Begriff und Bild einer Rekonstruktion“ werfen wollen. Es versteht sich von selbst, daß dabei nicht alle Beiträge zu ihrem Recht, und daß diejenigen, vor denen wir mehr oder weniger zufällig stehenbleiben, auch nur kurz in Betracht kommen können. Zugegeben, dieses Verfahren ähnelt demjenigen, das die Mitarbeiter von MuM zu ihren Mythenrezipienten eingenommen haben, und dessen Berechtigung wir alle, durchdrungen vorn Glauben an die Legitimität der interdisziplinären Forschung, vielleicht allzu sorglos voraussetzen – dabei ist nicht einmal auszuschließen, daß eine solche Einstellung vor allem davor sichert, daß innerhalb des Horizonts des reinen, sich seiner selbst gewissen Wissens etwas Mythisches und damit etwas von dem Anderen und dem AndersSein der Vernunft auftaucht; mit anderen Worten: das Paradoxe an der „paradoxen Beziehung“, die Bohrer in der Beziehung zwischen Mythos und Moderne feststellt (MuM 8), existiert möglicherweise gar nicht, oder allenfalls als ein Gedankenspiel! Was man also in Bohrers Ausstellung vorfindet, sind die Bilder und Begriffe, die sich die Beiträger von ihrem gesicherten Standpunkt aus über das Verhältnis Mythos-Moderne bei den von ihnen behandelten Autoren gemacht haben. Dabei wird z.B. bei M. Frank, der den Leser davon überzeugen will, daß der „Mythos nicht das Gegenteil, sondern die Kontrolle des analytischen Logos im Namen einer Totalität“ sei (MuM 19) – welcher Totalität, ist natürlich gleichgültig. Die eigene Position, von der aus die rekonstruierende Tätigkeit ausgeht, wird dennoch nie grundsätzlich in Frage gestellt, nicht einmal von Marginalien zu „Mythos und Moderne“ dem erschlossenen Bild und Begriff des Mythischen aus. Es werden auch nicht die behandelten Autoren daraufhin befragt, ob ihnen das Mythische und die Mythen zu einem authentischen Problem geworden sind – ein Phänomenologe würde sagen, ob die behandelten Autoren (aber auch ihre Rekonstrukteure) sich eigentlich „das Mythische selbst“, und nicht vielmehr nur irgendein Abbild davon, zu unvermittelter Anschauung gebracht hätten. Wir müssen es dem geneigten Leser überlassen, sich ein Bild und Begriff von dem Szientismus der verschiedenen Positionen zu machen, der den Bildern der Ausstellung von MuM zugrunde liegt, etwa indem er zu rekonstruieren versucht, was alles unter den beiden Titelbegriffen faktisch vorausgesetzt worden ist. Blumenberg hatte seinerzeit gefragt, ob das Mythische in einer nichtmythischen Zeit in einer anderen Gestalt als in der des Ästhetischen erscheinen könne (TuSp 13). Diese bedenkensvolle Frage ist bei Bohrer ganz ins Affirmative umgeschlagen: der „nicht abgegoltene Überschuß des ästhetischen Potentials“ sei heute nicht mehr länger mit wissenschaftlicher Rationalität oder politischer Vernunft, sondern „mit dem mythischen Bild kompatibel“ (MuM 7). Der Begriff des „ästhetischen Potentials“ gehört ebenso wie „Mythos“ und „Moderne“ zu den zwar als gesichert vorausgesetzten, dennoch aber ungeklärten Potentialen, auf die sich die meisten Beiträger wie auf etwas von selbst Verständliches glauben stützen zu können. Vergeblich! Bleibt bei Blumenberg noch eine lange Tradition der Unterscheidung zwischen dem Ästhetischen und Künstlerischen mit gutem Grund erhalten, so ist sie insbesondere bei denjenigen Beiträgern, die die Beziehung zwischen Mythos und Moderne über das ästhetische Potential auszuloten versuchen (vor allem im dritten Abschnitt von MuM), ins Unterscheidungslose zurückgesunken. Dem Leser wird sogar zugernutet, als Quintessenz dieser geistigen Nebelbildung einen neuen Fetisch anzuerkennen, das „Kreative“. Denn am Beispiel der letzten Phase der Mythenrezeption, „vornehmlich an zeitgenössischen künstlerischen Konstrukten (Literatur, Malerei, Film)“, zeige sich, „daß der Mythos, trotz der vorangegangenen weltanschaulichen Manipulation, qua Ästhetik (gemeint ist sicherlich nicht die Wissenschaft, sondern die künstlerische Konstruktion, d.Verf.) dort wieder notwendig wird, wo Kreatives entsteht“ (MuM 10). Wolfhart Henckmann Was dabei herauskommt, wenn Mythos und Vernunft im „Ästhetischen“ vermittelt werden, zeigt sich z.B. an den vorn französischen PostStrukturalismus erhellten Geistesblitzen, mit denen N.W. Bolz die „graue Theorie abendländischer Vernunft“ an eine „ästhetische Lust an der mythischen Textur“ verjubelt. Nietzsche und Heidegger werden heranzitiert, um die Rückkehr der mythischen Rede in das Zentrum der Wissenschaften zu beglaubigen. Die „traditionelle Disjunktion von erzählender, mythischer und wissenschaftlicher Redeweise“ wird zugunsten einer „polyphonen Rede“ (MuM 480) abgesetzt, die nur noch nach dem Prinzip der ästhetischen Lust beurteilt sein will. Dieses Prinzip ist weder im individuellen noch in einem transzendentalen Subjekt verankert, sondern allein in der polyphonen Rede selbst, die wie ein Traum durch das von Levi-Strauss beschworene subjektlose Bewußtsein geistert. Eine solche Rede kreiert und feiert die Rückkehr des Mythos in der Gestalt, die sie ihm zu geben vermag, und gibt als dessen Notwendigkeit aus, daß sie sich an ihn veräußert hat, und zwar total: „Denn den Menschen gibt es nicht“ (MuM 490). – Da ist Odysseus also doch noch das Opfer der Sirenen geworden. Auf dem Stand- oder besser Schwebe- und Fluchtpunkt dieser ästhetischen Überwindung wissenschaftlicher Verbindlichkeit muß einem Polyphoniker das Festhalten am Prinzip begrifflicher Unterscheidung und ausreichender Begründung wie ein Rückfall in die eben erst überwundenen finsteren Zeiten der Aufklärung erscheinen. Ein noch nicht ganz durchästhetisierter Leser freut sich dagegen, wieder etwas Boden unter den Füßen zu fühlen, wenn B. Hüppauf wenigstens schon einmal zwischen dem Mythos der archaischen Völker und der „mythischen Denkweise“ der jüngeren und heutigen Völker unterscheidet. Das mythische Denken habe sich immer schon gegen alternative Wirklichkeitsauffassungen durchsetzen müssen (MuM 510 ff.), ist also in unseren Zeiten nicht mehr konkurrenzlos wie der archaische Mythos in der Vorgeschichte. Diese Unterscheidung erlaubt, ja verlangt sogar, die Formen mythischen Denkens in unseren Zeiten auf die gesellschaftlichgeschichtliche Entwicklung zu beziehen. Hüppauf vertritt die These, „daß das mythische Denken in der modernen Welt sich aus den scheiternden Krisen (?) der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt hat“ (MuM Marginalien zu „Mythos und Moderne“ 510, vgl. 522). Statt den sich abzeichnenden Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Praxis konsequent zu entwickeln, zieht er sich auf die schöne Literatur zurück, die mit Hilfe von „hellen Mythen“, vorwiegend aus außereuropäischen Kulturen, uns krisengeschüttelten Abendländern ermöglichen soll, in ein humaneres und produktiveres Verhältnis zur eigenen Geschichte zu treten (MuM 525) – Odysseus entzieht sich hier also einfach dadurch seiner kritischen Situation, daß er einen Ausflug in die Südsee unternimmt, um sich abends mit freundlichen, an Zehen und Schnäbeln beschnittenen Sirenen zu unterhalten. Wie man sieht, hat man sich den „dunklen“ griechischen Mythos einfach aus dem Kopf zu schlagen und an die leere Stelle die „hellen“ Mythen zu setzen. Nicht weniger friedlich geht es zu, wenn man J.-Chr. Ammann lauter verschiedene mythische Gehalte der Malerei der sechziger und siebziger Jahre (Mario Merz, Joseph Beuys, Enzo Cucchi, J.F. Müller u.a.) wie aus einer Botanisiertrommel herausziehen, benennen und ausbreiten sieht – was für eine Parodie auf das uns allen zugutegehaltene Wissen, „daß wir ohne Mythen nicht auskommen“ können! Mythen werden dabei verstanden „als die bildhafte Möglichkeit der Verzeitlichung, um uns wieder zu erkennen; als eine kontinuierliche, potentiell ständig wirksame Kraft, die immer wieder neu interpretierbar ein Gewebe von Sinnorientierungen zuläßt“ (MuM 545) – das alles bleibt so flach, wie es eben die Lippenbekenntnisse von Ästheten sind. Da ist dann noch glaubwürdiger, was G. Böhm über die „Erneuerung oder Verstärkung einer zeitgenössischen mythenbildenden Potenz“ schreibt. Die in der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts feststellbaren Formen der Mythopoiese führt er auf den „Prozeß einer Übersetzung“ zurück, „bei dem Aporetik und Grenzen unserer eigenen Erfahrung als Bild von etwas erscheint, das uns übertrifft“ (MuM 531). Übertrifft uns aber wirklich etwas? Allerdings, aber was das ist, davon erfährt der Leser nichts, und demzufolge erhält er auch keine Antwort auf die Frage, was sich in der mythenbildenden Kunst eigentlich abspielt, oder abwürgt. Im Gegenteil, der Leser wird beruhigt: der bildnerische Mythos ist die „interpretatorische Vergegenwärtigung“ dessen, „was war, ist und sein wird“ (MuM 532) – da haben wir nicht nur alles, was einmal Böll unter die Leerformel „jenes höchsten Wesens, welches wir alle verehren“ ge- Wolfhart Henckmann bracht hat, sondern auch dessen Vergegenwärtigung in allen möglichen Interpretationen – die Götter Griechenlands, Ozeaniens oder des Abendlands haben abgedankt, sie werden beherrscht durch die neue Zauberkunst der Interpretation! Die bildnerischen Interpretationen seien zwar außerhalb des Herrschaftsbereichs des „Ideals der methodisch strengen Wissenschaft“ beheimatet (MuM 533), nichtsdestoweniger stellen sie alle eine legitime "Erkenntnisweise“ innerhalb der großen Familie von menschlichen Erkenntnisweisen dar Odysseus Hermeneuticus begrüßt in den Sirenen seine ein wenig fremdelnden und nur optisch, dies dann auch noch auf kauderwelsche Art redenden Schwestern, mit denen man aber aufregende und abwechslungsreiche Gespräche erleben kann. Mitten in Bohrers Ausstellung stößt man plötzlich auf einen alttestamentarischen Propheten, der sich keine mythische Erfahrung für eine verbindliche Erkenntnis vormachen läßt. Das aktuelle Reden über Mythen und Mythologie, das interdisziplinär glitzernde „Lob des Polytheismus“ ist für ihn nichts anderes als ein „Rückfall in eine mythische Geisteslage“ (MuM 464). Demgegenüber erinnert er an das Faktum der Unumkehrbarkeit der Geschichte und an die ethische Verantwortung des Erkennens, d.h. an die nach wie vor aufgegebene „Geschichte der Subjektivität“. Er fegt den gesamten Odysseus-Mythos aus dem Tempel und verweist auf Jeremia und Hesekiel, die die eigentliche und wahre „Urgeschichte der Subjektivität“ exponiert hätten (MuM 461 f.). Es gehe nicht um einen „Mann ohne Eigenschaften“, der gegenüber dem Guten wie dem Bösen, dem Wahren wie dem Falschen seine rekonstruierenden Hände in Unschuld wasche, sondern es gehe einzig und allein um „Umkehr“, die unerläßliche Voraussetzung für eine deutliche Unterscheidung zwischen der Vorgeschichte der Mythen und der wahren Geschichte, die durch das Christentum inauguriert worden sei. Unter Berufung auf den späten Schelling der positiven Philosophie empfiehlt J. Taubes den Anhängern von O. Marquards „Lob des Polytheismus“ (vgl. den von H. Poster herausgegebenen Band Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin 1979, S. 40 ff.), „von einer Philosophie der Mythologie zu einer (selbstverständlich!) ‘aufgeklärten’ Philosophie der Offenbarung vorzustoßen“ (MuM 465). Einzig dieser Beitrag ist es, der das philosophische Problemfeld in aller Radikalität freilegt und eine Stellungnahme verlangt, Marginalien zu „Mythos und Moderne“ die sich nicht mit einem eirenischen Sowohl-Als auch, sondern nur mit einem entschiedenen Entweder-Oder zufriedengibt. Nichts mehr von einem spielerischen oder medialen Vergegenwärtigen der noch unabgegoltenen semantischen Potentiale mythischer Schichten des Bewußtseins oder der von Idolen besetzten Ursprungsdimensionen der Vernunft, sondern Rückbesinnung und Verpflichtung auf die nicht bloß theoretische, sondern zugleich moralische Aufgabe der Selbsterkenntnis der Vernunft. Es bedarf keiner großen prophetischen Gabe um vorauszusehen, wie Taubes’ engagierte Aufforderung zur Selbstbesinnung unter den Rezeptionsbedingungen der ästhetischen Moderne aufgenommen wird. Habermas hat die wesentlichen Momente dieser Gesinnung in der Aufwertung des Transitorischen, in der Feier des Dynamismus und in der Verherrlichung der Aktualität und des Neuen gesehen (MuM 422), alles Umschreibungen des Selbstgenusses in der Haltung der Unverbindlichkeit –: Taubes’ Aufruf zur Selbstbesinnung sei zwar nichts Neues, wird man sagen, oder vielmehr schon so alt, daß er geradezu mythisch wirke, und was für eine power der Alte habe, m an solle sich die Rede dieses „Rufers in der Wüste“ ruhig öfter mal reinziehen, gerade heute habe das so was irres Aktuelles! Und in der Ausstellung von so vielerlei Bildern und Begriffen der Mythenrezeption wird man sagen hören: „Gut gebrüllt, Löwe!“ (Genau, Sommernachtstraum V/1) Also wird es – voraussichtlich – bei einem modernen Odysseus bleiben, der dem Sirenengesang der interdisziplinären Forschung sein aufmerksames Ohr leiht und zufrieden ist, an gerade diese Verhältnisse gebunden zu sein. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 107111 Autor: Alfred Gomez- Muller Artikel Alfred Gomez- Muller Über die mythisch-rationale Verzauberung Der Ausgangspunkt des hier zu erörternden Problems einer möglichen „Rehabilitation des Mythos“ ist die Frage nach der Mythisierung (mythicité) oder Nicht-Mythisierung (non-mythicité) der Geschichte. Diese Wahl rechtfertigt sich nicht nur methodologisch, weil die Frage nach einer „Rehabilitation des Mythos“ selbst durch den kulturellen, sozialen und politischen Kontext determiniert erscheint, der wesentlich durch die Krise der Geschichte (1’Histoire) gekennzeichnet wird. Das Interesse kann daher nicht sein, sich über den Mythos im allgemeinen oder über das Problem der Zusammenhänge von Mythos und Vernunft zu verbreiten, sondern, ausgehend von der konkreten Erfahrung der Krise der Geschichte, besser über die Möglichkeiten der alltäglichen Auseinandersetzung mit der Welt nachzudenken. Entzauberung Die westlichen Industriegesellschaften leben bis zum heutigen Tag von der Entzauberung. Die Mythen verkümmerten und ließen Millionen von Menschen ohne Halt zurück. Heute haben weder der Glaube an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum noch der Fortschritt der Technik für einen allgemein gewordenen Wohlstand die gleiche Macht sozialer Integration wie noch vor 20 Jahren. Diese Vorstellungen enthüllen sich heute Über die mythisch-rationale Verzauberung einer wachsenden Zahl von Menschen als zerbrechliche Geisteskonstrukte, also als Mythen, die keine andere Beschaffenheit haben als die, die ihnen von den besonderen geschichtlichen Verhältnissen vorläufig angeheftet wurde. Die Entzauberung, nicht nur eine Nebenerscheinung der aktuellen Krise, erfaßt ebenso einen großen Teil dessen, was man die Kultur der Linken nennen könnte – im weitesten Sinn dieser beiden Begriffe. Die Arbeiterklasse „ist nicht mehr das, was sie war“ (H. Lefebre, A.d.Ü.), und gewisse Leute beeilen sich sogar, den „Abschied vom Proletariat“ (A. Gorz, A.d.Ü.) zu proklamieren; die Wirklichkeit in den Ländern des „real“ existierenden Sozialismus erschöpfe sich in der pseudo-magischen Formel des „Gulag“, die mit dem Adjektiv „tropisch“ („tropical“) versehen auch dazu dient, die revolutionären Erfahrungen in der dritten Welt zu definieren. Und, mit dem Sturz des „Mythos“ von der Revolution stürzt der „Mythos“ der Geschichte. Auf der Ebene der philosophischen und ideologischen Praxis drückt sich die Entzauberung in der Krise der Geschichtstheorie aus, und ganz besonders in der Krise der marxistischen Geschichtsinterpretation. Die „postmoderne“ Ideologie, heute in Frankreich sehr in Mode – obgleich die französische Linke in all ihren Schattierungen einen der größten Rückschläge ihrer Geschichte erfuhr –, versichert, daß die „große Erzählung“ („récit universel“) im allgemeinen gestorben sei und daß die „Rückkehr der großen Erzählung der Geschichte ein Rückfall sein würde“1. Feststeht, daß es heute schwierig, wenn nicht unmöglich ist, die Rationalität in der Geschichte in der Art von Hegel oder Marx zu postulieren. Aus mehreren Gründen: - Die gegenwärtige Wissenschaft hat den wissenschaftlichrationalen Mythos vom eindeutigen (‘transparente’) Wissen um die Realität zersplittert; - man wurde sich der Tatsache bewußt, daß die Vernunft wie das Sein sich auf vielfältige Weise ausdrücken, und daß im Konflikt der verschiedenen Arten von Vernunft die Möglichkeit der Unversöhnlichkeit mindestens so viele Chancen hat wie die der Versöhnung; 1 Jean-François Lyotard: Gespräch mit C. Descamps. Le Monde, 14.10.79. Alfred Gomez-Muller - im Lichte der Geschichte des 20. Jahrhunderts kann die marxistische Perspektive eines Sieges über die Entfremdung mit gutem Recht eher „mythisch“ als „rational“ erscheinen. - Darüber hinaus ist die Situation unserer Welt schmerzlicherweise vom Absurden gekennzeichnet. Gabriel Garcia Marquez erinnerte kürzlich anläßlich eines Treffens der „Gruppe der Sechs für Frieden und Abrüstung“, daß die erstaunliche Geduld des Universums – das 180 Millionen Jahre brauchte, um eine Rose das Tageslicht erblicken zu lassen, und das vier geologische Zeitalter benötigte u m die Menschen „zu befähigen, schöner als die Vögel zu singen und bis in den Tod zu lieben“ – jeden Moment von der Zerstörungswut des vernunftbegabten Wesens vernichtet werden kann2. Während jede Minute mehr als eine Million Dollar für Rüstung ausgegeben werden, sterben jährlich 40 Millionen Menschen den Hungertod. Sollte es sich dabei um eine „List“ der Vernunft handeln, ist es auf jeden Fall eine ziemlich selbstmörderische. Verzauberung Wie lautet nun die Antwort auf die Entzauberung? Für die, die sich mit der Entzauberung nicht abfinden, kommt die Versuchung auf, eine neue Verzauberung zu schaffen. Man gibt zu, daß die Geschichte ein „Mythos“ sei, aber man rechtfertigt diesen Mythos, indem man die mythische Dimension als eine wesentliche Dimension des Menschen betont, die zu seiner Entwicklung notwendig sei; der Mythos habe in erster Linie soziale „Funktion“; der „Mythos“ der Geschichte habe eine soziale, politische, psychologische, kulturelle etc. Integrationsfunktion. Die „Rehabilitation des Mythos“ zeigt sich so als eine Abwehrreaktion gegenüber der Entzauberung. Den Mythos der Geschichte zu „rehabilitieren“ heißt, die Geschichte erneut als Verzauberung zu verstehen. Die Verzauberung erscheint sich als die beste Antwort auf die Entzauberung: Zunächst, weil Ver- und Entzauberung eine gemeinsame Natur be2 Gabriel Garcia Marquez: Einleitungsreferat zur Aufnahme Mexikos in „die Gruppe der Sechs für Frieden und Abrüstung“. Ixtapa (Mexiko), 6.8.86. Die Gruppe der Sechs besteht aus: Mexiko, Argentinien, Griechenland, Schweden, Indien und Tansania. Über die mythisch-rationale Verzauberung sitzen. Unter dem. Vorzeichen (‘mode’) der Entzauberung enthüllt die Geschichte einen magischen Charakter: Der Sinn (‘Sens’) ist in allen geschichtlichen Ereignissen bereits vorhanden, so daß selbst in den schlimmsten Niederlagen letzten Endes der Sieg doch gewiß ist. Der Sinn ist hier ein mit Hinterlist eingeführter Fetisch (‘idole’), um sich existentiellen Halt zu verschaffen. Die Entzauberung ihrerseits bedeutet dabei nicht den Ausgang aus der Magie, sondern bleibt dem Magischen verhaftet. Entzauberung definiert sich über eine ursprüngliche Verzauberung. Diejenigen z.B., die heute den Revolutionen und Revolutionären der dritten Welt nicht den kleinsten Irrtum zugestehen, mystifizierten früher den Menschen der dritten Welt. Dieser war kein Mensch mehr – gekennzeichnet sowohl durch seine ontologische Endlichkeit als auch durch ideologische und sozialgeschichtliche Bedingungen und Determinationen –, sondern eine Art „reinen Geistes“, fähig das Praktisch-Träge (‘pratico-inerte’, J.P. Sartre, A.d.Ü.) zu manipulieren wie ein Jo-Jo. Diese magische Sicht ignorierte völlig die „Sachzwänge“ (‘la force des choses’). Die Entzauberung geht scheinbar rigoros vor, bleibt aber in der Abstraktion gefangen: zu Ende gedacht, gleicht das Ent-Zauberte der Hegelschen „schönen Seele“, die sich weigert, im Spiel der Vermittlungen, durch das sich die abstrakten Prinzipien auf der Ebene der Tatsachen darstellen, „sich die Hände schmutzig zu machen“. Müßte man in zwei Worten das ideologische Klima charakterisieren, das momentan in Frankreich herrscht, würde man ohne zu zögern das Bild der „schönen Seele“ benutzen eine der verzweifeltsten Metaphern für die Entfremdung. Für die „schöne Seele“ ist der Schein mit dem Sein identisch. Die Freiheit – z.B. ist für sie nur ein rein geistiges Prinzip, und die Vermittlung, die immer vorläufige Vermittlungsschritte impliziert, wird als Verrat abgeurteilt. Sie gibt nicht zu, daß die Verwirklichung der Freiheit in einer sich bewußt werdenden Gesellschaft in bestimmten Momenten bestimmte Beschränkungen z.B. der Pressefreiheit erforderlich machen kann. Verschanzt hinter der Abstraktion und einer es sich leicht machenden Unversöhnlichkeit des reinen Prinzips, bleibt sie blind gegenüber konkreten historischen Umständen, in welchen und durch welche sich die Freiheit historisch realisiert. Daher beeilt man sich, der sandinis- Alfred Gomez-Muller tischen Regierung das Etikett des „Stalinismus“ – oder, im Modejargon des „Totalitarismus“ – anzuheften, weil sie die Flut von Haß und Diffamierung, die jeden Morgen von einer propagandistischen Presse produziert wird, zu beschränken und zu kontrollieren sucht. Darüber hinaus führt der Begriff der „Rehabilitation des Mythos“ immer auf die Frage zurück: wer rehabilitiert den Mythos? Der Begriff „Rehabilitation“ setzt zunächst eine Verurteilung voraus. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Verurteilung des Mythos durch die Vernunft: Der Mythos wurde als illusionär und unwahr abgetan. Nun kann ja in der Regel eine Person die ihrer Rechte beraubt wurde, nur von derselben Autorität rehabilitiert werden, die die Verurteilung ausgesprochen hat. Die Idee seiner „Rehabilitation“ konfrontiert den Mythos mit der wohlbekannten höheren Instanz, die Anspruch auf ein universales Urteil erhebt: die Vernunft. Daher verliert ein möglicher Ausgleich zwischen Mythos und Vernunft seine Substanz, und kann am Ende auf die einfache Manipulation des Mythos durch die Vernunft reduziert werden – wie bei G. Sorel, für den der Mythos ein entscheidendes „Mittel“ darstellt die Gegenwart zu beeinflussen3. Sollte sich die „Rehabilitation des Mythos“ als einfache Nutzbarmachung des Mythos durch eine Vernunft verstehen, die sich ihrer Endlichkeit bewußt ist – bewußt in erster Linie ihrer Unfähigkeit, die Vielfalt der Vernunft zu versöhnen, d.h. das Handeln des Menschen ethisch zu begründen –, so erscheint dieses Vorhaben wie der Anfang eines zum Scheitern verurteilten Spiels mit einer sich selbst setzenden Vernunft als einziger Legitimationsgrundlage. Dies bedeutet einen Rückfall in den Teufelskreis der Konflikte der auf sich selbst gestellten Vernunft. Über die Verzauberung und die Entzauberung Die Krise der Geschichte ist die Aufdeckung der Mythisierung der Vernunft als grundlegende Kategorie der Geschichte. Die Antwort auf die Entzauberung kann daher nicht die Forderung nach einer neuen Verzauberung sein, sondern das radikale Überschreiten des Kreislaufs von Verzauberung-Entzauberung-Verzauberung. Überschreiten meint: eine 3 Georges Sorel: Réflexions sur la violence. Paris 1972, 152. Über die mythisch-rationale Verzauberung nicht-magische Erfahrung der Geschichte machen. Nicht-magische Erfahrung heißt, daß sie sich nicht auf die Sicherheit beruft, wie sie den mythisch-rationalen Totalisierungen (‘totalisation’ ) anhaftet. Was ist nun diese nicht-magische Erfahrung der Geschichte? Überlassen wir die Erklärung einer bedeutenden Gestalt der Geschichte, dem Kubaner Jose Marti (1853-1895). Als Philosoph, Dichter und Kämpfer für die Unabhängigkeit seines Landes, steht Marti für ein entscheidendes Moment im Entwicklungsprozeß der lateinamerikanischen Identität. Für Marti bedeutet Geschichte, ausgehend vom Kontext und den Umständen seiner Epoche, das Auftauchen eines selbstbewußten (Latein-) Amerikas, das sich in der Zukunft, frei, unabhängig und selbständig dem Konzert der Nationen anschließt. Nun, und dies ist der entscheidende Punkt, interpretiert Marti die Geschichte (Lateinamerika) nicht als Rechtfertigung, die bereits gegeben oder erreicht ist, sondern als Aufgabe: „Ich bin ein Sohn Amerikas: ihm bin ich verpflichtet“4. Ausgehend von ihrer Endlichkeit stellt sich die Geschichte als Aufgabe dar. Für den Menschen als geschichtliches Wesen (‘l’être histoire’), das sich als solches realisiert, bildet jene Aufgabe die grundlegende Instanz. Sie bestimmt die verschiedenen möglichen Beschaffenheiten des Mythos und der Vernunft. Jene Aufgabe ist kein Mythos, denn im Unterschied zu diesem ist sie wesentlich Öffnung für das Andere. Während der Mythos ein Versuch der Totalisierung der Realität ist, die von einem Ich und/oder einem Wir ausgeht, welche sich zur Begründungsinstanz der Totalisierung verselbständigen, ist die Aufgabe für den seine Geschichte machenden Menschen eine andere: sich seiner ursprünglichen Verantwortung in Hinblick auf die An-/Abwesenheit (‘présence/absence’) bewußt zu werden, die alle Sicherheit und alle historische Totalisierung überspringt: das „Andere“. Die Aufgabe ist auch nicht auf die Vernunft reduzierbar, die an und für sich nur eine andere Form der Totalisierung, ausgehend vom Selbst, ist5. 4 Jose Marti: Brief an F.T. de Aldrey, 27.7.1881, in: Marti por Marti, Havanna 1982, 196. 5 In den theoretischen Diskursen findet sich das Thema des Bezugs von ethischer Letztbegründung (angenommen ist eine Ethik des Anderen) und Vernunft in den wohl heftigsten Debatten des zeitgenössischen Denkens: Erinnert sei, auf philoso- Alfred Gomez-Muller Die Aufgabe übersteigt das Rationale wie das Mythische und weist beiden den ihnen gemäßen Platz zu. Durch diese Zuweisung, die den Anspruch auf Selbstbegründung von Vernunft und Mythos aus sich selbst heraus untergräbt, tauchen neue Formen des Rationalen wie des Mythischen auf: Vernunft muß nun ethisch und damit auch politisch verstanden werden. Weit entfernt von irgendeiner ideologischen Überfrachtung kommt die Vernunft erst eigentlich zu ihrem Wesen. Die Vernunft, von jener Aufgabe verändert, knüpft in einer Hinsicht an die griechische Philosophie an, für die die Vernunft ursprünglich auf Harmonie und Gerechtigkeit ausgerichtet war. Ebenso verändert jene Aufgabe den Mythos, der nicht mehr nur die imaginäre Konstruktion eines Ich (‘d’un Moi’) oder eines isolierten Wir, sondern das Symbol einer Wiederbegegnung und Beziehung ist. „Ich bin der Sohn Amerikas: ihm bin ich verpflichtet.“ Diese Aufgabe geht Hand in Hand mit der Entdeckung einer Beziehung, einer Nähe und einer wesentlichen Erscheinung, die in der Metapher der „Verkettung“ („filialité“) ausgedrückt wird. Die Geschichte [Lateinamerika) ist kein Fabelgebilde, sondern die Begegnung mit einer Andersheit (‘alterité’), die zugleich An- und Abwesenheit ist: Marti interpretierte seine Öffnung für die Geschichte (seine geschichtliche Verantwortung) als Verpflichtung seines Lebens gegenüber der „Wiedergeburt“ (‘révélation’), der Entfesselung (‘le dégourdissement’) und der dringenden Begründung (‘la fondation urgente’) (Latein-) Amerikas6. Wiedergeburt einer latenten Anwesenheit (‘présence’), d.h. einer Anwesenheit, die sich schon in der Abwesenheit (‘absence’) ankündigt; Entfesselung („sacudimiento“; sacudir: aufrütteln, in Bewegung bringen, A.d.Ü.), die von einer gewissen Schwerfälligkeit der Geschichte ausgeht, der Widerstand des Praktisch-Trägen, der in allem historischen Fortgang am Werk ist; Begründung, die das Handeln des Menschen bestimmt, der phischer Ebene, an die Interpretation von E. Lévinas über das Gesicht als Ursprung des Intelligiblen (vgl. „Philosophie, Gerechtigkeit und Liebe“, in: Concordia, Internationale Zeitschrift für Philosophie, Nr. 4, Aachen-Paris 1983, S. 4B); für die Theologie der Befreiung definiert der Peruaner Gustavo Gutierrez die theologische Praxis als den sekundären Schritt. Der erste Schritt sei das solidarische Engagement für den Nächsten (vgl. Teologia de la liberación. Perspectivas, Salamanca 1980, 35). 6 „Y de la America, a cuya revelaciön, sacudimiento y fundaciön urgente me consagro ... . J. Marti, op.cit., 196. Über die mythisch-rationale Verzauberung Protagonist seiner eigenen Befreiung in und durch seine Ko(r)respodenz mit dem Anderen ist. Das Andere ist genau das, was nach dem Begriff Lévinas die Ordnung des Sinns (‘ordre du Sens’) eröffnet. Ausgehend von der Öffnung für das Andere – eine Öffnung, die schon beim ersten Mal auf die Aufgabe des Engagements für die Gerechtigkeit hindeutet – kann der Sinn der Geschichte gedacht/versinnbildlicht werden. Sein und Öffnung haben nichts „Mythisches“: Sich dem Anderen öffnen, es ethisch annehmen heißt, es ernst nehmen und bedeutet konkret die Bemühung um eine Veränderung der historischen Bedingungen, die hier und jetzt die Humanität des Menschen zerstören. Das Überschreiten der Ver- und Entzauberung meint, den drängenden Aufschrei des Anderen im allgemeinen Geschrei der Welt zu hören, d.h., arbeiten in der Unvollendetheit der verschiedenen historischen Entwürfe an der notwendigen Begründung des Menschlichen. Aus dem Französischen übersetzt von Angelika Rauch und Manuela Günter. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 99106 Autoren: Jürgen Kocka, Reinhard Kühn, Michael Stürmer Artikel Stellungnahmen zu drei Fragen zum Verständnis der Geschichte 1. Die Konzeption eines Museums für deutsche Geschichte entfachte eine Diskussion um die deutsche Identität. Zeigt sich nach Ihrer Meinung in dieser Diskussion eine Indienstnahme der Historie durch neokonservative Politik und Ideologie, um in der Bundesrepublik ein nationales Selbstbewußtsein zu installieren? 2. Inwiefern sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der propagierten Aufwertung von Begriffen wie „Nation“, „Heimat“ oder „Vaterland“ und dem wachsenden Bedürfnis in der Öffentlichkeit nach sinnstiftender Einheit? 3. Welche Funktion kommt Ihrer Ansicht nach der Geschichtswissenschaft in diesem Prozeß zu? Stellungnahmen Professor Dr. Jürgen Kocka (Bielefeld): Die vorliegende Konzeption eines Deutschen Historischen Museums (nicht: Museums für deutsche Geschichte) in Berlin ist ein offener, liberaler, Gedanken der Aufklärung verpflichteter Entwurf, der zu einem pluralistischen und kritischen Umgang mit unserer Geschichte auffordert. Er ist kein Produkt neokonservativer Einseitigkeit. Die Diskussion um die deutsche Identität ist viel älter als die Museumspläne der Regierung. Sie bewegt mehr eine kleine Gruppe professioneller Sinndeuter als die breitere Bevölkerung. Sie muß nicht zu neokonservativen Ergebnissen führen und auch nicht zur Hervorhebung des nationalen Selbstbewußtseins. Schließlich sind wir nicht nur Deutsche, sondern etwa auch Bürger der Bundesrepublik und Europäer, oftmals auch stark verwurzelt in einer Region, einer sozialen Bewegung, einer Kirche etc. All diese Identitäten haben etwas mit Geschichte zu tun. Es ist normal, mehrere Loyalitäten und Identitäten zu haben. Nichts spricht dafür, die nationale Identität, deren Belastungen bekannt sind und deren Sinn einstmals klarer war, besonders zu privilegieren (ebenso wie es falsch wäre, sie zu leugnen und zu verdrängen). Die Geschichtswissenschaft hat unter anderem die Aufgabe, diese Zusammenhänge aufzuklären. Von verschiedenen politischen und ideologischen Positionen her wird man Verschiedenes von ihr erwarten, und in ihr bestehen verschiedene Strömungen. Die Verpflichtung auf wissenschaftliche Standards hält sie zusammen und schützt sie, im Prinzip, gegen ideologische Instrumentalisierung von außen. Eine neokonservative Indienstnahme der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zeichnet sich nicht ab. Durch Information und Kritik kann die Geschichtswissenschaft zur Sinndiskussion indirekt beitragen. Direkte Antworten auf Sinnfragen kann sie keinesfalls bieten. Aber sie kann vielleicht zeigen, daß einheitliche Lösungen der Sinnfragen in komplexen Gesellschaften nur um den Preis der Freiheit zu haben sind und daß „Bedürfnis nach sinnstiftender Einheit“ – wie stark ist es eigentlich wirklich? – selbst in Frage zu stellen ist. Stellungnahmen Professor Dr. Michael Stürmer (Erlangen): Zu Ihren drei Fragen darf ich mich wie folgt äußern: 1. Die Antwort lautet: Nein. 2. „Europas Lebensfähigkeit hängt davon ab, daß der Faden der Erinnerung nicht zerrissen, daß die Baudenkmäler, Bilder und Grundrisse der Vergangenheit nicht zerstört, die Produkte der europäischen Kultur nicht verdrängt und vergessen werden, mit einem Wort, daß Europa als Gedächtnis dieser gefährdeten Welt erhalten bleibt. Zur sozialen Demokratie gehört deshalb untrennbar die Idee von Geschichtlichkeit und Identität.“ Diesen Worten von Peter Glotz, SPDManager, ist zuzustimmen, mit dem Zusatz, daß die Idee von Geschichtlichkeit und Identität auch zur liberalen Demokratie gehört. „Die Debatte um die deutsche Geschichte als ‘Identität’ wird in der Bundesrepublik von einer neo-konservativen Stimmung beherrscht.“ Dieser Aussage von Peter Glotz ist nicht zuzustimmen, verrät aber einen interessanten Defätismus des Mannes, der mit Gramsci der europäischen Linken die geistige Hegemonie zurückgewinnen will, die sie verloren hat, seitdem ihr der Fortschritt abhanden kam. 3. Erlauben Sie mir, mich selbst zu zitieren (Dissonanzen des Fortschritts, 1986): „Die Historie muß von allem Anfang der Legende, dem Mythos, der parteiischen Verkürzung entgegentreten. Das bleibt ihr Dilemma: Sie wird vorangetrieben durch kollektive, großenteils unbewußte Bedürfnisse nach innerweltlicher Sinnstiftung, muß diese aber in wissenschaftlicher Methodik abarbeiten.“ Abschließend hat dazu Max Weber bereits 1904 gesagt, was Soziologen und Sozialphilosophen seitdem überwiegend durch Mißachtung honorieren: „Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er will.“ Stellungnahmen Professor Dr. Reinhard Kühnl (Marburg): 1. Ja. Ich meine allerdings, daß diese „neokonservative Ideologie“ auch weit in die Sozialdemokratie reicht. Mir erscheint es besser, von einem „neuen Nationalismus“ zu reden der diese neuen Museumsprojekte in Gang gesetzt hat und fördert. 2. Ohne Zweifel besteht ein Zusammenhang. Das „Unbehagen“‘ über die sog. „Uniformierungstendenzen der industriellen Weltzivilisation“, die viele nationale Eigenheiten zerstört hat, ist sicherlich weitverbreitet. Es stellen sich aber einige Fragen, die über diese Feststellung hinausgehen. Es müßte nämlich genauer nachgeforscht werden, auf welche Probleme hier von wem auf welche Weise geantwortet wird. Ausschlaggebend ist, wie der Begriff der „Nation“, der „nationalen Identität“ und der „nationalen Frage“ inhaltlich bestimmt wird von denen, die davon reden, und mit welchen politischen Zielen diese Begriffe verbunden sind. 3. Die Aufgabe der Politikwissenschaft, von der ich hier nur reden kann, ist es, diese verwendeten Begriffe und die politischen Ziele zu analysieren und verständlich zu machen. Die „Probleme der Deutschen“, auf die die Diskussion über die „nationale Frage“ immer wieder zu sprechen kommt, sind eine Fiktion. Die Politikwissenschaft hat die bestimmten Problemlagen und Bedürfnisse zu unterscheiden; denn diese entspringen nicht spontan dem Innenleben der Individuen, sondern bilden sich heraus in einer Wechselbeziehung mit den Informationen und Interpretationen, die ihnen präsentiert werden. Und diese werden konzipiert unter dem Aspekt der Sicherung und der Förderung der herrschenden Kräfte. Deren Lage und Interessen müssen also in jede Diskussion über eine „nationale Identität“ usw. einbezogen werden wenn die gegenwärtigen Entwicklungen verständlich werden sollen. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 117156 Bücher zum Thema Besprechungen Bücher zum Thema Stefano Cochetti Mythos und „Dialektik der Aufklärung” Königstein 1985 (Hain-Verlag), geb., 432 S., 68.- DM. Der vorliegende Band ist Cochettis Dissertation, mit der er 1982 im Frankfurter Institut promoviert hat. Anhand eines umfangreichen Materials aus der Ethnologie und der vergleichenden Religionswissenschaft zum Verhältnis von Mythos und Aufklärung will Cochetti gewissermaßen die „Kehrseite der ‘Dialektik der Aufklärung’“ liefern. Sein wesentlicher Einwand gegen Adorno und Horkheimer besteht darin, daß beide – und mit ihnen die „Frankfurter Schule“ – trotz ihrer Kritik an der Aufklärung noch immer Vertreter einer evolutionären Geschichtsauffassung gewesen seien, die selbst das Produkt der abendländischen Aufklärung sei. Diese „Verstrickung“ versucht Cochetti anhand der Aussagen der „Dialektik der Aufklärung“ über das mythische Denken, über die Magie und das Opferritual nachzuweisen. Adorno und Horkheimer hätten bei dem Vergleich des bannenden Charakters des magischen Zaubers mit dem des aufklärerischen Denkens nicht zur Kenntnis genommen bzw. nicht nehmen wollen, daß der Magier ursprünglich – auch wenn er auf die Natur zu seinen Zwecken einwirken wollte – diese in ihrer Lebendigkeit nachgeahmt habe, während die Ratio, in Gestalt der Naturwissenschaften, heute bloß die tote Natur nachahmt; das magische Denken war noch eingebunden in den Kosmos, ein Denken, das noch nicht von der Wirklichkeit isoliert war, „das Subjekt (konnte) das Objekt durch eine rituell korrekte Nachahmung beeinflussen“ (15). Ebenso legten Adorno und Hork- Bücher zum Thema heimer bei der Erklärung des Opferrituals die neuzeitlichen, säkularisierten Kategorien eines „do, ut des“ an, die zwar für die bürgerliche, nicht aber für frühere Gesellschaft gelten würden; die Opferung sei kein Tauschhandel mit den Göttern gewesen, wie Adorno und Horkheimer meinten, sondern sei geschehen, um den Mächten der kosmischen Ordnung dazu zu verhelfen, die Ordnung der „kosmischen Gleichung“ (179) wiederherzustellen. Bei allem Kenntnisreichtum in der Detailkritik der ‘Dialektik der Aufklärung’ ist, wie schon gesagt, die Grundlage der Arbeit Cochettis Kritik am Evolutionismus und, damit verbunden, am europäischen Ethnozentrismus, deren Ursprung er schon in der Genesis des „Alten Testaments“ sieht: die „stufenweise vollbrachte Schöpfung Gottes müsse als eine Reihenfolge von Repliken verstanden werden, die sich einem einzigen Modell immer mehr annähern: Gott selbst“ (252). Diese Kosmogonie sei das Urmodell des Evolutionismus. Das geschichtliche Resultat dieses Prozesses aber sei nicht Gott, sondern, im Gegenteil, der Totalitarismus der Vernunft, die „Metaphysikwerdung der Aufklärung als Selbstüberhebung und Hypostasierung ihrer Leitidee der Gleichheit“ (351). Die Aufklärung schlage nicht nur (wie im Faschis- mus) in einen „Mythos“ um, sondern die Vernunft selbst, indem sie sich vom Mythischen trennt, vollende sich in den Systemen des Bolschewismus, Maoismus und PolPots. Nicht die Evolution, sondern die fortschreitende Involution sei das Charakteristikum unserer Zeit. Adorno und Horkheimer seien – so die Quintessenz seiner Kritik – auf dem ‘linken Auge’ allzu blind gewesen. Sie hätten zwar den antiaufklärerischen Mythos des Faschismus vor Augen gehabt, aber nicht hinreichend die Verwalter der Aufklärung selbst. Zwar radikalisiert Cochetti damit die Aufklärungskritik über Adorno und Horkheimer hinaus; sie hängt bei ihm allerdings weitgehend in der Luft. Warum gerade die Bauernrepublik in Kambodscha unter Pol Pot (und mit Einschränkungen auch in Maos China) die Vollendung einer Aufklärung sein soll, die mit dem Judentum ihren Anfang genommen habe, wird nicht einmal im Ansatz plausibel gemacht. Allzuoft scheint da der Antikommunismus die Hand des Philosophen geführt zu haben. Alexander v. Pechmann Hans-Jürgen Heinrichs Die katastrophale Moderne Frankfurt/Main, Paris 1984 (Qumran-Verlag) Bücher zum Thema Es herrscht nicht nur Endzeitstimmung, es herrscht Endzeit. Das Rationale ist nur Deckmantel. „Verdeckt Magisches, Pseudo-Magisches“ bestimmen die Wirklichkeit. Die Katastrophe ist irrational. „Der Mensch“ steuert auf sie zu, „wir“. An Aufklärung der Verhältnisse glaubt Heinrichs nicht. Nicht klare Machtverhältnisse und klare Interessen bestimmen den Weltlauf, sondern Magisches. Die Oberfläche steht für die Sache selbst. Für ihn steckt Irrationales hinter dem scheinbar Rationalen. Daß vielmehr Rationales hinter dem scheinbar Irrationalen stecken könnte, daß es eine Rationalität im Rahm en bestimmter Interessen geben könnte, die nicht die unsren sind, leugnet er. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Veranstaltern der Katastrophe und den Teilnehmern; die „Aufspaltung in Verantwortliche und Nicht-Verantwortliche“ (97) habe sogar verschleiernden Charakter! So gesehen bleibt Realität in der Tat weder „lebensweltlich noch wissenschaftlich oder künstlerisch“ erfaßbar. Bei aller Katastrophennähe gibt es den Wunsch nach dem Fortbestand der Welt. Für Heinrichs kristallisiert er sich allerdings nicht in klaren Gedanken zur Sache, in antizipierendem Handeln, in konkreten Utopien oder im Kampf um andre Verhältnisse – für ihn kann er nur noch in „magischer Überhöhung – Opferungen, Beschwörungen, ritualisierter Hoffnung“ (21) artikuliert werden. Ideologiekritik und Aufklärung reichten nicht mehr aus, den „modernistischen Magismus“ zu analysieren: „Unser Bewußtsein und Alltagshandeln ist um so anfälliger für (pseudo-) magische Handlungen und Haltungen, je rationaler, pragmatischer und aufgeklärter wir uns zeigen“ (102). Auch das individuelle Aussteigen scheitert an „zum Teil unaufgeklärten Abhängigkeiten“. Immerhin werden Aussteiger im eignen Land kurz lobend erwähnt, da so „ein nicht unbeachtlicher Teil der Bevölkerung vor Asozialität und Kriminalität geschützt und für die Gesellschaft wieder ‘nützlich’ gemacht werden kann“ (51). Heinrichs schöpft keinen Verdacht, wenn z.B. ein Berliner Sozialsenator die Übernahme unbequemer Arbeiten durch Idealisten erfreulich findet. Ein Ausstieg im eignen Land im Widerspruch gegen die herrschenden Interessen kommt dagegen nicht vor. Auch die Reise als Vorform des Aussteigens (Aussteigen auf Zeit, vom „Neckermann-Reisenden“ bis zum „Mytho-Touristen“) verfällt ebenfalls der Kritik: Undurchschaut, normiert. Nach der Einstimmung in die Endzeit und der Diffamierung der Überlebensstrategien wendet Hein- Bücher zum Thema richs sich dem (deutschen) Alltag zu: Sprachkritik und Alltagsfeldforschung. „Kulturanalyse ist immer auch Textanalyse. Sie versucht, das ‘selbstgesponnene Bedeutungsgewebe’ des Menschen zu lesen“ (48). An „Neusprache“ und „Mischterminologien“ werde deutlich, daß irgend etwas nicht stimmt in diesem Land; das zeige auch die Fülle der Fundsachen der Alltagsfeldforschung. Die Freude über das Material (Was es so alles gibt ...) übertrifft allerdings die kritische Wertung. Während Benjamin noch den Anspruch hatte, „in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken“, ist hier mikroskopische Betrachtung zur Mode geworden: irgend etwas wird schon jeder Gegenstand sagen! Die Schutzkleidung des Motorradfahrers wird zum magischen Gewand (115: „Das Aussehen der sich so Schützenden soll, ihnen nicht bewußt, zur Bannung des Unglücks beitragen“ – vielleicht ist dann die Vermummung von Demonstranten gar kein Schutz gegen eine konkrete Gefahr, sondern Ausdruck eines mythischen Todesrituals?), der Fahrradtacho der 50er Jahre wird zum „Standard-Luxus“ der „Wieder-Besitzenden“ und Superman füllt gar „die Leere im Bewußtsein des seine Geschichte vergessenden Subjekts“ (120). Irgendwas hat das Ganze auch mit Freikörperkultur zu tun (52), die erklärende Anmerkung 20 fehlt leider, so werden wir nicht erfahren, was es ist. Heinrichs beschreibt richtig das Erlebnisdefizit und die Methoden der Ausgrenzung des „Heterogenen“, die er mit Recht nennt und auch gut beschreibt. Doch letzten Endes deckt er die Phänomene der Alltagsmagie mit einer Fülle unscharfer Begriffe aus dem Bereich des Irrationalen wieder zu: Ritual, Schicksal, Magie, Pseudomagie (?), Mythos. Begriffe wie Macht, Profit und Interesse tauchen dagegen nicht auf. „Die Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins“ (Marx) findet nicht statt. Die Dinge werden „rationalistischirrationalistisch“ (99, was immer das heißt – vielleicht soll das Dialektik sein?), die Moderne wird „magischmythisch-technokratisch“ (101). Zuletzt gerät die Katastrophe selbst zur Sinnstiftung: „In den Katastrophen überschreitet der moderne Mensch seine homogene Welt auf das Existentielle und Bedrohliche, auf das Göttliche und Opfernde (?), auf das Heil und Unheil hin“ (108). Endzeit ist die „Sehnsucht nicht mehr sein zu müssen“ (21), das „Streben zum Tod“ ist allumfassend (132). Trotz allem: „Schicksal und Erlösung gibt es noch! Nur müssen wir alle mitarbeiten an der Veränderung unserer Welt koste es, was es wolle! Auch wenn sich die Verände- Bücher zum Thema rung schließlich nur als Beschleunigung des Scheiterns“ erweisen sollte (133). Das hat etwas Tröstliches und zudem werden die Produzenten der Katastrophe „als Opferbringer am ‚Tag danach’ selbst geopfert werden“ (121). Alles klar? P.S.: Das Buch ist mit 11 Abbildungen ausgestattet mit 7 Sinnsprüchen (von der Hlg. Schrift bis Nietzsche) abgesichert und z.Z. vergriffen. Carl Freytag Kurt Hübner Die Wahrheit des Mythos. München 1985 (Beck-Verlag), Leinen, 465 S., 48.- DM. Was vor einem Jahrzehnt noch als nahezu undenkbar schien, daß die Wissenschaftstheorie sich positiv dem Mythos zugewandt hätte, wird seit der Verunsicherung über ihre eigenen Grundlagen häufiger. Eine der wichtigen Arbeiten in diesem Rahmen ist das Buch des Kieler Wissenschaftstheoretikers K. Hübner „Die Wahrheit des Mythos“. Hübner setzt voraus, daß unsere Kultur sich heute nicht mehr auf der Grundlage jenes Aufklärungsprogramms verstehen läßt, das den Mythos durch die wissenschaftliche Erkenntnis ablösen wollte, sondern daß ein tiefer und grundsätzlicher „Zwiespalt unserer Kultur“ herrsche. Dieser sei geprägt durch das Neben- und Gegeneinander einer wissenschaftlichen, vorwiegend ana- lytischen, Rationalität einerseits und einer, vor allem künstlerischen, Zuwendung zum All-Einen des Mythischen andererseits. Es hätten sich zwei konkurrierende Formen von Wahrheitsansprüchen geltend gemacht, die Hübner zum einen mit Descartes, Newton und Einstein, zu m anderen exemplarisch mit Hölderlin und mit der Wirkungsgeschichte der griechischen Mythologie identifiziert. In ihr zeige sich das griechische Denken als diesseitig, als ein Denken, das noch nicht die klare Unterscheidung zwischen Materie und Geist, zwischen den rein materiellen Naturgegenständen und ihnen als beseelten und begeisteten numinosen Wesen vollzogen habe, wie später das Christentum und die neuzeitliche Wissenschaft. Der griechische Mythos schwanke zwischen der numinosen und der profanen Ebene; im einzelnen Getreidekorn war unmittelbar und ganz die Göttin Demeter anwesend, die physische Erde und die göttliche Gaia waren ununterschieden. Die Gegenstände – so Hübner – konnten daher nicht auf Begriffe gebracht werden. „Hier fungiert der Name eines numinosen Wesens oder Gottes wie ein Begriff“ (113). Dennoch hatte der Mythos alle Kennzeichen eines rationalen Erklärungsmodells. Er sei keine Ausgeburt wüster Phantasien gewesen, Bücher zum Thema sondern ein in sich geschlossenes System der Erfahrung, das Mittel zur systematischen Erklärung und Ordnung bereit- und hergestellt habe. So stürmt im Mythos z.B. der kalte Nordwind Boreas nicht des Luftdruckausgleichs zwischen Hoch und Tief wegen – wie die Wissenschaft sagt –, sondern weil der Gott Poseidon tobt; und immer wenn Poseidon tobt, stürmt’s. So bietet also der Mythos ebenso ein Modell der Deutung und Erklärung empirischer Phänomene an und steht damit mit der Wissenschaft zunächst auf einer Stufe. Befinden sich für Hübner also Mythos und Wissenschaft zwar als Rationalitätsmodelle auf einer Ebene, so möchte er dennoch zeigen, daß wir heute keine andere Wahl mehr haben als die zur Wissenschaft. So anregend und faszinierend uns die Mythen auch oft erscheinen mögen (und auch sollen), so gäbe es doch keinen Auszug aus der wissenschaftlich-technischen Welt. Ja, er zeigt von dieser Prämisse aus, daß die Übernahme des Mythischen in unsere Zeit diesen nur in politisch gefährliche „Pseudo-Mythen“ verwandeln würde, die an verschüttete Erfahrungsformen anknüpfen, sie jedoch mißbrauchen. Vor diesen Tendenzen will er warnen, gerade indem er den Mythos in sein Recht zu setzen versucht. Das Buch bietet eine Fülle anregender Interpretationen und Deutungen aus der griechischen Mythologie und aus der Gegenwart des Mythischen in Malerei und Musik, die den Rationalitätsgehalt in ihnen aufdecken wollen. Es ist ein gelungener Versuch, im Bereich der Wissenschaftstheorie und Philosophie zwischen Wissenschaft und Mythos zu vermitteln, diesen nicht weiterhin auszugrenzen, sondern sich neu anzueignen. Dieser Vermittlungsversuch gelingt Hübner allerdings nur aufgrund der Relativierung der „Wahrheit“, aufgrund seiner Einebnung und Leugnung des Unterschieds zwischen der objektiven Wahrheit einerseits und bloß intersubjektiven Rationalitätsmodellen andererseits. Alexander v. Pechmann Tamás Kürthy Dornröschens zweites Erwachen. Die Wirklichkeit in Mythen und Märchen Hamburg 1985 (Hoffmann und Campe), broschiert, 207 S. In seiner „Märchenkunde“ (10) versucht der Autor, Professor für Grundlagen der Erziehungswissenschaft an der TH Aachen, sich den Märchen sowohl von der wissenschaftlich reflektierenden wie von der spontan erlebenden Seite zu nä- Bücher zum Thema hern. Es geht ihm darum, „ihre (der Märchen, d.Verf.) Entstehung, Symbolik ihre Beziehung zu Träumen, zu religiösen und weltanschaulichen Richtungen und zur Realität (12) zu verdeutlichen. Märchen enthalten, so Kürthy, „ewige Wahrheiten“, die über die ihnen inhärenten und sie konstituierenden Symbole und ihre Sprache vermittelt werden. Insofern stellen Märchen ein Verbindungsglied zwischen konkreter Realität und Magie dar. Eine Kostprobe einer solchen „ewigen Wahrheit“ führt sogleich zum Argumentationsmuster des Autors. Aus der Feststellung, daß Märchen normalerweise dem traditionellen Rollenbild von Mann und Frau verpflichtet sind, schließt Kürthy: „Aber lebt nicht in jedem Mädchen auch heute noch die Sehnsucht nach einer eigenen Familie und im Mann die nach Bewährung im Kampf?“ (93). Diese Sorte von rhetorischen Fragen ist charakteristisch für Kürthys Stil. Weder wissenschaftlich noch spontan erlebend, sondern borniert blind bestätigt er gängige Rollenklischees. Zu einer Analyse fühlt sich der Autor nicht bemüßigt – sein Geschäft sind Mutmaßungen und Spekulationen. „Es hat den Anschein als näherten wir uns einer neuen Zweiklassengesellschaft: ,der Klasse der Aktiven und der der Passiven“ (97). Es hat den Anschein ... es kann auch ganz anders sein: Die Vieldeutigkeit des Sujets macht es Kürthy leicht, sich in Beliebigkeiten zu ergehen. Die überaus nichtssagende Einteilung der Menschen in „Aktive“ und „Passive“ sieht der Autor in den Figuren der Goldmarie und der Pechmarie als mythische Vorbilder im Märchen der Frau Holle eindeutig symbolisiert. Dem entsprechend. entscheidet sich „Glück und Unglück des einzelnen“ (101) daran, wie er sein ‘Schicksal’ zu nehmen weiß. Den Ursprung von Märchen und Mythen sieht Kürthy in dem Bedürfnis aller Menschen und Völker nach „Selbsterhöhung, ja nach Selbstüberhöhung“. Daß diese Sehnsucht ganz ‘natürlich’ sein soll, ist wohl der Beitrag Kürthys zur Rehabilitation des Mythos. Die „Vernunft des Bildes“, die Vielschichtigkeit von Märchen werden meistens behauptet, nicht bewiesen, geschweige denn kritisch geprüft. Das Anliegen Kürthys, Märchen wieder stärker in die Pädagogik einzubeziehen, ist durchaus wünschenswert; seine affirmativen, unreflektierten Spekulationen sind jedoch keineswegs hilfreich. Manuela Günter Willi Oelmüller (Hg.) Wiederkehr der Religion. Religion und Philosophie Bd. 1 (Kolloquien zur Gegenwartsphilo- Bücher zum Thema sophie) Paderborn 1984 (Verlag Schöningh) Wahrheitsansprüche der Religionen heute. Religion und Philosophie Bd. 2 (Kolloquien zur Gegenwartsphilosophie) Paderborn 1986 (Verlag Schöningh) Zwanzig hochqualifizierte Herren, Theologen und Philosophen wie Robert Spaemann, Trutz Rendtorff, Hermann Krings, und eine Frau, Ruth Dölle-Oelmüller, haben sich zusammengesetzt, um über das Thema „Wiederkehr von Religion?“ zu beraten. Bereits bei der Themenstellung gehen die – ausführlich diskutierten – Schwierigkeiten los: Sind Friedens- und Ökologiebewegung, „New Age“ oder Jugendreligionen Indizien für eine Renaissance des Themas Religion? Oder zeigen sie auf, daß es derzeit Impulse auf dem Weg zur „neuen Unmittelbarkeit“ gibt, die nicht unter dem Begriff Religion zu fassen sind? Bei der ersten Annäherung gelingen Walter Ch. Zimmerli erstaunliche Formulierungen: „Was wir erstaunlich finden, ist also eigentlich gar nicht erstaunlich, sondern immer schon so gewesen. Daß wir aber derart Nicht-Erstaunliches trotzdem erstaunlich finden, das ist das eigentlich Erstaunliche ...“ (15-16). Nach langwierigen Diskussionen über die Relationen von Mythos/Religion, Religion/Politik, Re- ligion/Kirche, Katholizismus/Protestantismus, christliche Religionen/nichtchristliche Religionen ist man sich einig, das Thema nicht erschöpfend behandelt zu haben. Eine ähnliche Fragestellung in ähnlicher Besetzung behandelt der ebenfalls von Willi Oelmüller herausgegebene Sammelband „Wahrheitsansprüche der Religionen heute“. Oelmüller: „Wie kann man heute ... auf der gesellschaftlich-politischen Ebene über Wahrheitsansprüche der Religionen sprechen ohne Fanatismus, Intoleranz und Dogmatismus, aber auch ohne Unglaubwürdigkeit und Bedeutungslosigkeit?“ (2). Interessant erscheint mir Wolfhart Pannenbergs Diskussionsbeitrag „Die Wahrheit Gottes in der Bibel und im christlichen Dogma“ (271-285), der aus dem Wahrheitsbegriff das Toleranzprinzip zu entwickeln versucht. Insgesamt wirkt die Diskussion zerfahren, Thesenbildung und Argumentationsgang sind nur schwer nachzuvollziehen. Das Konzept der zwei Bände ließe sich so beschreiben: Man nehme ein Thema, eine Reihe brillanter Referenten, lasse sie zum Thema Arbeitspapiere entwerfen und sie über die Papers diskutieren. Von der Diskussion fertige m an autorisierte Protokolle an und gebe alles mit einem Vorwort versehen in ein Buch fertig. Akademische Selbstbeweih- Bücher zum Thema räucherung auf hohem Abstraktionsniveau? Arthur Dittlmann Olga Rinne (Hg.): Der neue Entwurf der Welt. Ursprungsmythen Band 1, 167 S. Der verlorene Himmel. Ursprungsmythen Band 2, 164 S. Darmstadt/Neuwied 1985 (TB, Sammlung Luchterhand 506/507), je 12.80 DM. Olga Rinne, ihres Zeichens Malerin, erlegte sich mit ihren zwei Bänden der Erzählung von Ursprungsmythen die Mühe auf, aus bereits veröffentlichten Sammlungen Geschichten und Mythen (vor allem von Eskimos und Indianern) zur Entstehung der Weltordnung (Bd. 1) und zu der menschlicher und gesellschaftlicher Ordnung (Bd. 2) neu zusammenzustellen. Neben einigen einleitend-zusammenfassenden Sätzen zu den einzelnen Aspekten, in die diese neuerliche Anthologie gegliedert ist – beispielsweise der „Entstehung des Wetters“ oder der „Lehrzeit der Menschheit“ –, gibt die Herausgeberin in den kurzen Vorworten der beiden Bändchen Auskunft über ihr Anliegen: „Es geht darum, das in der Gesellschaft Verdrängte, das Irrationale, Spielerische, Improvisierte, das was keinen offensichtlichen Nutzen hat, das Nicht-Zweckgerichtete, das Chaoti- sche, Emotionale, Schöpferische (die Sammlung ist nicht vollständig) in unser Bewußtsein zurückzuholen, das Denken in Zyklen dem des permanenten Fortschritts und Wachstums gegenüberzustellen, das Denken in polaren Strukturen dem dualistischen, das Aushalten von Paradoxem und Widersprüchen einzuüben“ (506,11), besonders auch, da „die Moral, die sich in den Mythen enthüllt, derjenigen widerspricht, die unsere Kultur zu verkünden gewöhnt ist“ (507,12). Für solch ein Unternehmen, soll es denn schon sein, hätte sich der Rezensent einen weniger sachlichen Stil in der Mythenerzählung gewünscht. Wolfram Wenzel Sonja Rüttner-Cova Frau Holle – Die gestürzte Göttin. Märchen, Mythen, Matriarchat Basel 1986 (Sphinx-Verlag), brosch., 208 S., 29,80 DM. Das vorliegende Buch hat sich zur Aufgabe gemacht, Märchen psychologisch zu interpretieren. Die Autorin, Matriarchatsforscherin und Psychoanalytikerin in Zürich, versucht vor allem am Märchen der Frau Holle die „kollektive Menschheitsentwicklung“ (11) nachzuvollziehen. „Wenn heute von Frauen die Geschichte aufgerollt wird, u m historische Geheimnisse, die verdrängt, Bücher zum Thema ausgeklammert oder falsch überliefert wurden, aufzuarbeiten, so läuft hier auf kollektiver Ebene ein dem psychoanalytischen Prozeß ähnlicher Akt ab“ (11). Rüttner-Cova geht davon aus, daß alle Menschen in ihrer frühen Kindheit eine seelische Entwicklungsstufe im Mutterumfeld durchlaufen, das sie als „psychisches Matriarchat“ bezeichnet. Sie setzt kollektive Verdrängungs- und Verleugnungsmechanismen gegenüber Frauen- bzw. Muttermacht im Patriarchat gleich mit den Abwehrmechanismen der einzelnen Individuen. Diese könnten im Volksmärchen aufgespürt werden. Auf der Suche nach dem „vorpatriarchalen Weltbild“ (11) führt die Spur über die Märchenfrau Holle zur germanischen Muttergottheit Holla, die sich im wesentlichen kaum von den großen Muttergottheiten. anderer Kulturkreise unterscheidet. „Ist die religiöse Vorstellung auf eine ganzheitliche Göttin zentriert, so ist Alles – Geformtes und Ungeformtes – die Göttin und Teil der Göttin“ (81). Der Glaube an diese vielfältige Ganzheit bedeutet endlos Zyklisches, mit der Natur und dem Kosmos verbundenes Dasein. Im Märchen, so die Autorin, könne man aber nicht nur die matriarchalen Wurzeln der Menschheitsentwicklung wahrnehmen, sondern auch den patriarchalen Zugriff, die Überformungen und Verzerrungen. Mit der Entmachtung der Großen Göttin durch den patriarchalen christlichen Vatergott korreliert die paranoide Spaltung der Frau in Heilige und Hure, Maria und Hexe, sowie die totale gesellschaftliche Entrechtung und Degradierung zum Anhängsel des Mannes. Nach Rüttner-Cova hat dieser Prozeß irrationale Rollenbilder fixiert, unter denen Frauen wie Männer leiden. Die Emanzipation aus diesen Rollenfixierungen könne also nur stattfinden durch eine bewußte Auseinandersetzung mit den matriarchalen Wurzeln. So interessant und lehrreich die Ausführungen über „Frau Holle – die gestürzte Göttin“ auch sind, die Problematik des Denkansatzes wird schon in der Einleitung deutlich: Rüttner-Cova begnügt sich nicht damit zu informieren, Spuren aufzuzeigen, sie will therapieren – und zwar einen Patienten, den sie „Gesellschaft“ nennt. Die Hybris vieler Psychoanalytiker, die „Gesundung der Menschheit“ und die Lösung sogar globaler Probleme qua Psychotherapie zu vollbringen, hat leider auch von Sonja Rüttner-Cova Besitz ergriffen. Auch zur „Verwirklichung echter Partnerschaft“ zwischen Mann und Frau gehört nicht nur die Auseinandersetzung mit Vergangenem, son- Bücher zum Thema dern vor allem die bewußte Reflexion der gesellschaftlichen Realität. Manuela Günter Rolf Vogt Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung oder das Rätsel der Sphinx, Frankfurt/Main 1986 (Qumran/Campus), 182 S., 17 Abb., 26.80 DM. Zum Autor: Rolf Vogt arbeitet als praktizierender Psychoanalytiker in Heidelberg und hat den Lehrstuhl für Psychologie der Universität Bremen inne. In seiner Studie geht es Vogt vor allem um die Klärung der Stellung der Psychoanalyse zwischen Mythos und Aufklärung und um ihr spezielles Verhältnis zum Mythos, da dieses trotz der zentralen Bedeutung des Ödipusmythos bis heute weitgehend unbeachtet geblieben ist. Die Abhandlung gliedert sich in drei Abschnitte: 1. In der Auseinandersetzung mit Nietzsche, Horkheimer und Adorno, Kolakowski und Blumenberg bemüht sich Vogt um einen „übergreifenden erkenntniskritisch akzentuierten Begriff des Mythos“ (8). 2. Im zweiten Teil geht es dem Verfasser um eine psychoanalytische Deutung des Sphinx-Rätsels, wobei alle antiken griechischen Versionen systematisch einbezogen werden. Der Autor versteht das Rätsel der Sphinx im doppelten Sinn: als das, was sie aufgibt, und als das, was sie ist. 3. Im letzten Teil wird die ÖdipusSphinx-Szene mit der Entstehungssituation der Psychoanalyse konfrontiert: Freud steht für Ödipus, wird zu dessen mythischem Doppelgänger, während die Sphinx das Unbewußte repräsentiert. Die Grundlegung der Psychoanalyse durch Freud sei so als Fortsetzung des Ödipusmythos aufzufassen, „wobei sich das schon den antiken Versionen inhärente Aufklärungsmoment radikal nach der selbstreflexiven Seite hin entfaltet“ (9). Die Psychoanalyse markiert auf diese Weise die Übergangsstelle des Ödipusmythos in Aufklärung, indem sie das Rätsel eben nicht mehr mythologisch, sondern rational zu lösen versucht. Die Entdeckung des Unbewußten sieht Vogt deshalb als einen epochalen Schritt in der Geschichte des menschlichen Bewußtseins. Durch die Berücksichtigung der in der therapeutischen Praxis stattfindenden Gegenübertragung im Reflexionskontext des Analytikers erfolgte historisch jedoch gleichzeitig auch „ein Rückzug von den kulturkritischen Aspekten der Freudschen Psychologie“ (9). Die klinische Ausrichtung zeigte zunehmend eine Abwehrhaltung gegenüber psychoanalytischer Kulturtheorie. Damit Bücher zum Thema fiel der kritische Rahmen für eine Reflexion der Folgen der psychoanalytischen Institutionalisierung weg, die zwar einerseits zur Selbsterhaltung notwendig war, andererseits historisch überholbare Formen und Inhalte hypostasierte und dogmatisierte. Damit zerstörte sie ihren aufklärerischen Impuls. „An die Stelle von reflektierten Verhältnissen treten undurchschaubare Machtstrukturen“ (9). Aufklärung schlägt um in Mythologie. „Die institutionalisierte Psychoanalyse wird allmählich und lautlos wieder zur Sphinx: undurchschaubar, untangierbar, kritisches Bewußtsein und Emanzipation verschlingend“ (I54). Einen Ausweg aus dieser Misere, in der Analytiker trotz besseren Wissens an überholten Paradigmen festhalten, sieht Vogt einzig und allein darin, „die Psychoanalyse in ihrer ungeschmälerten Breite wieder zum Thema der Psychoanalytiker zu machen“ (154), d.h. ihren Sphinxcharakter zu reflektieren und damit möglicherweise zu durchbrechen. Aufklärung muß wieder als mühevoller Prozeß betrachtet werden, der nicht durch die Pionierarbeit eines einzelnen (in diesem Falle Freuds) beendet ist. Nur so kann Versuchen begegnet werden, mit der Kritik an der Rationalität einer Rehabilitation des Mythos den Weg zu ebnen. Manuela Günter Raimondo Panikkar Rückkehr zum Mythos. aus dem Englischen von B. Bäumer Frankfurt 1985 (Insel-Verlag), geb., 251 S., DM 38.- DM. Mythen sind für Panikkar Ausdruck der menschlichen Grundbefindlichkeit. Mythos und Logos stellen zwei, nicht aufeinander reduzierbare Weisen des Bewußtseins dar, d.h. insbesondere, Mythos kann nicht aufgeklärt, nicht in Erkenntnis aufgelöst werden. Er entstammt einer „tieferen und daher universaleren Schicht des Menschseins (125) als Denken und Philosophie, bezeichnet einen „letzten Bezugspunkt“ (126) des Menschen. In den beiden indischen Mythen von Prajàpati und Sunah’sepa, deren Interpretation der Hauptteil des Werks gewidmet ist, sieht Panikkar die „unveränderlichen Größen der menschlichen Existenz“ (200) vollkommen ausgesprochen: die Kommunikation des Menschen mit Gott, die Anwesenheit des Todes, die Solidarität, d.h. Verbundenheit allen Lebens, das transzendentale Verlangen des Menschen. Rückkehr zum Mythos heißt daher Rückkehr des Menschen zu seinem Menschsein, Metanoia, Rückbesinnung, „Umkehr des Herzens und des Geistes“ (9). Auf sie gründet Bücher zum Thema Panikkar die Hoffnung auf die Lösung aller politischen und sozialen Probleme der Gegenwart, auf das Überleben der Menschheit. Rückkehr zum Mythos heißt insbesondere Rückkehr zur Toleranz, zur Moral und zur Freiheit. Toleranz steht dabei im Gegensatz zur Ideologie, dem „entmythologisierten Teil der eigenen Weltsicht“ [16), die nur das toleriert, was sie nicht ausrotten kann. Wirkliche Toleranz kann nur dem Mythos entspringen, dem Glauben nämlich, daß keine soziale Gruppe „die Ganzheit der menschlichen Erfahrungen umfaßt“ und dem „Vertrauen in den anderen, selbst wenn ich ihn nicht verstehe“ (131). Der Mythos ist die Grundlage für den Dialog zwischen den Kulturen, die „dialektische Methode“ hingegen nur eine „Form des kulturellen Kolonialismus, der davon ausgeht, daß eine einzige Kultur die Spielregeln für eine echte Begegnung der Kulturen formulieren Moral steht für kann“ Panikkar (132). im Gegensatz zur Reflexion, zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung des Individuums. Sokrates ist nicht der Begründer, sondern der Zerstörer der wahren Moral. Er hat durch sein Fragen, durch den Versuch, die Sitte unter den Zwang vernünftiger Rechtfertigung zu stellen, den Mythos zerstört und die Moral zu einer „pragmatischen Regelung ·der Ko- existenz“ [53) herabgewürdigt. Die Reflexion ist unfähig, zu begründen, was sein soll. Dazu bedarf die Moral des Mythos und mit ihm der docta ignorantia, des Glaubens. Freiheit steht im Gegensatz zur Geschichte. Der Mythos eröffnet eine „übergeschichtliche Gegenwart“ (226). Er befreit uns nicht nur „von der Bürde, alles ausdenken und durchdenken zu müssen“ (11), sondern überhaupt vom Kampf um eine bessere Zukunft. Menschliche Freiheit hat keine geschichtlichen Voraussetzungen. Sie ist keine Freiheit der Wahl, sondern eine Freiheit des Seins, die auf der Anerkennung der ewig gleichen Grundbefindlichkeit des Menschen beruht. Sie ist möglich im Hier und Jetzt, in der „tempiternen Gegenwart“ (226). Konrad Lotter Peter Engelmann (Hg.) Edition Passagen Graz/Wien (Böhlau-Verlag) Seit geraumer Zeit unterhält der österreichische Böhlau-Verlag eine Reihe, die Beachtung verdient: Edition Passagen. Wie der Name bereits andeutet – „rites de passage“ – geht es ihr um die Publikation von Texten der philosophischen Grenzüberschreitung. Diese artikuliert sich am deutlichsten in den Arbeiten der zeitgenössischen französi- Bücher zum Thema schen Theoretiker. Im Zentrum ihrer Denkbemühungen steht „die Differenz“. Ihrer Hervorhebung ist auch die Edition verpflichtet. Sie hat sich darum die Aufgabe gegeben, nichtübersetzte oder seit Jahren vergriffene Titel für den deutschsprachigen Leser zugänglich zu machen. Dabei wendet sie sich, nach eigenem Bekunden, an ein über Fachphilosophen hinausgehendes Publikum. Was nur konsequent ist, will doch postmodernes Denken den Gegensatz von Spezialist/Laie überwinden. Dazu gehört auch das Experimentieren mit nichtdiskursiven Formen der theoretischen Auseinandersetzung. In der Edition findet das seinen Niederschlag im Photoroman J. Derridas „Recht auf Einsicht“, mit dem die Reihe begann. Lobenswert erscheint mir auch die Wiederauflage des für das Verständnis der postmodernen Philosophie wichtigen Essays „Das postmoderne Wissen“ von F. Lyotard. Aber auch weniger prominente Autoren haben in der Edition Passagen ein Forum, so der italienische Ästhetiker G. Vattimo. Skeptisch stimmt mich hingegen die, zumindest im Verlagsprospekt, untergründig vorhandene Avantgardepose. Denn ob die Rezeption der gegenwärtigen französischen Philosophie dadurch gehemmt wird, „daß ... im Gefolge der Studentenbewegung ... fest etablierte kritische Theoretiker ihr Kritik-Monopol gefährdet sehen“ und darum ihren zensierenden Einfluß geltend machen, „bis in wichtige Verlage“ hinein, ist schlichtweg falsch. Man vergleiche dazu die gültigen Verlagsprogramme z.B. von Suhrkamp oder Luchterhand. In derartigen Fehleinschätzungen zeichnet sich ein entscheidender und kritikabler Zug der postmodernen Philosophie ab. Eine fruchtbare Auseinandersetzung verhindert sie allemal. Positiv zu erwähnen ist hingegen die Ausstattung der Bücher selbst. Sie sind gut gebunden (hardcover) und leserfreundlich gesetzt. Darüber hinaus bemüht sich der Verlag um ein besseres Papier als in paperbackReihen üblich. Etwas, was zumindest bei mir die Lesefreude erhöht. Der Preis von ca. 25.- DM pro Titel ist darum nicht zu hoch gegriffen. Insgesamt bietet die Edition Passagen eine gute Gelegenheit, sich mit den postmodernen Theorieansätzen bekannt zu machen. Die Fortführung der Reihe und eine weitere Verbreitung ist wünschenswert. Thomas Wimmer Renate Jäckle Gegen den Mythos. Ganzheitliche Medizin Hamburg 1985 (Konkret Literatur Verlag), brosch., 184 S. Bücher zum Thema Wer der Ganzheitlichkeit des Menschen das Wort redet, muß dies noch lange nicht aus einem grün/ alternativ geprägten Bewußtsein heraus tun. Zunehmend reden konservative Politiker von einem ganzheitlichen Menschenbild; kann die grün/alternative Szene es sich als Erfolg anrechnen, ihre Argumente in die konservativsten Köpfe hineingeklopft zu haben, wie es Ellis E. Huber, Mitautorin von „Gesund Sein 2000“, behauptet? Renate Jäckle ist Ärztin und Wissenschaftsjournalistin und als Mitglied der „Internationalen Vereinigung der Ärzte e en den Atomkrieg“ Mitträgerin des Friedensnobelpreises; sie geht in ihrem Buch zuerst auf die realen gesellschaftlichen Verhältnisse ein in denen das Gesundheitswesen zu funktionieren hat. Denn die Gesundheit des Menschen muß in dieser Gesellschaft nach denselben Kriterien funktionieren „wie alles in dieser Gesellschaft, das heißt nach den Maßstäben von Wirtschaftlichkeit und Leistungsfähigkeit. Deshalb vor allem wird der kranke Mensch als ‘Magen’, ‘Blinddarm’ oder ‘Herzinfarkt’ behandelt – mit der Absicht, die ‘Maschine’ schnell wieder herzustellen“ (61). Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen ist es durchaus verständlich, wenn sich die Menschen nach einem Leben sehnen, das alle Seiten und Ent- wicklungsmöglichkeiten des Menschen mit einbezieht. Betrachtet man jedoch die verschiedenen Konzepte und Entwürfe einer ganzheitlichen Medizin, dann stellt sich bald heraus, daß es so ganzheitlich mit der Ganzheitlichkeit des Menschen nicht gemeint ist: bestenfalls ist diese Ganzheitlichkeit unter eines ihrer Teile subsumiert, meistens ist sie jedoch fremden Interessen und Ideologien unterstellt. Jenes geschieht etwa wenn die Naturseite des Menschen betont, und die Krankheit als Resultat des gestörten Verhältnisses des Menschen zur Natur definiert wird: eine ökologische Lebensweise als Generaltherapie aller Mitglieder dieser Gesellschaft. Dieses geschieht dann, wenn über die Ganzheitlichkeit des Menschen und über die Verantwortung des Menschen für seine Lebensweise diesem die Schuld an seiner Krankheit zugeschoben wird, um dann in einem weiteren Schritt ihm auch die Kosten seiner Krankheit aufzubürden: die Ganzheitlichkeit als Vorwand für Sozialabbau. Renate Jäckle behandelt in dem zweiten Teil des Buches die einzelnen Ansätze der ganzheitlichen Medizin und zeigt, daß bei fast allen Varianten die gesellschaftlichen Voraussetzungen von Gesund- und Kranksein ignoriert werden. So kommen etwa bei Peter und Eva Massoth kranke Menschen, Behin- Bücher zum Thema derte und Alte gar nicht vor. Der Öko-Knigge von Rainer Grieshammer suggeriert, daß das Ausschalten von krankheitsauslösenden Risikofaktoren in der Verfügungsgewalt des einzelnen Individuums stehe. Bei manchen Ansätzen kann Jäckle faschistoides Gedankengut nachweisen, etwa bei Karl Kötschau (Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze) und auch Verbindungen zur alten und neuen Nazi-Szene zeigen, etwa bei M.O. Bruker. Trat die ganzheitliche Medizin in den siebziger Jahren noch mit einem gesellschaftskritischen Impetus auf (Krankheit sollte nicht weiter als reine Privatangelegenheit des einzelnen zu verstehen sein, sondern müsse im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Realität gesehen werden, in der der Mensch krank wird), so hat man heute „den Eindruck, als ob die Ganzheit immer weiter zusammenschrumpft, daß vor allem soziale und gesellschaftliche Faktoren unter den Tisch fallen. Andererseits aber scheint sich der Begriff ‘Ganzheit’ immer weiter auszudehnen – Mutter Natur, alte Mythen, das Individuum und der Kosmos, alles hängt irgendwie mit allem zusammen.“ Sieht man von einigen Redundanzen ab, die bei einer sorgfältigeren Durchsicht leicht hätten vermieden werden können, dann kann man Jäckles Buch in die gute Tradition der Aufklärung einreihen. Es ist daher nicht ganz einzusehen, wenn Jäckle in ihrem „altmodisch klingenden Schlußwort“ doch etwas Resignation aufkommen läßt. „In einer unbarmherzigen Gesellschaft läßt sich ‘ganzheitliche’ Alternativmedizin allenfalls in Nischen betreiben. Wer eine andere, bessere Medizin für viele Menschen will, der muß versuchen ... die Gesellschaft zu verändern. ... Hier muß angesetzt werden, aber das klingt in all den vernetzten Zusammenhängen vom Individuum bis zu m Kosmos ziemlich altmodisch“ (172). Martin Schraven Bruno Liebrucks Irrationaler Logos und rationaler Mythos. Würzburg 1982 (Verlag Königshausen und Neumann) In den Band sind zwölf Texte aufgenommen, die im Zusammenhang mit einigen Kernthesen aus Liebrucks’ sprachphilosophisch motivierten Untersuchungen (Sprache und Bewußtsein, 9 Bde.) zu lesen sind. Diese Thesen, im Vorwort zur Textsammlung kurz referiert, bestimmen den terminologischen Rahmen der Texte mit; auf sie geht der Satz von der ‘Irrationalität des Logos’ und der ‘Rationalität des Mythos’ zurück. Bücher zum Thema Für Liebrucks ist mit sprachlichen Äußerungen (Rede; Logos) je schon eine ‘Erkenntnisrelation’ gesetzt, jedoch nicht erst im Sinne eines Verhältnisses von ‘Begriff und Gegenstand’. Liebrucks setzt daher vor einer semiotischen Unterscheidung zwischen Zeichenträger und Zeichenbedeutung an. Mit der „hyletischen“ Seite von Sprache, mit ihrer ‘materialen’ Präsenz sind für Liebrucks schon ‘ontologische Implikate’ mitgegeben, die nicht in Wahrheitsbegriffen aufgehen („überzeichenmäßiger Charakter“ der Sprache; „Realidealität“, 8). Das ‘Wort als Gegenstand’ ist erkenntnistheoretischen Begründungszusammenhängen entzogen. Dies Begründungsdefizit lenkt Liebrucks’ Blick auf eine ‘Irrationalität’ des Logos. Perspektivisch sieht Liebrucks zwei miteinander zusammenhängende Auswege. Einen Ausweg sieht er in der Freilegung einer sprachphilosophischen Relevanz von Hegels „Wissenschaft der Logik“; einen zweiten in einer Vergewisserung über Strukturen einer mythischen Sprachverwendung, in welcher das besagte ‘Irrationalitätsproblem’ des Logos nicht gegeben sei. Aus Liebrucks’ Sicht ist in Hegels „Wissenschaft der Logik“ im Kern eine „Logik von der Sprache her“ angelegt (12). Dies, weil Hegels Begriff des „Begriffs“ zwar methodisch durch Subjekt-Objekt-Auffassungen hindurch entwickelt ist, letztlich aber (gerade deshalb) den Blick auf den Logos als selbsttragendes „Ereignis“ (311) freisetzt. Hegels Logik kommt daher für Liebrucks (indirekt) einer „hyletischen“ Präsenz des ‘Logos’ entgegen (vgl. 77 ff.: Drei Revolutionen der Denkart). Diese eher assoziative Lesart soll hier nicht weiter befragt werden. Was würde aber eine solche Logik leisten im Blick auf das ‘Irrationalitätsproblem’ des Logos, das selbst mit Sprachverwendung, auch der der Theorie, verbunden ist? Wenn die Hegelsche Logik, als „Logik von der Sprache her“ interpretiert, nicht mehr leistet, als eine Einsicht in den ‘Begriff als Ereignis’ zu vermitteln, bleibt sie dennoch auf das angewiesen, was den Logos ‘irrational’ macht, nämlich gesprochen bzw. geschrieben zu sein. Die sprachphilosophisch interpretierte Hegelsche Logik kann nicht als Ausweg angesehen werden solange nicht die Vorstellung eines ‘rationalen Logos’ eine Rolle spielt. Eine solche Vorstellung führt Liebrucks ein, indem er ‘Rede’ und ‘LogosTheorie’ äquivok verwendet und letztere als ‘rationale Rede’ versteht. Hegels ‘Einsicht’ in die ‘Ereignishaftigkeit’ des Begriffs steht in ‘rationaler Rede’, zumindest perspektivisch. Mit Reflexionsmitteln nähert sie sich einer mythischen Sprachverwendung an (vgl. 335 f.). Dieser kommt „Unmit- Bücher zum Thema telbarkeit“ zu, interpretiert nach der Vorstellung einer Koinzidenz von Äußerung und Bedeutung. Liebrucks faßt die Sprache der Mythen unter dem Aspekt des Rituellen auf (authentischer Ausdruck einer ‘Zeugenschaft’ „von der Herrlichkeit und Größe der Götter“, 316). Wie eine „Logik von der Sprache her“ ist der Mythos „rational“, weil die Beschäftigung mit mythischer Sprachverwendung Einsichten in die ‘Irrationalität des Logos’ vermittelt und weil in mythischer Sprachverwendung nicht das Problem auftritt, mit dem Gesagten nichteinholbare Erkenntnisrelationen zu setzen (Mythos als ‘rationaler Logos’). Eine mythische Sprachverwendung (‚mythische Rede über den Mythos’, 316) ist für Liebrucks nur rückblickend erahnbar, aber auch literarisch konzipiert in Grundzügen erfahrbar, an Hölderlins Sprache (vgl. 183 ff.; vgl. 221 ff.). Die hier versuchte Darstellung ist knapp. Von den hervorgehobenen Gedanken her gestattet sie jedoch noch einige Bemerkungen. Da die ‘Irrationalität des Logos’ definitorisch an ein elementares Merkmal von Sprache gebunden wird, bleibt die Vorstellung eines ‘rationalen’ Gegenstückes ohne Sinn. Eine mythische Sprachverwendung, Hölderlins Lyrik sowie der Text einer „Logik von der Sprache her“, kann unter dem leitenden Sprachbegriff entweder nicht als ‘Sprache’ aufgefaßt werden oder nicht als ‘rational’. Wenn – terminologisch anders gewendet – die Prädikate ‘rational’ und ‘irrational’ auf Logos-Theorien bezogen werden, ist unter einer ‘rationalen’ Theorie eine Theorie zu verstehen, die sich entweder in einem unentrinnbaren Zirkel bewegt, oder aber über einen ‘rationalen Logos’ verfügen muß, was eben im Feld der leitenden Sprachauffassung keinen Sinn ergibt. Bei Lesern, die in Liebrucks’ Gedanken Ansätze zu einer radikalen sprachphilosophischen Skepsis sehen, muß Liebrucks’ Mythosauffassung den Eindruck eines leichtfertigen Ausstiegs aus einem ernst zu nehmenden Problem erzeugen. Leser, die an einer ‘sprachphilosophischen’ Mythostheorie interessiert sind, können Liebrucks zu Recht eine sprachmystische Überfrachtung von Mythen vorwerfen, abgesehen von ihrer Funktionalisierung als Problemlösungs- und Sinnstiftungsinstrument (vgl. 14 f.). Es spielen hierbei zwei Seiten ein und derselben Verlegenheit eine Rolle. Ignaz Knips Genevieve Lloyd Das Patriarchat der Vernunft. „Männlich“ und „weiblich“ in der westlichen Philosophie Bielefeld 1985 (Daedalus-Verlag) Bücher zum Thema Daß Arthur Schopenhauer ein notorischer Frauenhasser war, ist bekannt und historisch belegbar; – daß aber bereits die Lehren eines Platon und Aristoteles und mit ihnen die gesamte abendländische Philosophietradition den Geschlechterantagonismus widerspiegeln, scheint zunächst doch recht weit hergeholt. Eben diesen Zusammenhang versucht indessen Genevieve Lloyd, Professorin für Philosophie an der Australian National University, in ihrer Studie über „Das Patriarchat der Vernunft“ in einem mit weit ausholenden Schritten durchgeführten Gang durch die Philosophiegeschichte nachzuweisen. Es geht Lloyd nicht darum, eine „eigene Wahrheit“ der Frauen zu postulieren, sondern sie will vielmehr die abendländischen Vernunftideale als wesentlich männliche entlarven, die „historisch schon immer einen Ausschluß des Weiblichen verkörpert haben“ und die Weiblichkeit selbst durch solche Ausschlüsse erst konstituierten. Bereits die klassisch-griechische Philosophie (Platon, Aristoteles) sah in der Vernunfterkenntnis ein Erfassen der Form eines Gegenstandes, das durch das Überwinden des unstrukturierten, zufälligen Stoffes zu erreichen sei, welcher über ältere orphische und pythagoräische Vorstellungen mit dem Weiblichen as- soziiert wurde. – Christliche Philosophen des Mittelalters (Augustinus, Thomas) konkretisierten dies, indem sie zwar beiden Geschlechtern einen Anteil an der Vernunft zuwiesen, jedoch gleichzeitig in der Leiblichkeit der Frau, vor allem aufgrund ihrer „Funktion“ im Fortpflanzungsprozeß, einen Ausdruck des Minderen der Vernunft erblickten. – Obwohl mit Descartes eine gewisse Demokratisierung der Vernunft einsetzte – sie galt nunmehr als für jedermann erlernbar –, blieb durch die Bildungsschranken den Frauen der Zugang zu ihr dennoch weiterhin verwehrt. – Schließlich lieferte Rousseau, indem er die Gegenüberstellung von Vernunft und Natur wieder auszugleichen suchte und die Vernunft auf die Natur fundierte, die Voraussetzung für Hegels Systematisierung des Geistes, in der dem weiblich-familiären ein männlich-öffentlicher Bereich entspricht, und sich beide derart bedingen, daß das Männliche aus dem Weiblichen erwächst, das Weibliche aber seine Wirklichkeit erst in der Überwindung durch das Männliche findet. In dieser Konzeption sieht die Autorin eine gewisse Vollendung der männlichen Vernunftphilosophie, die auch in der Weiterentwicklung durch Sartre und Simone de Beauvoir, auf die Lloyd abschließend zu sprechen kommt, Bücher zum Thema keine wesentlichen Veränderungen mehr erfährt. Innerhalb dieses Vernunftsystems hält Lloyd eine Befreiung der Frau für unmöglich –: weder durch ein Überschreiten ihres eigenen Bereichs hin zum männlichen noch durch ein Insistieren auf ihm. Außer der Forderung nach Absetzung des Männlichen als Norm, an dem sich das Weibliche zu orientieren habe, und nach einer Gleichbewertung beider zeigt die Verfasserin keine Perspektiven für die Frauen auf. Man könnte einwenden, dies sei in einer historischen Studie entbehrlich, und hätte wahrscheinlich auch Recht, wenn diese Perspektivlosigkeit nicht auf einen tieferen Mangel in Lloyds Arbeit hinweisen würde. Denn obwohl sie die Zusammenhänge zwischen den philosophischen Konzepten und der gesellschaftlichen Lage der Frauen durchaus nicht leugnet und bei Descartes sogar explizit mit einbezieht, werden sie der gesamten Arbeit nicht zugrunde gelegt. Und dies wirkt sich nicht nur auf die Darlegungen zur griechischen und mittelalterlichen Philosophie aus, sondern es führt dann auch zu einer merkwürdigen Ambivalenz der Philosophin ihrem eignen Fach gegenüber. Günter Butzer Winfried Menninghaus Schwellenkunde. Walter Benjamins Passage des Mythos Frankfurt am Main 1986 (edition suhrkamp, Bd. 349) Menninghaus sieht seine Arbeit über Benjamins Mythosdenken als ‘Extrapolation’ von Merkmalen eines Mythosverständnisses, das keinen einsinnigen Mythosbegriff zuläßt. Benjamins Mythosdenken weist eine ambivalente Stellung zu ‘Mythischem’ auf: Wegen ihrer entschiedenen Natureinbindung von Handlungsmöglichkeiten und mangelnden Hinterfragbarkeit und ‘Verstehbarkeit’ vor Ort sieht Benjamin in den mythischen Weltbildern Herrschafts- und Gewaltpotentiale angelegt. Eine Kritik kann für Benjamin andererseits auch nicht auf ein aufklärerisches Rationalitätsverständnis setzen; denn dieses könnte der ‘Allmacht’ mythischen Schicksals nur eine Totalität von Naturbeherrschung entgegensetzen. Benjamin sieht gerade in einem Sicheinlassen auf die Bedeutungsform von „Mythen“, auf die Verschränkungen und Aufhebungsverhältnisse von Ästhetischem, Anschauung und Begriff, eine folgenreiche Gegenstellung zum „Mythos“ als unangetasteter Weltbildorientierung (s. bes. 110 f.). „Mythen“, ein Umgang mit „flüchtigen Mythologemen“, werden gegen ‘das Mythische’ gewendet. Ein „neuer Mythos“ der Mo- Bücher zum Thema derne, präsent in der AusdrucksKultur des Fin de siecle, soll so mit seinen Mitteln durchsichtig gemacht werden. Die Adaption des Verfahrens der Kritik an die Bedeutungsform von Mythen ist hierbei nicht einfach in den Dienst einer Gewinnung von angemessenen Analysemitteln gestellt. Das Verfahren schwankt zwischen Recherche und Konstitution. Die Kritik fungiert mit als ‘Produzent’ von Ausdrucksqualitäten der Zeichen des „neuen Mythos“, die im weiteren Gang der Theorie bestimmend sind. Bei unterschiedlicher Akzentuierung in Früh- und Spätwerk schließt das „Motiv der Sprengung mythischer Formen“ das ihrer „Rettung“ ein (52 f.). Was sich in Benjamins Mythosdenken durchhält, ist eine „‘Dialektik’ von Sprengung und Rettung des Mythos“ (21). Menninghaus arbeitet dies zunächst anhand von „Kontrastbestimmungen“ heraus (10 ff.). Benjamins Mythosdenken kann abgegrenzt werden gegen eine „pseudo-romantische Affirmation des Mythischen“, aber auch gegen aufklärerische Verdikte, wobei eine „Topik aufklärerischer Argumentation“ beibehalten wird (19). Der besagte Grundzug wird in einer ausführlicheren Textsichtung belegt am fragmentarisch gebliebenen „Passagenwerk“ (Ges. Schr., Bd. V), an Benjamins Sprachtheorie und literaturtheoretischen Arbeiten. Das „Passagenwerk“ und die Schriften aus dem Umfeld des „Passagenwerks“ sind hierbei für Menninghaus in mehrfacher Hinsicht interessant („Raum des Mythos, Schwellenkunde“, 26-58). In der „Passage“ sieht Benjamin „die wichtigste Architektur des 19. Jahrhunderts“ (Ges. Schr., Bd. V, 1002). Der Zwischenbereich zwischen öffentlichem und privatem Lebensraum (Warenhaus/ Wohnraum) wird zum Anhaltspunkt der „Topographie“ eines „mythischen Traditionsraums“ (a.a.O., 134), der gerade die Voraussetzungen jener Warenkultur verdeckt. „Die Passage“ wird zum Schlüsselbegriff für „Übergangsriten“ im modernen Großstadtleben. Benjamins „Schwellenkunde“ (a.a.O., 147) läßt sich im Sinne des oben angesprochenen Verfahrens der Kritik selber auf diese ‘Riten’ ein. ‘Übergänge’, ‘Grenzen’ prägen motivisch und stilistisch die Passagen-Arbeiten. Daß in Benjamins Schriften überhaupt „Gestalten des Zwischen“ eine besondere Rolle spielen, rechtfertigt für Menninghaus, Benjamins Gesamtwerk als „Schwellenkunde“ zu lesen und als „Passage des Mythos“. Daß man die Vorrangstellung eines Mythosdenkens und mythisierenden Denkens am Werk buchstäblich ‘entdecken’ könne (8), wird wohl kaum auf eine erwartete Zustimmung stoßen. Zu einer Interpretati- Bücher zum Thema onsthese präzisiert, könnte hierunter folgendes verstanden werden: Die Anleihen bei ‘mythischem’ Denken in Benjamins Mythosinterpretation gehen auf ein allgemeineres Programm der Kritik zurück, das selber ‘mythische’ Züge trägt oder primär in Auseinandersetzung mit ‘Mythen’ gewonnen und durchgeführt wird. Was Menninghaus als „Gestalten des Zwischen“ bezeichnet, hat zu tun mit Benjamins Programm der ‘Freilegung’ verdeckter Traditionen in geschichtsphilosophischer Absicht. Im Verfahren spielt eine Ambivalenz der Begriffe eine Rolle, die mit den ‘freizulegenden’ Traditionen zusammenhängen, bzw. über die die Traditionen interpretiert werden. Eine ‘mythische Tradition’ ist einer der Gegenstände Benjaminschen Denkens, das Verfahren findet eine Anwendung unter anderen Anwendungen. Gewiß setzt die Rede von der „Passage des Mythos“ auf den Bedeutungsspielraum des Passagen-Begriffs. Aber selbst als oberflächliche Hommage an Benjaminsche Pointen gelesen, transportiert sie eine fragwürdige Interpretationsthese. Dies belastet jedoch weniger den Anspruch der Arbeit, über eine konzentrierte Textsichtung in Benjamins Mythosverständnis einzuführen und es auf eine weiter gefaßte Mythosdiskussion beziehbar zu machen. Hervorzuheben sind die „Kontrastbestim- mungen“ (10 ff.) und die vergleichenden Überlegungen zu M. Eliades „Kosmos und Geschichte“ (99 ff.). Ignaz Knips Edition Discord Die Zukunft der Vernunft. Eine Auseinandersetzung Tübingen 1985 (Konkursbuchverlag) In der heutigen Auseinandersetzung um „Kritische Theorie“ und „Vernunftkritik“ ist das vorgelegte Unternehmen, „Diskurs“ als Programm wirklich werden zu lassen und eben über diese Diskursethik zu sprechen, begrüßenswert. Der Band stellt die Protokolle dreier Diskussionsrunden vom März 1985 vor, in denen Befürworter und Gegner der „Theorie des kommunikativen Handelns“ versuchen zu praktizieren, was Jürgen Habermas theoretisch fordert: Diskurs konkret. Um es gleich zu sagen, wer ein Nachschlagewerk oder eine gelehrte Abhandlung über das Thema „Vernunft“ erwartet, wird von dem rund 150 Seiten umfassenden Buch enttäuscht sein. Doch diese Erwartungen zu erfüllen kann auch nicht Ziel einer Diskussionsrunde sein. Der Wert der Darstellung liegt in ihr selbst. Da der Diskurs sich um sich selbst dreht, also sowohl Inhalt als auch Bücher zum Thema Methode abgibt, vollzieht sich die Diskussion auch auf zwei Ebenen. (1) Zum einen werden drei Themenkreise angegangen, die als Prüfsteine einer rationalitätstheoretischen und rationalitätskritischen Auseinandersetzung gelten dürfen. Im der ersten Runde zum Thema „Mythos und Wissenschaft“ dominiert die Begriffsverwirrung. Sowohl „Vernunft“ als auch „Mythos“ bleiben schillernde Worthülsen, die auf oft nicht nachvollziehbare Weise gefüllt werden. Dieser Teil kann denn auch als der schwächste gelten. Das zweite Thema „Emanzipation und Fortschritt“ geht vor allem den Begründungsleistungen der Diskursethik für an sich evidente ethische „Intuitionen“ nach. Der dritte Themenkreis „Kritik“ schließlich beschäftigt sich mit der Vernunftkritik als konstruktives oder selbstentlarvendes Moment der Diskurstheorie. (2) Daneben vollzieht sich ein „Diskussionsschicksal“ (5), das nach einem z.T. langatmigen und tastenden Schlagabtausch in der ersten Runde schon bald den Nerv der Auseinandersetzung zwischen der „Frankfurter“ und der „Tübinger Schule“ offenlegt. Die sog. „sachliche“ Diskussion bricht auf, wird persönlicher, Interessen werden in der Gesprächsführung erkennbar und, an den interessantesten Stellen, konträr und polemisch formuliert. Der kon- krete, gegenwärtige Diskus wird zum Thema. Konservatismus, Quietismus, Pathos – das sind die zu Begriffen gewordenen Reibungspunkte zweier Gruppen, die ob ihrer theoretischen Uneinigkeit zur praktischen Verständigung nicht mehr fähig sind. Auch mit Schuldzuweisungen wird nicht gespart. Und doch eben in dieser „hautnahen“ Dokumentation wird der idealtypische Charakter des „herrschaftsfreien Diskurs“ und die Schwierigkeit einer realisierenden Annäherung an ihn so deutlich wie in keiner abstrakt-theoretischen Arbeit. Wer den Diskurs als Forderung akzeptiert – nicht weniger als der Gegner universal- und transzendentalpragmatischer Argumentation – bekommt ad oculos geführt, wie sehr Argumentationswille scheitert und Rationalitätskritik argumentiert. „Herrschaftsfreiheit“ blieb wohl auch im Mai 1985 nur frommer Wunsch. Zum Abschluß eine kurze Bemerkung zur redaktionellen Gestaltung der Protokolle. Eine möglichst authentische Darstellung der Diskussionsrunden ist sehr zu begrüßen, aber an mancher Stelle wäre weniger Authentizität mehr gewesen. Etwas strengere Kürzungen und Streichungen verbaler Redundanz hätte den Band lesbarer gemacht. Matthias Rath Bücher zum Thema Alfons Rosenberg: Engel und Dämonen. Gestaltwandel eines Urbildes München 1986 (Kösel-Verlag), 334 S. mit 87 Abb. Ein Buch über Engel und Dämonen, das in einer Zeit der sich breit machenden Rationalitäts- und Vernunftkritik erscheint, setzt sich von selbst dem Verdacht aus, auf einer modischen Welle mitschwimmen zu wollen, um für die eigene Weltanschauung (das ist hier die katholische) einige Anhänger zu gewinnen. Der Verdacht wird durch den Umstand genährt, daß der Autor keine durch die Aufklärung geläuterte Distanz zu seinem Gegenstand erkennen läßt. Diesen Verdacht wird m an allerdings in dieser Pauschalität nicht aufrecht erhalten können. Denn zum einen ist die erste Auflage bereits 1967 im Prestel-Verlag erschienen, und zum anderen ist der durchaus vorhandene missionarische Eifer weniger auf die sich breitmachenden Remythologisierungstendenzen gerichtet, als vielmehr gegen einige Aufklärungstendenzen innerhalb der Kirche. Nicht die „weltliche“ Rationalität ist der Kritik Rosenbergs ausgesetzt, sondern die innerkirchliche, theologische Rationalität, wann immer sie sich in der Geschichte Geltung verschafft hat. „Die Übernahme aristo- telischer Kategorien der durch die Araber vermittelten spätgriechischen Philosophie wirkte sich verhängnisvoll aus: sie führte allmählich zur Abstrahierung und dadurch zur fortschreitenden Substanzentleerung der Erfahrung der Engel“ (59 f.). Dessen ungeachtet sind Engel und Dämonen reale und notwendige Bestandteile der antiken und mittelalterlichen Weltbilder, deren Kenntnis für den Historiker, besonders für den Kunsthistoriker unverzichtbar ist. Rosenberg grenzt sein Thema auf die christlichen Engel- und Dämonenmythen ein und bezieht die vorund außerchristlichen Mythen nur insoweit mit ein, als ihr Einfluß auf die christliche Mythologie erkennbar ist. Der assyrische Kerub und die babylonischen Dämonen dürften wohl für die Verfasser der alttestamentlichen Schriften die Vorbilder für ihre Engel- und Dämonenvorstellungen gewesen sein; für spätere Zeiten können dann noch persische, griechische und im neuen Testament auch römische Einflüsse nachgewiesen werden. Ausführlich geht Rosenberg auf die schriftlichen Quellen der Engelmythen ein, denn in beiden Teilen der Bibel gibt es nirgends eine systematisch entwikkelte Engellehre. Wichtiger noch als die kanonisierten Texte der Bibel sind die sogenannten „apokryphen Bücher zum Thema Schriften“, die offenbar in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung eifrig rezipiert wurden. Erst in den Schriften des PseudoDionysios Areopagita findet sich dann eine ausführliche Darstellung der Engelshierarchien, die sich in neun Chören um den Thron Gottes scharen, angefangen von den Cherubim und Seraphim bis hinunter zu den Erzengeln und Engeln. Die bildliche Engeldarstellung und die Engelverehrung setzt im 5. Jahrhundert ein. Bis zum Beginn der Renaissance gehören diese Engelwesen zum Kanon der christlichen Vorstellungswelt; die Engelverehrung wird dann durch die aufkommende Heiligenverehrung verdrängt. In der Zeit der Gegenreformation erfährt der Engelmythos in der Gestalt der individuellen Schutzengel eine Wiederbelebung. Rosenbergs Darstellung ist vielschichtig und sehr informativ; man erfährt sehr viel Unbekanntes, wie z.B. etwas über die Engelehen und die daraus hervorgehenden Riesen, oder auch daß der Satan in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kunst als schöner Jüngling dargestellt wird. Überfrachtet wirkt Rosenbergs Darstellung dann, wenn sein missionarischer Impetus durchscheint. Dies gilt auch dann, wenn er den Engelsglauben mit der Archetypenlehre des Carl Gustav Jung abzusichern versucht. Engel und Dämonen gehören für Rosenberg zu jenen Urbildern des Seins, die jenseits des menschlichen Willens und Bewußtseins wirken. Diese Archetypen prägen sich in jeder Phase der menschlichen Kultur in immer neuen Formen aus. War Rosenberg gut beraten, einen fragwürdig gewordenen Bestandteil der Theologie durch die nicht minder fragwürdige analytische Psychologie eines C.G. Jung abzustützen? Das Buch ist mit vielen Abbildungen versehen, das dem kunsthistorisch interessierten Leser das Nachschlagen in anderen Bildbänden erspart. Allerdings wäre es besser und bei der Erörterung der Farbsymbolik eigentlich geboten gewesen, einige Abbildungen in Farbe wiederzugeben. Es ist in der Kunst immer mißlich, zu einer schwarz-weiß Reproduktion die Farben hinzudenken zu müssen. Martin Schraven Burghart Schmidt Postmoderne – Strategien des Vergessens Darmstadt/Neuwied 1986 (Sammlung Luchterhand) B. Schmidt hat einen kritischen Rapport geschrieben über das nicht mehr ganz neue Lieblingskind der westlichen Intellektuellen: die Postmoderne. Obwohl sie mittler- Bücher zum Thema weile zum Modewort avancierte, ist ihre inhaltliche Bestimmung unklar. Das mag einen Teil ihres Reizes ausmachen, trägt aber wenig zur theoretischen Diskussion bei. Das vorliegende Buch ist der Versuch, hier Klarheit zu schaffen und Antworten zu geben. Antworten, die von der Philosophie E. Blochs nachhaltig geprägt sind; denn der Autor war langjähriger Freund und Mitarbeiter des Philosophen in Tübingen. Schmidt skizziert ein vielschichtiges Bild der Postmoderne. Einesteils erkennt er in ihr den Versuch, vor den Problemen der Gegenwart zu resignieren. Er nennt das die „Strategien des Vergessens“ oder postmoderne Ideologie. Sie beruht auf dem Kerngedanken, daß das Zeitalter der Moderne mit ihren leitenden Entwürfen und Ideen (Vernunft, Freiheit, Fortschritt usw.) vorbei sei und nun kleinere, quasi „postmoderne Brötchen“ gebacken werden müssen. Dem liegt das gleiche, am Motiv des gerechten Austauschs orientierte Erkenntnisideal zugrunde, wie dem konsequent zu Ende gedachten „Kritischen Rationalismus“ P. Feyerabends. Der Autor bedenkt dies mit der kritischen Bemerkung: „... alles in Frage zu stellen, macht das Fragen nicht unborniert wertfrei, sondern wertlos ... Gleiche Gültigkeit von allem und jedem bewahrt vorhandene Ruhe und Ordnung, denn sie ist weder schlechter noch besser gegenüber anderen Möglichkeiten der Zukunft: und darum besser als die Zukunft“ (12 f.). Mit einer solchen Einschätzung steht B. Schmidt nicht allein, und würde sich sein Buch nur auf diesen Aspekt beschränken, wäre es noch keine zureichende, den Leser herausfordernde, Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Postmoderne“. Aus der Perspektive des Autors bedarf es zusätzlich der Reflexion auf die in ihm verkapselten Hoffnungspotentiale. Denn in den Hohlräumen, die die Enttäuschung besonders von den Idealen der 68er Revolte hinterlassen hat, bildete sich die postmoderne Atmosphäre. Diese wirkt belebend, oder könnte es zumindest, indem sie jene Wunschbilder erneut zur Diskussion stellt. Darüber hinausgehend wird von ihr die Frage aufgeworfen, ob mittels des Begriffspaares „Arbeit-Kapital“ die gegenwärtige Wirklichkeit adäquat zu interpretieren und zu verändern ist. Diese und andere Problemstellungen kulminieren in der postmodernen Kritik der Rationalität. Schmidt zeigt deutlich, daß der sich darin abzeichnenden „Krise der Aufklärung“ substantielle Bedeutung beizumessen ist. Mit dem Vorwurf des Irrationalismus allein sei nichts gewonnen. Er hält darum auch die Frontstellung von J. Ha- Bücher zum Thema bermas gegen F. Lyotard für verfehlt. Denn Rationalität ist, wie andere Phänomene des ideellen Bereichs, das Resultat einer bisher überwiegend unglücklichen historischen Entwicklung. Eine Erkenntnis, die grundlegend für die neomarxistische Theorie schon in den 20er Jahren war; weshalb das Buch den Versuch unternimmt, die Diskussion über das Verhältnis von „Ratio-Irratio“ in der Weimarer Republik zu rekonstruieren. Zur postmodernen Atmosphäre gehört auch die öffentliche Aufwertung der Bildlichkeit bis hin zum Mythos. Hier sieht der Autor sich Wünsche kenntlich machen, die über die geläufigen Formen des Diskurses hinausgehen. Dem trägt er insofern Rechnung, als er ein Buch vorgelegt hat, das sich der üblichen wissenschaftlichen Form verweigert. Statt dessen beinhaltet es die Wiedergabe von Diskussionsprotokollen, Textmontagen, die sich zu fiktiven Gesprächen verdichten, sowie die Auseinandersetzung mit den Werken junger Künstler. Das Buch kommt zu keinem endgültigen Urteil; wie sollte das bei dem verhandelten Gegenstand auch möglich sein? Aber es wird in ihm die Anstrengung B. Schmidts deutlich, dem janusköpfigen Wesen „Postmoderne“ auf die Spur zu kommen und dasjenige an ihr zu bestimmen, was als Erbschaft dieser Zeit gelten kann. Thomas Wimmer Peter Sloterdijk Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus Frankfurt 1986 (Suhrkamp-Verlag) Peter Sloterdijk ist durch sein Werk „Kritik der zynischen Vernunft“ bekannt geworden, worin er eine „Systemphilosophie“ moderner Prägung darbietet, wie sie von Lebensphilosophen mehrfach erarbeitet wurden. Verschiedene Bereiche unserer Kultur und Politik werden dort aus einem leitenden Gesichts- und Standpunkt – flott geschrieben – beurteilt. Sloterdijk entfaltet eine Kritik des Geistes der Aufklärung, die heute ihre „zynischen Anlagen“ voll entfaltet hat. An etlichen Stellen seines Buches bezieht sich Sloterdijk auf Nietzsche als Vorbild für seine Kritik der Aufklärung. So ist es nicht verwunderlich, wenn Sloterdijk seine Nietzsche-Lektüre kommentiert und gesondert als Buch anbietet: „Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus“. Lohnt es sich, Nietzsche heute neu zu lesen, um Antworten auf drängende Fragen der Zeit beantwortet Bücher zum Thema zu bekommen? Welche neuen Gesichtspunkte könnten heute beigebracht werden, die mehr beinhalten als die Meinung, Nietzsche habe in der geistigen Auseinandersetzung seiner Zeit eine negative Rolle gespielt. Schließlich habe er antihumanen Reden die „zynisch-reaktionären“ Argumente geliefert (vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, München 1974, 168). Daß der Nationalsozialismus Nietzsche einigermaßen bequem vereinnahmen konnte, dafür liegen Belege nicht nur von G. Lukács vor, den Sloterdijk sehr leicht beiseite schiebt. Steckt in Nietzsche mehr als „mythologischer Irrationalismus“? Sloterdijk versucht „Ordnung“ in Nietzsches Texte zu bringen, indem er einen interpretatorischen Bezugsrahmen entwickelt, der das Gegensatzpaar „DionysischApollinisch“ (Kraftspender und Formgeber) in ihrem Wechselspiel herausarbeitet. Dabei bleibt er nicht bei der bloßen Dichotomisierung stehen, vielmehr stellt er verschiedene Bühnen, Ebenen dar, auf denen die Kräfte und Formen ihr Spiel treiben. So entwirft Sloterdijk ein Nietzsche-Bild, in dem wenig noch zu fassen ist. Nietzsche hat danach nicht einfach etwas gesagt und geschrieben, sondern immer nur so getan, als ob er dies meine, um zu zeigen, was sich nicht in direkter Rede und Schreibe darstellen ließe, daß viele überlieferte geistige Inhalte nur eine Reihe von Schleiern und Masken sind, hinter denen sich der tatsächliche existentielle Grund der Menschen nur ahnen läßt. Selbstverständlich ist die Wahrheit so „furchtbar“, daß sie immer „verhüllt“ und nur „verschleiert“ vorgeführt werden kann. Interpreten, Propheten und Erzähler sind gefragt, hinschauen, experimentieren und intersubjektiv überprüfen, stellen dagegen verzerrte Modi der Gewalt über Welt und Mensch dar. Gegen Ende des Buches münden Sloterdijks Gedanken in den Begriff „dionysischer Materialismus“ ein, der sich „lebendiger“, gottesähnlicher gibt als etwa ein „dialektischer Materialismus“, den Sloterdijk nur als „brutales Zerrbild“ des ersteren begreift. Wird m an Nietzsche gerecht, wie es Sloterdijk möchte, wenn man diesen Mann als „kühnen Denker“, als „Genie“, als „Heroen“ charakterisiert? Wahrscheinlich wird sich Sloterdijk gegen zu wörtliche Interpretation dieser Begriffe wehren, sind sie doch Teil eines Textes, den m an neutral als eher literarischkünstlerisch zu kennzeichnen hätte, stellungnehmend als aufgeblasen und mit Worthülsen spielend. Die Lektüre von Voltaire ist dazu im Vergleich geeignet, kritisches Denken nicht mit seichter, Tiefe vor- Bücher zum Thema spiegelnder Wortmusik zu verwechseln. Sloterdijk hat etwas gegen Reflexe, „die sich allesamt auf den Mythos der Praxis“ stützen (181). Insofern wäre es verständlich, wenn Sloterdijk sich energischer gegen die Frage wenden würde, welchen Nutzen sein Buch hat. Zeigt Sloterdijk neue Aspekte im Nietzsche Werk auf? Sloterdijk führt vor, wie man Texte rettet, die von einer zumeist „dummen Öffentlichkeit“ noch wörtlich genommen werden. Dies Verfahren erinnert an die Rettung des Glaubens, nachdem sachhaltige Aussagen der Bibel nicht mehr ernst genommen werden konnten. Sloterdijk rettet Nietzsches Mythologie durch eine ähnlich konstruierte Hintertür. Meiner Ansicht nach lassen sich zahlreiche Verbindungen zur „Dialektik der Aufklärung“ und zur „Negativen Dialektik“ aufzeigen, worin allemal der „Aufklärung“ idealistisch ans Zeug geflickt wird, was bisher Ausdruck einer nur teilweise vollzogenen Aufklärung ist. Wer wie die Sandinisten in Nicaragua praktische Gesellschaftsveränderung mit rudimentärer Aufklärung sprich Alphabetisierung verbinden, lebt und arbeitet mit der Gefahr des Untergangs. Sie kann man getrost für kühn halten. Daneben kann Sloterdijk nur bestehen, indem er die „Selbstentblö- ßung“ von Nietzsche nicht schon für riskant hält. Wolfgang Teune Gerda Weiler Der enteignete Mythos. Eine notwendige Revision der Archetypenlehre C.G. Jungs und Erich Neumanns München 1985 (Verlag Frauenoffensive) Dies ist ein gründliches Buch. So etwas wie „Einbeziehung“ des Weiblichen in eine männlich-patriarchal geprägte Kultur (C.G. Jung) ist sein Anliegen nicht. Nicht um den Feminismus als eine „starke Kraft“ (Capra) innerhalb der heutigen Kultur geht es. „Mutter Erde“ und „Vaterland“ – solange sie sich als (hilfloses) Objekt und (handelndes) Subjekt gegenüberstehen, ist „Menschlichkeit“ nicht in Sicht. Daß aber klingt so richtig es sein mag, ziemlich allgemein. Doch dies ist ein sehr spezielles Buch. Gerda Weiler, der psychologisch geschulten Religionspädagogin und Autorin eines Buches über das verborgene Matriarchat im Alten Testament („Ich verwerfe im Lande die Kriege“, München, Verlag Frauenoffensive), geht es hier nicht um eine allgemein-unverbindliche „Aufwertung“ matriarchalen Erbes und deren Nutz und Frommen für Bücher zum Thema die Bewältigung der drängenden Probleme der Gegenwart. Sie legt vielmehr das Ergebnis ihrer Auseinandersetzungen mit der Behandlung und Deutung von Mythen in der Analytischen Psychologie C.G. Jungs und Erich Neumanns vor. Mit diesen Psychologen verbindet sie das starke Interesse am Weiblichen innerhalb der mythologischen Überlieferung und innerhalb der psychischen Prägung von Menschen. Daß C.G. Jung die Begriffe „Animus“ und „Anima“ zur theoretischen Fassung der Tatsache prägte, daß Männer „weibliche“, Frauen „männliche“ Elemente in ihrer psychischen Struktur haben, ist inzwischen Allgemeingut innerhalb feministischer Diskussionszusammenhänge geworden. Fast automatisch fällt der Analytischen Psychologie dadurch in vielen feministisch orientierten Schriften die Rolle des positiven, „frauenfreundlichen“ Gegenparts zur Psychoanalyse Freudscher Provenienz zu: Animus statt Penisneid, was will „frau“ mehr? Sie – jedenfalls Gerda Weiler – will schon mehr: Sie will zum Beispiel zeigen, daß für Jung der weibliche animus, im Unbewußten angesiedelt, tendenziell ein Speicherorgan für angelernte, vorurteilsbeladene, von Männern kritiklos übernommene Meinungen ist, die intellektuell nicht eigenständig verarbeitet werden können, daß Jung mithin den animus bei der Frau gar nicht so viel positiver sieht als sein Kollege und Ex-Lehrer Freud den Penisneid. Daß er – und Erich Neumann – dagegen eine Einbeziehung der animaAnteile beim Mann als Chance für schöpferisch-künstlerische Aktivität und Fruchtbarkeit betrachten, denn die anima hat es im Gegensatz zum animus nicht mit Meinungen und Theorien zu tun, denen es nicht gut bekommt, im Unbewußten gespeichert zu sein, sondern mit emotionalen Energien, die gerade als unbewußte besonders fruchtbar sein können. Gerda Weiler zeigt aber gleichzeitig noch wesentlich mehr: Daß nämlich die vom Mann her gedachte, auf den Mann hin orientierte Psychologie, die m an eine patriarchale Psychologie des männlichen Menschen nennen könnte, nicht gewissermaßen zufälliges Resultat persönlicher Interessen Jungs und Neumanns, sondern daß das ihr zugrunde liegende Menschenbild wesentlich älter ist. Und: daß es nicht ur-alt ist, daß vielmehr „am Anfang“, soviel man heute wissen kann, andere UrBilder standen. Daß also das Weibliche in der Geschichte menschlicher Mythenbildung nicht immer passiven Untergrund, nährenden Ausgangspunkt für männliche, männlich-göttliche Herrschaft (Patri-archie) bildete, sondern in zahlreichen Urbildern als herr- Bücher zum Thema schend (matri-arch) erscheint. Diese Urbilder gräbt sie aus, läßt sie leben, feiert sie bisweilen fast hymnisch: Die Weisheit, die nährende Mutter, die Magie der MAtriarchalen EnerGIE, die Gefäßgöttin, Nachthimmel und Möndin. Noch interessanter als diese bisweilen ins Beschwörende gehende Auflistung positivweiblicher Urbilder scheint mir dabei der Versuch der Autorin zu sein, dem Ursprung negativer Deutung weiblicher Göttinnengestalten in der griechischen Mythologie und im Alten Testament nachzuspüren. Medusa zum Beispiel, deren böser Blick den Menschen erstarren läßt: Sie war vor Athene, der „männlichen“, dem Haupt des Zeus entsprungenen, kriegerischen JungfrauGöttin da und mußte das Schicksal einer Umdeutung ins Zerstörerische nur deshalb erdulden, weil ihr Stammland kolonisiert wurde. Oder Lilith: „Lilith – eine Große matriarchale Göttin blickt mich an“ (153). Auch Lilith ist eine schließlich Verdrängte, deren Ursprüngen im altbabylonisch-sumerischen Raum Gerda Weiler nachspürt. Sehr nachdrücklich stellt sie dabei heraus, daß „Größe“ nicht immer Herrschaft bedeutet, daß eine Große Göttin nicht groß sein muß wie Alexander der Große: „Wenn ich von Lilith als einer ‘Großen Göttin’ spreche, meine ich, daß sie die Stammesmutter eines sumerischen Volkes gewesen ist, Urahnin und Begründerin eines kleinen Volkes“ (156). Doch anhand dieses Beispiels seien auch zwei Bedenken angemeldet – bescheiden, wie es sich angesichts einer notwendigen, nützlichen und sehr gründlichen Arbeit geziemt: Wenn Gerda Weiler sich auch immer wieder von einem zerlegenden patriarchalen Denken absetzt, das etwa weibliche Gottheiten aufspaltet in „gute“ und „dämonische“, so wird doch dabei nicht deutlich, was – über ein allgemein „Mütterliches“ hinaus – das „Matriarchale“ als umfassendes positives Prinzip denn nun meint. In dem, was ihr da vorschwebt als lebenserhaltende, zukunftsweisende Kraft, die Frauen und Männern zu Gebote steht – nach der gründlichen Kritik an Jung und Neumann sind sie ja nun gleichberechtigt in ihrem Zugang zu anima und animus, wenn sie es nur wollen weiß sie sich wohl einig mit allen Leser(-innen) dieses Buches. Aber – und dies mein zweites Bedenken –: Reichen uns die alten, in diesem Fall gar ausdrücklich die vor den alten liegenden ur-alten Mythen, die dankenswerterweise wieder ausgegrabenen, wieder verfügbar gemachten, um über unsere „modernen“ Analytischen Psychologen (und andere) hinauszugelangen? Wird „Matriarchat“ als Mythos so nicht eher zu m Hindernis für eine Suche nach gegenwärti- Bücher zum Thema ger und zukünftiger ganzheitlichmenschlicher Herrschaft, weil man die zwischen Ur-Bild (Großer Göttin) und Jetztzeit liegende (patriarchale) Geschichte nicht einfach als Irrtum möglichst schnell wegdenken kann? Aber das sind Fragen. Gut, wenn ein Buch zu ihnen anregt. Adelheid Müller-Lissner Gerd Bergfleth et al.: Zur Kritik der palavernden Aufklärung. München 1984 (Verlag Matthes & Seitz) In einem Gespräch mit R. Grimmiger (vgl. Merkur 9/10, 1985, S. B54 ff.) beklagt der Verleger A. Matthes, daß das Buch bislang nur „pauschal verfemt“ und „nicht diskutiert“ worden sei. Er sieht den Grund in einer Tabuisierung der nationalistisch und antisemitisch gefärbten Pamphlete Bergfleths, die als gezielte Provokationen „unseres selbstgewissen Zeitgeistes“ zu verstehen seien. Was fällt nun ins Gewicht, wenn man herausfinden will, was die ‘Originalität’ von Bergfleths Aufklärungskritik und das ‘Subversive’ seiner Bemühungen ausmacht? Zunächst geht es um die „vernunftkritischen“ Texte Bergfleths, danach – im Blick auf das editorische Konzept – um Texte J. Batailles, S. Weils und J. Baudrillards, die in den Band aufgenommen sind. Über eine Vorrangstellung theoretischer Vernunft und über eine erkenntnistheoretisch geleitete Metaphysikkritik schafft die Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit die Grundlagen für die zweckrationalen Orientierungen „technokratischer“ Gesellschaften der Moderne. Gerade hierdurch werden die Ideale der Aufklärung („Recht“, „Freiheit“ u.a.) hintergangen; es bleibt nur deren ‘Simulation’. Dies führt Bergfleth, teils in Anlehnung an Baudrillard, in dem Beitrag „Zehn Thesen zur Vernunftkritik“ aus. „Vernunftherrschaft“ schlägt in eine eh schon intendierte „Herrschaftsvernunft“ um. Diese kann sich, wissend um das Scheitern der Aufklärung, nur noch „palavernd“ behaupten. Es gibt jedoch noch etwas zu retten, was Bergfleth „Weltvernunft“ nennt: ein „Organ der metaphysischen Wahrheit“. Die „Weltvernunft“ (der Leser erfährt nicht näher, was Bergfleth damit meint) kann nur durch eine „Todesrevolte“ gerettet werden, die die Mythen und Rituale des „Opfertodes“ rehabilitiert (vgl. Bergfleths Baudrillardinterpretation, in: Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982). Dem inszenierten ‘Untergang’ wird die Perspektive einer ‘Entmachtung’ der (modernen) gesellschaftlichen Systeme zuge- Bücher zum Thema sprochen, die für „Vernunftherrschaft“ resp. „Herrschaftsvernunft“ stehen. Was Bergfleth zu den Rationalitätskrisen moderner Gesellschaften ausführt, geht z.T. auf Horkheimer/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ zurück. Er scheut dabei nicht die Peinlichkeit, sich zunächst da zu bedienen, wo er eine „palavernde Aufklärung“ am Werk sieht. Bergfleth kritisiert die „Dialektik der Aufklärung“ („Dialektik des Aufklärichts“, 21) in dem Beitrag „Der geschundene Marsyas“. In den Thesen „Schon der Mythos ist Aufklärung“ und „Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ sieht Bergfleth den Versuch einer „rationalistischen Vergewaltigung des Mythos“. Er liest die besagten Thesen ‘undialektisch’ („Zugleich von Mythos und Aufklärung“) und macht dann ein „ungeschichtliches Verfahren“ zum Vorwurf. So wird die These unterschlagen, daß „Aufklärung“ und „Mythos“ vor Ort je in einem Aspekt verdeckt bleiben. Eine ‘aufgeklärte Aufklärung’ kann allenfalls die sein, die ihr aporetisches Selbstverständnis durchschaut. Daß es sich nicht um einen glatten Lösungsvorschlag handelt, stört Bergfleths Bild einer vorbehaltlosen Verteidigung „der Aufklärung“. In dem Beitrag „Die zynische Aufklärung“ setzt Bergfleth seine ‘Vernunftkritik’ in anderem Tonfall fort. Es geht nun um eine Erklärung der „linken Vorherrschaft“ einer „neuen Aufklärung“ in den sechziger und siebziger Jahren. „Entscheidender Faktor“ sei „die zurückgekehrte deutsch-jüdische Intelligenz“ gewesen, die ihre „letzte Chance“ erhalten habe, „Deutschland nach ihren weltbürgerlichen Maßstäben umzumodeln“. Bergfleth spricht von „heimatlosem Judentum“, von einer „Auslöschung des Individuellen“, von einem „Deutschen“, der „nicht er selbst“ sein dürfe. Zwar distanziert sich Bergfleth vom „Rassismus“ der nationalsozialistischen „Todesbürokraten“, aber wessen Sprache spricht er hier? An Bergfleths engagierter Gegnerschaft bleibt letztlich unklar, was er unter „Vernunft“ und „Aufklärung“ versteht. Eine ‘Kritik’ von „Herrschaftsvernunft“ soll ihrerseits „die Vernunft“ „als leidenschaftliches Denken“ wiederherstellen. Bergfleth ontologisiert aber zudem ein „reines Denken“. Sollte das letztere etwas mit dem Rationalitätsverständnis ‘der Aufklärung’ zu tun haben, so doch auch etwas mit einer „Vernunftherrschaft“, gegen die Bergfleth zu Felde zieht. Was also ist an den Texten ernst zu nehmen außer dem neuen ‘völkischen’ Tonfall? Was Bergfleth ernst genommen wissen will, ist seine polemische Geste im Dienst einer ‘Auflehnung’ gegen „Herrschaftsvernunft“. Was Bücher zum Thema dem Autor aber als ‘subversiv’ vorschwebt, hat eine subtile Entsprechung in einer derzeit auf den Plan tretenden Geschichtsschreibung, die Kontinuität sichert, indem sie prekäre Zeitabschnitte auf scheinbar kommensurable Identifikationsmuster hin historisiert. Bergfleths Akt der ‘Auflehnung’ hat eine Seite des Einverständnisses. Daß der Gegenstand über die angestrengten Bemühungen um einen heroischen Tonfall nebulös bleibt, bringt letztlich das editorische Konzept des Buches in Verlegenheit. Etwa sind die beiden Texte Batailles über Nietzsche („Nietzsches Wahnsinn“; „Nietzsche“) wohl kaum für eine bestätigende Zuordnung geeignet. Mit seiner Vorstellung einer ‘Überschreitung’ „rationalen Denkens“ versucht Bataille, das ‘Überschrittene’ auf seinen Platz zu verweisen. Erst das souveräne Verfügen über „rationales Denken“ setzt für Bataille die expressiven Akte frei, die sich vernunftgebundenen „Regeln“ entziehen. Dies unterscheidet sich erheblich von Bergfleths Manier des Kahlschlages. Auch S. Weils Text „Reflexionen über die Ursachen der Freiheit und der Unterdrückung“ ist in diesem Zusammenhang interessant. Mit einer „palavernden Aufklärung“ (mit Horkheimers „Kritik der instrumentellen Vernunft“) teilt S. Weil grundlegende Aspekte eines Ge- schichtsverständnisses. Selbst im Blick auf einen Interviewtext Baudrillards sind Abgrenzungen angebracht. Der Theorie der „strukturalen Revolution“ und der „Simulakren“ sind Perspektiven der Rettung von ‘Vernunftspielarten’ verwehrt. Fatalismus (‘katastrophische Logik der Welt’) soll hier einen (reflektierten) „Archaismus“ des Spielens mit „Ritualen“ freisetzen – mit offenem ‘Ende’. Bergfleth will vor allem retten; über das Was läßt er im unklaren. Ignaz Knips Peter Glotz, Günter Kunert und Sozialistische Studiengruppen Mythos und Politik. Über die Magischen Gesten der Rechten Hamburg 1985 (VSA-Verlag), br., 147 S., 18.- DM. Die Midlife-Krise der westdeutschen Linken und die Verödung ihres politischen Theoriebodens, die neokonservative Offensive des „reaktionären Zeitgeistes“ (J. Habermas) und der „Neue Spiritualismus“ (R. Nemitz) postmoderner Provenienz ... Dies bildet den politischideologischen Hintergrund der Themen: Mythos/Aufklärung, Vernunft/Emotionalität (Sinnlichkeit), Marxismus/(sozialdemokratischer) Positivismus, rationaler Diskurs/Sprache als Unio mystica, im Bücher zum Thema Schatten von Horkheimer und Adornos „Dialektik der Aufklärung“ und ihren zwei Thesen: „schon der Mythos ist Aufklärung und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück ... der Fortschritt schlägt in den Rückschritt um.“ Naturbeherrschung positivistischer Fortschrittsgläubigkeit schlägt um in Herrschaft über den Menschen und in die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen bis hin zum Over-kill. Die ökonomische, gesellschaftliche und politisch-kulturelle Krise führte nicht nur zu einer Verunsicherung der – heterogenen – Linken über das Projekt Sozialismus und den Verlust „kultureller Hegemonie“ (P. Glotz), sondern auch zu einem philosophisch-ideologischen Paradigmawechsel. Kultur- und Fortschrittspessimismus, einst Domäne eines re-aktionären Konservatismus (Spengler, Klages, Heidegger, u.a.), er- und zersetzen Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“. Linker Katastrophismus kolonialisiert die Köpfe. Die Sozialistischen Studiengruppen (SOST) versuchen, diese „Sehnsucht Mythos“ (Titel) zu rekonstruieren resp. zu erklären, ausgehend vom Alltagsleben über die geschichtliche Rekonstruktion bis hin zur heutigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, – gestützt auf Cassirer, Hegel und Marx. Wider den „Ruck ins romantische Rechts“ orten sie den Mythos in den vorbürgerlichen Gesellschaften als „ursprünglich“, in der bürgerlichen aber entsprungen aus dem „Gegensatz von entfremdeter Abstraktion und entfremdeter Sinnlichkeit“ (79). Für die Linke gelte es, die Entwicklung einer alternativen Reformpolitik voranzutreiben, „die die Umgestaltung des Lebensprozesses der Lohnabhängigen zum Ziel hat, um eine andere Form des Arbeitens (Marxens ‘travail attractif’ ) und Lebens, um eine ganzheitliche Veränderung des Lebensprozesses jenseits mythologischer Vorstellungen“ (86). Günter Kunert sucht den „Schlüssel zum Lebenszusammenhang“ (Titel), indem er den Mythos versteht als „eine frühgeschichtliche Anschauungsweise ... die der Sinnlosigkeit und Rätselhaftigkeit des unbegreiflichen irdischen und kosmischen Geschehens zu Sinn verhilft“ (93). Dabei sind für ihn sowohl Geschichte als auch Literatur Dienst resp. „Arbeit am Mythos“ (Blumenberg); denn „die Zukunft (gibt) keine Antwort mehr, (so) antwortet der Mythos.“ Bloch ist tot, es lebe der Nihilismus. Auch „der historische Materialismus (der dialektische steht außer Reichweite, d.Verf.), der sich als Wissenschaft geriert, weil er meint, objektive Maßstäbe zu besitzen, schafft am Mythos Geschichte weiter“ (93). Eine Blindheit, die Verwechslung von Aufklärung und Bücher zum Thema Marxismus produziert, – begrifflich diffus. Was folgt, bleibt die politische Konfession des Stratego-Fanten der SPD, Peter Glotz: „Die Rückkehr der Mythen in die Sprache der Politik“ (Vortrag auf dem Germanistentag in Passau). Für ihn entstand der Mythos in der Politik durch zweierlei: (1) „durch die Verabsolutierung eines Wertes oder Zieles und (2) durch das Versprechen, es gleich erreichbar zu machen“ (116 f.). Zurecht kritisiert Glotz die sottis’schen Kohlköpfigkeiten profaner und geweihter Provenienz, ebenso die technokratischen Topoi eines Helmut Schmidt (versus gr. ou + topos = Utopie), – und folgert: entgegen den beiden aufklärungsfeindlichen Stilen der neuen Linken – „die Ersetzung des rationalen Urteils durch Moralisierung; und die Ersetzung von Politik durch symbolische Handlung“ (145) – steht das Erinnern an die „Aufgabe der Aufklärung: sich gerade auch im Politischen gegen Mythos und Zauber, die in der Moderne allemal Herrschaft verbergen, des eigenen Verstandes zu bedienen“ (147). „Mythische Seinsgewißheit steht gegen Politik“ (122). Als wesentlich erscheint mir der Konnex: Mythos-Politik-Linke. In dem – leicht lesbaren – Buch bildet der SOST-Artikel den lesenswertesten Teil; Kunert und Glotz folgen nach. Übertüncht verbleibt die be- griffliche Unklarheit: wer oder was sind „die Linken“? Bleibt letztlich doch nur „Freistil-Klotzerei“ (Ludi Lodovico)? SOST-lich untermauert und v. Oertzisch verklärt („Gesellschaftliches Reformprojekt“, „Minimalkonsens“)? Aber – entgegen der sozialdemokratischen Ausuferung –: „als analytische Theorie, als wissenschaftlicher Sozialismus, hat der Marxismus keineswegs ausgedient ... Die marxistische Theorie ... hat noch immer eine ungebrochene Kraft der Erklärung der diese Gesellschaft bewegenden Gesetzte und der daraus resultierenden Tendenzen, auch wenn wir uns natürlich daran gewöhnen müssen, nicht mehr von dem Marxismus, sondern von den Marxismen zu sprechen“ (Elmar Altvater). Sozialdemokratisches Aufklärungspathos aber verbleibt selbst wiederum im ideologisierten Mythos und politischer Traum-Deutung: „Ich träume von einer gerechteren Welt ...“ (Bruder Johannes). Hans G. Mittermüller Claude Lévi-Strauss Eingelöste Versprechen – Wortmeldungen aus dreissig Jahren. Der Blick aus der Ferne, Supplemente Bd. 2 und 3 München 1985 (Fink-Verlag) Ich habe nicht eine Philosophie machen Bücher zum Thema wollen, ich habe nur versucht, mir zu meinem eigenen Nutzen die philosophischen Implikationen einiger Aspekte meiner Arbeit klarzumachen. (Mythos und Bedeutung, Frankfurt 1980, S. 78 f.) Durch einen wissenschaftlichen Text wird ein Element der Inszenierungen im wissenschaftlichen Diskurs dokumentiert und eine bestimmte Form der Sprache und der Schrift organisiert. Die vorliegenden Textelemente dokumentieren eine „strukturalistische Tätigkeit“ (R. Barthes) auf dem Feld der Ethnologie, der Kunstbetrachtung sowie des wissenschaftlichen Diskurses über „Umwelt/Ökologie“ bis hin zur „Freiheit“. Durch diese Tätigkeit – mit der Perspektive auf einen jeweiligen sprachlichen Ort – wird die Analyse der jeweiligen strukturalen Ordnung praktiziert. Die Eigenbewegungen der Sprache als auch eine am Ideal der „Ratio“ orientierte wissenschaftliche „Vernunft“ zeichnen den Hintergrund dieser leidenschaftlichen Suche nach den Verbindungslinien der systematischen Ordnung der Elemente. Eine über 30jährige Suche nach den Spuren in Literatur, Archiven, anthropologischen Regionen, um ein Netz des Wissens aus Vergangenem und Gegenwärtigem zu knüpfen. Wenn H.J. Heinrichs über dieses Lebenswerk schreibt, es sei „nicht der unbezwingbare Felsen“ – vielmehr ein „Netz aus Spuren eines Weges durch die Welt alter, vergangener und neu entstandener Kulturen“ (in: Sprachkörper, Frankfurt 1983, 49), so sind in diesem kreativen Netz manch urgesteinsharte Brocken enthalten, die manches wissenschaftliche „Subjekt“ und manchen „Kulturfreund“ erschauern lassen. Diese basieren z.B. auf der Arbeit der Decodierung zum Zwecke der Überwindung des Dualismus von Geist und Körper auf der Analyse der Mythologie mit Zielsetzung der Überwindung der Theologie. „Man erhebt wider die Strukturalisten manchmal den Vorwurf, sie spielten mit bloßen Abstraktionen ohne Deckung durch das Reale. Ich habe zu zeigen versucht, daß die strukturale Analyse, weit davon entfernt, Zeitvertreib für Dilettanten und Ästheten zu sein, im Geist nur in Tätigkeit tritt, weil ihr Modell bereits im Körper vorhanden ist ... Auf Wegen, die zu unrecht als überintellektuell gelten, führt der Strukturalismus dem Bewußtsein tiefere Wahrheiten zu und entdeckt sie neu, die der Körper bereits undeutlich ausspricht; er versöhnt Leibliches und Seelisches, Natur und Mensch, Welt und Geist und strebt der einzigen Form von Materialismus entgegen, der mit den gegenwärtigen Orientierungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes vereinbar ist. Nichts Bücher zum Thema des vereinbar ist. Nichts liegt da ferner als Hegel; nichts ferner auch als Descartes, dessen Dualismus wir überwinden möchten, obwohl wir gleichzeitig seiner rationalistischen Denkhaltung treu bleiben“ (Bd. 3, S. 184 f.). Wenn gemäß nordamerikanischer Interpretation „the Return of Grand Theory in the Human Sciences“ (Skinner) vollzogen wird, kann das intellektuelle Feuer einer strukturalistischen Arbeitsweise noch manches Klima erwärmen. Durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit den sog. „primitiven Kulturen“, mit Farben, Texturen, Geschmacksund Geruchsnuancen ... kann nicht nur ein intellektuelles Feuer genährt werden: „So lernen wir die Natur und die sie bevölkernden Lebewesen besser verstehen und achten, wenn wir begreifen, daß Pflanzen und Tiere ... dem Menschen nicht nur seine Subsistenzmittel liefern, sondern auch seit den ersten Anfängen der Menschheit die Quellen ihrer intensivsten Gefühle und – im intellektuellen und seelischen Bereich – ihrer frühesten und bereits tiefgründigen Spekulationen waren“ (Bd. 3, S. 185 f.). Auf die beiden Bände – mit der adäquaten Übersetzung durch R. Rochlitz, H.H. Henschen und J. Vogl – kann sowohl der Kenner des Lévi-Strauss’schen Textkörpers zur Ergänzung zurückgreifen, als auch der Neuinteressierte zur Einführung. Rüdiger Brede Florian Rötzer Französische Philosophen im Gespräch München 1986 (Boer-Verlag), 163 S., 19.80 DM Über der französischen Gegenwartsphilosophie schwebt bei uns der Verdacht, wenn nicht schon des blanken Irrationalismus, so doch der Frivolität eines Denkens, der den Landsleuten westlich des Rheins seit jeher anhängt. Florian Rötzer hat sich mit Tonband und Kassetten aufgemacht, um im Gespräch diesem Vorwurf auf die Spur zu kommen. Was dabei herausgekommen ist, ist ein überraschend buntes und konkretes Bild von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der französischen Philosophen. Im Vorwort, das Rainer Rochlitz beigesteuert hat, beschreibt dieser die Situation der französischen Philosophie als eine zwischen aktueller Subversion und Tendenzen zu einer neuen Orthodoxie, die sich hinter dem Schilde ihrer Strategie von unten neu auftun könnte. Die folgenden insgesamt acht Gespräche, die Rötzer mit Baudrillard, Castoriadis, Derrida, Lyotard, Serres, Raullet, Lévinas und Virilio geführt hat, las- Bücher zum Thema sen klarer werden als alle Kolportagen aus zweiter oder dritter Hand und alle verzweifelten Kämpfe mit den Konvoluten dieser Polygraphen, wohin ihr Denken zielt. Es schälen sich die Motive ihres Denkens, ihre Enttäuschungen über das Projekt des Marxismus, das im „öden Feld“ (Baudrillard) des Mitterandismus Realität wurde, ihre Suche nach Neuzugängen zum Verständnis der Gegenwart und nach möglichen Perspektiven heraus. Baudrillards „Simulation“, Lyotards „Ästhetik des Erhabenen“, Derridas „Dekomposition“ gewinnen über ihren Schlagwortcharakter hinaus Konturen. Ihre Hinwendung zum Ästhetischen – in den Mittelpunkt der Gespräche tritt immer wieder Kants „Kritik der Urteilskraft“ – ist für sie der Ausdruck einer Krise der Geschichtsphilosophie, dem allerdings ganz die Häme fehlt, die so viele deutsche „Postmodernisten“ bei dieser Analyse befällt. Mag auch da und dort die romantische Flucht vor der Gegenwart als Möglichkeit anklingen, so besteht doch der von der Bundesrepublik erhobene Irrationalismusvorwurf zu unrecht; zu sehr sehen sie sich – bei aller Ambivalenz – der französischcartesischen Tradition verbunden. Zumindest bei Raullet und Serres, in gewisser Weise auch bei Lyotard, ist vielmehr die Suche na.ch einer neuen Einheit zu spüren, die man im Moment nicht finden und erst Moment nicht finden und erst recht nicht herbeireden kann. Rötzer ist mit seiner Arbeit ein höchst informatives und preiswertes Werk gelungen, das beitragen kann, die immer wieder bedauerte Verständnislosigkeit der gegenwärtigen Philosophie in Frankreich zu beheben, über die allzuoft geredet wird, ohne sie zu kennen. Alexander von Pechmann In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 157168 Neuerscheinungen Besprechungen Neuerscheinungen Gena Corea: MUTTER MASCHINE RBPRODUKTIONSTECHNOL OGIEN. Von der künstlichen Befruchtung zur künstlichen Gebärmutter Berlin 1986 (Rotbuch Verlag) So wie bereits heute die Körperteile von Frauen in der Prostitution und in der Sexindustrie vermarktet werden, sieht die Autorin schon bald einen schwunghaften Handel mit Unterleib, Gebärmutter, Eierstöcken und Bier für Zwecke der Fortpflanzung entstehen. Noch sind unfruchtbare Frauen (und Paare) die wichtigste Zielgruppe für Reproduktionstechniker. Die Zukunft malt Gena Corea in düstersten Farben: eine Welt, in der alle Menschen sterilisiert sind, Eier und Sperma tiefgekühlt in irgendwelchen Banken lagern und eine Elite von Medizinern darüber entscheidet, wer sich reproduzieren darf. Umweltgiftresistente Spezies mit hoher Intelligenz werden im Labor dann keimfrei geklont und „Schwächlinge“aussortiert ... Die Autorin, Initiatorin des heute international arbeitenden Netzwerkes von Frauen gegen die neuen Reproduktions- und Gentechnologien (FINNRAGE) mit Sitz in London, hat eine vernichtende Kritik zum Stand der gegenwärtigen Forschung und Praxis auf diesem noch sehr umstrittenen Wissenschaftsgebiet zusammengetragen. Wer aber von den vielen Skeptikern denkt bei dem ethischen Problem Reproduktionstechnologien eigentlich an die gesundheitlichen Folgen der behandelten Frauen? Gena Corea schildert drastisch die Torturen der einzelnen Eingriffe und ihre oft schlimmen Folgen: „Unfruchtbarkeit durch Medizinerhand“ ist eines der zahlreichen Neuerscheinungen Kapitel, in dem die unmittelbaren Folgen leichtfertiger hormonel1er und operativer Eingriffe in den Unterleib von Frauenbeschrieben werden. Reproduktionstechnologie als letztendlicher Versuch des internationalen Patriarchats, die Frau als Mutter endlich überflüssig zu machen? Manche Thesen der Autorin sind stark überzeichnet und gehören wohl eher ins Reich feministischer Legendenbildung. Trotzdem ist Gena Coreas Abrechnung mit Reproduktionstechnokraten ein wichtiger und spannend geschriebener Beitrag zum Thema künstliche Befruchtung, Embryotransfer, Leihmutterschaft und Genmanipulation aus der Sicht von Frauen, der manch „aufgeklärtem“ Zeitgenossen den Schauer über den Rücken treibt. Karin Gaube Margret Jäger, Siegfried Jäger, Dieter Kantel, Lothar van den Kerkhoff, Helmut Kellershohn, Michael Schroeter, Walter Volpert: „DA WIRD DER GEIST EUCH WOHL DRESSIERT ...“ KONTROLLIERT UND ABSERVIERT. COMPUTER IN SCHULE UND BETRIEB Mülheim/Ruhr 1985 (Verlag Die Schulpraxis, 350 S.. DM 19 80) Dieses Buch trifft ins Mark des „linken“ und gewerkschaftlichen Medien- und Technologieverständnisses: die Gültigkeit der „Neutralitätsthese“, wonach Technik generell Werkzeugcharakter besitzt und ihre sozialen Fragen ausschließlich von der Form und dem Ausmaß der gesellschaftlichen, d.h. kollektiven Kontrolle abhängen, wird hier entschieden bestritten. Dem Computer als „Denkzeug“ (S. Jäger) sei im Gegenteil ein urkapitalistischer Zweck inhärent, nämlich Rationalisierung und Kontrolle, was gleichbedeutend sei mit Profitmaximierung und Optimierung der Ausbeutung. Im ersten Kapitel beschäftigen sich S. Jäger und Volpert mit den Auswirkungen des Umgangs mit dem Computer auf das Denken, Erleben und die Kommunikationsfähigkeit der Programmierer und Bediener. Jäger kommt dabei zu dem Ergebnis, daß die notwendige Inhaltsreduktion bei der Digitalisierung komplexer Zusammenhänge nicht nur zur Transformation dialektischer Beziehungen in formallogische führt, sondern letztlich zur Auflösung der dialektischen Einheit von Form und Inhalt: die maschinengerechte Zurichtung der Wirklichkeit zwingt Inhalte generell in eine programmgerechte Form, Neuerscheinungen womit nicht mehr der Inhalt, sondern die Form zum „bewegenden Moment“ wird. „Die damit verbundene Wirklichkeitszementierung ist ein herrschaftssicherndes Element, konservativ und konservierend“ (33). Der Mensch hat sich beim Umgang mit dem Computer dessen Programmierregeln völlig zu unterwerfen. Diese Unterwerfung ist Voraussetzung für den „Dialog“ mit der Maschine, - mit der Konsequenz, dass der Umgang mit dem Computer, weil individuelle Handlungsspielräume, Kreativität, Rationalität und Phantasie eingeschränkt werden, eine faschistoide Persönlichkeitsdisposition erzeuge. Dieser Gedanke, in der „Schlußbemerkung“ auch noch an exponierter Stelle geäußert, erinnert sehr an die bewahrpädagogischen Eiferer der 50er Jahre, nur kommen diesmal die Bedenken von links. Dadurch wird der sonst sehr differenzierte Aufsatz unnötigerweise ein Stück weit entwertet. Hier ist Volpert überzeugender: er vertritt als einziger Autor die Neutralitätsthese und stellt klar, daß die pathologischen Erscheinungsformen der „Mensch-RechnerKommunikation“ Entwicklungslinien aufzeigen, die „in unserer Gesellschaft bereits seit längerem wirken und für die der Umgang mit Computern in Arbeit und Freizeit nicht ursächlich ist“ (78). Der Computer hat allenfalls eine diese Entwicklung verstärkende Funktion und löst entsprechende Symptome bei manchen Menschen erst aus, wie z.B. pathologisches Programmieren. Volpert sieht in der bestehenden Form der Arbeitsteilung das Grundproblem, sie ist sowohl die Voraussetzung für die Computersierung als auch eine Hauptursache für pathologische Faszinationen und Beziehungen mancher Menschen zur Technik und zum Maschinenhaften; sozial verträglicher Computereinsatz ist also durchaus möglich. - Der Beitrag von Schroeter befaßt sich mit dem Computer-Lernen in der Schule auf dem Hintergrund der heutigen lerntheoretischen Grundlagen des Schulunterrichts, deren behavioristische bzw. anpassende Prinzipien dem computervermittelten Lernen sehr entgegenkommen. Durch den Computereinsatz im Unterricht wird somit das „soziale Lernen“ noch ein Stück weit zugunsten des zweckgerichteten, kategorisierten Denkens zurückgedrängt. Die Technologisierung der Schule und der massive „sanfte Druck“ der Computerindustrie auf Lehrerschaft und Schulverwaltung zum Zwecke einer möglichst umfassenden Computerisierung von Unter- Neuerscheinungen richt und Schulverwaltung ist auch das Thema des zweiten Kapitels. Kerkhoff zeigt die Argumente der Unternehmerverbände und ihre Strategien zur Erhöhung der Akzeptanz des Computers im Unterricht auf. Dabei wird deutlich, daß es so gut wie keine pädagogische Begründungsmöglichkeit für die Einführung des Computers im Unterricht gibt, denn es stehen jeder pädagogisch sinnvolle Programme zur Verfügung, noch ein gesichertes Wissen über die psychischen und kognitiven Folgen eines Computerunterrichts: es dominiert das Verkaufsinteresse. Kellershohn analysiert die Auswirkungen der Technologisierung der Schule auf die Qualifikations- und Selektionsprozesse auf dem Hintergrund bildungsökonomisch und bildungspolitisch relevanter Prozesse. Ein Beitrag von Kantel über die Probleme mit Schulinformationssystemen und die damit verbundene Zunahme von Einfluß- und Kontrollmöglichkeiten der Kultusbürokratie auf die einzelnen Schulen beschließt das Kapitel. Die schier unbegrenzten Kontrollmöglichkeiten, die der Einsatz von Personalinformationssystemen im Betrieb bieten und die gewaltigen Möglichkeiten, die mit der Vernetzung von bislang relativ kleinen und voneinander nahezu unabhängigen rechnergestützten Produktions- und Verwaltungsbereichen für Rationalisierungsprozesse geschaffen werden können, sind Gegenstand des dritten Kapitels. Am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen IG-Metall, Betriebsrat und der Adam Opel AG um die Einführung des Personalinformationssystems PAISY zeigt Kantel die Schwierigkeiten der OpelBelegschaft auf, sich erfolgreich gegen die Einführung zu wehren. Ebenfalls von Kantel ist ein Beitrag über die erfolgreiche Verhinderung der umfassenden Computerisierung der Stadtverwaltung in Duisburg. Gerade aus diesen beiden Beispielen wird besonders deutlich, wie komplex die Folgen der Computerisierung in Betrieb und in öffentlichen Verwaltungen sind - aber auch, welche konkreten Möglichkeiten die Beschäftigten bzw. der Betriebsrat hat, gegen das Anlegen von Datenbanken zu intervenieren. Margret Jäger referiert in ihrem Beitrag das Aktionsprogramm der IG-Metall zum Gegenstand der neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Dabei unterzieht sie den Glauben der Gewerkschafter an die Möglichkeiten der Technik und Rationalisierung zur Lösung der Massenarbeitslosigkeit einer notwendigen Kritik: Neuerscheinungen solange die Gewerkschaften der Modernisierungsstrategie nicht mehr als den vagen Kampf um die „sozialverträgliche“ Anwendung der Computertechnologie entgegensetzen, bleiben sie in der Defensive. Nach Jäger müssen die Gewerkschaften schon auf die Technikentwicklung Einfluß gewinnen, wenn überhaupt eine im Interesse der Arbeiter und Angestellten liegende Technikanwendung erkämpft werden soll. Das Buch beschließt ein Aufsatz Schroeters über die Geschichte der Informationsübertragung und Verarbeitung. Hier wird noch einmal die Generalthese des Bandes aufgenommen und verdeutlicht: die herrschende Technik ist die Technik der Herrschenden. Der Computer stellt hierzu nicht nur das modernste, sondern auch das potenteste Beispiel dar: er macht es nach Schroeter in perfekter Art möglich, die zwei Grundelemente kapitalistischer Produktionsweise miteinander zu verknüpfen: Produktivitätssteigerung und Herrschaftsstabilisierung. Das vorliegende Buch hat durchaus einige bedenkliche Schwachstellen, z.B. das zugrundeliegende Verständnis „kapitalismuskritischer“ Auseinandersetzung mit den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien; da wird des öfteren mit moralischen Appellen argumentiert statt mit sozioökonomischen Analysen gearbeitet, manches wirkt etwas kurzatmig und unverständlich hergeleitet. Dennoch ist dieses Buch ohne Einschränkung zu empfehlen. Es hat mich zwar nicht von der Ungültigkeit der „Neutralitätsthese“ überzeugen können, die aufgeworfenen Fragen sind aber nicht von der Hand zu weisen. Das Buch verdiente eine intensivere Auseinandersetzung, als es in diesem Rahmen möglich ist. Karl-Heinz Schmid Walter Seitter: MENSCHENFASSUNGEN. STUDIEN ZUR ERKENNTNISPOLITIKWISSENSCHAFT München 1984 (Klaus Boer-Verlag) „Endlich ist es möglich, die Differenzen des Heute zu denken, das Heute als Differenz der Differenzen zu denken.“ (M. Foucault: Der Ariadnefaden ist gerissen, in: G. Deleuze/M. Foucault: Der Faden ist gerissen, Berlin 1977) Sitzt der Textproduzent in einem wirklich kalten Winter an seinem Arbeitsplatz, am Übergang vom universitären Ort zur Berglandschaft in selbstgewählter Einsamkeit - liegt die Möglichkeit der „Kälte Neuerscheinungen der theoretischen Abstraktion“ nicht fern. Hier vernimmt der Texter „aus der Ferne“ einen förmlichen Schrei nach den Besonderungen und gelangt an „die Schwelle der 'Schneeheit“ (193). Die Transparenz, die Unbeflecktheit, die Leichtigkeit ... einer Schneeflocke demonstriert dem Betrachter einen „Reichtum der Beziehungen und Überbrückungen“ (196). So eine „Verflechtung von Ereignis und Struktur“ bezeichnet eine bestimmte, strukturierte Form als 'Verhalten'. 'Schnee' als Ereignis kommt zustande, wenn sich bestimmte Dinge auf mehreren Parametern zu bestimmten anderen Dingen verhalten, mit ihnen das Verhältnis bilden, welches wir das 'Ding' Schnee nennen. Nur als Verhalten zwischen Elementen 'gibt es' Schnee. Zu solchen Verhaltensverhältnissen, in denen wir mit dem Schnee so aneinandergeraten wie wohl auch Pflanzen mit dem Schnee zu tun bekommen, wenn sie von ihm beschneit werden - kommt hinzu, daß dem Menschen, wo er geht und steht, sein Wissen sowie seine historische Erfahrung von den Dingen „sich als Etwas zwischen ihm und die Dinge schiebt“. Durch die Einschaltung dieses „Zwischendings“ (H. Pless- ner) bekommt „die spezifisch menschliche Verhaltensweise eine Zusatzkomplexität, die technisch zu analysieren ist, weil sie - auch in ihrer Zeichengerüstetheit - ein Arrangement aus Elementen ist; und sie bekommt eine Kontingenz, die als Feld von Politiken zu analysieren ist, weil sie einen Distanzen-Raum aufreißt, der nur noch 'arbiträre' Realisierungen zuläßt.“ Mit diesem Text - der als einer der ersten wissenschaftlichen Titel in dem 1984 gegründeten Klaus Boer Verlag erschienen ist - wird eine Geometrie der Verhaltensverhältnisse in ihren begrifflichen Elementen untersucht. Mit der Knüpfung des Begriffsnetzes werden aufgezeichnet: die Konstruktion von politischen Produktionen, die Differenz von „Außenpolitik“ und „Innenpolitik“, die Differenz von Makro- und Mikropolitik, ihre immanente Grenze als Differenzierung - kurz eine Topologie der Kraftfelder „menschlicher Machenschaften“. Die Produktionen von Politik werden an historischen, ökologischen, meterologischen und wissenschaftstheoretischen Punkten dramatisiert, so daß durch die gedankliche Reproduktion der „logische Konformismus“ (E. Durkheim) spezifischer politikwissenschaftlicher Diskurse abgestreift Neuerscheinungen werden kann. Durch die wiederholte Darstellung solcher Punkte werden die Verhältnisse und Relationen von Verhalten und Strukturen aus begriffslosen Akten der Verkennung zu vergnüglichen Akten des Erkennens. Im ersten Teil des Buches werden als wissenschaftshistorische Elemente nachfolgende Elemente von Politiken untersucht: das Darstellungs-System der Heraldik als EinheitsherstellungsTechnik, der Zusammenhang der Christus-...-Relation (KirchePapst/Staat-Kaiser) mit einer Allwissenheits-Technik, die „reine Statistik“ als erste 'PolizeyWissenschaft als Ordnungs- und Erziehungs-Technik. (Die grundlegende Bedeutung dieser BasisElemente für politische Prozesse benötigt wohl keiner ausführlichen Erläuterung.) Das Anliegen dieser theoretischen Arbeit formuliert der Textproduzent wie folgt (61): „Ich stelle ein historisches Triptychon voran, um anhand von Techniken, anhand von Geschichten vor Augen zu führen, daß Politik das Zueinander und Gegeneinander von Machen schaften ist, in denen den Menschen Schicksale gemacht werden - von Menschen. Aber 'was' die und die Menschen sind, das steht nicht von vornherein fest und wird auch nie endgültig 'entfaltet'. Wohl greifen die Machenschaften 'in' die Menschen ein, doch machen sie ihnen kein Wesen, sondern 'nur' Schicksale. Daß Politik das Auftreten, das Aneinandergeraten, das SichVerschränken, das Sich-Brechen von Techniken ist, daß Politikwissenschaft über Historie und Analyse von Techniken laufen muß dies muß nicht nur betont, sondern immer wieder geleistet werden.“ Von daher gesehen ist Erkenntnispolitikwissenschaft eine wissenschaftliche Analytik der Produktion von Politik/en. Die Verkettung von Begriffen erfolgt, um die Produktivität der menschlichen Verhaltensakte als Verhaltensverhältnisse - als praktische und zugleich theoretische Diskurse zu begreifen. Eine solche Analytik der diskursiven Produktionsweisen kann die materiellen, politischen Prozesse im Detail und in ihrer strukturellen Verbundenheit erkennen - anders als eine Theorie der „kommunikativen Bationalität“, die von einem wesenhaften 'Sprach-Apriori' her ihre Konstruktion begründet und vor lauter 'Rationalität’ fast nie zur Analyse der Wirklichkeit gelangt! Der Versuch, die Möglichkeiten einer Wissenschaft der Produktion von Politik neuzusehen und zu Neuerscheinungen vervielfältigen, ist mit diesem Text voll gelungen. Eine Wissenschaft der Produktion von Politiken (zur theoretischen Entfaltung des Begriffs „Produktion“ siehe auch 185 ff.) oder der politischen Produktion von Verhalten untersucht die diskursiven Konstruktionen von Verhaltensverhältnissen. Zugleich bringt ein solcher wissenschaftlicher Diskus selbst eine je spezifische Erkenntnispolitik hervor und ist mit seinen strukturalen Elementen selbst an die Bedingungen der Produktion gebunden, von den Formationen des Politischen eingeschlossen. Abschließend kann vermerkt werden: Endlich ist es möglich, die Differenzen des Politischen, insbesondere der Erkenntnispolitik/theorie auseinanderzuhalten! Rüdiger Brede Franz M. Wuketits: EVOLUTION, ERKENNTNIS, ETHIK. FOLGERUNGEN AUS DER MODERNEN BIOLOGIE Darmstadt 1984 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, geb., 239 S., DM 34,-) Die Diskussion über die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ ist heute eine der brisantesten Auseinandersetzungen zwischen den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie, und der Philosophie. Dabei geht es um nicht weniger als um den Anspruch, die philosophischen Disziplinen der Erkenntnistheorie, der Ethik und Kulturwissenschaften auf ein solides natur wissenschaftliches Fundament zu stellen. Die Arbeit des Wiener Philosophiedozenten und Lorenzschülers Franz Wuketits versteht sich zum einen als Zusammenfassung der bisher erreichten Positionen der „evolutionären Erkenntnistheorie“, zum anderen als ein Angebot an die Philosophen, auf die durch die Biologie entwickelten Antworten auf Grundfragen der Philosophie einzugehen. Nimmt man dies Angebot an, so scheint das Buch recht genau die Stärken und die Schwächen der „evolutionären Erkenntnistheorie“ widerzuspiegeln. Gelungen und kompakt ist der erste Teil des Buches zur Theorie der Evolution, der einen guten Überblick über deren Stand, die Kenntnis des genetischen Codes, Eigens Modell der Hyperzyklen und Prigogines Theorie der Selbstorganisation der Materie durch die dissipativen Strukturen gibt, und der die entsprechenden philosophischen Schlußfolgerungen aus diesen Erkenntnissen zieht: die Grenze zwischen anorganischer und organischer Materie ist verschwunden, Neuerscheinungen die Natur ist ein dynamischer, sich selbstorganisierender und evolutiver Prozeß, in den der Mensch eingebunden ist. Weniger überzeugend erscheint mir allerdings der zweite Teil, der sich mit den erkenntnistheoretischen Fragen befaßt. Hier erscheinen die Schlußfolgerungen, die Wuketits aus den Resultaten der neurologischen und phylogenetischen Untersuchungen zieht, noch recht undeutlich. So eindeutig er dafür Stellung nimmt, daß das Denken keine eigene Substanz ist, sondern daß unser Erkennen, das Bewußtsein und Denken das - durch evolutionäre Anpassung entstandene - Gehirn zur materiellen Grundlage hat, so sehr herrscht doch darüber Konfusion, wie nun näher das Verhältnis von Gehirn und Bewußtsein, Leib und Seele, Geist und Materie bestimmt ist. So ist das Gehirn für Wuketits einmal „Grundlage“ des Denkens, dann ist das Bewußtsein „Qualität“ der Hirnleistungen, dann wiederum „entspricht“ jedem mentalen ein neuronales Ereignis; einerseits gehen die Leistungen des menschlichen Denkens weit über den Rahmen der biologischen Evolution hinaus, dann wiederum ist das Denken doch nur wieder Eigenschaft des - biologischen Gehirns. Solch kategoriale Unge- nauigkeit weist darauf hin, daß auch die „evolutionäre Erkenntnistheorie“ kein - der Theorie des Lebens vergleichbares - Modell des Bewußtseins hat. Schwach ist der dritte Teil, der die Ethik zum Gegenstand hat. Wuketits referiert ausführlich die Ergebnisse der Soziobiologie, die auch das menschliche Verhalten aus biologischen Vorprägungen ableiten will, weist aber darauf hin, welche ethischen Gefahren eine solch biologische Betrachtungsweise mit sich bringt, die den Menschen nur als „Überlebensmaschine“ betrachtet. Er weiß sich dann jedoch in den Fragen der Ethik nicht anders zu helfen, als eine ganze Litanei von abstrakten Sollens- und Müssensforderungen, von Appellen an die „Menschlichkeit“ und die „humane Vernunft“ angesichts der Menschheitsprobleme anzuführen, die zwar schön klingt, aber folgenlos bleiben wird. Anstatt wissenschaftlicher Begründungen folgen jetzt bekannte Appelle ans „Umdenken“. Das Buch scheint mir gut den Stand der heutigen „evolutionären Evolutionstheorie“ mit all ihren Stärken auf Seiten des Biologischen und ihren Schwächen auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften widerzuspiegeln; - es gibt einen in seiner manchmal naiven Wissenschaftsgläubigkeit erfrischenden Neuerscheinungen Einblick in den Stand der überwiegend wienerischen Diskussion (Club 2!); eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit den kontroversen Positionen in der Philosophie jedoch wäre zum eigenen Nutzen nicht unangebracht. Alexander v. Pechmann Louis Althusser: PHILOSOPHIE UND SPONTANE PHILOSOPHIE DER WISSENSCHAFTLER. Schriften, Band 4. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Frieder Otto Wolf, hrsg. von Peter Schöttler und F.0. Wolf in Verbindung mit Louis Althusser und Etienne Balibar. Berlin-W. 1985 (Argument-Verlag, br., 171 S., DM 24,-) Im Winter 1967/68 fand an der Ecole Normale Superieure in Paris ein „Philosophiekurs für Wissenschaftler“ statt, an dem - neben Macherey, Balibar u.a. - auch Althusser teilnahm, dessen Vorlesung „Philosophie et Philosophie spontanee des savants“ den Einleitungsteil bildete. In diesem nunmehr überarbeiteten - Essay „finden sich erste Formulierungen, die eine Wende in unseren Untersuchungen über die Philosophie im allgemeinen sowie über die marxistische Philosophie im besonde- ren 'eröffnet' haben ...: In der Philosophie, die keinen Gegenstand mehr hat (in der Art, wie eine Wissenschaft einen Gegenstand hat), geht es um Einsätze (d.h. um etwas, das 'auf dem Spiel steht'); die Philosophie produziert keine Erkenntnisse, sondern stellt Thesen auf usf. Diese Thesen eröffnen den Weg, um die Probleme der wissenschaftlichen Praxis in richtiger Weise zu stellen“ (14). Dieser Einführung geht es nicht um eine „Theorie der Philosophie, (sondern) um eine Beschreibung der Art und Weise, in der die Philosophie existiert und agiert, also kurz gesagt, um ihre Praxis“ (17). Theoretische Propositionen (Aussagen) „immer auch durch die Praxis heimgesucht“ (20) - sind daher richtig/unrichtig, nicht aber wahr/unwahr, analog der Politik. Im Gegensatz zu den Philosophen, die dies beständig tun, aber nur selten auch sagen, „setzen wir uns von diesen Philosophen ab ... indem wir es zugeben. Gerade indem wir die Praxis der Philosophie zur Kenntnis nehmen, praktizieren wir die Philosophie, allerdings um sie zu transformieren“ (21). In ihrem spezifischen Verhältnis zu den Wissenschaften hat die Philosophie jene immer schon „zu apologetischen Zwecken“ ausgebeutet, „und zwar jeweils zugunsten Neuerscheinungen der 'Werte' (...) der praktischen Ideologien: der religiösen, moralischen, juristischen, ästhetischen, politischen usw. Ideologien“ (87). Auf dem Felde der „juristischen Ideologie“ reflektiert (reflectit) die Philosophie die Kategorie „des Subjekts“ und „seines“ Objekts auf spezifisch philosophische Weise die juristische Kategorie des „Rechtssubjekts“ (und) so geht es auch dem 'Bewußtsein'. Es ist Eigentümer seiner selbst (Selbstbewußtsein) und seiner Güter (Bewußtsein seines Objekts bzw. seiner Objekte)“ (96 f.). Auch die materialistischen Philosophien unterliegen diesen Gesetzen. Eine Philosophie, orientiert an der politischen Formulierung Lenins und Marxens „Erkenntnis der praktischen Ideologie“, könnte es ermöglichen, „das ihr eigene organische Band, das sie an die praktische Ideologie bindet, zu kontrollieren und zu kritisieren“ (100). Althusser fußt hier auf Lenins „Materialismus und Empiriokritizismus“, dem er auch seine zentralen Begriffe wie „Demarkationslinie ziehen“, „Thesen“ (Lenins „Aprilthesen“) oder das Adjektiv „richtig“ entlehnt. Philosophie bedeutet demnach, „Demarkationslinien zu ziehen ... zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Ideologischen“, und sie antwortet darauf, „indem sie Thesen formuliert, ..., die ihrerseits neue Demarkationslinien ziehen und so neue philosophische Fragen aufkommen lassen“ (55). Vor dem Hintergrund der zentralen Fragen „Was ist Philosophie?“ und „Was unterscheidet die Philosophie von den Wissenschaften?“ bzw. „Was unterscheidet die Wissenschaften vom Ideologischen?“ bezieht Althusser 'Position' (These = Position): „These 12: Die Philosophie formuliert Thesen ... Aber da die Philosophie weder eine Wissenschaft ist, noch gar die Wissenschaft vom Ganzen, liefert sie keine Lösungen für die Probleme. Ihr Eingriff (Intervention, Anm.) ist ganz anderer Art: Er besteht darin, Thesen zu formulieren, die dazu beitragen, den Weg für eine richtige Stellung frei zu machen. These 13: Die Philosophie formuliert Thesen, die ... philosophische Kategorien (verknüpfen und produzieren). These 14: Die Gesamtheit der philosophischen The- Neuerscheinungen sen und der von ihnen produzierten Kategorien läßt sich zu einer philosophischen Methode zusammenfassen ... These 15: Die philosophische Methode unterscheidet sich durch ihre Modalität und Funktionsweise von einer wissenschaftlichen Methode“ (29). Das Rätsel der Philosophie liegt für Althusser in der Differenz. „die zwischen der Realität, in die sie eingreift (Bereich der Wissenschaften + theoretische Ideologien + Philosophie), und dem Ergebnis besteht, das ihr Eingriff produziert (die Unterscheidung des Wissenschaftlichen vom Ideologischen)“ (66). Auf diesem „Kampfplatz“ (l. Kant) der Philosophiegeschichte - „dem Kampf zwischen idealistischen und materialistischen Tendenzen, ..., des ideologischen Kampfes (zwischen oder innerhalb der praktischen Ideologien) und denen des Klassenkampfes“ (80) gilt es, „Demarkationslinien“ zu ziehen, die geeignet (sind), den Weg für eine Richtigstellung (im Sinne von justesse; Anm.) der Probleme der 'Krise' (der Wissenschaften; Anm.) freizumachen, ... um die Praxis der Philosophie zu begreifen“ (81) - im Sinne Lenins! Des weiteren ist ein Bündnis der Wissenschaftler mit der materialistischen Philosophie notwendig, um das Kräfteverhältnis innerhalb der „spontanen Philosophie der Wissenschaftler“ zu verändern, i.e. jener „(bewußten oder unbewußten) Vorstellungen, die ihre wissenschaftliche Praxis und die Wissenschaft betreffen“ (102), ein Kampf gegen die praktischen Idealismen der Ideologien. Bedrohlich bleibt bei Althussers Position die Ableitung philosophischer Prozesse und Kategorien aus (politischer) Taktik und Strategie für den (ideologischen) Klassenkampf. Philosophia ancilla rei publicae, Magd des Staates, politische Theologie. Denn wenn philosophische Kategorien wie „wahr/falsch“ ersetzt werden durch politische wie „richtig/unrichtig“, so wird Wahrheit dem politischen Kalkül anheimgestellt oder auch - dem deutschen Leser schwer verständlichen Sprachspiel unterworfen (die Differenz zwischen der Realität, in die die Philosophie eingreift, und dem Ergebnis tritt für Althusser „als ein Unterschied zwischen Worten auf“) (66 f.). Andererseits setzt er Philosophie mit dem dialektischen Materialismus gleich, der historische verbleibt der Wissenschaft: die (marxistische) Philosophie dagegen ist der blinde Fleck in seinen Arbei- Neuerscheinungen ten. Und „er, der soviel Wert legt auf die Kritik der Wörter, läßt solche überfrachteten Vehikel wie 'dialektischer Materialismus', 'historischer Materialismus', 'Philosophie', 'Wissenschaft' oder 'Marxismus-Leninismus' unkontrolliert passieren“ (Georges Labica). Seine indirekte Kritik des herrschenden Marxismus-Leninismus, sein Versuch, u.a. eine materialistische Praxis der Philosophie zu entwickeln, sowie den Begriff des Ideologischen zu spezifizieren, machen nicht nur dieses Buch, sondern auch die zukünftig erscheinenden Schriften zu Notwendigkeit für einen konstruktiv weiterführenden marxistisch-philosophischen Diskurs. Den Herausgebern gilt der Dank, längst Fälliges projektiert zu haben. Jean-Michelle Haviticion / Hans Mittermüller In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 169171 Autor: Wolgang Höppe Glosse GLOSSE Wolfgang Höppe: Zeit – Geist – Heil – Zeit Toxicate your brain with what I'rn sayin' 9. Oktober 1986, 21 Uhr. Mehrere Tausend in der Halle vor Ort, rund 10 Millionen vor den Bildschirmen bei den Lieben zu Haus. Doch nicht Boris Becker schlägt auf, das ZDF schlägt zu. Auf der ätherischen Basis der Motti "Gesund durch Gedankenenergie" und "Selbstheilung im gemeinsamen Kraftfeld" lotst ein Hobbymoderator von der anstaltseigenen Okkulturabteilung das Berufsgeistheilerehepaar Freddy und Silvia Wallimann (aus der Schweiz, oddrr?) durch eine Sendung, die zur Mission gerät, und erklimmt von seinem gut besuchten Basislager aus exakt eine Woche, bevor Reinhold Messner seinen letzten Achttausender dieser Erde bezwingt, einen neuen Gipfel unsäglicher TV-Produktion ZDF proudly präsentiert. Wir sind wieder wer und soweit so werden sich zu mindest die Geistheiler unter den Jenseitsideologen der Postmoderne ins allzeit empfangsbereite Fäustchen lachen, da ihnen das ZDF ein Promotion5spektakel in Szene setzt, das selbst ausgebufften Heildegen vom Köhnlechnerkaliber die Wangen mit sattem Neidesgrün überzieht. Licht weg. Das Licht im Saale wird zurückgefahren, allerdings nicht, um den Mitspielern und Zuschauern das Kommende wenigstens optisch zu ersparen. Spot auf Frau Wallimann. Die Augen schließen Mystik kommt Glosse Höppe von griechisch mystein: die Augen schließen. Das zahlende Publikum im Saal, teils durchschnittlich Mühselige und Beladene wie du und ich, teils von ihren Leiden extrem gedrückte und geknechtete Menschen, gehorcht. Während Herr Wallimann Spezialgebiet: Fernheilen auf eigene Faust nach innen emigriert, um unterstützend Heilkräfte zu akkumulieren, spricht Wallifrau die Anwesenden gemeinschaftlich ramdösig, um sie für die Segnungen ihres Gewerbes zu initiieren und auf Empfang zu polen. Nach Abrüstung des wachen Ich nämlich öffnet sich der Teilnehmer im richtigen Leben der Kunde für die eigenen, die fremden, ja die kollektiven geistigen Heilkräfte und Kraftfelder, gelangt mit den unverhofften Gedankenenergien zu einem höheren geistigen Bewußtsein, zu Harmonie und Einheit mit sich selbst und steckt folglich von gelegentlicher Migräne über hartnäckige Geschwulste bis hin zur verkorksten Weltanschauung alles locker weg. Echt easy. Der Geistheiler, der sich nicht wie der Naturheiler mit dem Griff in den irdischen Arzneischrank des Herrn bescheiden kann, sondern nach den Sternen und weiter greifen muß, spielt den Part des besonders prädestinierten mental-ätherischen Transmitters, der die nicht-materiellen, übrigens einem in den kosmischen Tiefen behausten "Weltgeist" da staunt der Philosoph, da lacht sich eins der Hegel geschuldeten Energien, vielleicht gemäß der materiellen Kraft des Klienten, kanalisiert. Da es sich um unstoffliche Energien handelt, spielen Entfernungen keine Rolle der logische locus nascendi des Fernheilers Wallimann, der, anders als seine nah- und mittelstreckenheilenden konventionellen Kollegen, ein lupenreiner Heimarbeiter ist Foto genügt. Als der für derlei nicht ausgelegte Berstschutz der Arena angesichts der protuberierenden Energy-Schübe zu havarieren droht: Licht an. Nun macht sich Sportsfreund Harry Valerien mit einem kleinen Team auf die Socken, von den gerade zu sich kommenden und sich zusammenrappelnden Gästen Reaktionen und erste Stellungnahmen zu erheischen. Einige geben schnöde vor, nichts verspürt zu haben, einer gibt indigniert ein weggeschlafenes Bein zu Protokoll bei Lembke im Ersten hätte er immerhin ein Schweinderl nach Hause getragen. Andererseits vertraut eine Mitspielerin den Fernsehkameras an, auf eine hübsche Blumenshow entführt worden zu sein, weitere Interviewte versichern, sich herrlich geborgen und eins mit den Anderen gefühlt zu haben der narzißtisch Vorgebildete erinnert die freundlichen ozeanischen Weiten seiner Selbstentgrenzungserfahrungen, ist's zufrieden und, genießt. Ein Herr berichtet aufgeräumt und gutgelaunt, er fühle sich großartig ent- Glosse Höppe spannt und erholt, eine Erfahrung, die der gern mittagsschlafende Autor dieses Glösschens zu teilen und zu schätzen weiß. Sendezeit um. Mit dem Ausdruck der Hoffnung, der Zuschauer zu Hause hielte dies alles nicht für Scheiß, werden 10 Millionen ins HeuteJournal oder zu Udo Jürgens bei der ARD entlassen. Nicht die Anwesenden im Saale. Sie werden nun mit per Fernsprecher einlaufenden Fernheilbotschaften beschossen. Ruhe ist erst, als eine Bombendrohung, die der Autor natürlich scharf mißbilligt, der Veranstaltung den Garaus macht. Eine Folge des heillosen Trips: Solidarität. Kirche (evangel wie kathol) und Gerätemedizinerschaft, die sich bei normalem Geschäftsgang arbeitsteilig um die Seelen und die Leiber der Untertanen sorgen, winken unisono ab: Humbug, Scharlatanerie, schnaub! Die verdächtig vehement vorgetragene Schmähkritik trifft natürlich nicht den Kern Eigenkritik, die es dann auch sein müßte, stinkt zwar nicht, schadet aber und rechtfertigt daher auch nicht das eigene Tun. Die wichtigere Kritik(fähigkeit) von seiten der Menschen in der Halle hat offensichtlich der Wind des Zeitgeistes, der bei diesem mediengestützten Coming-out des Unfaßbaren ordentlich bläst, verweht. Daß trotz der gar nicht moderaten Verheißungen niemand repariert und nichts geheilt würde, war zu erwarten. Daß außer ein bißchen Basic in autogenem Training und Rudimentärstem an Meditation nichts Reelles stattfinden würde, war zu vermuten der Rest: Massensuggestion im Rahmen einer Public-Relations-Show, deren Manager hier ausnahmsweise nicht mit birnrissigen Vergleichen mit Goebbels oder Gorbatschow bedacht werden sollen. Daß sich niemand darüber aufregen würde, war zu befürchten. Gruftis kritisches Bewußtsein ist eh out. Angesagt ist das neue Bewußtsein des New Age, einer Bewegung, die (in ihrer Form) zu neu ist, um als Nachkriegsschnickschnack abgetan zu werden, zu blind, sich als genuine Vorkriegsströmung selbst zu begreifen. Einklang soll die Parole sein, etwa für den aus seiner Wohnung Gekündigten, Harmonie, z.B. für den außer Brot Gesetzten, Optimismus für den Homo Chernobyl contaminatus. Ach so! Die Sendung, die den Blackout oder wenigstens die Gnade einer späteren Sendezeit (etwa zwischen 24 und Null Uhr) verdient hätte, hieß "Probe aufs Exempel". Wieso? Vier vorgestellte Humankaninchen der Tierversuch hätte wohl zu viel Ärger eingebracht waren ein langes Jahr lang von Freddy, dem Intercontinentalheiler, ferngeisttherapiert worden. Glosse Höppe Es sollten nun die Ergebnisse auf den Tisch. Und? Dreien dieser Vier geht es spürbar besser. Wie der Heilerfolg? Man kehrt unter den Tisch, daß sie ihre traditionelle ärztliche Behandlung nie aufgegeben haben. Echt einfach, gell? Und der Vierte? Unbewußte Blockaden, sperrt sich! Echt selber schuld, echt. P.S.: Frage: Hätte sich Bayern, wäre es eine ARD-Sendung gewesen, abgeschaltet, etwa wegen Kabarettverdachts, oder hätte Bayern, verdammt, einen Teufel getan? In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 172175 Autor: Richard Albrecht Leserbrief Leserbrief Richard Albrecht Gesellschaft als Organismus oder wider den Biologismus als Ideologie Als der britische Naturforscher Charles Robert Darwin 1859 sein Buch „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“ veröffentlichte, erfuhr seine Selektionstheorie der natürlichen Auswahl der Geeignetsten – „natural selection of the fittest“ – als allgemeine naturgesetzliche Deutung von Entwicklungsgesetzen der Natur eine breite Aufnahme. Charles Darwin ging es nicht zuletzt u m eine plausible Erklärung der Entwicklung der Arten einerseits und um die Aufhellung der dunklen Vorgeschichte der menschlichen Gattung andererseits. Und zugleich wandte der Naturwissenschaftler Darwin selbst seine Selektions- oder Auswahltheorie nur sehr behutsam auf gesellschaftliche Entwicklungen an. Aus dem Darwinismus durch Übertragung des Selektionsprinzips auf den homo sapiens und vor allem: die menschliche Gesellschaft den Sozialdarwinismus zu machen und eine Analogie natürlicher und sozialer Entwicklungen und Prozesse zu behaupten blieb anderen den Epigonen, überlassen. Der weltpolitische Kampf um Kolonien, Märkte und Absatzgebiete von Waren und Kapital, schließlich Sklavenhalterei und Rassenunterdrückung mußte angesichts der Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit massenwirksam begründet werden. Die ideologischen Anliegen vermengten sich im neunzehnten Jahrhundert mit der Leserbrief Gegenaufklärung: „Kampf ums Dasein“ und „Überleben der Besten“ wurden die entsprechenden Parolen. Und bis in die Arbeiterklassen Europas, die um ihre Emanzipation organisiert zu kämpfen begannen, hineingetragen als – so die Kritik aus klassenbewußter Sicht – „Sozialismus der dummen Kerls“. Ideologisch ging es damals – wie in der historischen Anthropologie des französischen Grafen Joseph Arthur Gobineau – in der Tat um die Begründung der „Ungleichheit der Menschenrassen“ und die Überlegenheit der „germanischen“ Rasse. Albert Schäffle entwickelte in Deutschland ein organisches Konzept von Gesellschaft als „socialem Körper“. Und im Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts proklamierten die österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowitz und vor allem Gustav Ratzenhofer das sozialdarwinistische Muster der blanken Obertragung universeller Gesetze der Naturentwicklung auf soziale Prozesse, das heißt auch: Kampf der Rassen um Dasein und Lebensraum zum Zwecke des Überlebens der Tüchtigsten und Stärksten. Der bedeutendste und zugleich kriminellste sozialdarwinistische Ideologe und Praktiker unseres Jahrhunderts war zweifellos der zwölf Jahre lang amtierende Führer und Reichskanzler Adolf Hitler. In seinem Dritten Reich entschied tatsächlich das Reichssippenamt, wer der sogenannten „arischen Rasse“ angehörte und wer durch Herkunft und Geburt – also durch biologisch-genealogische Bestimmung unabänderlich – als Fremdrassiger aus der deutschen Volksgemeinschaft auszustoßen sei und schließlich als „unwertes Leben“ der „Ausmerze“ oder auch der „Vernichtung durch Arbeit“ zuzuführen war. Was angesichts dieser geschichtlichen Erfahrung namentlich im bürgerlichen Deutschland seitdem zu Recht als menschenfeindlich galt, erfährt nun seit Jahren einen unübersehbaren und zunächst: ideologischen Boom. Biologische Kategorien zur Deutung menschlichen Handelns einerseits und gesellschaftlicher Entwicklung andererseits sind nicht nur im Vormarsch, sondern mehr noch: im sozialen Aufwind. Und zwar gleich in doppelter Hinsicht: einmal in gesellschaftlich-allgemeiner oder auch: ideologischer Weise – was auch durch Entdeckungen der Biologie als Wissenschaft in den letzten zwanzig Jahren, vor allem der sogenann- Richard Albrecht ten Gen- und Genmanipulationstechnik, begünstigt, – aber dadurch nicht erklärbar ist. Zum anderen gibt es einen unübersehbaren Trend der Biologisierung auch in den wissenschaftlichen Fachdisziplinen – etwa Soziologie oder Politikwissenschaft –, in denen dies’ am wenigsten zu erwarten wäre. Hier dürfte der letzte Trend im Westen eine als „biopolitics“ bisher noch nicht eingedeutschte Forschungsrichtung sein. Sie schließt an die vergleichende Verhaltenslehre – etwa die Ethologie des Konrad Lorenz mit seinen Graugänsen – an und bemüht sich um eine Begründung der Biologie auch des politischen Verhaltens. Und in soziologischen Entwürfen der weitgehend pragmatischhemdsärmlig ausgerichteten US-amerikanischen Soziobiologie geht es erklärtermaßen erneut um den „Eignungsgedanken“ oder so ein inzwischen auch deutsch übersetztes Lehrbuch „Soziobiologie und Verhalten“ von David P. Barash – um die „biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens“ und damit in der Tat um eine Biologisierung des menschlichen und sozialen Handelns. Dies nun wird wie bei Professor Heiner Flohr als dem bundesdeutschen Protagonisten von „biopolitics“ verbunden mit Polemiken gegen den sogenannten „Kulturismus“ oder den angeblichen „kulturistischen Fehlschluß“ – die Metaphern sind offensichtlich als falsche Freunde amerikanische Wendungen und werden plan aufgenommen. Und was schließlich, ginge es um Forschungskonzepte, zu leisten wäre: die Herausarbeitung der widersprüchlichen Einheit von Biologischem und Sozialem im menschlichen Verhalten wie in gesellschaftlichen Prozessen – bleibt nach wie vor Was immer systematisch auch außer vernachlässigt. der Besetzung geeigneter Lehrstühle und sonstiger Pfründe diese neuen Bio-Wissenschaftler bewegen mag – um Wissenschaft als methodische, systematische und kritische Suche nach Erkenntnis und Wahrheit dürfte es auch hier nur am Rande gehen. Vielmehr lassen sich gerade die neuren sozialbiologischen Ansätze und Konzeptionen recht wohl – und nicht nur in der Bundesrepublik – in eine neukonservativ formierte ideologische Landschaft einpassen und hier im besonderen als entscheidende sozialanthropologische Begründungsstränge praktischer politischer Maßnahmen vor allem im gesamten Bildungsbereich ausmachen. Leserbrief Wenn zum Beispiel der britische Psychologe Hans Jürgen Eysenck vor dem „Aufstieg der Mittelmäßigkeit“ warnt und so einer neukonservativen Elitebildung geschmeidig das Wort redet, dann scheint nicht nur die Rücknahme aller fortschrittlich-bürgerlichen Bildungsmaßnahmen mit ihrem verkündeten Bürgerrecht auf Bildung und Chancengleichheit auf, sondern zugleich auch ein Stück volks- und massenfeindlicher Herrenmenschen-Mentalität. Die bundeskanzlerische Warnung vor dem „Sozialneid“ und die gegenscherte Verteuflung von steuerpolitischen Forderungen als „Neidsteuer“ durch Kohls noch immer amtierenden Stellvertreter sind – so gesehen – auch nicht nur pathologischer Ausdruck der politisch-psychologischen Mentalität und geistigen Physiognomie führender Wendeleute und Rechtskräfte, sondern ideologiepolitisch völlig folgerichtig. Der Biologisierung als neuer Leitideologie dieser politisch-sozialen Kräfte entspricht auf der operativen Ebene des politisch Machbaren eine – neue und zugleich doch so alte – Elitevorstellung. Sie wird, auf biologischer Grundlage sozial verallgemeinert, zusammengehalten von einem Begabungs- und Intelligenzverständnis, das zweierlei leisten soll: erstens gegen jede Vorstellung von Gleichheit der Chancen Sturm zu laufen und zweitens – unter den Bedingungen der Bundesrepublik – auch die zartesten, sozialliberal beförderten Ansätze nach Verwirklichung dieser Chancengleichheit rabiat zurückzunehmen ... wobei in der Optik unserer neukonservativen Rechtskräfte schon kompromißlerisch angelegte und halbherzig betriebene Gesamtschulen nordrhein-westfälischer oder hessischer Prägung als gleichmacherisches Teufelswerk gelten. Die biologistische Herrenmenschen-Ideologie in ihren derzeitigen christlich-sozialen, christlich- und freidemokratischen politischen Varianten und blauweiß, rotweiß und blaugelb getönten Facetten verbindet, wie unseren neukonservativen Herrschaftsblock überhaupt, aber noch ein weiteres zentrales ideologisches Element: das Verständnis von Intelligenz und Begabung als letztlich doch genetisch programmierter sozialer und individueller Erscheinung. Weshalb denn auch ganz folgerichtig gesellschaftliche Führungspositionen nur wenigen Auserlesenen und damit einer schmalen intelligenten Elite zustünden. Richard Albrecht Berufen mögen sich also viele fühlen – auserwählt können immer nur wenige sein. Diese alte, ja schrunzlige Vorstellung von Gesellschaft als biologischem „sozialen Körper“ sollte denn auch in unserer Zeit erfahrungswissenschaftlich, also durch sogenannte empirische Untersuchungen, belegt, bestätigt und bewiesen werden. Die Intelligenz-Debatte fand vor allem in den USA Mitte der siebziger Jahre und vor dem Hintergrund der sozialen Emanzipationsbestrebungen von Schwarzen statt. Wissenschaftlicher Kronzeuge der These von der Biologisierung der Intelligenz und ihrer Vererbung war – neben Professor Arthur Jensen – vor allem der Londoner Psychologe Sir Cyril Burt. Professor Burt veröffentlichte drei Jahrzehnte lang – Mitte der vierziger bis Mitte der siebziger Jahre – zahlreiche Aufsätze über, so ein Aufsatztitel im „British Journal of Psychology“ 1966, „Die genetischen Bestimmungen von Unterschieden der Intelligenz“. Er präsentierte auch hier Daten von empirischen Reihenuntersuchungen unter anderem an eineiigen Zwillingen, die beredt für die Erblichkeit des Faktors: Intelligenz und damit allgemein für Intelligenz als genetisch bestimmtem Merkmal sprachen. Allein hatte Sir Burts eingängige These einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler: seine empirischen Daten waren nämlich so die Wissenschaftsjournalisten William Broad und Nicholas Wade im Anschluß an Sir Burts Biographen in ihrem Buch „Betrug und Täuschung in der Wissenschaft“ – ganz einfach erstunken und erlogen und die zahlreichen empirischen Untersuchungen des Professors wie auch immer erfunden: jedenfalls niemals durchgeführt. In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 176177 AutorenInnen AutorInnen Albrecht, Richard Brede, Rüdiger Butzer, Günter Dittlmann, Arthur Evers, Tilman Freytag, Carl Gaube, Karin Gomez-Muller, Alfred Günter, Manuela Haviticion, Jean Henckmann, Wolfhart Höppe, Wolfgang Kansy, Angelika Knips, Ignaz Kocka, Jürgen Kühnl, Reinhard Lotter, Konrad Marks, Ralph Mittermüller, Hans Dr. phil., Mannheim Dr. phil., Grevenbroich Student der Philosophie, München Dipl.-theol., Student der Germanistik, München Dr. phil., Ev. Akademie Hofgeismar Dr. rer. nat., Physiker, München M.A., Journalistin, München Dr., Redakteur bei "Concordia-intern. Zeitschrift für Philosophie", Paris Studentin der Philosophie, München Student der Philosophie, Montpellier Dr. phil., Professor für Philosophie, München Dr. phil., freier Wissenschaftler, München Studentin der Pädagogik, München Doktorand der Philosophie, Köln Dr. phil., Professor für Geschichte, Bielefeld Dr. phil., Professor für Politikwissenschaft, Marburg Dr. phil., Philosoph, München Dr. phil., Historiker, München M.A., Doktorand der Philosophie, München Verzeichnis der AutorenInnen Müller-Lissner, Adelheid v. Pechmann, Alexander Rath, Matthias Rauch, Angelika Schmid, Karl-Heinz Schraven, Martin Schulte, Günter Stürmer, Michael Teune, Wolfgang Treptow, Elmar Wenzel, Wolfram Wieschebrink, Udo Wimmer, Thomas Dr. phil., Übersetzerin, München Dr. phil., Lehrbeauftragter der Volkshochschule, München Dr. phil., Akad. Rat. a.Z. für Philosophie, Eichstätt Studentin der Germanistik, München Magistrand der Pädagogik, München M.A., Doktorand der Philosophie, München Dr. rer. nat., Professor für Philosophie, Köln Dr. phil., Professor für neuere Geschichte, Erlangen Dipl.-Kaufmann, Monheim Dr. phil.. Universitätsdozent für Philosophie, München M.A. der Philosophie, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dozent der Volkshochschule, München M.A., Doktorand der Philosophie, München M.A., Doktorand der Philosophie, München In: Widerspruch Nr. 12 Wiederkehr des Mythos? (1986), S. 178 Impressum Impressum WIDERSPRUCH Münchner Zeitschrift für Philosophie 8. Jahrgang Nr. 16 (1986) Verleger Alexander v. Pechmann (Dozent, München), und Inhaber: Tengstraße 14, 8000 München 40 Redaktion: Martin Schraven (verantwortlich). Riesstraße 60, 8000 München 50; Manuela Günter; Konrad Lotter; Hans Mittermüller; Alexander v. Pechmann; Elmar Treptow; Wolfram Wenzel; Udo Wieschebrink; Thomas Wimmer Anzeigen: Redaktion, Tengstr. 14,8000 München 40, Tel. 089/2720437 Typoskript: Schreibstudio I. Odau, Preysingstraße 7, 8000 München 80 Druck: Fotodruck Frank GmbH, Gabelsbergerstr.15, 8 München 2 - 0722 - 8104 Preis: DM 4,— Impressum Abo: DM 3,50 (zuzügl. Versandkosten) Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. WIDEBSPRUCH bietet ein Forum der offenen Diskussion, das zum jeweiligen Schwerpunktthema Beiträge aus unterschiedlichen Richtungen und Zugangsweisen enthält. Im Zentrum steht dabei die philosophische Reflexion gegenwärtiger Problemfelder in Hinblick auf die Begründbarkeit ihrer Lösungen WIDERSPRUCH wendet sich vor allem an Philosophen, Sozialwissenschafter, Lehrer und Meinungsträger. WIDERSPRUCH enthält philosophische Beiträge, Diskussionen und Rezensionen zum jeweiligen Schwerpunktthema; Besprechungen von Neuerscheinungen, Notizen und Berichte. 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