Kapitel 4 Komplexe Zahlen und Fouriertheorie 4.1 Komplexe Zahlen Der Ausgangspunkt für die Erfindung der komplexen Zahlen war die Suche nach Lösungen für quadratische, kubische und allgemeiner Gleichungen n-ten Grades. Die Lösungen der quadratischen Gleichung ax2 + bx + c = 0 lauten nach der bekannten Mitternachtsformel √ −b ± b2 − 4ac x1/2 = 2a falls die Diskriminante D := 4ac − b2 kleiner oder gleich Null ist. Ist D > 0, so hat die quadratische Gleichung keine reelle Lösung. Es gibt in R keine Quadratwurzeln aus negativen Zahlen, weil alle Quadrate von Zahlen grösser oder gleich Null sind. Durch Einführung der komplexen Zahlen wird der Zahlenbereich so erweitert, dass darin alle quadratischen Gleichungen und darüberhinaus sogar Gleichungen beliebig hohen Grades Lösungen haben. Dazu postuliert man einfach die Existenz einer Quadratwurzel aus −1, bezeichnet diese Quadratwurzel nach Euler mit dem Symbol i (für imaginäre Zahl) und rechnet mit Vielfachen von i oder sogar mit Ausdrücken der Form a + ib (a, b ∈ R) nach den bekannten Rechengesetzen der Algebra, erweitert um die Regel i2 = −1 . √ √ √ Zum Beispiel ist dann (i 2)2 = i2 · ( 2)2 = (−1) · 2 = −2. Die Zahl i 2 ist also eine Quadratwurzel aus der negativen Zahl −2. Genauer definieren wir die Menge der komplexen Zahlen folgendermassen: C := {a + ib | a, b ∈ R} . Eine komplexe Zahl z = a + ib wird durch die Angabe von zwei reellen Zahlen festgelegt, den Realteil Re(z) = a und den Imaginärteil Im(z) = b. Und zwei komplexe Zahlen stimmen nur genau dann überein, wenn sowohl die Real- als auch die Imaginärteile übereinstimmen. Ist der Imaginärteil einer Zahl gleich Null, schreiben wir anstelle von a + i 0 auch einfach a. Wir identifizieren also die komplexen Zahlen der Form a + i 0 mit den reellen Zahlen. Entsprechend schreiben wir auch statt 0 + i b einfach ib, falls b 6= 0 ist. Die Addition und Multiplikation komplexer Zahlen werden so definiert, dass die Verknüpfungen mit den von den reellen Zahlen her bekannten Rechenregeln verträglich sind und ausserdem i2 = −1 gilt. 72 Kapitel 4. Komplexe Zahlen und Fouriertheorie Daraus ergibt sich zwangsläufig für z1 = a1 + b1 und z2 = a2 + b2 die Definition: (ai , bi ∈ R): z1 + z2 = (a1 + ib1 ) + (a2 + ib2 ) := (a1 + a2 ) + i(b1 + b2 ) z1 · z2 = (a1 + ib1 ) · (a2 + ib2 ) := (a1 a2 − b1 b2 ) + i(a1 b2 + a2 b1 ) Zum Beispiel: i3 = −i, (1 + i)(1 − i) = 1 − i2 = 2, (2 + i)(1 − 3i) = 5 − 5i = 5(1 − i). 4.1.1 Satz Die Menge C der komplexen Zahlen mit den Verknüpfungen + und · bildet einen Körper. Beweis. Die neutralen Elemente von Addition bzw. Multiplikation sind offensichtlich wie in R die Zahlen 0 bzw. 1. Die Assoziativ- und Kommutativgesetze, sowie das Distributivgesetz folgen direkt aus den entsprechenden Gesetze für die reellen Zahlen. Das additive Inverse der Zahl z = a + ib lautet −z = −a − ib. Nur die Existenz und Eindeutigkeit des Inversen der Multiplikation ist nicht ganz so offensichtlich. Um dies Axiom nachzuweisen, müssen wir für z = a + ib 6= 0 die Gleichung 1 z · (x + iy) = 1 lösen. Wir schreiben die Gleichung zunächst um in x + iy = a+ib . Diesen Bruch erweitern wir mit (a − ib) und vereinfachen: a − ib a − ib a − ib a (−b) 1 = = 2 = = + i . a + ib (a + ib)(a − ib) a − i2 b2 a2 + b2 a2 + b2 a2 + b2 Da z 6= 0, können a und b nicht gleichzeitig Null sein, und deshalb ist der Nenner a2 + b2 > 0 und also zulässig. Wenn es also ein Inverses (x + iy) zu z gibt, muss a −b gelten x = a2 +b 2 und y = a2 +b2 . Nun machen wir die Probe, um unser Vorgehen nachträglich zu rechtfertigen: (−b) a2 + b2 (−ab + ab) a + i = + i = 1. (a + ib) · a2 + b2 a2 + b2 a2 + b2 a2 + b2 Also ist die Zahl aa−ib 2 +b2 tatsächlich invers zu z = a + ib. Hier noch einige Beispiele: √ √ 1 −1 (1 + i) = 2 (1 − i), (1 − 2i)−1 = 31 (1 + 2i), i−1 = −i. q.e.d. Man erhält eine geometrische Beschreibung der komplexen Zahlen, wenn man sie mit den Punkten der sogenannten Gaussschen Zahlenebene identifiziert. Dazu fasst man den Real- bzw. Imaginärteil einer Zahl als die Koordinaten eines Punktes in einer Ebene mit kartesischem Koordinatensystem auf. Die Abbildung C → R2 , z 7→ (Re(z), Im(z)) ist eine 1:1–Zuordnung, jeder komplexen Zahl entspricht genau ein Punkt der Ebene und umgekehrt. Auf der x-Achse liegen die Punkte, die den reellen Zahlen entsprechen, und auf der y-Achse liegen die Vielfachen von i, die sogenannten rein imaginären Zahlen. Man spricht deshalb auch von der reellen bzw. der imaginären Achse. 4.1. Komplexe Zahlen 73 imaginäre Achse z+w w |z+w| Im(z) |w| z |z| reelle Achse Re(z) Der Betrag einer komplexen Zahl ist definiert als √ |z| = |a + ib| := a2 + b2 . Er gibt gerade die Länge des Ortsvektors des entsprechenden Punktes in der komplexen Ebene an. Für reelle Zahlen stimmt diese Definition mit der üblichen Definition des Betrages überein, denn n √ a falls a ≥ 0 |a| = a2 = −a falls a < 0 Für den Betrag gelten die folgenden Rechenregeln für alle z, w ∈ C: 1. |z| ≥ 0, und |z| = 0 ⇔ z = 0. 2. |z + w| ≤ |z| + |w| (Dreiecksungleichung) 3. |z · w| = |z| · |w|. Beweis. Der erste Teil ergibt sich sofort aus der Interpretation des Betrages als Länge eines Ortsvektors. Zu 2.: Die Addition komplexer Zahlen entspricht in der komplexen Zahlenebene der Addition der Ortsvektoren. Die Komposition der Ortsvektoren, die den Zahlen z und w entsprechen, liefert ein Dreieck in der Zahlenebene mit den Seitenlängen |z|, |w| und |z + w|. Die Behauptung folgt nun aus der Tatsache, dass in einem ebenen Dreieck jede Seite höchstens so lang ist wie die Summe der beiden anderen Seiten. Daher auch die Bezeichnung Dreiecksungleichung. Zu 3.: Dazu setzen wir an z = a + ib und w = c + id, setzen ein und rechnen nach. q.e.d. Unter der zu einer komplexen Zahl z = a + ib komplex Konjugierten versteht man die Zahl z := a − ib. In der Gaussschen Zahlenebene entspricht die komplexe 74 Kapitel 4. Komplexe Zahlen und Fouriertheorie Konjugation gerade der Spiegelung an der reellen Achse. Die Zuordnung C → C, z 7→ z, ist verträglich mit Addition und Multiplikation auf C, das heisst: z+w =z+w und z · w = z · w für alle z, w ∈ C. Eine solche Abbildung wird als Körperautomorphismus bezeichnet. Mit der komplexen Konjugation lässt sich das Inverse einer Zahl einfach schreiben als: z −1 = z |z|2 für alle z 6= 0. Die geometrische Bedeutung der Multiplikation komplexer Zahlen lässt sich besser verstehen, wenn man komplexe Zahlen nicht in kartesischen Koordinaten sondern in Polarkoordinaten angibt. Dabei ordnen wir jeder Zahl z = x+iy 6= 0 ihren Betrag |z| und einen Winkel, das sogenannte Argument arg(z), zu. Das Argument arg(z) ist der Winkel zwischen der positiven reellen Achse und dem Radialstrahl durch z, gemessen gegen den Uhrzeigersinn. 4.1.2 Beispiel Die Zahl i hat den Betrag |i| = 1 und arg(i) = 90◦ = π2 . Die Zahl √ 1 + i hat die Polarkoordinaten |1 + i| = 2 und arg(1 + i) = 45◦ = π4 . Für z = −1 + i √ schliesslich ist |z| = 2 und arg(−1 + i) = 135◦ = 3π . 4 Durch den Winkel ϕ = arg(z) und den Betrag |z| ist die Zahl z schon eindeutig festgelegt. Denn x, y sind die Längen der Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks mit Hypotenuse der Länge r = |z|. Also gilt nach der Definition von Sinus bzw. Cosinus: x = r cos(ϕ) und y = r sin(ϕ) . Umgekehrt können wir aus den kartesischen Koordinaten die Polarkoordinaten folgendermassen berechnen: arctan(y/x) falls x > 0 p arctan(y/x) + π falls x < 0 |z| = x2 + y 2 und arg(z) = π falls x = 0 und y > 0 2π −2 falls x = 0 und y < 0 Von grosser Bedeutung im Zusammenhang mit den komplexen Zahlen sind die sogenannten Additionstheoreme für Sinus und Cosinus: 4.1.3 Satz Für alle Winkel α, β ∈ R gilt: sin(α + β) = sin(α) cos(β) + cos(α) sin(β) und cos(α + β) = cos(α) cos(β) − sin(α) sin(β) . Beweis. Die Herleitung dieser Aussagen ergibt sich aus der folgenden Zeichnung: 4.1. Komplexe Zahlen 75 α sin (β) cos (α) 1 sin( α+β) sin (β) sin (β) sin (α) cos (β) cos (β) sin (α) β α cos (α+β) cos (β) cos (α) q.e.d. Einige wichtige spezielle Werte von Sinus und Cosinus sind in der folgenden Tabelle zusammengestellt: ◦ ◦ 30◦ 45 60 90◦ √ √ 2 3 sin √12 1 2 √2 2 1 cos 23 0 2 2 Wenden wir das Additionstheorem nun beispielsweise an auf die Winkel α = 45◦ √ √ √ √ 2 2 ◦ ◦ ◦ und β = −30 , dann erhalten wir sin(15 ) = 4 ( 3 − 1) und cos(15 ) = 4 ( 3 + 1). Kommen wir nun zurück zu den komplexen Zahlen. Hat eine komplexe Zahl z den Betrag r und das Argument arg(z) = ϕ, so gilt: z = x + iy = r(cos ϕ + i sin ϕ). π zum Beispiel lautet Die komplexe Zahl von Betrag 1 und mit Argument 15◦ = 12 √ √ √ √ 2 2 also z = 4 ( 3 + 1) + i 4 ( 3 − 1). 4.1.4 Satz Sind z, w komplexe Zahlen ungleich Null, dann gilt: arg(z · w) = arg(z) + arg(w) . Beweis. Nehmen wir an, arg(z) = φ und arg(w) = ψ. Dann ist z = |z|(cos ϕ+i sin ϕ) und w = |w|(cos ψ + i sin ψ). Für das Produkt der Zahlen erhalten wir also: z · w = |z| · |w| · (cos ϕ + i sin ϕ)(cos ψ + i sin ψ) = |z| · |w| · (cos ϕ cos ψ − sin ϕ sin ψ) + i(cos ϕ sin ψ + sin ϕ cos ψ) . Nun können wir mit den Additionstheoremen für Sinus und Cosinus schliessen: z · w = |z| · |w| · (cos(ϕ + ψ) + i sin(ϕ + ψ)) . 76 Kapitel 4. Komplexe Zahlen und Fouriertheorie Daraus lesen wir ab: arg(z · w) = arg(z) + arg(w). Dabei kann es sein, dass die Summe der Einzelwinkel über 2π hinausgeht. In diesem Fall ist gemeint, dass die Gleichheit der Winkel nach Abzug von 2π gilt. q.e.d. Die geometrische Beschreibung der Multiplikation komplexer Zahlen lautet also so: Man multipliziert komplexe Zahlen, indem man ihre Beträge multipliziert und die zugehörigen Winkel addiert. Die reellen Funktionen Sinus und Cosinus stehen in engem Zusammenhang zu der komplexen Fortsetzung der Exponentialfunktion mithilfe der Exponentialreihe. 4.1.5 Definition Für x ∈ R setzt man ix e := ∞ X (ix)k k=0 k! . Verwendet man nun, dass i2 = −1 ist und sortiert nach geraden und ungeraden Exponenten um, erhält man ∞ X ∞ X x2k x2k+1 e := (−1) +i (−1)k . (2k)! (2k + 1)! k=0 k=0 ix k Durch Vergleich mit den Taylorreihen von Sinus und Cosinus stellen wir fest: eix = cos(x) + i sin(x) . Die Entdeckung dieser Beziehung geht auf Euler zurück und ist unter dem Namen Eulersche Formel bekannt. Zum Beispiel ist eiπ = −1 . Es gilt folgendes: (a) Die Zahlen der Form eiϕ , ϕ ∈ R, sind gerade die komplexen Zahlen von Betrag 1. Sie entsprechen also genau den Punkten auf der Kreislinie von Radius 1 in der komplexen Zahlenebene, dem sogenannten Einheitskreis. (b) eiϕ = eiψ ⇔ ϕ − ψ = 2kπ für ein k ∈ Z. (c) e−iϕ = (eiϕ )−1 = eiϕ . (d) eiϕ · eiψ = ei(ϕ+ψ) . Durch vollständige Induktion folgt die DeMoivresche Formel (eiϕ )n = einϕ für alle n ∈ Z. Die Funktion f (t) = ei n2π t (für t ≥ 0, n ∈ Z) gibt, in Abhängigkeit von der Zeit t, die Bewegung eines Massenpunktes an, der sich mit konstanter Winkelgeschwindigkeit auf einer Kreislinie bewegt. Ist n > 0, durchläuft der Massenpunkt 4.1. Komplexe Zahlen 77 den Kreis pro Zeiteinheit genau n-mal, und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn. Ist n < 0, so gibt es ebenfalls n Umläufe, aber jetzt im Uhrzeigersinn. Ist n = 0, bleibt der Massenpunkt bei 1 stehen. Mithilfe der Polarkoordinaten können wir für jede Wahl einer natürlichen Zahl n die Lösungen der Gleichung z n = 1, die sogenannten n-ten Einheitswurzeln angeben. . Die Gleichung z n = 1 hat genau n 4.1.6 Satz Zu n ∈ N setzen wir ϕ := 2π n verschiedene Lösungen in C, nämlich die Zahlen zk = eikϕ = cos(k 2π 2π ) + i sin(k ) für k = 0, 1, . . . , n − 1. n n Diese Zahlen liegen auf dem Einheitskreis und bilden die Eckpunkte eines regelmässigen n-Ecks. Man beachte, dass das n-Eck spiegelsymmetrisch zur reellen Achse liegt. Das bedeutet: Ist z eine n-te Einheitswurzel, so auch z. z1 Beweis. Wir rechnen zuerst nach, dass die angegebenen Zahlen tatsächlich die Gleik2π chung lösen: zkn = (ei n )n = eik2π = ei0 = 1. Nehmen wir jetzt umgekehrt an, z = reiψ sei eine Lösung. Also ist z n = r n (eiψ )n = r n einψ = 1. Das bedeutet, r = 1 und nψ = k2π für ein k ∈ Z, oder ψ = k · 2π = k · ϕ. Die Zahl z kommt also schon n in unserer Liste vor. q.e.d. Zum Beispiel lauten√die dritten Einheitswurzeln z0 = 1, z1 = ei 4π und z2 = ei 3 = − 12 − i 23 . 2π 3 = − 21 + i √ 3 2 Folgerung: Die Gleichung z n = a (wobei a ∈ C\{0}) hat in C genau n verschiedene √ ψ+k2π Lösungen. Ist nämlich a = r · eiψ , so lauten die Lösungen zk = n r · ei n für k = 0, 1, . . . , n − 1. Diese Zahlen sind wiederum die Eckpunkte eines regelmässigen n-Ecks, das gegenüber dem n-Eck gebildet aus den n-ten Einheitswurzeln um den √ Winkel ψn um den Nullpunkt gedreht und mit dem Faktor n r multipliziert ist. 78 Kapitel 4. Komplexe Zahlen und Fouriertheorie π 4.1.7 √ Beispiele • Die Lösungen der Gleichung z 3 = 8i lauten z0 = 2 · ei 6 = √ 2π 5π π 3π 3 + i, z1 = 2 · ei( 6 + 3 ) = 2 · ei 6 = − 3 + i und z2 = 2 · ei 2 = −2i. π • Die Gleichung z 3 = −1 hat die Lösungen z0 = ei 3 = 21 +i √ π 4π z2 = ei 3 + 3 = 12 − i 23 = z0 . √ 3 , 2 π 2π z1 = ei 3 + 3 = −1, Schauen wir uns nun allgemeiner Gleichungen an der Form an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = 0 , wobei die Zahlen aj ∈ C, an 6= 0 festgewählt sind. Der Ausdruck auf der linken Seite der Gleichung ist also ein Polynom von Grad n in z. Ist an = 1, so spricht man von einem normierten Polynom. 4.1. Komplexe Zahlen 79 Die Nullstellen der Polynome von Grad 2 beschreibt die Mitternachtsformel, und für die Fälle n = 3, 4 fanden italienische Mathematiker im 16. Jahrhundert entsprechende Formeln. Die Cardanosche Formel für die reelle Lösung der kubischen Gleichung x3 + 3px + 2q = 0 (p, q ∈ R) für den Fall D := q 2 + p3 > 0 lautet: q q √ √ 3 3 x1 = −q + D + −q − D . In diesem Fall gibt es auch noch zwei zueinander konjugierte komplexe Lösungen, nämlich √ q q q q √ √ √ √ 1 3 3 3 3 3 x2/3 = − ( −q + D + −q − D) ± i ( −q + D − −q − D) . 2 2 4.1.8 Beispiel Wählen wir p = 2 und q = 1, erhalten wir die Gleichung x3 + 6x + 2 = 0 mit der Diskriminante D = q 2 + p3 = 9, und die Formel von Cardano liefert √ √ 3 −4. Ausserdem gibt es noch die komplexen Lösungen die reelle Lösung x1 = 3 2 + √ √ √ √ √ 3 3 3 3 3 1 x2/3 = − 2 ( 2 + −4) ± i 2 ( 2 + −4). Ist die Diskriminante D = q 2 + p3 der kubischen Gleichung x3 + 3px + 2q = 0 negativ, tauchen in der Formel “unmögliche” Quadratwurzeln aus negativen Zahlen √ auf, und das Zeichen 3 muss dann als mehrdeutige komplexe Wurzel interpretiert werden. In diesem Fall kommt man sogar auf drei verschiedene reelle Nullstellen! Wählen wir zum Beispiel q = 0 und p = −4. Dann ist q 2 + p3 = −64, und eine komplexe Quadratwurzel daraus ist 8i. Die komplexen dritten Wurzeln der Zahl √ √ w = 8i hatten wir oben bestimmt. Sie lauten z0 = 3 + i, z1 = − 3 + i, z2 = −2i. Die dritten Wurzeln der Zahl √w = −8i bekommt man durch Spiegelung an der √ reellen Achse. Sie lauten z0 = 3 − i, z1 = − 3 − i, z2 = +2i. Addieren wir jetzt gemäss der Cardanoschen Formel jeweils entsprechende dritte Wurzeln, erhalten wir reelle Zahlen, denn xk := zk + zk = 2 Re(zk ) für k = 0, 1, 2. Konkret liefert das für unseren Fall: √ √ z0 + z0 = 2 3, z1 + z1 = −2 3, z2 + z2 = 0 . Tatsächlich sind diese drei Zahlen die Lösungen der kubischen Gleichung x3 − 12x = 0 . Für Gleichungen von Grad n ≥ 5 gibt es keine entsprechenden allgemeinen Lösungsformeln. Aber man kann beweisen, dass jede solche Gleichung über den komplexen Zahlen Lösungen hat. Fundamentalsatz der Algebra: Über C hat jedes Polynom von Grad n ∈ N eine Nullstelle. Per Induktion folgt durch Polynomdivision aus diesem Satz sogar, dass jede Gleichung von Grad n genau n Lösungen hat, wenn man die Vielfachheiten mitzählt. Genauer gilt folgendes: 80 Kapitel 4. Komplexe Zahlen und Fouriertheorie 4.1.9 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es komplexe Zahlen z1 , . . . , zn ∈ C mit z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ) . Die Liste der zj besteht aus sämtlichen Nullstellen des Polynoms p, dabei können Nullstellen auch mehrfach aufgelistet sein. Die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Nullstelle in der Liste vorkommt, bezeichnet man als Vielfachheit der Nullstelle. Beispiele: √ 1. Das Polynom p(z) = z 2 + a (a ∈ R, a > 0) hat die √ Nullstellen √ ±i a, und wir können es als Produkt in der Form p(z) = (z − i a)(z + i a) schreiben. 2. Das Polynom p(z) = z 3 − 1 hat als Nullstellen in C gerade die√dritten Ein√ 2π 1 3 heitswurzeln z0 = 1, z1 = e 3 = − 2 + i 2 und z2 = z1 = − 21 − i 23 und √ √ 3 3 1 1 ))(z + ( − i )) . p(z) = z − 1 = (z − 1)(z + z + 1) = (z − 1)(z + ( + i 2 2 2 2 3 2 3. Das Polynom p(z) = z 3 − 4z + 3 hat offenbar die Nullstelle z1 = 1. Es gilt: p(z) : (z − 1) = (z 3 − 4z + 3) : (z √ − 1) = z 2 + z − 3. Die Nullstellen dieses quadratischen Polynoms lauten −1±2 13 . Also hat p die Zerlegung: p(z) = z 3 − 4z + 3 = (z − 1)(z + 1− √ 2 13 )(z + 1+ √ 2 13 ). 4. Das Polynom p(z) = z 3 − 2z 2 + z − 2 hat die Nullstellen 2 und ±i und lässt sich schreiben als p(z) = (z 2 + 1)(z − 2) = (z − i)(z + i)(z − 2). √ 5. Das Polynom p(z) = z 4 + 3z 2 + 2 hat die Nullstellen ±i und ±i 2, es lässt sich also folgendermassen zerlegen: √ √ p(z) = (z 2 + 1)(z 2 + 2) = (z − i)(z + i)(z − i 2)(z + i 2) . 6. In den bisherigen Beispielen gab es nur einfache Nullstellen. Hier ein Polynom mit einer doppelten und einer dreifachen Nullstelle: p(z) = (z 2 − 4z + 4)(z 3 + 3z 2 + 3z + 1) = (z − 2)2 (z + 1)3 . Der Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra ist schwierig und kann an dieser Stelle nicht gegeben werden, weil man dafür mehr Theorie benötigt.