685_759_BIOsp_0715_- 05.11.15 13:24 Seite 744 744 W I S S EN SCH AFT · AKTU E LL ÿ Häufiges Lesen schadet doch den Augen – bei Mutationen im APLP2-Gen ÿ Mollicutes-related endobacteria in Pilzen: eine doppelte Endosymbiose ÿ Nobelpreis für die Entwicklung des Anthelminthikums Ivermectin © Springer-Verlag 2015 Gen in den Schlagzeilen Häufiges Lesen schadet doch den Augen – bei Mutationen im APLP2-Gen ó Zu den Zeiten, als es noch keine Handys und kein Internet gab, haben manche Kinder viel gelesen, manchmal sogar unter der Bettdecke. Von den Eltern gab es dann die Ermahnung, dass dadurch später die Augen schlechter werden. Jetzt hat ein internationales Konsortium aus den USA und Europa dazu die genetisch-epidemiologische Begründung geliefert. Andrei und Tatiana Tkatchenko, Jeremy Guggenheim und andere haben in verschiedenen Kohorten mit zusammen fast 50.000 Teilnehmern das Auftreten von Kurzsichtigkeit (Myopie) in einer genomweiten Assoziationsstudie untersucht (Tkatchenko AV et al., PLoS Genetics (2015) 11:e1005432). In dieser Arbeit zeigten die Autoren zunächst eine schwache Assoziation von Myopie mit Einzelnukleotid-Polymorphismen (SNPs) aus der 5‘-Region des APLP2-Gens (amyloid βA4 precursor-like protein 2). Die Risikoallele dieser SNPs kommen mit einer Frequenz von etwa ein Prozent relativ selten in der kaukasischen Population vor; die Assoziation nimmt mit der Gendosis des Risikoallels zu (homozygote Trä- Abb.: Und die Eltern hatten doch recht: bei Leseratten im Alter zwischen 8 und 9 Jahren können Einzelnukleotid-Polymorphismen im APLP2-Gen später zu Kurzsichtigkeit führen (Bild: Claudia Ludy). ger des A-Allels haben ein höheres Risiko als heterozygote G/A; und heterozygote haben ein höheres Risiko als homozygote Träger des häufigen Allels G). Die schwache Assoziation steigt jedoch deutlich an, wenn die Autoren nur die Probanden berücksichtigen, die besonders im Alter zwischen 8 und 9 Jahren viel gelesen haben. Das zunehmende Alter der Probanden ist damit ein weiterer Risikofaktor. Die Autoren haben sich aber nicht auf statistische Überlegungen beschränkt, sondern ein Mausmodell entwickelt, in dem das Aplp2-Gen ausgeschaltet wurde. Dabei zeigen die homozygoten Mutanten zwar eine deutliche Fehlsichtigkeit (∼10 Dioptrien!), sie reagieren aber deutlich schlechter auf eine experimentell induzierte Myopie, was die Autoren auf ver änderte Feedback-Mechanismen in der Retina (insbesondere in den amakrinen Zellen) zurückführen können. Y Die Autoren zeigen hier in einer sehr gründlichen Arbeit eine Gen-Umwelt-Wechselwirkung, wie wir sie für eine Vielzahl von Volkskrankheiten postulieren. Die zusätzlichen Mausdaten weisen darauf hin, dass eine Überexpression des APLP2-Gens für die Myopie bei jugendlichen Leseratten verantwortlich ist, und die Autoren deuten an, dass eine Hemmung der APLP2-Aktivität in der Retina ein therapeutischer Ansatzpunkt sein könnte Jochen Graw, Neuherberg ó Mikroorganismus in den Schlagzeilen Mollicutes-related endobacteria in Pilzen: eine doppelte Endosymbiose ó Seit die Pflanzen vor etwa 450 Millionen Jahren an Land kamen, leben sie mit Pilzen des Phylums Glomeromycota in einer beiden nützenden Endosymbiose: der arbuskulären Mykorrhiza (AM). Dabei versorgen diese AMPilze die Pflanzen über ihre Arbuskel (verzweigte Hyphen) mit mineralischen Nährstoffen und erhalten im Austausch Kohlenhydrate. Vor 50 Jahren entdeckte man zytoplasmatische Einschlüsse in AM-Pilzen und bezeichnete sie als bacteria-like organisms. Analysen der ersten kompletten Genome (Torres-Cortés G et al., Proc Natl Acad Sci USA (2015) 112:7785–7790; Naito M et al., Proc Natl Acad Sci USA (2015) 112:7791–7796) zeigen nun die phylogenetische Position dieser mollicutes-related endobacteria (MRE) und deuten auf einen Abb.: Pflanze und arbuskulärer Mykorrhizapilz tauschen Kohlenhydrate gegen mineralische Nährstoffe an den pilzlichen Arbuskeln aus. Im Zytoplasma des Pilzes leben mollicutes-related endobacteria, deren Genome Sequenzen eukaryotischen Ursprungs enthalten. Diese Gene könnten für Effektoren codieren, die den Stoffwechsel des pilzlichen Wirtes steuern. BIOspektrum | 07.15 | 21. Jahrgang 685_759_BIOsp_0715_- 06.11.15 13:46 Seite 745 745 eindeutig von den eukaryotischen Wirten über horizontalen Gentransfer (HGT) auf die MREs übertragen wurden. Diese Sequenzen könnten für Effektoren codieren, die man auch bei Pathogenen findet, und mit denen Symbionten in der Lage sind, den Stoffwechsel der Wirte zu manipulieren. Y Diese beiden Studien zeigen den evolutionären Ursprung einer Bakterien-Pilz-Endo- Wirtswechsel von Tieren zu Pilzen weit vor der Entstehung der Glomeromycota hin. Die Genome sind stark reduziert, und viele essenzielle Stoffwechselfunktionen fehlen. Auf der anderen Seite fanden die Autoren in mehr als dem halben Genom orphan genes ohne bekannte Funktion, was auf unbekannte Stoffwechselwege hindeutet. Interessanterweise gibt es daneben eine Reihe von Sequenzen, die symbiose und geben Hinweise auf die Wechselwirkungen zwischen diesen doch sehr unterschiedlichen Organismen. Zu klären bleibt die Rolle der MREs für die AM-Pilze und damit für die bedeutendste terrestrische Symbiose. Dies ist besonders wichtig angesichts des Ziels, die Mykorrhiza in nachhaltigen Pflanzenproduktionssystemen einzusetzen. Philipp Franken, Erfurt ó Arzneimittel in den Schlagzeilen Nobelpreis für die Entwicklung des Anthelminthikums Ivermectin Flußblindheit (Onchocerca volvulus) und den Erreger der Elephantiasis tropica (Wuchereria bancrofti). Ivermectin aktiviert als allosterer Agonist Glutamat-gesteuerte Chloridkanäle in den Nervenzellen der Würmer mit hoher Affinität und Spezifität, wodurch Zellmembranen hyperpolarisiert werden und es nachfolgend zur Lähmung und zum Tod der Parasiten kommt. Ivermectin penetriert jedoch nicht durch die Blut-Hirn-Schranke beim Menschen und blockiert humane Neutrotransmitterregulierte Ionenkanäle nur mit sehr niedriger Affinität. Diese Eigenschaften erklären die hohe Sicherheit in der therapeutischen Anwendung von Ivermectin. ó Der diesjährige Nobelpreis für Physiologie und Medizin wurde an drei Forscher verliehen, die sich mit der Erforschung und pharmakologischen Behandlung von Tropenerkrankungen befassen. Jeweils ein Viertel des Nobelpreises ging an Satoshi Omura und an William Campbell für die Entwicklung des Antihelminthikums Ivermectin. Die andere Hälfte des Preises ging an Youyou Tu für die Entwicklung des Malariamittels Artemisinin, das im Journal Club des BIOspektrums schon besprochen wurde. Ivermectin wirkt sehr effektiv und mit sehr geringen unerwünschten Wirkungen gegen pathogene Fadenwürmer, z. B. den Erreger der O HO O O O O O O O O Glutamat Ivermectin Glutamataktivierter ChloridKanal H O OH O H OH ClFadenwurm Hyperpolarisation Parasiten-Tod BIOspektrum | 07.15 | 21. Jahrgang Abb.: Ivermectin blockiert mit hoher Selektivität und Affinität Glutamat-gesteuerte Ionenkanäle in Nervenzellen von pathogenen Fadenwürmern, aber nicht die Ionenkanäle im menschlichen Gehirn. Die Entwicklung von Ivermectin zu einem äußerst erfolgreichen Arzneimittel erfolgte in enger Zusammenarbeit eines japanischen Forschungsinstituts (geleitet vom Omura) mit einem Forschungsteam in der Pharmafirma MSD (geleitet von Campbell). Im Jahr 1973 isolierte Omura aus japanischen Erdproben das Bakterium Streptomyces avermectinus; 1975 wurden daraus Laktonverbindungen aus der Klasse der Avermectine dargestellt und anschließend zum semisynthetischen Antihelminthikum Ivermectin weiterentwickelt. Y Ivermectin ist so sicher, dass es im großen Umfang kostenlos und ohne spezifische ärztliche Verschreibung an die Bevölkerung in von Flussblindheit und Elephantiasis tropica betroffenen Regionen abgegeben wird. Im Jahr 2013 wurden insgesamt mehr als 300 Millionen Menschen mit Ivermectin behandelt. Dadurch ist die Prävalenz der beiden Tropenerkrankungen dramatisch zurückgegangen. In zwei sehr lesenswerten Übersichtsarbeiten geben Omura (Omura S und Crump A, Trends Parasitol (2014) 30:445–455) sowie Campbell (Campbell WC, Curr Pharm Biotechnol (2012) 13:853– 865) persönliche Rückblicke auf eine spannende Entdeckungsreise, die nach 40 Jahren mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung belohnt wurde. Die Erfolgsstory Ivermectin wurde ermöglicht durch enge Zusammenarbeit von Mikrobiologen, Chemikern und Parasitologen und die richtige Mischung aus gerichteter und explorativer Forschung. Roland Seifert, Hannover, und Lutz Hein, Freiburg ó