SER I E Krisenmanagement an Schulen in NRW Traumatisierung und Trauma­folgestörungen bei Kindern und Jugendlichen Schnell wird heute über Kinder und Jugendliche, die ein Verhal­ ten zeigen, das für die Erwachsenen nicht erklärbar ist, gesagt: „Der hat ein Trauma erlitten“. Damit wird unterschwellig ver­ mittelt, dass Verhaltensweisen wie zum Beispiel ein „Ausraster“ oder ein Gefühlsausbruch zu entschuldigen sind und man Ver­ ständnis haben müsse, denn schließlich habe er oder sie doch etwas so Schreckliches erlebt, da sei es doch ganz normal, dass man danach für eine Zeit nicht „normal“ sei. Großschadensereignisse, die öffentlich gewordenen Missbrauchs­ skandale in Institutionen, die Opfer von Verkehrsunfällen und Gewalttaten, die Schrecken, die Flüchtlinge erleben, die nicht selten schon vorher Opfer von Krieg, Terrorismus, Folter, Ver­ treibung und Gewalt geworden waren, oder große Naturkata­ strophen haben unser Bewusstsein für Traumatisierungen und Traumafolgestörungen geschärft. Dieses vermehrte Wissen darum ermöglicht ein besseres Verständnis für Kinder und Ju­ gendliche, die solche Ereignisse durchleben mussten. Reinert Hanswille, Institut für Syste­ mische Familientherapie, Supervision und Organisationsentwicklung – ifs Bewältigungsmechanismen eines Kindes oder Jugendlichen überfordert und keine primäre Bindungsperson diese indivi­ duelle Überforderung kompensieren kann. In vielen Defini­ tionen gehört die erlebte Ausweglosigkeit und die subjektive Todesbedrohung zentral zu einem traumatischen Ereignis. Ein traumatisches Ereignis ist kein objektives Ereignis, des­ sen Auswirkungen bei allen Menschen gleich sind, sondern es findet eine jeweils subjektive und individuelle Verarbeitung statt. Was für das eine Kind subjektiv als Trauma erlebt wird, ist für ein anderes nur eine „unangenehme“ Situation. Je nach Lebensalter, psychischer und physischer Verfasstheit und je nach persönlichen und familiären Resilienzfaktoren (Resilienz = psychische Widerstandsfähigkeit) sowie persönlicher Inter­ pretation des Ereignisses findet die Verarbeitung des Erlebten statt. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen verarbeitet ein Belastungsereignis autonom, ohne langfristige chronische Störungen zu entwickeln. Auf der anderen Seite können sich aber auch relativ „kleine“ Belastungsereignisse, wie zum Bei­ Ich möchte den Blick außerdem auf eine Gruppe von Kindern und Jugend­ lichen richten, die in vielen Schulen wahrscheinlich noch die Mehrheit derer bildet, die ein Trauma erleben: jene Kin­ der nämlich, die im häuslichen Bereich durch Eltern oder ihnen nahestehende Personen ein Trauma durch physische, psychische oder sexuelle Gewalt bezie­ hungsweise Vernachlässigung erlitten haben. Diese Kinder haben meist eine komplexe Traumafolgestörung mit vie­ len komorbiden Symptomen. Was ist ein Trauma? Nach van der Kolk und Streeck-Fischer wird in der Psychotherapie von einem (Psycho-) Trauma gesprochen, wenn ein belastendes Ereignis erlebt wurde, das die physischen wie psychischen Traumatisierte Kinder verarbeiten das Erlebte auf unterschiedliche Weise. © Westend61 Schule NRW 10/15 433 SER I E andauert, und wenn diese durch Men­ schen verursacht wurde, insbesondere durch Menschen, zu denen eine ver­ trauensvolle Beziehung bestand. Zusätzlich muss noch auf die trauma­ tischen Ereignisse hingewiesen wer­ den, die durch medizinische Eingriffe entstehen und die erst in den letzten Jahren mehr in den Fokus gerückt sind. Rund zehn Prozent der Kinder und Ju­ gendlichen, die ein traumatisches Er­ eignis oder mehrere traumatische Er­ eignisse erlebt haben, entwickeln eine Traumafolgestörung. Vom traumatischen Ereignis zur Trauma­ folgestörung Unterstützung durch offenen Umgang; Foto: Mirja Nicolussi spiel eine Beschämung, zu einer Traumafolgestörung entwi­ ckeln. Bei Kindern und Jugendlichen wird die Verarbeitung eines Be­ lastungsereignisses zentral dadurch beeinflusst, wie das Um­ feld – im Besonderen die Familie und die primären Bindungs­ personen – mit dem Kind umgeht und Unterstützung zur Ko­regu­lation („Verarbeitung“) anbietet. Weit verbreitet ist die Unterscheidung traumatischer Ereignisse nach Häufigkeit ihres Auftretens und ihrer Ursache. Lenore Terr unterscheidet beispielsweise bei Traumata in Typ I und Typ II. Bei Typ I handelt es sich um einmalige, unvorhersehbare Ereig­ nisse wie zum Beispiel einen Verkehrsunfall, eine Naturkatas­ trophe oder einen Todesfall. Unter Typ II werden Belastungser­ eignisse zusammengefasst, die wiederholt über einen längeren Zeitraum auftreten wie beispielsweise sexuelle Gewalt, Folter oder multiple traumatische Ereignisse, Entwicklungstrauma­ tisierungen und Bindungstraumatisierungen. Darüber hinaus hat sich die Unterscheidung der Ereignisse anhand ihrer Ursa­ chen bewährt. Hierbei wird zwischen Ereignissen, die von Men­ schen verursacht wurden, und Naturkatastrophen, technischen Katastrophen sowie akzidentellen (zufällig auftretenden) Trau­ mata (zum Beispiel ein Unfall) unterschieden. Dabei gilt grund­ sätzlich: Die Wahrscheinlichkeit einer komplexen Traumafolge­ störung ist umso größer, je länger eine traumatische Situation 434 Nach einem traumatischen Ereignis entwickeln die meisten Kinder und Jugendlichen eine Belastungsreaktion. Dies ist eine vorüberge­ hende Störung, die stark von individuellen Faktoren abhängt und Stunden oder mehrere Tage dauern kann, bevor sie abklingt oder sich zu einer Traumafolgestörung entwickelt. Häufig ge­ hen damit einher eine eingeschränkte Aufmerksamkeit, leich­ te Erschreckbarkeit, eine Bewusstseinseinengung, Intrusionen, Flashbacks, Unruhezustände, Überaktivität, Rückgezogenheit, Angst, Erröten, Schwitzen und Weiteres. Die engen Bindungspersonen können wesentliche Unterstüt­ zung anbieten, damit sich aus der Belastungsreaktion keine Traumafolgestörung entwickelt, indem sie die Kinder angemes­ sen auffangen, ihnen das Gefühl einer sicheren Bindung geben und sie durch die psychischen Schwankungen in dieser Phase begleiten. Zudem sollten die Kinder ausreichend Resonanz er­ fahren. Wenn die Belastungsreaktion zwischen drei und sechs Monaten anhält, spricht man von einer Traumafolgestörung. Im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie geht man mit der Diagnostizierung einer Traumafolgestörung sehr vorsichtig um. Vor allem im Alter bis zu zehn Jahren ist es häufig schwierig, eine Traumafolgestörung zu diagnostizieren. Das liegt unter anderem daran, dass Begleiterkrankungen zu beobachten sind, wie zum Beispiel Angststörungen, Depressionen, somatoforme Störungen, ADHS oder Substanzmissbrauch. Schule NRW 10/15 SER I E Von den Kindern mit einer Traumafolgestörung haben rund 80 Prozent eine oder mehrere Diagnosen. In der Praxis zeigen sich weitere Symptome und Störungsbilder, wie Schulleistungs­ schwierigkeiten, hyperkinetisches Verhalten, aggressiv-disso­ ziales Verhalten, mangelnde Konzentration, unkontrollierte Wutausbrüche, motorische Unruhe, die im Zusammenhang mit einer Traumafolgestörung gesehen werden müssen. Van der Kolk beschreibt, dass die posttraumatische Belastungs­ störung nicht die häufigste Diagnose nach Traumatisierungen in der Kindheit ist. Trennungsangst, Phobien oder oppositionel­ les Verhalten treten seiner Erfahrung nach häufiger auf als eine Posttraumatische Belastungsstörung. Symptome einer Traumafolgestörung (Unter­ teilung in vier Kategorien): 1. Intrusive Symptome (trauma-nahe Reize), wie zum Bei­ spiel verändertes Spiel mit sich ständig wiederholen­ den traumabezogenen Inhalten, intrusive Erinnerun­ gen, Alpträume, Reinszenierungen 2. Konstriktive Symptome (Vermeidung trauma-­naher Reize), wie sozialer Rückzug, das Vermeiden von Gedan­ ken, Gefühlen, Gesprächen oder Verhaltensweisen, die Traumanähe erzeugen, der Verlust bereits erworbener Fähigkeiten (zum Beispiel bei Sprache oder Reinlich­ keit), Leben in einer Phantasiewelt, monotones Spiel, verringerte Affekte, Teilleistungsschwächen etc. 3. Physiologische Symptome, wie beispielsweise Einnäs­ sen, Einkoten, Schlafstörungen, übersteigerte Wach­ samkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Kraftlosigkeit, Taubheit, Starre, Schmerzen, Essstörungen 4. Übererregungssymptome, wie ­Durchschlafstörungen, Hyperaktivität, extreme Aggression, Ängste, provozieren­ des Verhalten, extreme Stimmungswechsel, Schreckhaf­ tigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentra­tionsschwächen, Hypervigilanz etc. Stabilisierungs- und Heilungsprozess muss die Herkunftsfami­ lie mit den primären Bindungspersonen eingebunden werden (außer bei innerfamiliären Traumatisierungen durch physische oder sexuelle Gewalt). Über die sichere Bindung und eine spezi­ fische Stabilisierungsarbeit können Kinder und ihre Familien in einem traumatherapeutischen Prozess gut unterstützt werden. Traumafolgestörungen sind Stressverarbeitungsstörungen, die, wenn sie chronisch geworden sind, nicht von allein verschwin­ den, sondern in ihrer Symptomatik oft komplexer werden. Ne­ ben den Symptomen auf der Verhaltensebene (beispielsweise Unruhe, extreme Aggression, Hyperaktivität) sind oft Leistungsund Teilleistungsstörungen die Folge. Die Schule kann Kinder und Jugendliche, die unter Traumafol­ gestörungen leiden, dadurch unterstützen, dass sie offen mit der Problematik umgeht. Dabei ist eine enge Zusammenarbeit mit den Bindungspersonen notwendig, um den betroffenen Kindern eine gute Entwicklung zu ermöglichen. Zum Weiterlesen: Hanswille, R. (2015) (Hrsg.): Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. Hanswille, R./Kissenbeck, A. (2013): Systemische Traumatherapie. Konzepte und Methoden für die Praxis. Heidelberg: Carl Auer. 3., erg. Aufl. Streeck-Fischer, A. (2006): Trauma und Entwicklung – Folgen in der Adoleszenz. Stuttgart: Schattauer. Fazit Bei den vielen entwicklungsbedingten Veränderungen in Kind­ heit und Jugendalter ist es selbstverständlich, dass sich Trauma­ folgestörungen altersspezifisch ausprägen. Während jüngere Kinder dazu neigen, diffuse Angst- und Vermeidungssymptome zu zeigen, finden sich bei Jugendlichen eher die gleichen Symp­ tome wie bei Erwachsenen. Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen können nur im Zusammenhang mit ihrer Herkunftsfamilie verstanden werden. Für einen nachhaltigen Terr, L. (1991): Childhood traumas: An outline and overview. American Journal of Psychiatry, 27, S. 96-104. Van der Kolk, B./Streeck-Fischer, A. (2002): Gewaltverhalten als Traumafolge bei Kindern und Jugendlichen. In: Heit­ meyer, W./Hagan, J. (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Schule NRW 10/15 435