NL 2013, 128 - Österreichisches Institut für Menschenrechte

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NLMR 2/2013-EGMR
Verbot eines TV-Spots einer Tierschutzorganisation
Animal Defenders International gg. Großbritannien, Urteil vom 22.4.2013, Große Kammer, Bsw. Nr. 48.876/08
Leitsatz
Ein allgemeines Verbot politischer Rundfunkwerbung
muss einer parlamentarischen und gerichtlichen Überprüfung zugänglich und genau bestimmt sein sowie
einen legitimen Zweck verfolgen.
Die Beschränkung eines solchen Verbots auf bestimmte Medien aufgrund deren besonderen Einflusses ist
angemessen, jedoch stellt die Möglichkeit des alternativen Zugangs zu anderen Medien einen bedeutenden
Faktor im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung
dar.
Rechtsquellen
Art. 10 EMRK
Vom GH zitierte Judikatur
▸▸ VgT Verein gegen Tierfabriken/CH v. 28.6.2001
= NL 2001, 121 = ÖJZ 2002, 855
▸▸ Murphy/IRL v. 10.7.2003
= NL 2003, 203
▸▸ T V Vest AS und Rogaland Pensjonistparti/N
v. 11.12.2008
▸▸ Verein gegen Tierfabriken Schweiz (VgT)/CH (Nr. 2)
(GK) v. 30.6.2009 = NL 2009, 169
Schlagworte
Meinungsäußerungsfreiheit; Rundfunk; Verhältnismäßigkeit
Sabine Scharnagl
bestellen. Die letzte Szene zeigt schließlich einen Schimpansen in der Position des Mädchens.
Der geplante Spot wurde der Prüfstelle für Rundfunkwerbung vorgelegt. Am 5.4.2005 verweigerte diese ihre
Erlaubnis, da die Motive der Bf. insgesamt oder größtenteils politischer Natur seien, so dass Art. 321 Abs. 2 des
Kommunikationsgesetzes 2003 eine Ausstrahlung verbiete. Diese Entscheidung wurde am 6.5.2005 bestätigt.
Der Spot war und ist im Internet zu sehen.
Am 19.10.2005 erhob die Bf. Beschwerde beim High
Court, da das Verbot politischer Rundfunkwerbung iSd.
Kommunikationsgesetzes 2003 unvereinbar mit Art. 10
EMRK sei. Am 4.12.2006 wurde die Beschwerde abgewiesen. Beide Richter waren der Ansicht, dass das Verbot genau bestimmt und der Eingriff gerechtfertigt sei.
Es verfolge den Zweck zu gewährleisten, dass die Medien
nicht durch politische Programme vermögender Interessenvertreter verfälscht würden. Am 12.3.2008 wies das
House of Lords die Berufung der Bf. einstimmig ab.
Rechtsausführungen
Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch das gesetzliche Verbot von
bezahlter politischer Rundfunkwerbung.
I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK
Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet
noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss
daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).
Sachverhalt
Die bf. NGO setzt sich gegen Tierquälerei in Wirtschaft,
Wissenschaft und Gesellschaft ein, um sowohl eine
Änderung der Gesetzeslage als auch der öffentlichen
und politischen Meinung zu erreichen.
2005 startete die Bf. eine Kampagne unter dem Motto
»My mate´s a primate« (»Mein Freund, der Primat«), die
sich gegen die Haltung von Primaten und deren Verwendung in der TV-Werbung richtete. Einen Teil der
Kampagne sollte ein 20-sekündiger TV-Spot bilden, der
zunächst ein Mädchen in Ketten in einem Tierkäfig zeigt
und den Zuseher auffordert, ein Informationspaket zu
Österreichisches Institut für Menschenrechte 1. Allgemeine Ausführungen
Der hier verwendete Begriff der politischen Werbung
umfasst auch solche zu sonstigen Themen, die im
öffentlichen Interesse liegen.
Die Parteien sind sich einig, dass politische Werbung
durch eine allgemeine Maßnahme geregelt werden kann.
Sie stimmen nur bezüglich des Umfangs der gewählten Maßnahme nicht überein. Ein Staat kann unter
Berücksichtigung der Konvention allgemeine Maßnahmen treffen, die sich auf zuvor definierte, vom Einzelfall
unabhängige Situationen beziehen, auch wenn daraus
individuelle Härtefälle resultieren. Aus der Rechtspre© Jan Sramek Verlag
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chung des GH ergibt sich, dass er, um die Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Maßnahme zu prüfen, die
Entscheidungen des Gesetzgebers, die ihr zugrunde liegen, untersuchen muss. Von besonderer Bedeutung ist
die Art der parlamentarischen und gerichtlichen Überprüfung der Notwendigkeit der Maßnahme, einschließlich der Anwendung des relevanten Ermessensspielraums. Den Auswirkungen im konkreten Fall ist umso
weniger Bedeutung zuzumessen, je überzeugender die
Rechtfertigung für eine allgemeine Maßnahme ist. Die
zentrale Frage ist nicht, ob weniger restriktive Maßnahmen hätten angewendet werden sollen oder ob der Staat
nachweisen kann, dass das legitime Ziel ohne das Verbot nicht hätte erreicht werden können. Es geht darum,
ob die Gesetzgebung bei der Anwendung der allgemeinen Maßnahme in ihrem Ermessensspielraum blieb.
Der GH nimmt darüber hinaus zur Kenntnis, dass die
von der Regierung vorgebrachte Rechtfertigung auch das
Schutzbedürfnis des Wahlprozesses als Teil der demokratischen Ordnung beinhaltete. Auch wenn das Risiko
für pluralistische Debatten, Wahlen und den demokratischen Prozess während eines Wahlkampfes höher ist,
stellte der GH bereits fest, dass ein Risiko nicht nur in
dieser Phase besteht, da der demokratische Prozess fließend ist und ständig durch eine freie und pluralistische
öffentliche Debatte gefördert werden muss.
Darüber hinaus bestehen zahlreiche historische, kulturelle und politische Unterschiede innerhalb Europas,
so dass jeder Staat Demokratie seiner eigenen Vorstellung gemäß gestalten kann. Gesetzgebung und nationale Behörden können durch ihren direkten und ständigen Kontakt mit der Gesellschaft die besonderen
Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der demokratischen Ordnung am besten bewerten. Dem Staat muss
daher ein gewisses Ermessen im Hinblick auf diese länderspezifische und komplexe Beurteilung zukommen,
die bezüglich der Entscheidungen der Gesetzgebung im
vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung ist.
Schließlich stellt der GH fest, dass beide Parteien dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die freie und pluralistische
Debatte über Belange von öffentlichem Interesse. Der
GH muss daher ein Gleichgewicht schaffen zwischen
dem Recht der bf. NGO, Informationen von öffentlichem Interesse zu verbreiten – worauf die Öffentlichkeit Anspruch hat – und dem Anliegen der Behörden zu
verhindern, dass der demokratische Prozess durch den
Zugang vermögender Gruppen zu einflussreichen Medien verfälscht wird. Die Frage im vorliegenden Fall ist, ob
das Verbot im Hinblick auf sein verfolgtes Ziel und den
Ermessensspielraum des Staates zu weit ging.
en darstellte, wurde seine Notwendigkeit im Jahre 1998
besonders überprüft und ein Positionspapier mit einem
beabsichtigten Verbot vorgelegt. Im Jahre 2001 erging
das Urteil des GH im Fall VgT Verein gegen Tierfabriken/
CH1, woraufhin die Bedeutung dieses Urteils für die Vereinbarkeit des beabsichtigten Verbots mit der Konvention im weiteren Gesetzgebungsverfahren detailliert
geprüft wurde. 2002 wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt.
Die Regierung erklärte ausführlich ihre Gründe für die
Aufrechterhaltung des Verbots, die Bewertung als verhältnismäßig und legte sogar die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsauskünfte in der Sache vor. Das Kommunikationsgesetz 2003, das das Verbot beinhaltet, wurde
dann unter Beteiligung aller Parteien und ohne Gegenstimmen verabschiedet. Das Verbot war daher das Ergebnis einer besonderen parlamentarischen Überprüfung
seiner kulturellen, politischen und rechtlichen Aspekte als Teil eines umfangreichen Systems zur Regelung
öffentlicher Meinungsäußerung im Rundfunk in Großbritannien, wobei alle Stellen das Verbot als notwendigen Eingriff in die Rechte des Art. 10 EMRK ansahen.
Dieses spezielle Vorgehen des Parlaments und die
ausführliche Prüfung der Vereinbarkeit des Verbots mit
der Konvention im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erklären die besondere Berücksichtigung der Parlamentsentscheidung durch die nationalen Gerichte.
Die Verhältnismäßigkeit des Verbots wurde im Detail
vor dem High Court und dem House of Lords untersucht.
Beide Gerichte analysierten die relevante Rechtsprechung des GH, die Bedeutung des Falles VgT/CH und
bezogen diese auf das Verbot. Die Richter befürworteten
das Ziel des Verbots sowie die Begründung der Gesetzgebung bezüglich seines Umfangs und kamen zu dem
Schluss, dass der Eingriff notwendig und verhältnismäßig iSd. Art. 10 EMRK war.
Für den GH sind die genaue Überprüfung des komplizierten Systems zur Regelung politischer Medieninhalte durch das Parlament und die Gerichte sowie deren
Ansicht, dass die allgemeine Maßnahme notwendig
war, um eine Verfälschung der öffentlichen Debatte zu
verhindern und den demokratischen Prozess zu stärken, von besonderer Bedeutung. Weiters hält es der GH
für wichtig, dass das Verbot genau bestimmt war, um
das Risiko einer Verfälschung unter geringstmöglicher
Beeinträchtigung des Rechts auf Meinungsäußerung
zu erfassen. Das Verbot bezieht sich auf bezahlte politische Werbung, da diese stets parteiisch ist, die Gefahr
eines ungleichen Zugangs birgt und sich direkt auf den
demokratischen Prozess auswirkt. Es ist darüber hinaus
auf bestimmte Medien (Radio und TV) beschränkt, wel-
2. Zur Verhältnismäßigkeit des Verbots
1 Der GH beurteilte dabei das Verbot eines TV-Spots, der auf
tierquälerische Nutztierhaltung aufmerksam machen sollte,
als »in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig«
und stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.
Auch wenn das Verbot seit den 1950er Jahren einen
integralen Bestandteil des Rundfunks in GroßbritanniÖsterreichisches Institut für Menschenrechte © Jan Sramek Verlag
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che die einflussreichsten und finanzstärksten Medien
und den Eckpfeiler des Regelungssystems im vorliegenden Fall darstellen. Die Schranken eines Verbots stellen
einen wichtigen Faktor bei der Beurteilung seiner Verhältnismäßigkeit dar. Es bestanden folglich eine Reihe
alternativer Medien, die der Bf. zugänglich waren.
Die Bf. bezieht sich auf die Begründung, die der legislativen Entscheidung bezüglich des Umfangs des Verbots zugrunde lag. Sie bringt vor, dass eine Beschränkung des Verbots auf Radio und TV unlogisch sei. Der
GH beurteilt jedoch eine Unterscheidung aufgrund des
besonderen Einflusses des Rundfunks als nachvollziehbar, der insbesondere in der Funktion von Radio und TV
als Unterhaltungsquelle innerhalb des Familien- und
Privatlebens besteht. Weiters haben Informationen aus
dem Internet oder den sozialen Medien aufgrund der
bestehenden Wahlmöglichkeiten nicht dieselbe Bedeutung wie solche aus Radio und TV. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es trotz der rasanten Entwicklung des
Internets und der sozialen Medien in den letzten Jahren
eine ernsthafte Veränderung im Hinblick auf deren Einfluss im Vergleich zu Radio und TV gibt, um das Bedürfnis besonderer Maßnahmen für Letztere zu minimieren.
Weiters bringt die Bf. vor, dass Werbung im Rundfunk
nicht teurer als in anderen Medien sei. Der GH befindet es als ausreichend festzustellen, dass Rundfunkwerbung besondere Vorteile hat und Werbende bereit sind,
dafür hohe Summen zu zahlen, die die Möglichkeiten
einer NGO, die an der öffentlichen Debatte mitwirken
möchte, weit überschreiten.
Nach Ansicht der Bf. sei auch die Erlaubnis von Rundfunkkampagnen politischer Parteien für die Verhältnismäßigkeit des Verbots irrelevant. Der GH stellt jedoch
fest, dass eine kontrollierte Lockerung des Verbots für
Körperschaften, die einen zentralen Platz im demokratischen Prozess einnehmen, einen bedeutenden Faktor
darstellt, um das gesamte Gleichgewicht der allgemeinen Maßnahme zu beurteilen, auch wenn die Bf. von
diesem Faktor nicht betroffen ist.
Außerdem ist die Bf. der Meinung, dass die Regierung
den Umfang des Verbots in Phasen außerhalb des Wahlkampfes hätte verringern können. Diesbezüglich bestehen Bedenken der Regierung im Hinblick auf die Gefahr
des Missbrauchs und der Willkür. Die Missbrauchsgefahr ist primär von den nationalen Behörden zu beurteilen. Der GH betrachtet es als nachvollziehbar, dass
das Risiko besteht, dass wohlhabende Akteure mit ihren
Programmen durch soziale Interessengruppen auftreten, die nur zu diesem Zweck gegründet wurden. Finanzielle Deckelungen können von solchen wohlhabenden
Gruppen dadurch umgangen werden, dass eine große
Zahl an ähnlichen Interessengruppen gebildet wird,
um zusätzliche Werbezeit zu erreichen. Der GH ist auch
der Ansicht, dass ein Verbot, das eine einzelfallbezogene Prüfung von Werbenden und Werbespots erfordert,
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kein realisierbares Mittel zur Erreichung des legitimen
Zieles darstellt. Insbesondere kann diese Art der Kontrolle zu Unsicherheit, Rechtsstreitigkeiten, Kosten und
Verzögerungen sowie zu behaupteter Diskriminierung
und Willkür führen. Dabei handelt es sich um Gründe,
die eine allgemeine Maßnahme rechtfertigen können.
Es ist daher nachvollziehbar, dass die Regierung fürchtete, dass die vorgeschlagene alternative Möglichkeit
nicht realisierbar sei und den Grundsatz der Unparteilichkeit des Rundfunks gefährden könnte, einen Eckpfeiler des Regelungssystems im vorliegenden Fall.
Der GH betont darüber hinaus, dass es keinen europäischen Konsens unter den Mitgliedstaaten gibt, wie
bezahlte politische Werbung im Rundfunk zu regeln ist.
Ein fehlender Konsens kann für einen größeren Ermessensspielraum, als er üblicherweise für Beschränkungen der Meinungsäußerung zu Belangen im öffentlichen Interesse besteht, sprechen. Auch wenn der Trend
sich von Rundfunkverboten weg bewegt, bleibt es unbestritten, dass große Unterschiede im Hinblick darauf
bestehen, wie die Mitgliedstaaten solche Werbung unter
Berücksichtigung der historischen, kulturellen und
politischen Ungleichheiten sowie ihrer Vorstellung von
Demokratie regeln. Dieser fehlende Konsens erweitert
somit den Ermessensspielraum.
Schließlich ist der GH nicht der Ansicht, dass die Auswirkungen des Verbots schwerer wiegen als die oben
beschriebenen überzeugenden Rechtfertigungen der
allgemeinen Maßnahme. Der GH nimmt auch die anderen Medien zur Kenntnis, die der Bf. offen standen, was
das Hauptargument für die Verhältnismäßigkeit einer
Zugangsbeschränkung zu möglicherweise nützlichen
Medien ist. Insbesondere besteht für die Bf. die Möglichkeit, an politischen Diskussionen in Radio und TV teilzunehmen und zu nicht-politischen Themen zu werben.
Die Bf. hatte einerseits Zugang zu Printmedien, dem
Internet, einschließlich der sozialen Medien, und andererseits die Möglichkeit von Demonstrationen, Plakaten und Flyern. Auch wenn nicht gezeigt werden konnte, dass das Internet im betreffenden Staat größeren
Einfluss als der Rundfunk hat, stellen die neuen Medien
bedeutende Kommunikationsmittel zur Unterstützung
der NGO bei der Erreichung ihrer Ziele dar.
Folglich beurteilt der GH die von den Behörden angeführten Gründe zur Rechtfertigung des Verbots der Werbung der Bf. als zutreffend und ausreichend. Das Verbot stellt somit keinen unverhältnismäßigen Eingriff in
das Recht der Bf. auf Meinungsäußerung dar. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (9:8 Stimmen; Sondervotum
der Richterinnen und Richter Ziemele, Sajó, Kalaydjiyeva,
Vučinić, De Gaetano, Tulkens, Spielmann und Lafranque).
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© Jan Sramek Verlag
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