Der Tod des Diktators

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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
V
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 978-3-525-30009-1
Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt (Hg.)
Der Tod des Diktators
Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert
Vandenhoeck & Ruprecht
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
Mit 17 Abbildungen
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Umschlagabbildung: In einem Hinterhof liegende Lenin-Statue
im Norden Bukarests, 2006 (Bild wurde bearbeitet);
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
Inhalt
Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt
Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert . . .
7
Rüdiger Schmidt
Napoleon Bonaparte. Charisma, Tod und Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Benno Ennker
Das lange Sterben des Vladimir I. Lenin. Politik und Kult
im Angesicht des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Verena Kümmel
Faustpfand und Ballast. Die Leiche Benito Mussolinis
und die italienische Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Hans-Ulrich Thamer
Der tote Hitler. Das Ende des Diktators
und die Wandlungen eines Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Klaus Kellmann
Stalins langer Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Martin Großheim
Ho Chi Minh. Die Konservierung einer Ikone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Mathias Tullner
Walter Ulbricht. Demontage eines lebenden Denkmals
des Weltkommunismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Walther L. Bernecker
Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco.
Sterben im Zeitlupentempo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
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5
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Martin Kroher
Mao Zedong. Das befleckte Staatssymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
Ljiljana Reinkowski
Es lebe Tito, es starb Tito. Das Bild Titos im kommunistischen
Jugoslawien und in den jugoslawischen Nachfolgestaaten . . . . . . . . . . . . 199
Rudolf Gräf
Ein Ende ohne Neuanfang. Der Sturz von Nicolae Ceausescu
im Jahre 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Klaus Schlichte
Die zwei Leben des Idi Amin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Caroline Fetscher
Der postmoderne Despot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Stefan Rinke / Georg Dufner
Ein Abgang in drei Akten. Chile und der lange Schatten
Augusto Pinochets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Thomas Großbölting
Saddam Hussein. Der doppelte Tod des irakischen Diktators . . . . . . . . . 303
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
Herausgeber, Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
6
Inhalt
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt
Der Tod des Diktators
Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert
Wo die Macht des Diktators zu dessen Lebzeiten unbegrenzt erscheint, da
bricht sich diese Grenzenlosigkeit in dessen Tod.1 Das Ableben des Mächtigen
markierte nicht nur ein individuelles Ende. Sehr oft stand mit dem Tod des
Diktators ein ganzes Herrschaftsgefüge zur Disposition. Wo Gefolgsleute und
Anhänger diesen Schnitt fürchten mussten, da waren die Konsequenzen auch
für die Beherrschten meist tiefgreifender als es in einer Demokratie je denkbar
wäre. Im Mittelalter, so ist vielfach gezeigt worden, wappnete man sich nach
dem Sterben des Mächtigen gegen ein mögliches Machtvakuum vor allem auf
der symbolischen Ebene: Auch der tote König galt noch als König, weil man
zwischen der Person und der Sakralität ihrer Herrschaftsausübung unterschied.
Die mittelalterliche Vorstellung von den zwei Körpern des Königs, wie sie
Ernst H. Kantorowicz so eindrücklich beschrieben hat, entwickelte sich auf
dem Weg in die Moderne zur französischen Heroldsformel »Der König ist tot,
es lebe der König«.2 Die 1824 zum letzten Mal gebrauchte Sentenz suchte die
Dramatik des Herrschertodes dadurch zu entschärfen, dass sie die Krone und
damit die Macht nahtlos vom verstorbenen Monarchen auf seinen durch die
Erbfolge bestimmten Nachfolger übertrug.
Es liegt auf der Hand, dass diese Symbolik selbst in der Vormoderne oft
genug wirkungslos blieb, wurde doch um die Macht nach dem Ableben des
Throninhabers erbittert gestritten. Im 20. Jahrhundert konnte die Fiktion eines
reibungslosen Übergangs kaum noch aufrechterhalten werden. Das »Zeitalter der
Extreme« (Hobsbawm) war von vielfältigen politischen Brüchen und Umwälzungen gezeichnet, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielten. Der Tod
des ersten Mannes im Staate war deshalb eine Herausforderung, die weit über
den Kreis des Privaten hinausreichte und ganz unabhängig von der Staats- und
Regierungsform per se eine öffentliche Angelegenheit war und ist. Der Tod eines
Mächtigen war ein in vielen Medien reflektiertes Massenereignis. Bis heute stellt
jedes Staatsbegräbnis ein hochoffizielles und zeremoniell überformtes Ritual dar.
Die dabei verwandten Symbole und rituellen Ausdrucksformen sind oftmals dem
religiösen Bereich entliehen und ähneln sich selbst über die Jahrhunderte hinweg
– nur eine schmale Zahl von Gesten und Riten scheint uns zur Verfügung zu
stehen, um den Übergang vom Leben in den Tod zu zelebrieren. Vordergründig
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dient die Zeremonie natürlich dem Begräbnis des Verstorbenen, in ihrer Signalfunktion zielt sie aber vor allem auf die Lebenden. Ein zentraler Punkt ist auch
heute noch der Körper des Toten, der Leichnam. Er kann der entscheidende
Trumpf sein im Spiel um die zukünftige Macht. Die Umbrüche in Osteuropa, die
weitgehend friedlichen Revolutionen von 1989/90 haben dieses erneut gezeigt:
In Ungarn war die Umbettung des früheren Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei Ungarns und Reformkommunisten Imre Nagy ein wichtiges Fanal
der Opposition gegen die kommunistische Regierung. Als führender Kopf des
ungarischen Aufstandes 1956 wurde er 1989 als antikommunistischer Held
erneut beigesetzt.3 Diese Form der symbolischen Kommunikation kennt auch
die entgegengesetzte Perspektive. Mögliche Orientierung ins Gestern, so prophezeit die Anthropologin Katherine Verdery für das Beispiel Rumänien, lasse
sich ablesen am Umgang mit den Diktatoren. Wer wissen wolle, wie es um eine
mögliche kommunistische Restauration stehe, solle wie ein Adler auf das Grab
von Nikola Ceausecu in Bukarest blicken.4
Wo die physischen Körper fehlten, traten auch Verkörperungen an deren
Stelle. Im Stile öffentlicher Hinrichtungen wurden in Moskau, in Warschau,
Bukarest und anderswo Statuen der Säulenheiligen des Sozialismus – Lenin,
Stalin, Dscherzinsky – gestürzt. Einige von ihnen erhielten sogar öffentliche
Begräbnisse. In Eriwan, Armenien, wurden beispielsweise diese Statuen von
ihren Sockeln entfernt, auf einen Lastwagen geladen und wie in einem offenen
Sarg wieder und wieder um den zentralen Platz der Hauptstadt gefahren. Passanten und Umstehende warfen ganz wie bei einer Beerdigung Tannenzapfen
und Geldmünzen in den fahrenden Wagen. In der Mongolei, in der 1990 eine
riesige Leninstatue gestürzt wurde, schütteten Bauern Milch auf das noch sichtbare Fundament des einstigen Denkmals. Auf diese Weise hofften sie, die bösen
Geister bannen zu können, die mit der dargestellten Person verbunden waren.5
Diese wenigen Beispiele zeigen, wie weit das Ereignis über den eigentlichen
Akt der Bestattung als Zäsur wirkte. Symbolisch werden Pflöcke eingeschlagen,
die die Erinnerung an den Herrscher wachhalten, einen Personenkult um den
Toten begründen oder – so das andere Extrem – ihn ganz aus dem Gedächtnis
der Nation zu tilgen versuchen. Legitimierung und Verdammung liegen unmittelbar beieinander.
Das Drehbuch und die Dramaturgie der Akte sind dabei durchaus abhängig
von den verschiedenen Staatsformen: In den modernen Demokratien ist Macht
und der damit verbundene Einfluss von den Wählern abhängig und nur auf Zeit
verliehen. Tendenziell ist damit der Zusammenhang einer einzelnen Person und
der ihr verliehenen Macht eher lose, auch wenn der mediale Trend zu einer
immer stärkeren Personalisierung der Politik in eine andere Richtung verweist.
Anders stellte sich die Situation für die im 20. Jahrhundert so weit verbreiteten
Diktaturen dar. Die Machtbasis der Diktatoren beruhte nicht selten in hohem
Maße auf charismatischen und plebiszitären Elementen. Charisma, darauf hat
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
im Gefolge von Max Weber die Forschung vielfach verwiesen, beruht nicht
nur auf individuellen Qualitäten, sondern bezeichnet ein Beziehungsverhältnis
zwischen Herrscher und Beherrschten.6 Von außen werden Erwartungen an
den Diktator herangetragen, die ihn zu einem »Übermenschen« stilisieren. Seine
nicht nach objektiven Maßstäben, wohl aber aus Sicht der Rezipienten herausragende Persönlichkeit kann dabei allerdings nicht mehr wie in der traditionalen
Welt als göttlich verstanden werden. Stattdessen wird ihm ein ganzer Strauß
von Fähigkeiten zugeschrieben, die es ihm ermöglichen sollen, die Gesellschaft
aus ihrer Krise zu einer neuen Existenzstufe zu führen.7 Wie stark Führer- und
Diktatorenkulte die politische Kultur des 20. Jahrhunderts prägten, lässt sich vor
allem an der Reaktion der Institution ablesen, die traditionell für die Verwaltung
der Gnadengaben zuständig war: »Geradezu gigantisch« stieg die Zahl der von
der katholischen Kirche vorgenommenen Selig- und Heiligsprechungen im 20.
Jahrhundert, resümiert Arnold Angenendt eine Entwicklung, die wohl nicht
zuletzt auch als Gegenreaktion auf das Aufkommen der vielen Ersatzheiligen
zu sehen ist, die die totalitären Ideologien und politischen Religionen des 20.
Jahrhunderts hervorbrachten.8 Selbst in den Diktaturen des sowjetischen Systems war oftmals die Partei allenfalls das mythische Gerüst, auf dem sich der
Personenkult der Leitfigur umso strahlender abhob.
Nicht nur die angestellten Überlegungen, sondern auch die in diesem Buch
versammelten Beispiele zeigen, dass in den modernen Diktaturen des 20. Jahrhunderts der Tod des ersten Mannes – hier beschränkt sich die Geschichte
tatsächlich auf das männliche Geschlecht – mehr als ein Herrschaftswechsel
war. Er konnte den Übergang auf einen Nachfolger bedeuten oder, so in vielen
Fällen, den Umbruch des gesamten Systems politischer Herrschaft nach sich
ziehen. Immer aber war das Verhältnis von Beherrschten und Herrschenden neu
zu justieren. In den mehr oder weniger durchherrschten diktatorischen Gesellschaften konnte dieses nicht beim Umbau des Machtapparats im engeren Sinne
stehen bleiben, sondern zog automatisch weite Kreise in die Gesellschaft hinein.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes nehmen die Dramatik des jeweiligen Ereignisses auf und können zugleich zeigen, dass der Tod und dessen öffentlicher Vollzug weit darüber hinaus weist: Der Tod des Diktators, die Umstände
seines Ablebens, die verschiedenen Formen des Umgangs mit seinem Leichnam und die so (mit) geprägte Erinnerung lassen in nuce wichtige Facetten
der Wechselbeziehung zwischen Diktatur und ihrer Führung einerseits und
der diktatorisch beherrschten bzw. sich davon lösenden Gesellschaft erkennen.
Diesen Zusammenhängen geht der vorliegende Band an zentralen Beispielen
vor allem, aber nicht ausschließlich des zurückliegenden Jahrhunderts nach: Die
Ereignisse um den Tod des Diktators und die mit ihnen verbundenen öffentlichen Geschehnisse erzählen ebenso viel über den Charakter, der mit dem Toten
verbundenen Diktatur, wie über das politische Erbe des Zwangsregimes, mit
dem die Nachfolgegesellschaft umzugehen hatte.
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt, Der Tod des Diktators
Die Beiträge des vorliegenden Bandes thematisieren die besonderen Umstände
sowie auch die politischen und gesellschaftlichen Folgen des Tods von Diktatoren.
So unterschiedlich der Aufstieg und die »Karrieremuster« von Personen, denen es
gelang, sich als Diktatoren zu etablieren, auch verlaufen sein mochte – bei allen
Unterschieden der sozialen Herkunft, Bildung wie auch der politischen Sozialisation war ihnen doch eins gemeinsam: Sie wussten die jeweiligen besonderen
politisch-sozialen Umstände zu nutzen, um an die Macht zu gelangen und ihre
Diktatur zu etablieren. In der Regel reagierten sie dabei auf die spezifischen
bzw. jeweils aktuellen Krisensymptome einer Gesellschaft, die zumeist geeignet
waren, eine radikale politische Zäsur zu begünstigen. Das traf für Adolf Hitler,
der in den Krisenjahren der Weimarer Republik die strukturellen wie aktuellen
politisch-sozialen Probleme der ersten deutschen Demokratie demagogisch
auszunutzen verstand, ebenso zu, wie für Franco oder Mao Zedong, denen der
Bürgerkrieg in ihren Ländern zum Aufstieg verholfen hatte. Die Beispiele der in
diesem Band behandelten Diktatoren werfen insofern immer auch ein Licht auf
die jeweilige Gesellschaft, die eine Diktatur ermöglichte bzw. auf die Eliten und
sozialen Trägerschichten, die eine Diktatur stützten oder jedenfalls tolerierten.
Der Tod des Diktators konfrontierte die Regime wie auch die sie tragenden
Gesellschaften demzufolge mit der Herausforderung, entweder unter veränderten Bedingungen und mit anderen Personen die Kontinuität der Diktatur zu
garantieren oder einen Bruch des politischen Systems zu erreichen, der sich mit
dem Ableben des ersten Mannes an der Spitze des Staates verband.
Ob der Tod des Diktators den Übergang zur Demokratie begünstigte, ob
sich mit dem Ableben des Diktators die autokratischen Strukturen und Impulse
des Regimes gegebenenfalls abschwächten oder sogar intensivierten: Immer
musste der staatliche Machtapparat auf eine Legitimationslücke reagieren und
versuchen, diese zu schließen. Das war grundsätzlich möglich, indem man – wie
beispielsweise beim Übergang von Lenin zu Stalin – die bruchlose Anschlussfähigkeit des »neuen« Regimes an die überlieferten politischen Strukturen behauptete. Das konnte geschehen, indem man – wie im nachmaoistischen China –
die »Legitimationsressourcen«, die sich mit dem toten Diktator verbanden, für
Zwecke einer tendenziell gewandelten Politik in Anspruch nahm. Die (partielle)
Delegitimation eines Diktators konnte – wie bei Ho Chi Minh – dazu führen,
dass dieser in den Bereich des Legendären verwiesen wurde und damit in mancherlei Hinsicht nach wie vor als politische Ikone galt, ohne – abgesehen von
eher symbolisch überformten Instrumentalisierungsabsichten – für die aktuelle
Politik Vietnams noch von maßgeblicher Bedeutung zu sein. Ebenso rasch und
tiefgreifend konnte aber auch das Andenken an den Diktator getilgt werden, wenn
der Nachfolger – wie durch die Ablösung Ulbrichts durch Honecker bezeugt –
die Erinnerung an den Vorgänger weitgehend unterdrücken ließ, um die eigene
Person in ein helleres Licht zu rücken wie auch um die (partielle) Abkehr von
jenen politischen Vorstellungen zu unterstreichen, die sich mit dem der Ächtung
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Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt
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anheimgefallenen Diktator verbanden. »Die Vergangenheit«, hat Alexander Vatlin
jüngst geurteilt, »lässt sich nicht vorhersehen, folgt sie doch den Änderungen
der offiziellen Parteilinie«.9
Der Tod des Diktators stellte jede Diktatur auf eine Bewährungsprobe, in
der es darum ging, die aktuelle Gegenwart in ein Verhältnis zur Vergangenheit
und zur Zukunft zu setzen. Ob man Diktatoren demontierte, dämonisierte oder
glorifizierte, ob man sie ächtete oder für Zwecke aktueller Politik instrumentalisierte – ihr Tod ging nie lautlos vonstatten, sondern diesem folgte immer ein
Prozess der Erinnerung und der aktiven Auseinandersetzung.
Anmerkungen
1 Für vielfältige Mithilfe bei der Redaktion dieses Bandes danken die Herausgeber Katharina
Hennig, Manuela Knopik und Bianka Litschke.
2 Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology,
Princeton 71997.
3 Vgl. János M. Rainer, Imre Nagy. Vom Parteisoldaten zum Märtyrer des ungarischen
Volksaufstandes. Eine politische Biografie 1896–1958, Paderborn 2006.
4 Vgl. Katherine Verdery, What was socialism, and what comes next? Princeton u. a. 1996,
S. 232.
5 Vgl. ebd.
6 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie,
Tübingen 51976, S. 654–682.
7 Vgl. Frank Möller, Einführung. Zur Theorie des charismatischen Führers im modernen
Nationalstaat, in: ders. (Hg.), Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004,
S. 1–19, S. 14.
8 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen
Christentum bis zur Gegenwart, München 1994, S. 331.
9 Alexander Vatlin, Die unvollendete Vergangenheit. Über den Umgang mit der kommunistischen Geschichte im heutigen Russland, in: Großbölting, Thomas u. a. (Hg.), Das Ende des
Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen 2010, S. 75.
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Rüdiger Schmidt
Napoleon Bonaparte
Charisma, Tod und Mythos
Die Französische Revolution, urteilt Hans-Ulrich Thamer, »wurde zum Laboratorium der Moderne, indem sie in der kurzen Spanne eines Jahrzehnts die unterschiedlichen Verfassungsformen entwickelte, die für das 19. und 20. Jahrhundert
wirkungsmächtig werden sollten, von der konstitutionellen Monarchie über die
Republik bis zur bonapartistischen Diktatur«.1 Es war schon unter den Zeitgenossen strittig, ob der erst dreißigjährige General Bonaparte im November 1799
das revolutionäre und kriegführende Frankreich vor äußerer Bedrohung rettete
und vom inneren Chaos erlöste oder ob es sich hier lediglich um den »Mythos
des Retters« handelte.2 Am 9. November 1799, nach dem Revolutionskalender
war es der 18. Brumaire, stürzte Bonaparte das Direktorium und ließ sich selbst
zum Ersten Konsul proklamieren. »Ich bin die Revolution«, verkündete er nach
dem Staatsstreich und versicherte zugleich, dass die Revolution beendet sei.3
Die Revolution hatte ihn emporgetragen, jetzt versuchte er sie zu beerben.4
Es war in mancherlei Hinsicht bezeichnend für die Situation nach dem
18. Brumaire, dass der Staatsstreich in Frankreich eher mit Überraschung und
Erstaunen als mit Unwillen oder gar Auflehnung aufgenommen wurde.5 In Paris
blieb es ruhig. In den Faubourgs, in denen die sozialen Trägerschichten der
Revolution zu Hause waren, schien der revolutionäre Elan seit der Niederwerfung der letzten Aufstände im April und Mai 1795 erloschen. Auch außerhalb
der Hauptstadt hatte es kaum Widerstand gegen den Staatsstreich gegeben;
niemand rechnete mit der Gegenwehr breiterer Bevölkerungsschichten, die
sich angesichts des kürzlich erfolgten Umsturzes bemüßigt fühlten, ihre gerade
hinweggefegten Abgeordneten zu verteidigen. Im Gegenteil: Vor allem in den
bürgerlichen Vierteln reagierte man eher mit Erleichterung auf den unblutigen
Ausgang des 18. Brumaire. Zu sehr war das Direktorium in Misskredit geraten,
zu wenig war man noch willens, die Souveränität des Volkes zu verteidigen.
Der Sieg vom 9. November wäre indes unvollkommen gewesen, wenn Bonaparte nicht nach dem Staatsstreich vollendete Tatsachen geschaffen hätte, die ihn
schließlich an die Spitze der Nation tragen sollten. Rasch hatte der General seine
Konkurrenten Emmanuel Joseph Sièyes und Pierre Roger Ducos ausmanövriert
und sich den Löwenanteil an der Macht gesichert, bekam dafür allerdings »die
Feindseligkeit derjenigen Brumairianer zu spüren, die ihn gerufen hatten, damit
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er den Staatsstreich ausführe, nicht aber, damit er dessen Hauptnutznießer sei«.6
Mehr und mehr wurde deutlich, dass ein Regime Bonaparte nichtsweniger als
»die Revolutionierung der Wirklichkeit unter Abzug der Revolution« bedeuten
würde.7 Als er sich am 15. Dezember 1799 mit den Worten »Die Revolution ist
zu den Grundsätzen zurückgekehrt, von denen sie ausging; sie ist zu Ende« an
die französische Nation wandte, hatte er die Revolution – paradox genug – im
Namen der Ideen von 1789 beendet.8 Die neue Konsularverfassung, die am
25. Dezember 1799 in Kraft trat, war ganz auf seine Bedürfnisse zugeschnitten,
es handelte sich um die Konstitution einer kaum verschleierten Diktatur.9 An
der Spitze des Staates standen drei Konsuln, von denen Bonaparte als Premier
Consul mit quasi-diktatorischen Vollmachten ausgestattet war. Er wurde auf
zehn Jahre vom Senat gewählt, nur er allein ernannte Minister, Generale, die
Mitglieder des Staatsrats und Verwaltungsbeamte. Das allgemeine Wahlrecht
blieb bestehen, wurde jedoch durch einen neuen Wahlmodus eingeschränkt.
Die gesetzgebende Gewalt verteilte sich auf zwei Versammlungen, von denen
die hundert Mitglieder des Tribunats die Gesetze ohne Entscheidungsrecht diskutieren und die gesetzgebende Körperschaft – »das Korps der Stummen« – die
Gesetze ohne das Recht der Beratung beschließen konnten. Das Plebiszit, das
Bonaparte im Januar 1800 über die Verfassung anberaumte, war demzufolge
auch ein Plebiszit über den Ersten Konsul, bestätigte aber eindrucksvoll die
»pseudodemokratisch verbrämte Diktatur Bonapartes«.10
Mit rastloser Energie widmete sich der Erste Konsul ab jetzt der innenpolitischen Neuordnung Frankreichs: Dazu zählte die Sanierung der Finanzen, die
Reorganisation der Verwaltung und die Förderung der Industrie; die öffentliche
Infrastruktur wurde erneuert, wozu auch der Neubau von Straßen und Kanälen
zählte. Getragen von einem Kurs der nationalen Versöhnung kehrte das Land
in kürzester Zeit zu geordneten Wirtschaftsverhältnissen zurück; darüber hinaus wurden das Prinzip der Wahrung des Besitzes und der Gleichheit vor dem
Gesetz, auch die Entfeudalisierung des ländlichen Besitzes nicht angetastet, ja
mehr noch, mit dem Code Civil (1804) hatte Napoleon die elementaren Rechte
der Freiheit, der Gleichheit und des Schutzes des Privateigentums verbindlich
geregelt. War die Revolution also doch nicht zu Ende? Hatte sie nur die Form
verändert und war eine Metamorphose eingegangen, wie Napoleons Biograf
Fournier vermutet?11 Ohne Zweifel hatten seine Reformen Erfolg. Doch das
Budget hatte er ausgeglichen, indem er die Kriegskosten den Besiegten aufbürdete. Den inneren Frieden hatte er hergestellt, indem er keine organisierte
Opposition duldete und eine Vielzahl von politischen Blättern verbieten ließ.
Seine Gegner gaben sich duldsamer, seit er sie mit einem umfassenden Netz von
Spionen überwachen ließ. Bonaparte sicherte seine Macht ebenso schrittweise
wie planmäßig, nicht ohne diese auch wie in den Jahren 1800, 1802 (Konsul auf
Lebenszeit) und 1804 durch Volksabstimmungen bestätigen zu lassen, um seine
Herrschaft plebiszitär abzusichern. Die Konsulatsverfassung bildete hierbei das
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Fundament und das Sprungbrett zur Erreichung der uneingeschränkten Herrschaft, für die es nur noch des Senatsbeschlusses vom 18. Mai 1804 bedurfte,
um diese durchzusetzen.12
Mit der Annahme des Kaisertitels »durch die Gnade Gottes und die Verfassung der Republik« hatte Bonaparte, der sich erst nach der Proklamation
des Erbkaisertums Napoleon nannte, am 2. Dezember 1804 ein »Volkskaisertum« etabliert, das von nicht wenigen Zeitgenossen als Verrat an der Revolution
gebrandmarkt wurde.13 Auf eigentümliche Weise waren in seiner Herrschaft von
jetzt an Revolution, Reform und Tradition miteinander verschmolzen.14 Dabei
war die quasi-charismatische Herrschaft Napoleons traditional und modern
zugleich: Traditional, weil sie ihren aus einer Notsituation heraus geborenen
diktatorischen Impuls seit 1804 in traditioneller Form zu veralltäglichen suchte.
Modern, weil sie ihre Kommunikations- und Darstellungsformen dabei fortwährend und eklektisch aktualisierte.15 Da Napoleons Herrschaft unter dem Defizit
der Legitimität litt, blieb er auf innen- wie außenpolitische Erfolge fortwährend
angewiesen, um in seiner Rolle als Held und Retter der französischen Nation
nicht in Frage gestellt zu werden. »Ihr Könige, die ihr auf dem Thron geboren
seid, könnt besiegt von ihm herabsteigen«, bemerkte er zu Metternich, »aber ich
muß, um mich auf dem Thron zu behaupten, immer wieder Siege erringen«.16
Die sozialen Voraussetzungen der napoleonischen Herrschaft blieben darum
beständig gefährdet, weil er zum einen mit der Negation liberal-demokratischer
Verfassungsprinzipien die revolutionäre Kontinuität gebrochen hatte, zum anderen als Kaiser über keine monarchische Tradition verfügte und darüber hinaus die
Distanz zum Ancien Régime wahren musste. Sein Ziel war darum die ständige
»Arbeit am Mythos« im Sinne einer Heroisierung der Gegenwart, die darauf
angelegt war, die fehlende Vergangenheit zu kompensieren.17
So rasant Napoleon die Macht an sich gerissen, innenpolitisch konsolidiert
und behauptet hatte, so eindrucksvoll waren seine militärischen Erfolge, mit
denen er nicht weniger bezweckte als die Neuordnung Europas. Nach dem
Frieden von Tilsit (1807), der den vierten Koalitionskrieg beendete, befand
er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der Krieg selbst schreckte ihn
nicht: »Habe dieser seine Gefahren, so der Friede nicht minder«.18 Die ersten
Niederlagen beeindruckten ihn wenig. Denn »ich fühle mich«, sagte er vor
dem Waffengang nach Moskau, »nach einem Ziel hingetrieben, das ich nicht
kenne. Wenn ich es erreicht haben werde, wird ein Atom genügen, mich niederzuwerfen. Bis dahin vermögen alle Anstrengungen der Menschen nichts
gegen mich«.19 Doch der Russlandfeldzug (1812) wurde zum Menetekel und
endete mit dem Untergang der Großen Armee. Der junge Kriegsgott von 1796
hatte die Initiative des Handelns verloren. »Sehen Sie«, sagte er zu Maret, »so
ist der Krieg. Am Morgen Sieger, am Abend besiegt. Vom Triumph zum Fall
ist [es] oft nur ein Schritt«.20 Bei seiner Abdankung war er Mitte vierzig und
hatte noch sieben Jahre zu leben.
Napoleon Bonaparte
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Restauration, »Verbannung und Verklärung«21
Es wundert nicht, dass die Gesellschaft, in die Ludwig XVIII. im Jahr 1814 aus
dem Exil zurückkehrte, nach wie vor die Gesellschaft Napoleons war und in
vielerlei Hinsicht übrigens auch blieb.22 Es war nicht der Thron Ludwigs XVI.,
sondern der Thron des Kaisers, auf den sich der Bourbone niedergelassen hatte.23
So sehr sich die Restauration als »Gegen-Ort« der Revolution verstand, so wenig
war es den politischen Eliten möglich, bruchlos an die bourbonische Monarchie
des Ancien Régime anzuknüpfen.24 Ihre Kraft bezog die Restauration darum
zunächst auch weniger aus dem, wofür sie war, sondern aus dem, wogegen sie
sich richtete. König Ludwig XVIII., das war eher der Roi Inévitable – der Unvermeidliche – , nach seinem Intellekt und Habitus mitnichten die geeignete Person,
um mit der – wenngleich durch die Niederlage vor Moskau in Mitleidenschaft
gezogenen – Strahlkraft eines Napoleon rivalisieren zu können.25 Am Anfang
der Restauration stand Napoleon auch deshalb, weil er ihrem Anfang sogleich
ein vorläufiges Ende machte.26
Auf die Episode der ersten Restauration folgte die Episode der »hundert
Tage«. Mit 1100 Getreuen, die ihm ins Exil gefolgt waren, hatte Napoleon seinen
Verbannungsort auf Elba verlassen, landete am 1. März 1815 in Antibes an der
französischen Südküste und marschierte unter den Triumphrufen des Volkes
nach Paris. Was Chateaubriand nach der Rückeroberung Frankreichs und der
Franzosen »die Invasion eines Landes durch einen Mann« nannte, diese Phase
des letzten Aufflackerns seiner Macht, sollte Napoleon später als die schönste
Zeit seines Lebens bezeichnen. Zuerst brachte er die Armee, dann das Volk auf
seine Seite. Er war nur noch vierzig Stunden von Paris entfernt, als die letzte
königliche Garde Hals über Kopf zur Flucht aufbrach. Ohne dass ein Schuss
gefallen war, zog der Kaiser am 20. März wieder in die Hauptstadt ein, aus der
Ludwig XVIII. tags zuvor überstürzt an die französische Küste entkommen war.
Napoleon sagte: »Sie haben mich kommen lassen, wie sie den anderen gehen
ließen«.27 Der Kaiser ließ eine neue Verfassung entwerfen. Den europäischen
Mächten wollte er demonstrieren, dass sich seine politischen Ambitionen auf
Frankreich richteten, den Franzosen zeigen, dass er seinem autokratischem
Stil entsagt hatte. Doch die Rolle des konstitutionellen Kaisers lag ihm nicht,
sie schwächte ihn auch, er fand sich nicht mehr in der gewohnten Rolle: »Man
kettet mich an, Frankreich sucht mich und findet mich nicht mehr«, klagte er
gegenüber Constant.28 Für ein Verfassungsplebiszit, das ihm schließlich eine
auffallend hohe Zahl von Stimmenthaltungen einbrachte, hätte er den Sprung
von Elba auf das Festland nicht zu wagen brauchen. Das Bürgertum hatte ihm
bei der Wahl sein deutliches Misstrauen zum Ausdruck gebracht; die Woge der
Begeisterung, die Napoleon von der südfranzösischen Küste bis nach Paris
getragen hatte, war jedenfalls dahin. Und in der Vendée, im Südwesten und
Süden des Landes brachen royalistische Aufstände los, die für geraume Zeit
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wichtige Truppenteile binden würden, die ihm bei seinem Feldzug gegen die
Alliierten fehlten.
Die europäischen Mächte waren jedenfalls entschlossen, Napoleon Einhalt
zu gebieten. Kaum hatte die Nachricht von seiner Rückkehr den Wiener Kongress alarmiert, erklärten die Alliierten ihn für geächtet (13. März 1815) und
begannen ihre Truppen zu mobilisieren. Napoleon ergriff die Initiative. Mit
einer Armee von 125.000 Mann marschierte er in Belgien den Armeen Blüchers
und Wellingtons entgegen, schob sich zwischen die Heere der Gegnerkoalition, die er einzeln nacheinander zu schlagen suchte. Am 16. Juni besiegte er
Blücher bei Ligny, doch gelang es ihm nicht, dessen Armee zu vernichten. Es
war Napoleons letzter Sieg. Zwei Tage später, am 18. Juni 1815, wurde er bei
Waterloo entscheidend geschlagen. Selbst die Alte Garde des Feldherrn, auf die
er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte, zeigte sich nicht mehr in der Lage, eine
schlachtentscheidende Wende zugunsten Napoleons herbeizuführen. Sie wurde
von preußischen Truppen zusammengeschossen, nachdem Blücher am Abend
der Armee Wellingtons zur Hilfe geeilt war und so die Schlacht entschied. Es
war Napoleons letzte Bataille und zum ersten Mal musste er den Anblick seines
fliehenden Heeres ertragen. »Die Leute von 1815 waren nicht mehr die von
1792«, sollte er später auf Sankt Helena sagen.29
Es gelang Napoleon nur knapp, sich der Gefangennahme zu entziehen. Er
hatte – wie schon in Ägypten, wie auch in Russland – die Reste seines Heeres im Stich gelassen; am Morgen des 21. Juni betrat er wieder das ÉlyséeSchloss. Doch in Paris – so Napoleons Biograf Fournier – hatte man »einen
Erfolg des Kriegsfürsten fast ebenso sehr [befürchtet] wie eine Schlappe des
Heeres, das er befehligte. Nicht bloß, weil er, siegreich, wieder der alte unumschränkte Herrscher werden […] konnte, sondern weil der Krieg damit erst
recht begann und wer weiß wann endete«.30 Es waren nur noch die Arbeiter aus der Faubourg St. Antoine, die ihn hochleben ließen, sie umdrängten
den Palast und riefen nach der Diktatur. Tatsächlich kam er zu dem Schluss,
er bedürfe diktatorischer Vollmachten, »um das Vaterland zu retten«. Es wäre
zudem der Nation würdiger (plus nationale) und nützlicher, wenn sie ihm von
der Kammer der Deputierten übertragen würde.31 Doch wusste im Grunde
jedermann, nicht zuletzt auch der Kaiser selbst, dass sein Einfluss geschwunden
war. »Der Respekt vor mir war groß«, äußerte er später, solange ich gefürchtet
war. Aber […] als Besiegter – da hatte ich nichts zu erhoffen«.32 Napoleon
spielte auf Zeitgewinn, doch es war aussichtslos, zumal die Truppenverbände
der siegreichen Verbündeten auf Paris vorrückten und bereits abzusehen war,
dass dann eben die Alliierten jene Entscheidung herbeiführen würden, die jetzt
– jedenfalls formell – noch eine Angelegenheit der französischen Politik war.33
Die liberale Mehrheit der Abgeordnetenkammer verlangte die Abdankung des
Kaisers, am Nachmittag des 22. Juni 1815 gab Napoleon dem Drängen nach
und trat zurück.
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Eine Woche verbrachte er noch in Malmaison, wo er einst mit Joséphine, die
hier Ende Mai 1814 verstorben war, eine glückliche Zeit verbracht hatte. Am
29. Juni verließ er das Schloss im Frack eines Bürgers, um sich nach Rochefort
zu begeben, wo zwei Fregatten warteten, um ihn nach Amerika zu bringen. An
eine Überfahrt war jedoch nicht zu denken, da ein britischer Kreuzer – die »Bellerophone« – die Ausfahrt blockierte. Mitte Juli fügte sich Napoleon schließlich
in sein Schicksal und begab sich an Bord des feindlichen Schiffes. Erst im Hafen
von Plymouth erfuhr er von der Entscheidung der britischen Regierung, ihn
auf eine Insel im Südatlantik, gut 1800 Kilometer von der afrikanischen Küste
entfernt, zu verbannen. »Sankt Helena, das ist mein Todesurteil«, soll er gesagt
haben.34 »Wie in einem doppelten Kursus mittelalterlicher Epen« schien Napoleon »zweimal seinen Weg gehen zu müssen, damit erst im zweiten Durchgang
die Unabänderlichkeit des Exils bestätigt werden konnte.«35
Am 7. August begab sich Napoleon an Bord der »Northumberland«, die
ihn nach Sankt Helena bringen sollte. Nach zwei Monaten auf See erreichte
das britische Linienschiff die kahle Felseninsel und ging am 15. Oktober in
Jamestown vor Anker. Napoleon hat diese Insel nie mehr verlassen. Er hatte
die Tuilerien, Schönbrunn, den Kreml und das Schloss Élysée bewohnt. Jetzt
bezog er seinen letzten Wohnsitz, Longwood House, die ehemalige Residenz
des britischen Gouverneurs.36 Es begann die Periode des Erinnerns, der Reflexion und der Apologie; es ging darum jene Legende zu erschaffen, die seinen
Nachruhm mehrte. »Wir werden die Geschichte der Tapferen schreiben«, hatte
er gesagt, bevor er Frankreich verließ.37 Er tat mehr als das, erzählte, ja verklärte
seine Geschichte in der Hoffnung, seinen unsterblichen Ruhm zu festigen und
behauptete, mehr und mehr werde er seiner »Tyrannenhaut entkleidet«.38 Er
wusste, dass seine Äußerungen vom Grafen Las Cases sowie den Generalen
Bertrand, Gourgaud und Montholon – sie zählten zur Entourage, die Napoleon
ins Exil gefolgt war – protokolliert wurden, alle vier führten ein Tagebuch. Schon
während der Überfahrt hatte Napoleon mit den Diktaten begonnen, auf Sankt
Helena diktierte er Las Cases einen Teil seiner Mémoires. Der Graf veröffentlichte 1823 das bekannte Mémorial de Sainte Helene in acht Bänden, das sich
auf den Zeitraum vom 20. Juni 1815 bis zum 25. November 1816 erstreckt und
erzielte damit einen beträchtlichen Erfolg.39
Das Mémorial, darüber hinaus die Cahiers des Generals Bertrand stellen die
Beweisstücke einer Legendenbildung dar, die in ihren Umrissen schon vorher
existierte, vor allem aber Napoleons Fähigkeit zur Selbstinszenierung erneut
unter Beweis stellte: »Ich habe den Abgrund der Anarchie wieder geschlossen
und das Chaos geordnet. Ich habe die Revolution entsühnt, die Völker geläutert
[…] Ich habe jeden möglichen Wetteifer entfacht, alle Verdienste belohnt und
die Grenzen des Ruhmes weitergesteckt«.40 Napoleon stilisierte sich zum großen
Europäer, der dem Kontinent die Errungenschaften der Revolution gebracht
und ihn so neu geordnet habe.41 Auch das »Martyrium« von Sankt Helena war
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Abb. 1: Napoleon auf Sankt Helena (zeitgenössischer französischer Stich).
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Teil seiner Selbstinszenierung, wobei es nur noch eines gedanklichen Schritts
bedurfte, um das Schicksal Napoleons mit dem Kreuzestod Christi in eine direkte
Beziehung zu setzen.42 Als man ihm 1817 einen Fluchtplan vorschlug, lehnte er
diesen mit der denkwürdigen Begründung ab, dass er »noch fünfzehn Jahre zu
leben [habe], weshalb das alles sehr verführerisch [sei]. Aber es ist eine Narretei,
denn ich muss hier sterben oder Frankreich kommt, mich hier zu suchen. Wenn
Jesus Christus nicht am Kreuz gestorben wäre, würde er nicht als Gott gelten«.43
Während der ersten Monate seiner Gefangenschaft auf Sankt Helena erfreute
sich Napoleon einer hinlänglich guten Gesundheit, wenngleich er in Folge der
erzwungenen Untätigkeit an Leibesfülle zunahm.44 »So wenig man ißt«, hatte
er einst betont, »man ißt doch immer zuviel. Vom Zuvielessen kann man krank
werden, vom Gegenteil nie«.45 Doch üppige Mahlzeiten, die ihm früher nichts
bedeuteten, halfen ihm jetzt, der täglich erlittenen Eintönigkeit und Langeweile
zu begegnen. Schon Ende der Dreißig hatte Napoleon die ersten Anzeichen
eines Magenleidens gespürt, von Zeit zu Zeit fühlte er sich in den letzten Kriegsjahren von Magenkrämpfen beeinträchtigt. Seit dem Herbst 1817 begann sich
sein Zustand zu verschlimmern, die Gesundheitsbulletins klangen immer alarmierender. Am 27. Oktober 1817 teilte Bertrand dem Gouverneur mit: »Seit
einem Monat, da ich die Ehre hatte, Ihnen letztmals zu schreiben, hat sich die
Gesundheit des Kaisers erheblich verschlechtert«.46 Berichten seines Arztes
O’Mearas zufolge litt Napoleon an chronischer Hepatitis, die der Mediziner auf
das ungesunde Klima zurückführte; zudem klage der Patient über zunehmende
Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und eine Schwellung der Beine. O’Mearas,
der das Vertrauen des britischen Gouverneurs Hudson Lowe verloren hatte,
wurde auf dessen Veranlassung abgelöst; der Rat anderer hinzugezogener Ärzte
wurde von Napoleon indessen verschmäht. Im September 1819 übernahm
Francesco Antommarchi, ein junger Chirurg korsischer Herkunft die Betreuung
des Patienten. Ihm gelang es, Napoleon zu einer Änderung seiner Lebensweise
zu bewegen, Ausflüge zu Pferde zu unternehmen und im Garten zu arbeiten.
Doch nur kurzfristig hatten die Tätigkeiten im Freien Napoleons Zustand
gebessert, trotz der ihm auferlegten Körperdisziplin verschlechterte sich sein
Zustand von Tag zu Tag. Die körperliche Anstrengung erschöpfte ihn, stichartige
Schmerzen und Übelkeit setzten ihm zu, immer häufiger musste er er das Bett
hüten. In der Silvesternacht 1820 erzählte er zum letzten Mal aus vergangenen Zeiten, danach nahm seine Krankheit einen raschen Verlauf.47 Gegenüber
Bertrand bemerkte er am 11. Februar 1821: »Ich werde dieses Jahr nicht überleben, auf keinen Fall aber das kommende«.48 Eine letzte Spazierfahrt unternahm er
Mitte März 1821, um hernach in einen Zustand völliger Erschöpfung zu fallen.
Die Nahrung, die er noch zu sich nehmen konnte, beschränkte sich auf wenige
Bissen, die er nur mit größter Mühe schlucken konnte und zumeist sogleich
wieder erbrach. Bertrand vertraute er an, dass es für ihn ein Glück wäre, wenn
sein Leben jetzt enden würde:
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»Ich möchte sterben. Ich fürchte den Tod nicht. Für mich wäre es ein großes Glück, binnen
vierzehn Tagen tot zu sein. Was kann ich mir noch erhoffen? Möglicherweise doch nur
ein noch elenderes Ende. Das einzige, was ich fürchte, ist, dass die Engländer meinen
Leichnam behalten wollen und ihn in Westminster beisetzen. Man muss sie dazu zwingen,
dass sie ihn an Frankreich übergeben […] Nachdem sie mich ermordet haben, ist es das
Mindeste, dass sie meine sterbliche Hülle nach Frankreich, dem einzigen Vaterland, das
ich geliebt habe und wo ich bestattet zu werden wünsche, überführen«.49
Am 15. April diktierte er Montholon sein Testament, worin er seinen persönlichen Besitz unter seine getreuesten Anhänger verteilte und Anweisungen zu
seiner Beisetzung formulierte: »Ich wünsche, dass meine Asche an den Ufern der
Seine ruht, inmitten des französischen Volkes, das ich so sehr geliebt habe«. Am
30. April begann sich sein Bewusstein zu verwirren, er fiel ins Koma, aus dem
er nur noch für kurze Momente erwachte. Am 5. Mai 1821, kurz vor achtzehn
Uhr, starb Napoleon. Draußen fegte ein heftiger Sturm über die Insel, der auch
jenen Weidenbaum entwurzelte, unter dem er so gern gesessen hatte. Marchand
bedeckte den Leichnam mit dem grauen Mantel, den der Erste Konsul Napoleon
in der Schlacht von Marengo getragen hatte.
Die Sektion des Leichnams ergab, dass der Magen des Kaisers von einem
Krebsgeschwür befallen war, ein Befund, an dem auch Napoleons Vater gestorben war.50 Nach der Autopsie wurde der Körper einbalsamiert, in die grüne
Jägeruniform der Chasseurs de la Garde eingekleidet und auf Napoleons eisernen
Feldbett aufgebahrt. Der britische Gouverneur Hudson Lowe hatte verfügt, dass
Napoleon entgegen dessen letzten Wunsch auf Sankt Helena beigesetzt werden
sollte. Eine Überführung des toten Kaisers nach Europa hätte dort nicht weniger Aufsehen erregt als die Ankunft des lebendigen.51 Am 10. Mai 1821 wurde
Napoleon zu Grabe getragen, auf dem Deckel des Mahagonisarges lagen der
Mantel von Marengo, Napoleons Degen und ein Kruzifix. Soldaten der Garnison gaben ihm das Geleit, dem Sarg folgten die Begleiter und die Dienerschaft
Napoleons, Sir Hudson Lowe und der Kommissar der französischen Regierung.
Als man den Sarg in die Grube senkte, feuerten die Kanonen des britischen
Admiralschiffs vor Jamestown Salut.52
Der Retour des Cendres
Die Idee, Napoleons sterbliche Überreste nach Paris zurückzuholen, geht auf
dessen eigenes Vermächtnis zurück.53 An eine Rückführung des Leichnams
war vor 1830 indes nicht zu denken. Aber auch nach der Julirevolution, die den
französischen König Karl X. zur Abdankung und Flucht nach England zwang,
wurde zunächst alles getan, um dieses Thema weitgehend aus der öffentlichen
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Diskussion herauszuhalten. Behutsam wurde daneben aber auch der Napoleonkult kanalisiert und so etwa die über vierzig Meter hohe Vendôme-Säule 1833
erneut mit der bronzenen Statue des Kaisers bekrönt, wo man sie 1815 entfernt
hatte.54 Als Jérôme Bonaparte, jüngster Bruder des Empereur, der kranken
Mutter die Nachricht überbrachte, erhob sie sich und sagte: »Der Kaiser steht
wieder mitten in Paris«.55
Vor allem von den Veteranen war diese Aktion ebenso wie die Fertigstellung
des Arc de Triomphe mit lautstarker Zustimmung begrüßt worden. Nach der
Schlacht von Austerlitz am 2. Dezember 1805, in der das österreichische und
russische Heer auf den Tag genau ein Jahr nach der Selbstkrönung des Kaisers
besiegt worden war, hatte Napoleon den Triumphbogen 1806 in Auftrag gegeben. Dreißig Jahre später war der Arc de Triomphe an der Place de L’Étoile
fertiggestellt worden, um an den Ruhm des Feldherrn und der französischen
Armee zu erinnern.56
Zwar wurde der Kult Bonapartes unter dem Bürgerkönig Louis Philippe
vorsichtig im Sinne einer »legénde napoléonienne« gefördet, aber die offizielle
Erinnerung an Napoleon blieb zwischen den politischen Lagern und Fraktionen
nicht unumstritten.57 Welches Andenken sollte man bewahren, welche Vergangenheit ließ sich für Zwecke der Gegenwart aktualisieren, worüber sollte man
besser schweigen? Mit der Julimonarchie verband sich die Gründungslegende,
sie als Vollendung der umstürzenden Ereignisse von 1789 darzustellen. Rasch
entspann sich in Folge der Revolution von 1830 jedoch ein »langer Kampf
zwischen den Kräften des mouvement und der résistance«;58 und zumal die
Erinnerungspolitik der Republikaner schwankte zwischen radikaler Ablehnung
und einer eher emotional bestimmten Napoleon-Verehrung. Längst konnte der
Kult um Napoleon nach der Abdankung Karls X. nicht mehr nur Ausdruck der
Opposition gegen die Bourbonenherrschaft sein. Vielmehr bildete jener Mythos
des Helden, den Napoleon schon zu Lebzeiten umgab, unter dem Eindruck
heftiger politischer Auseinandersetzungen und Fraktionskämpfe die Projektionsfläche für Verheißungen, mit der man an die ruhmreiche Vergangenheit der
Grande Nation anzuknüpfen versuchte. Allenthalben wurde eine Dekade nach
dem Tod Napoleons dessen Wiederbelebung betrieben: Er kehrte zurück auf die
Bühnen der Theater, kam in Dutzenden von Stücken auf die Bretter, darunter
das Drama von Alexandre Dumas in sechs Akten, welches am 10. Januar 1831 im
Odéon Theater in Paris Premiere feierte.59 Das Publikum reagierte enthusiastisch:
»Wie dem aber auch sey« – so beschreibt Heinrich Heine 1837 die Reaktionen der
Zuschauer – »nicht bloß die alten Bonapartisten, sondern auch die große Masse des Volks
wiegt sich gern in diesen Illusionen, und die Tage des Kaiserreichs sind die Poesie dieser
Leute, eine Poesie, die noch dazu Opposizion bildet gegen die Geistesnüchternheit des
siegenden Bürgerstandes. Der Heroismus der imperialen Herrschaft ist der einzige, wofür
die Franzosen noch empfänglich sind, und Napoleon ist der einzige Heros, an den sie noch
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glauben. […] Wenn in den kleinen Vaudevillen der Boulevards Theater eine Scene aus der
Kaiserzeit dargestellt wird, oder gar der Kaiser in Person auftritt, dann mag das Stück
auch noch so schlecht seyn, es fehlt doch nicht an Beyfallsbezeugungen; denn die Seele
der Zuschauer spielt mit, und sie applaudiren ihren eigenen Gefühlen und Erinnerungen.
Da giebt es Couplets, worin Stichworte sind, die wie betäubende Kolbenschläge auf das
Gehirn eines Franzosen, andere, die wie Zwiebeln auf seine Thränendrüsen wirken. Das
jauchzt, das weint, das flammt bey den Worten: Aigle français, soleil d’Austerlitz, Iéna, les
pyramides, la grande armée, l’honneur, la vieille garde, Napoléon […] oder wenn gar der
Mann selber, l’homme, zum Vorschein kommt, am Ende des Stücks, als Deus ex machina!
Er hat immer das Wünschelhütchen auf dem Kopfe und die Hände hinterm Rücken und
spricht so lakonisch als möglich. Er singt nie. Ich habe nie ein Vaudeville gesehen, worin
Napoleon gesungen. Alle anderen singen«.60
Wie in einer Art kollektiver Selbstvergewisserung über die Unvergänglichkeit
der Grande Nation und wie um die trübe Gegenwart zu vertreiben, lebte im
Theater die leidenschaftlich rezipierte Realität einer entschwundenen Epoche wieder auf. »Man sah ihn in der Tat eine Stunde lang, diesen legendären
Napoleon […] Er lebte, er bewegte sich, er handelte vor ihren Augen, dieser
Wundermensch, für kurze Zeit aus seiner überirdischen Sphäre in die Illusion
der kümmerlichen Kulissen und eigenartigen Uniformen herabgestiegen […]«.61
Der Kaiser erschien indes nicht nur auf den Bühnen der Nation, sein Bild
wurde darüber hinaus auf unzähligen Lithografien verewigt, sein Konterfei
schmückte diverse Schmuckuntensilien und Gebrauchsgegengestände, man
fand ihn auf Tabaksdosen, Würfelbechern und Zifferblättern.62 »Sein Bild«, so
Heine, »sieht man überall, in Kupferstich und Gyps, in Metall und Holz, und
in allen Situazionen«.63 Der ins Volkstümliche gewendete Napoleon erhielt
Ende der 1830er Jahre auch eine literarische Hommage, als Paul-Matthieu
Laurent de l’Ardeches’ »Histoire de l’Empereur Napoléon« erschienen war,
ein im Grunde eher durchschnittliches Werk, das – wie so oft – auf eine Stilisierung des Helden zielte. Dem Buch war durch die beigefügten Illustrationen
von Horace Vernet rasch eine große Popularität beschieden, was seinen Grund
darin hatte, dass der tote Kaiser dem Leser in Wort und Bild gewissermaßen
anekdotisch reduziert präsentiert wurde.64 Die teils politisch inspirierte, teils
auch ins Sentimentale umschlagende Verehrung, die Napoleon aus allen Kreisen
der Bevölkerung entgegenschlug, schien jedenfalls kaum Grenzen zu kennen.
Stendhal, der als junger Offizier am Italienfeldzug teilgenommen hatte, später
zum kaiserlichen Kriegskommissar avanciert war und Napoleon einst dafür
gebrandmarkt hatte, dass dieser »den eigenen Despotismus hinter dem Kult
des Ruhms zu verbergen« wisse, feierte ihn 1837 als »den größten Menschen,
den die Welt seit Cäsar sah«.65 Schon zu Napoleons Lebzeiten verschwamm
der »Roman« seines Lebens mit der Realität und sollte der Gegenwart Geltung
und Sinn verleihen.66 Nach seinem Tod – so schien es – entwickelte sich die
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Person des Kaisers umso mehr zum Mythos, der die unerfüllten Sehnsüchte
der Gegenwart auf eine große Vergangenheit projizierte.
Seit der Julirevolution waren mehr als dreißig Petitionen an die französische
Abgeordnetenkammer gelangt, in denen um die Überführung des Leichnams
Napoleons nachgesucht wurde.67 Dass man schließlich erst 1840 ernsthaft erwogen hatte, die sterblichen Überreste des Kaisers nach Paris zu überführen, war
der innen- und außenpolitischen Krise geschuldet, in die sich die französische
Politik hineinmanövriert hatte. Im Frühjahr und Sommer des Jahres rückte die
Orientkrise ins Zentrum der europäischen Politik, als Großbritannien, Österreich, Preußen und Rußland eine Schwächung des Osmanischen Reiches nicht
hinzunehmen bereit waren und zur Befriedung der Levante im Juli 1840 den
Londoner Vertrag geschlossen hatten, der eine gemeinsame Politik zugunsten
des türkischen Sultans vorsah und sich dabei gegen den ägyptischen Potentaten
Muhammad Ali Pascha richtete. Frankreichs Ministerpräsident Thiers hatte
indes zugunsten der Separationsbestrebungen Kairos Partei ergriffen. Als es
zur Landung alliierter Truppen in Syrien und zur Beschießung Beiruts durch
die englische Flotte kam, nahm der drohende Krieg die Züge einer Probe auf
den nationalen Selbstbehauptungswillen der französischen Nation an, zumal die
Wiederbelebung der Koalition von 1814 die französische Öffentlichkeit auf das
Höchste erregt hatte.68 Die Demütigung, die Frankreich im Zuge der Orientkrise
erfahren musste, weckte das Bedürfnis nach Kompensation, endete zuletzt aber
mit dem Rücktritt des französischen Ministerpräsidenten.
Um unter dem Eindruck der angespannten außenpolitischen Situation Frankreichs während der Orientkrise die Einheit der Nation zu demonstrieren und
um die ungebrochene Popularität Napoleons für Zwecke der innenpolitischen
Konsolidierung zu nutzen, hatte Adolphe Thiers allerdings schon im Frühjahr
des Jahres 1840 in geheimen Verhandlungen mit der britischen Regierung den
Retour des Cendres in die Wege geleitet. Als der französische Innenminister
Charles de Rémusat am 12. Mai den Abgeordneten der Assemblée Nationale
verkündete, dass die Regierung die Rückführung der sterblichen Überreste
Napoleons beschlossen habe, kam dies einer Sensation gleich: »Le roi a ordonné
à S. A. R. Monseigneur le prince de Joinville de se rendre avec sa frégatte à l’île
Sainte-Hélène pour y recueillir les restes mortels de l’Empereur Napoléon«.69
Der Leichnam des Kaisers werde von Sankt Helena nach Paris überführt, würdevoll bestattet werden und dort für immer ruhen: »Une cérémonie solennelle,
une grande pompe religieuse et militaire inauguera le tombeau, qui doit les
garder à jamais«.70
Zwar entspann sich eine längere und eher fadenscheinig geführte Debatte
darüber, wo die sterblichen Überreste Napoleons beigesetzt werden sollten.
Tatsächlich – urteilt beispielsweise Klaus Deinet – ging es jedoch »letztlich um
die Frage, ob Frankreich bereits reif sei für eine so direkte Konfrontation mit
der eigenen Vergangenheit«.71 Jedenfalls der Neffe und selbst ernannte Erbe
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des Kaisers, Louis Napoléon, verband mit der Idée napoléonienne ganz andere
Ziele als die Absicht, mit der Beisetzung des Empereur auch dessen Mythos
zu beerdigen.72: »Es gilt nicht nur die sterblichen Reste, sondern die Ideen des
Kaisers zurückzuholen«.73
Doch an welchem Ort sollte Napoleon bestattet werden? Eine Begräbnisstätte
unter der Vendôme-Säule konnte kaum in Frage kommen, wollte man nicht
einen öffentlich zugänglichen Ort schaffen, bei dem möglicherweise die Gefahr
bestand, dass er sich zur Weihestätte einer ungesteuerten Verehrung entwickeln
könnte. Eine Grablegung in der Abtei von Saint-Denis, mithin am traditionellen Bestattungsort der französischen Könige, mochte man zum einen nicht
in Erwägung ziehen, weil diese Stätte während der Französischen Revolution
geschändet worden war. Mit der Exhumierung der Leichname der französischen
Könige hatten die Revolutionäre einst beabsichtigt, diese auch dem kollektiven
Gedächtnis bzw. dem an einen Ort gebundenen öffentlichen Gedenken zu entziehen.74 Zum anderen schien eine demonstrativ in Szene gesetzte Integration
Napoleons in das monarchische Frankreich innenpolitisch kaum durchsetzbar
zu sein und es musste darüber hinaus auch für die europäischen Fürstenhäuser wie eine Provokation wirken, wenn dem toten Empereur nachträglich jene
dynastische Legitimität zuteil geworden wäre, die er sich – wenngleich vergeblich
– durch die Heirat mit Marie Louise 1810 erhofft hatte. Dass Napoleon seine
Rechtmäßigkeit wesentlich aus einem »Verdienstkaisertum« bezogen hatte, was
insbesondere dem Bürgertum imponierte, da der Herrscher als ein durch Taten
ausgewiesener Held nicht auf die Legitimität einer Ahnenreihe angewiesen war,
schien letztlich auch dagegen zu sprechen, ihn in Saint-Denis beizusetzen.75
Die nationale Ruhmeshalle des Pantheon auf der Montagne Sainte-Geneviève
wäre für eine Beisetzung Napoleons dagegen in mancherlei Hinsicht in Frage
gekommen, zumal hier auch die großen Philosophen der Aufklärung Rousseu
und Voltaire oder die Märtyrer der Revolution – wenngleich zum Teil nur kurzfristig – ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Aber mit einer Pantheoniserung
Napoleons als Heros unter Heroen wäre letztlich die Einzigartigkeit des Imperators relativiert worden, so dass schließlich doch nach einer Lösung »à Napoléon
seul« gesucht werden musste.
Schließlich hatte man den zwischen 1679 und 1708 erbauten, von König
Ludwig XIV. einst zur Aufnahme und Versorgung von versehrten Kriegsveteranen in Auftrag gegebenen Invalidenkomplex als letzte Ruhestätte Napoleons
bestimmt. Diese Entscheidung trug zum einen dem Wunsch Napoleons Rechnung, an den Ufern der Seine begraben zu werden, zum anderen schien die sich
mit dem Invalidenkomplex verbindende militärische Tradition und Symbolik am
ehesten geeignet, den toten Kaiser als Empereur und militärischen Helden zu
ehren. Dass das Hôtel des Invalides dereinst im Auftrag Ludwigs XIV. erbaut
worden war, trug in mancherlei Hinsicht zusätzlich zur Erhöhung Napoleons
bei, wurde er so doch in die Nähe des Sonnenkönigs gerückt.
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