Diktatur, sozialistisches Ideal, europäische Realität – die Verfassungsentwicklung Portugals vom Estado Novo über die Revolutionsverfassung von 1976 bis zu den Verfassungsrevisionen von 1989 und 1992 Ref. iur. Torben Steinhauer I. Die Verfassung von 1933 1. Vorgeschichte 2. Das nationale Territorium als wichtigstes Anliegen 3. Korporativismus 4. Grundrechte 5. Verfassungsrealität: der Estado Novo als Staat im Staat II. Die Verfassung von 1976 1. Vorgeschichte 2. die Präambel: Sozialismus als Staatsziel 3. Die Rolle des Revolutionsrats 4. Grundrechte 5. Verfassungsrealität III. Die Verfassungsrevisionen von 1982 und 1989 1. 1982: Abschaffung des Revolutionsrats 2. 1989: Entfernung der Sozialismusbezüge IV. Fazit Ref. iur. Torben Steinhauer Salazar und die Verfassung von 1933 ● ● ● 1932: Präsident António Óscar Carmona ernennt bisherigen Finanzminister António de Oliveira Salazar zum Premierminister Dieser lädt unmittelbar nach seiner Ernennung eine Gruppe von Professoren ein, eine neue Verfassung zu erarbeiten Nach Billigung durch den Staatsrat und ein Referendum tritt die Verfassung am 11. April 1933 in Kraft Ref. iur. Torben Steinhauer Das nationale Territorium Das nationale Territorium Verfassungsdokument beginnt in Artikeln 1 – 6 mit der Definition des nationalen Territoriums und Ausführungen zu seiner Unveräußerlichkeit etc. → zentralstes Anliegen der Verfassung und damit des Staates sind nicht die Grundrechte oder die politische Struktur, sondern die Definition der portugiesischen Nation und ihres Besitzstandes Ref. iur. Torben Steinhauer Korporativismus Ref. iur. Torben Steinhauer Korporativismus ● Art 14-19: die gesamte Nation ist in moralischen und wirtschaftlichen Körperschaften organisiert → die Bürger werden zwangsweise Zünften/Ständen zugeordnet, die ihre Interessen vertreten sollen, über die aber vor allem eine Gleichschaltung und Kontrolle aller Bereiche der Gesellschaft erfolgt → die Korporationen treten insbesondere auch an die Stelle von politischen Parteien, die in der Verfassung nicht vorgesehen sind! Ref. iur. Torben Steinhauer Grundrechte ● ● ● Art. 8 enthält einen recht umfangreichen Grundrechtekatalog, der auch „demokratische“ Grundrechte wie die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Versammlungsfreiheit einschließt Aber: alle Grundrechte werden beschränkt durch „Interessen der Gesellschaft“ und „Prinzipien der Moral“ Die liberalen Grundrechte sollen zudem durch besondere Gesetze eingeschränkt werden, die vorbeugend und strafrechtlich die „Perversion der öffentlichen Meinung“ verhindern und die „moralische Integrität der Bürger“ schützen sollen Ref. iur. Torben Steinhauer Der Staat im Staat Ref. iur. Torben Steinhauer Der Staat im Staat ● Die ohnehin schon nicht gerade liberale Verfassung ist in weiten Teilen Makulatur und bloßer Deckmantel für eine autoritäre Diktatur → der Präsident als verfassungsmäßiges Staatsoberhaupt tritt faktisch hinter den Präsidenten des Staatsrats (Salazar) zurück → die in der Verfassung nicht vorgesehene Geheimpolizei PIDE verfolgt Dissidenten → para-faschistische Organisationen wie die União Nacional als einzige Partei, die Mocidade Portuguesa als Jugendorganisation und die Legião Portuguesa als paramilitärischer Kampftrupp bilden Parallelstrukturen → bei den theoretisch freien Wahlen findet laufend Wahlfälschung und Einflussnahme statt Ref. iur. Torben Steinhauer Die Verfassung von 1976 ● ● ● ● ● In der revolutionären Phase von 1974 bis zur Niederschlagung des kommunistischen Putschversuchs vom 25.11.1975 bestand große Unsicherheit über die politische Zukunft Portugals Das MFA, aber auch die die Nelkenrevolution tragenden Parteien waren fast durchgehend politisch links und teilweise klar von marxistischen Idealen inspiriert Allerdings wollten die beiden größten neugegründeten Parteien, PS und PSD, keine neue Diktatur von links, sondern eine parlamentarische, in Europa integrierte Demokratie In der 1975 gewählten verfassungsgebenden Versammlung hatten PS, PCP und und MDP zusammen knapp 60 Prozent der Sitze Die am 02.04.1976 verabschiedete Verfassung stellt sich als Kompromiss dar Ref. iur. Torben Steinhauer Die Präambel ● „5 de Abril de 1974, o Movimento das Forças Armadas, coroando a longa resistência do povo português e interpretando os seus sentimentos profundos, derrubou o regime fascista.“ → erster Bezugspunkt: das Movimento das Forças Armadas; keinerlei Gottesbezug ● Libertar Portugal da ditadura, da opressão e do colonialismo representou uma transformação revolucionária e o início de uma viragem histórica da sociedade portuguesa. → Die Verfassung will ausdrücklich einen Bruch mit dem alten Regime vollziehen und erklärt das Ende des portugiesischen Kolonialreichs! ● A Assembleia Constituinte afirma a decisão do povo português de defender a independência nacional, de garantir os direitos fundamentais dos cidadãos, de estabelecer os princípios basilares da democracia, de assegurar o primado do Estado de Direito democrático e de abrir caminho para uma sociedade socialista, no respeito da vontade do povo português, tendo em vista a construção de um país mais livre, mais justo e mais fraterno. → der Sozialismus als Staatsziel! Ref. iur. Torben Steinhauer Das Ende des Kolonialismus ● ● ● Bereits in der Präambel, und noch klarer in Art. 7 erklärt die Verfassung Portugals koloniale Zeit für beendet An die Stelle des Imperialismus tritt die Pflege besonderer Beziehungen der Freundschaft und Kooperation zu allen portugiesischsprachigen Ländern Zur Gründung der CPLP kommt es aber erst 1996 Ref. iur. Torben Steinhauer Sozialismus als Staatsziel und Verfassungselement ● ● ● ● Art. 1: klassenlose Gesellschaft Art. 2: Ziel ist die demokratische Herrschaft der „arbeitenden Klassen“ Art. 9: Grundsatzaufgabe des Staats: Vergesellschaftung der Produktionsmittel und des Wohlstands, Abschaffung der Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen durch Menschen Vorschriften zur Arbeitermitbestimmung, zur Vergesellschaftung und zur Einführung der demokratischen Planwirtschaft → bemerkenswert z.B. Art. 82 Abs. 2, wonach Großgrundbesitzer, große Eigentümer, Unternehmer und Aktionäre ohne Entschädigung enteignet werden dürfen! Ref. iur. Torben Steinhauer Die Rolle des Revolutionsrats ● ● ● Der Revolutionsrat tritt als eine Art vierte Gewalt neben Exekutive, Legislative und Judikative Zusammengesetzt ist er neben dem Präsidenten ausschließlich aus Offizieren, die vom Militär benannt werden Neben einer beratenden Funktion hat der Rat zwei sehr entscheidende Kompetenzen: 1. Militärgesetzgebung (ausschließlich!) 2. (bindende) Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen Ref. iur. Torben Steinhauer „moderne“ Grundrechte ● über den üblichen rechtsstaatlichen Grundrechtekatalog hinaus enthält die Verfassung von 1976 wesentlich mehr Grundrechte als z.B. das deutsche Grundgesetz: - informationelle Selbstbestimmung („Datenschutz-Grundrecht“), Art. 35 - Recht auf Arbeit, Art. 51 - Recht auf soziale Sicherheit, Art. 63 - Recht auf Gesundheitsschutz, Art. 64 - Recht auf angemessene Wohnung, Art. 65 - Recht auf Erhaltung der Umwelt, Art. 66 - Generationenrechte, Art. 68 – 72 - Recht auf Körperkultur und Sport, Art. 79 → diese Grundrechte sind tatsächlich aber kaum zu verwirklichen, da kaum sinnvoll einklagbar Ref. iur. Torben Steinhauer Verfassungsreform von 1982 ● ● Institutionelle Reform Der Revolutionsrat wird abgeschafft, seine Funktionen aufgeteilt auf 1. Nationaler Verteidigungsrat (Militärorganisation) 2. Staatsrat (Beratung des Präsidenten) 3. Verfassungsgericht Ref. iur. Torben Steinhauer Verfassungsreform von 1989 ● ● ● Die langjährige Regierung von Aníbal Cavaco Silva (Premierminister 1985-1995) hält die sozialistischen, ideologisch aufgeladenen Elemente der Verfassung für dem Wirtschaftswachstum und der europäischen Integration hinderlich Durch die zweite große Verfassungsreform von 1989 werden daher die meisten Bezüge auf den Sozialismus, die Vergesellschaftung als Staatsziel, die klassenlose Gesellschaft etc. entfernt Gestrichen oder geschwächt werden aber auch eher sozialdemokratisch inspirierte Elemente wie das Streikrecht, das Verbot des Lockouts und die starke Arbeitnehmermitbestimmung Ref. iur. Torben Steinhauer Fazit/Diskussionsthesen 1. Eine Verfassung ist immer auch Spiegel der Gesellschaft und des politischen Klimas 2. Die bloße Formulierung bestimmter Ziele in einer Verfassung führt noch lange nicht zu deren Verwirklichung; weder gelang es dem Estado Novo, das Kolonialreich zu halten, noch wurde in Folge der Nelkenrevolution die sozialistische Planwirtschaft eingeführt 3. in beiden Verfassungen zeigt sich der Versuch, die Gewaltenteilung institutionell auszuhöhlen, was jeweils zu einem Demokratiedefizit führt 4. die bloße Formulierung von Grundrechten bewirkt noch nicht zwingend deren effektiven Schutz, sondern kann eine bloße Fassade oder eine bloße Absichtserklärung darstellen Ref. iur. Torben Steinhauer