Kultur HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG N MONTAG, 26. OKTOBER 2009 · NR. 249 Schöne Plagen INITIAL eue Regierung, neue Namen. Es ist gar nicht so einfach, sich die neuen Minister zu merkeln, aber Gott sei Dank gibt es da ein paar Eselsbrücken. Zum Beispiel Thomas de Maizière. Er leitet das Innenministerium, weil innen in seinem Nachnamen ein Accent grave schwebt. Dirk Niebel macht Entwicklung, weil man in diesem Ressort immer so im Nebel stochert. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger macht Justiz, weil sie das schon kann. Und Franz Josef Jung macht die Arbeit, weil Arbeit jung hält. WesterEselsbrücken welle ist der Außenim Kabinett: ... minister, weil er als einziger Minister eine Himmelsrichtung und eine Meereserscheinung gleichzeitig im Namen führt. Annette Schavan macht Bildung, weil ihr Name mit „Sch“ wie Schule anfängt, und Rainer Brüderle kümmert sich um die Wirtschaft, weil alle Last brüderlich geteilt werden muss. Ursula von der Leyen ist für die Familie zuständig, weil sie darin Erfahrung hat. Wolfgang Schäuble übernimmt die Finanzen, weil man das Geld heutzutage mit der Schaufel bewegen muss, und KarlTheodor zu Guttenberg ist für die Verteidigung zuständig, weil Adel verpflichtet. Philipp Rösler kann man sich gut über ei... Ein kleiner nen Umweg merken: Ministerkurs Eigentlich müsste Norbert Röttgen für Gesundheit zuständig sein, weil sein Name an Röntgen erinnert. Rösler dagegen müsste eigentlich Landwirtschaft machen, weil sein Name von Ross, Pferd kommt. Das geht aber nicht, weil selbst einer wie Ramsauer, der es vom Namen her eigentlich sein müsste, nicht für Landwirtschaft zuständig sein kann, denn da sitzt ja schon die Ilse Aigner (die sich besonders dafür aignet). Also hat man Röttgen die Umwelt gegeben (kaltes Röttchen!) und Ramsauer Verkehr und Bau (die Ramme!) Bleibt für Rösler nur die Gesundheit. Was ja auch passt: Der Mann ist Arzt. rom Neumann bleibt Kulturstaatsminister Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) bleibt erwartungsgemäß auch in der schwarz-gelben Bundesregierung im Amt. Das teilte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonnabend mit. Als eine der wichtigsten Aufgaben in seiner nächsten Amtszeit will der 67-jährige Staatsminister sicherstellen, „dass trotz der Wirtschaftskrise und der unverzichtbaren Sanierung der Staatsfinanzen die Kultur nicht unter die Räder kommt“. Die Förderung von Kultur sei keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft. Als weitere Schwerpunkte seiner nächsten Amtszeit nannte Neumann unter anderem den Ausbau der kulturellen Bildung, die Stärkung des Filmstandortes Deutschland, den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses als Humboldtforum sowie das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin. dpa Hamburg: Lichterkette für Gängeviertel Mit einer Lichterkette um das Hamburger Gängeviertel haben am Sonnabend mehrere Hundert Menschen für den Erhalt der historischen Gebäude demonstriert. „Wir wünschen uns nach wie vor, dass Hanzevast zurücktritt und die Stadt den Vertrag übernimmt“, sagte die Sprecherin der Gängeviertel-Initiative, Christine Ebeling. Der holländische Investor hat jedoch seine Bauabsichten bekräftigt und eine Räumung der besetzten Gebäude bis Montag gefordert. Die Stadt hatte den Künstlern einen Umzug innerhalb der Gebäude vorgeschlagen, wenn sie dafür Fabrik und Druckerei räumen. dpa 77. Fortsetzung Ein Bühnenarbeiter wies ihm den Weg, nachdem Jacob angegeben hatte, er werde erwartet. Er durchquerte eine Reihe gefährlicher Feuerfallen, winzige Räume und Flure, die fast bis zu den Wandleuchten hoch mit Kostümen und Perücken vollgestopft waren. Auf den schmalen Gängen drängten sich die Schauspieler, die er eben noch auf der Bühne gesehen hatte, lachend und rauchend in ihren Togen. Es war eigenartig, die römischen Senatoren zur Pfeife greifen zu sehen – noch dazu in Gegenwart von Caesars Gemahlin, die beifällig über eine Bemerkung lachte und deren für den Auftritt gelöstes Haar in schönen Wellen über ihren Rücken fiel –, und zu bemerken, wie sie stutzten und ihn anstarrten, als er mit seinem Krückstock und seiner Augenklappe in ihr glanzvolles Reich eindrang. Doch ihre Blicke waren ihm gleichgültig. Alles, was er sah, schlug ihn in Bann, und ein berauschender Gedanke ließ ihn nicht mehr los: Einst, vor einer halben Ewigkeit, war dies Jeannies Welt gewesen. Bestimmt hatte sie ebenso hinter der Bühne gestanden, noch im Kostüm, hatte gelacht, mit ihren Mitspielern geschwatzt, die Männer bezaubert, mit denen sie im wirklichen Leben nichts verband, und in einer Welt geschwelgt, die nur Illusion war. Zuletzt dirigierte ihn jemand zu einer schmalen Tür, an der ein hölzerner Stern Der Bachchor Hannover singt Händels „Israel in Egypt“ VON A NDRÉ MUMOT ap Und noch eine Karriere: Neu-Bariton Placido Domingo, hier mit Anja Harteros. Jetzt auch tiefergelegt Startenor Placido Domingo wird an der Berliner Staatsoper als Bariton bejubelt VON R A IN ER WAGN ER F olgt auf drei Karrieren jetzt noch eine vierte? Dabei hat der 68-jährige Placido Domingo doch gerade den erstmals verliehenen Birgit-NilssonPreis (eine Million Dollar) und den deutschen Echo Klassik für sein Lebenswerk erhalten. Das könnte ein Anlass sein, Bilanz zu ziehen – und vielleicht auch über ein allmähliches Abschiednehmen nachzudenken. Schließlich ist Tenor ein Beruf, der nicht nur Kunstfertigkeit und Können, sondern auch Kondition verlangt. Domingo blieben doch immer noch die Berufe Operndirektor (und das gleich zweimal: in Los Angeles und Washington) und Dirigent (kein genialer, aber ein grundsolider Partner seiner Sängerkollegen). Aber der fleißigste und vielseitigste Operntenor schlägt lieber ein neues Kapitel auf: Domingo jetzt auch als Bariton. Erstmals zu erleben an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, wo ihn am Sonnabend ein begeistertes Publikum auch in der neuen Rolle feierte: als Titelhelden in Giuseppe Verdis Oper „Simon Boccanegra“. Dass sich Baritone im Laufe ihrer Karriere zum Tenor hocharbeiten, kommt häufiger vor als die Gegenbewegung, weil vielen Tenören das dunkle Stimmfundament fehlt. Aber Domingo galt schon immer als der stabilste der großen Tenöre. Seine Stimme war immer bronzefarben, während zumindest der junge Pavarotti einen Silberton dagegensetzte (und Carreras in seinen besten Tagen Weißgold zu bieten hatte). Überraschender als die Hinwendung zum tieferliegenden Repertoire war die Entscheidung für die Rolle des Dogen Simon Boccanegra – aber nur auf den ersten Blick. Natürlich sollte das BaritonDebüt, wenn schon, denn schon, eine zentrale Rolle sein. Und um den Titelhelden in dieser Oper dreht sich alles. Allerdings hat Simon Boccanegra keine einzige ausgeprägte Arie zu singen, keinen Ohrwurmhit, dafür aber viele Be- und Erkenntnisse. Obendrein liegt die Partie eher hoch (weshalb mancher Bariton damit seine Probleme hat). Das fällt schon im Prolog auf, in dem die finsteren Charaktere und die ebenso finsteren Stimmen dominieren. Da hat Domingo leicht Oberhand. Zwar ist seine Stimme nicht mehr ganz so flexibel wie in jüngeren Jahren, aber das Timbre bezwingt noch immer, die Strahlkraft scheint ungebrochen. Und die Bühnenpräsenz sowieso. Domingo singt siegessicher und muss das auch, denn aus dem Orchestergraben liefert Hausherr Daniel Barenboim einen Verdi voller musikalischer Ausrufezeichen. Man weiß nicht recht, ob die Berliner Staatskapelle so aufdreht, weil sie keine Angst um die Durchsetzungskraft des Baritons haben muss. Oder ob Domingo so kraftvoll auftritt, um die Oberhand nicht zu verlieren. Es wird an diesem Abend aus dem Vollen geschöpft, zumindest was die Musik angeht. Anja Harteros ist eine selbstbewusste, souveräne Tochter Amelia, Kwangchul Youn ein rachedurstiger, profunder Fiesco. Fabio Sartori gibt als Liebhaber Gabriele Adorno den Strahletenor, und Hanno Müller-Brachmann als Verschwörer Paolo ist so dunkel wie sein Charakter. Doch der bleibt weitgehend im Dunkeln. Star Placido Domingo hatte sich eine „traditionellere“ Inszenierung gewünscht. Und die bekam er auch. Regisseur Federico Tiezzi wird als Erfinder eines „Poesietheaters“ gerühmt (was immer das auch sein mag), doch er lieferte zusammen mit seinem Baukastenbühnenbildner Maurizio Balò eine rampennahe Stehparty ab, die vor drei Jahrzehnten schon altbacken gewesen wäre. Im Programmbuch schwadroniert Tiezzi seitenlang von der „Realität der Existenz“, auf der Bühne aber existieren nur Opernklischees. Nun ist die Handlung (die Vorlage stammt wie beim noch verworreneren „Trovatore“ vom Spanier Garcia Gutiérrez) schwer nachzuvollziehen. Es geht um einen Fluch und um permanente Verschwörung. Und als endlich klar ist, dass Amelia nicht Simon Boccanegras Geliebte, sondern seine Tochter ist – und die Enkelin Fiescos –, als der vermeintliche Gegner zum Nachfolger ausgerufen wird, als also alles gut werden könnte, da stirbt der schon im Akt zuvor vergiftete Titelheld. Nicht ohne zuvor allen und jedem verziehen zu haben. Auf Edelmut musste in Berlin nur Regisseur Tiezzi hoffen, der zwar auch Zustimmung, aber noch mehr Widerspruch erntete. Für die Musiker und die Solisten aber gab es Jubel, für Domingo obendrein auch Ovationen im Stehen. Es war, vielleicht, der Start einer neuen, späten Karriere. Und alle können sagen, sie seien dabei gewesen. Die nächsten Vorstellungen am 27. und 30. Oktober und im November. Karten: (0 30) 20 35 45 55. Auch wenn es sich merkwürdig anhört: Am schönsten sind die Plagen. Es beginnt mit den Fröschen, die quakend über die Ägypter herfallen, hinzu kommen Fliegen, Läuse und Heuschrecken. Und so beginnt im Orchester ein barock rasantes Surren, Summen, Hicksen und Raunen. Es klingt beinahe nach musikalischer Gehässigkeit, was Händel hier, also um 1739, so alles einfällt, um den Auszug der Israeliten aus Ägypten zu illustrieren. An diesem Abend in der Marktkirche sind es das eigens zusammengestellte Bachorchester mit seinen historischen Instrumenten und der Bachchor Hannover, die einen aufregenden, stürmischen Eindruck davon geben, wie Händel in seinem Oratorium „Israel in Egypt“ alle Formgrenzen sprengt. Hagel und Feuer werden zu wilden Streicherschlägen, und als die Finsternis über Ägypten fällt, bricht die vollmundige Chorgewalt auseinander, die Stimmen verlieren sich im Ungefähren, die harmonische Ordnung löst sich auf. Das ist die herausragende Mitte eines faszinierend unmittelbaren Konzertes, bei dem nicht zuletzt sechs Gesangssolisten in schöner Abwechslung nach vorn treten. Die Bässe Uwe Schenker-Primus und Johannes Weinhuber entfalten dabei in ihrem Duett nicht weniger lyrische Innerlichkeit als die beiden Soprane in ihrem gemeinsamen Moment. Marietta Zumbült und die nur manchmal etwas belegt klingende Verena Usemann überzeugen mit gesanglichem Feingefühl und sensibler Textausdeutung. Michael Connaires gleißender Tenor fesselt mit selbstbewusster Kraft – für die bewegendsten Momente aber sorgt zweifelsohne Altus Franz Vitzthum. Sein „And the Children of Israel sigh’d“ erhebt sich klar und durchdringend in feinste Höhen und sorgt für atemlose Publikumsstille. Im Mittelpunkt bleibt aber der Chor, der nie Spannung vermissen lässt und klangstark durch die knapp zweieinhalb Stunden führt. Unter der mitreißenden Leitung Jörg Straubes trumpft so ein Schwergewicht der Oratorienliteratur schwungvoll auf. Es sind doch nicht nur die Plagen, die zum Großereignis taugen. K U LT U R N O T I Z Leyendecker in Langenhagen Wo bleibt die Moral in der Wirtschaftskrise? In seinem Buch „Die große Gier“ beschreibt der Journalist Hans Leyendecker, der beim „Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“ an der Aufdeckung vieler großer Politaffären federführend beteiligt war, wie renommierte Großkonzerne für kurzfristige Gewinne ihren Ruf aufs Spiel setzen. Am Freitag, 30. Oktober, um 19 Uhr kommt Leyendecker zum Buchgespräch in den Langenhagener Ratssaal. Infos: (05 11) 73 07 97 09. Ihr seid Helden Uraufführung beim Jungen Schauspiel Hannover: „Alle kriegen dick und werden Kinder“ VON R ONALD M EY ER -A RLT Ribbe 10 Z weierlei war Laszlo klar: Nie würde er den Führerschein machen, nie würde er einen Computer besitzen. Mit dem Führerschein hat es dann tatsächlich noch etwas gedauert, aber den Computer hat er sich schon bald gekauft. Und überhaupt ist in seinem Leben vieles anders gekommen, als er sich das so vorgestellt hat, damals, als er mit seinem Freund Dario an der Haltestelle abhing und Unmengen von Kaugummi kaute. Laszlo ist von zu Hause abgehauen, er ist Musiker und berühmt geworden, er hat seine Freundin verlassen, und er hat Männer geliebt. Der Theaterautor Kristo Sagor beschreibt in „Alle kriegen dick und werden Kinder“ das Leben eines jungen Mannes, der glaubt, seinen Weg zu kennen, und am Ende doch erkennen muss, dass er irgendwo gelandet ist, wo er vielleicht gar nicht hin wollte. Es ist zwar an vielen Stellen zu prangte. Einen Augenblick lang blieb er vor der Tür stehen und zögerte; ein Phantombild von William Williams dem Dritten erstand vor seinen Augen. Doch dann fasste er Mut und klopfte. „Mr Booth?“, rief er. Er hatte erwartet, ein Diener oder Bühnenarbeiter werde öffnen, stattdessen hörte er eine überaus joviale Männerstimme dröhnen: „Herein, herein, die Tür ist nicht versperrt!“ Jacob stützte sich auf seinen Krückstock, öffnete mit der freien Hand die Tür und betrat Edwin Booths Privatgarderobe. Der Schauspieler saß auf einem niedrigen Schemel an einem mit Kämmen und Kölnischwasserflaschen übersäten Schminktisch und begutachtete den vollkommensten Kopf Amerikas kritisch im Spiegel. Zwei rechts und links vom Spiegel angebrachte, hohe Gaslampen beleuchteten Edwin Booths wohlgestaltete Züge. Anders als seine Freunde, Römer und Mitbürger vor den Toren seines exklusiven Refugiums, trug er bereits einen hocheleganten Anzug, wie in Vorbereitung auf ein spätabendliches Fest. Toga und Lorbeerkranz hingen über einem Garderobenständer zu seiner Linken. Bei Jacobs Eintritt drehte er sich nicht um, sondern lächelte sich weiter beifällig im Spiegel zu und band sein Halstuch neu. „Sie sind der Bursche namens Rappaport, der mich wegen der Firma sprechen will, stimmt’s?“, fragte er, immer noch wie Stark: Nicolaas van Diepen (r.), Tim Ritter. grell und breit ausgemalt, aber es ist kein schlechtes Jugendstück. Man kann etwas draus machen. Man müsste das Stück hart angehen, seine Kabarettelemente (schwule Friseure!) entfernen, einiges verdichten, den Kitsch minimieren, dann könnte es gehen. Man könnte das alles in einer guten Stunde erzählen, die Zuschauer würden der Geschichte einer komplizierten Selbstfindung applaudieren – und hätten die Sache wohl bald vergessen. Am Jungen Schauspiel Hannover versucht man etwas anderes. Dort inszeniert der Autor die Uraufführung seines Stückes selbst (was gefährlich ist). Das Stück wird nur in den Erwachsenenrollen von Profischauspielern gespielt, die meisten Rollen aber spielen jugendliche Laien (was sehr gefährlich ist). Und dann schlägt man noch alle Regeln der Unterhaltungskunst in den Wind, verzichtet auf jede Spannungsdramaturgie und lässt die ganze Sache fast drei Stunden dauern (was tödlich ist). Vor allen Nächten VON DARA HORN gebannt an seinem Spiegelbild hängend. Er griff nach einem elfenbeinernen Kamm auf dem Schminktisch und ließ ihn durch seine untadelige Frisur gleiten. „Ja, der bin ich“, sagte Jacob. „Ich weiß es über die Maßen zu schätzen, Mr Booth, Sie hier aufsuchen zu dürfen.“ Er bemühte sich nach Kräften um einen gewinnenden und möglichst ehrerbietigen Ton. „Ihr Sekretär hat mir mitgeteilt, es sei die einzige Möglichkeit, Sie noch in dieser Woche vor Ihrer Abreise nach Cincinnati zu treffen. Ich kann Ihnen nicht genug für Ihre Liebenswürdigkeit danken, mich zu empfangen.“ Er trat ein paar Schritte auf ihn zu und versuchte, seinen Krückstock möglichst geräuschlos aufzusetzen. „Nicht doch, nicht doch“, gab Edwin Booth fast schon übertrieben zuvorkommend zurück. Er sprach noch immer zu seinem Spiegelbild, lächelte und zwinkerte sich zu, als habe er eine junge Dame vor sich, die um seine Gunst buhlte. Endlich wandte er sich grinsend zu Jacob. Dann bemerkte er den Krückstock, die Augenklappe und die Narben und fuhr zusammen. „Oh, bitte – bitte um Entschuldigung, Mr – Mr Rappaport“, stammelte er. Seit seiner Verwundung entschuldigten die Menschen sich oft bei ihm, hatte Jacob festgestellt, vielleicht für ihre gesunden Augen und ihre kräftigen Beine. Edwin Booth sprang auf und kaschierte sein Erschrecken mit einer flinken Verbeugung; dann deutete er auf den Schemel, der ihm als Sitzgelegenheit gedient hatte. „Nehmen Sie doch Platz.“ Als Jacob wieder laufen lernte, hatte er stets abgelehnt, wenn ihm ein Platz angeboten wurde. Doch nach eineinhalb Jahren körperlicher Qualen glich er einer zerbrechlichen Dame, die den Rittern dieser Welt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. „Danke“, sagte er und ließ sich auf dem Schemel nieder. Edwin holte sich aus einer Ecke eine leere Kiste, auf die er sich Jacob gegenüber setzte. Es fiel Jacob schwer, ihm in sein ebenmäßiges Gesicht zu sehen. An allen Wänden ringsum hingen Spiegel, neben denen Lampen brannten. Beim Blick durch den Raum sah Jacob in jeder Richtung seine hässlichen Narben hundertfach vervielfältigt, sein abstoßendes Äußeres ins Endlose fortgesetzt. „Mein Bester, Sie wissen sicher, dass ich mich für gewöhnlich nicht mehr als Das kann sich ein Theater nur leisten, wenn es sich das leisten kann. In diesem Fall kann es das, denn die Produktion wird von enercity, dem Hauptsponsor des hannoverschen Jugendtheaters, gefördert. Und dieser Sponsor lässt sich nicht lumpen und bringt sogar eine CD mit heraus. Die ist im Programmheft eingeklebt und recht sinnvoll, denn die Musik ist ein wesentlicher Bestandteil der Produktion. Die Kompositionen stammen von Sebastian Katzer, der auch die musikalische Leitung hat, und von Jean-Michel Tourette, der ansonsten Bandmitglied und Komponist von „Wir sind Helden“ ist. Die Songs werden live von einer Rockband gespielt, Nicolaas van Diepen, der den Laszlo spielt, singt dazu. Er macht das sehr gut, sein Körpereinsatz ist großartig; er könnte was werden am Theater. Das gilt auch für Tim Ritter, der den Freund Dario spielt, und für den 15-jährigen Jannis Burkardt, der als kleiner Bruder des Rockstars auf der Bühne steht. Aber es gilt eben nicht für alle. Es ist leider so: Nicht alle sprechen so, dass man ihnen gern zuhört – und das macht die drei Stunden Spieldauer zu gefühlten vier, fünf Stunden. Da rettet dann auch der Text nichts mehr, dessen Pointen eher sparsam gesät sind. Und die hilflosen Regieeinfälle (Leute, die mit Wasser aus Plastikflaschen herumspritzen, sind keine neue Theatererfindung) verlängern die Sache noch unnötig. Aber: Man hat immerhin etwas gewagt. Und am Ende stehen lauter glückliche junge Leute auf der Bühne. Man sieht ihnen an, dass sie sich wohl ihr ganzes Leben lang an diese Arbeit erinnern werden. Das ist das eigentlich Schöne bei solchen Produktionen. unbedingt nötig mit Finanzdingen belaste“, tönte Edwin. Er hatte sich von Jacobs hässlichem Gesicht abgewandt, sah wieder in den Spiegel über dem Schminktisch und tupfte sich Kölnischwasser hinter die Ohren. „Natürlich, die Firma gehört zur Hälfte mir, aber wie Sie sehen, ist die Schauspielerei mein eigentliches métier“, sagte er großspurig, sprach die letzte Silbe allerdings wie „Tier“ aus. Jacob betrachtete die hundert vollkommenen Köpfe in den Spiegeln ringsum und dachte kurz an das ungeheure Talent von Junius Booth, Edwins Vater. Ein Bastard hat sein Leben lang etwas zu beweisen. „In der Tat“, sagte Jacob. „Was also haben Sie für mich in Aussicht?“, fragte Edwin. Er griff an Jacobs Schulter vorbei und stellte das Kölnischwasser behutsam zurück auf den Schminktisch, zwinkerte sich ein weiteres Mal im Spiegel zu und beugte sich, die Hände auf die Knie gestützt, zu seinem Besucher hin. Einhundert schöne Duplikate beugten sich mit ihm vor und forderten Jacobs Hässlichkeit zum Duell. Jacob dachte daran, wie Jeannie zu ihm gesagt hatte, er sei ein miserabler Schauspieler. Er blickte in die Spiegel an den Wänden, auf die endlosen Narben und Augenklappen. Miserable Schauspielkunst war das Beste, was er im Augenblick zu bieten hatte, und seine Zukunft hing davon ab. „Die Gelegenheit, der Sache der Freiheit zu dienen“, verkündete er wie von einer Bühne herab, griff in die Tasche und zog den Ring heraus. Edwin Booth warf einen Blick darauf und nahm ihn dann zwischen Daumen und Zeigefinger. Zurückgelehnt besah er sich die Gravierung auf der Innenseite. Sein dunkler Schnurrbart zuckte. Jacob bemerkte, wie jegliche Verstellung von ihm abfiel. „Den haben Sie von John, stimmt’s“, sagte Edwin Booth schließlich mit gedämpfter Stimme. John Clarke, nahm Jacob an. Er hatte sich vorgenommen, so wenig wie möglich zu sagen, stattdessen zuzuhören und dann mit äußerster Umsicht zu entscheiden, wie er die Sache am besten anging. „Ja, von John“, gab er zurück. Die Sorge, dass seine Gefühle aus seiner Miene abzulesen sein könnten, hatten Narben und Augenklappe ihm abgenommen. Edwin Booth holte tief Luft und starrte auf sein Spiegelbild in den ringsum aufgehängten Spiegeln. Plötzlich sprang er auf und warf den Ring zu Boden. Jacob sah verdutzt zu, wie er umherkollerte, die Spitze seines Stocks streifte und daneben liegen blieb. Weitere Aufführungen am 31. Oktober, 1., 10., 12. und 22. November im Ballhof 1, Karten: (05 11) 99 99 11 11. Fortsetzung folgt Dara Horn, Vor allen Nächten. Der Roman erschien im Berlin Verlag. Aus dem Amerikanischen von Christiane Buchner und Martina Tichy. © 2009 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin