NLMR 2/2013-EGMR 1 © Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Übersetzung wurde bereits in Newsletter Menschenrechte 2013/2 veröffentlicht] Die erneute Veröffentlichung wurde allein für die Aufnahme in die HUDOC-Datenbank des EGMR gestattet. Diese Übersetzung bindet den EGMR nicht. © Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Translation already published in Newsletter Menschenrechte 2013/2] Permission to republish this translation has been granted for the sole purpose of its inclusion in the Court's database HUDOC. This translation does not bind the Court. © Jan Sramek Verlag (http://www.jan-sramek-verlag.at). [Traduction déjà publiée dans Newsletter Menschenrechte 2013/2] L’autorisation de republier cette traduction a été accordée dans le seul but de son inclusion dans la base de données HUDOC de la Cour. La présente traduction ne lie pas la Cour. Sachverhalt Rechtsausführungen Die bf. NGO setzt sich gegen Tierquälerei in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ein, um sowohl eine Änderung der Gesetzeslage als auch der öffentlichen und politischen Meinung zu erreichen. 2005 startete die Bf. eine Kampagne unter dem Motto »My mate´s a primate« (»Mein Freund, der Primat«), die sich gegen die Haltung von Primaten und deren Verwendung in der TV-Werbung richtete. Einen Teil der Kampagne sollte ein 20-sekündiger TV-Spot bilden, der zunächst ein Mädchen in Ketten in einem Tierkäfig zeigt und den Zuseher auffordert, ein Informationspaket zu bestellen. Die letzte Szene zeigt schließlich einen Schimpansen in der Position des Mädchens. Der geplante Spot wurde der Prüfstelle für Rundfunkwerbung vorgelegt. Am 5.4.2005 verweigerte diese ihre Erlaubnis, da die Motive der Bf. insgesamt oder größtenteils politischer Natur seien, so dass Art. 321 Abs. 2 des Kommunikationsgesetzes 2003 eine Ausstrahlung verbiete. Diese Entscheidung wurde am 6.5.2005 bestätigt. Der Spot war und ist im Internet zu sehen. Am 19.10.2005 erhob die Bf. Beschwerde beim High Court, da das Verbot politischer Rundfunkwerbung iSd. Kommunikationsgesetzes 2003 unvereinbar mit Art. 10 EMRK sei. Am 4.12.2006 wurde die Beschwerde abgewiesen. Beide Richter waren der Ansicht, dass das Verbot genau bestimmt und der Eingriff gerechtfertigt sei. Es verfolge den Zweck zu gewährleisten, dass die Medien nicht durch politische Programme vermögender Interessenvertreter verfälscht würden. Am 12.3.2008 wies das House of Lords die Berufung der Bf. einstimmig ab. Die Bf. rügt eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch das gesetzliche Verbot von bezahlter politischer Rundfunkwerbung. Österreichisches Institut für Menschenrechte I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig). 1. Allgemeine Ausführungen Der hier verwendete Begriff der politischen Werbung umfasst auch solche zu sonstigen Themen, die im öffentlichen Interesse liegen. Die Parteien sind sich einig, dass politische Werbung durch eine allgemeine Maßnahme geregelt werden kann. Sie stimmen nur bezüglich des Umfangs der gewählten Maßnahme nicht überein. Ein Staat kann unter Berücksichtigung der Konvention allgemeine Maßnahmen treffen, die sich auf zuvor definierte, vom Einzelfall unabhängige Situationen beziehen, auch wenn daraus individuelle Härtefälle resultieren. Aus der Rechtsprechung des GH ergibt sich, dass er, um die Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen Maßnahme zu prüfen, die Entscheidungen des Gesetzgebers, die ihr zugrunde liegen, untersuchen muss. Von besonderer Bedeutung ist die Art der parlamentarischen und gerichtlichen Überprüfung der Notwendigkeit der Maßnahme, einschließlich der Anwendung des relevanten Ermessensspielraums. Den Auswirkungen im konkreten Fall ist umso weniger Bedeutung zuzumessen, je überzeugender die Rechtfertigung für eine allgemeine Maßnahme ist. Die © Jan Sramek Verlag 2 Animal Defenders International gg. das Vereinigte Königreich zentrale Frage ist nicht, ob weniger restriktive Maßnahmen hätten angewendet werden sollen oder ob der Staat nachweisen kann, dass das legitime Ziel ohne das Verbot nicht hätte erreicht werden können. Es geht darum, ob die Gesetzgebung bei der Anwendung der allgemeinen Maßnahme in ihrem Ermessensspielraum blieb. Der GH nimmt darüber hinaus zur Kenntnis, dass die von der Regierung vorgebrachte Rechtfertigung auch das Schutzbedürfnis des Wahlprozesses als Teil der demokratischen Ordnung beinhaltete. Auch wenn das Risiko für pluralistische Debatten, Wahlen und den demokratischen Prozess während eines Wahlkampfes höher ist, stellte der GH bereits fest, dass ein Risiko nicht nur in dieser Phase besteht, da der demokratische Prozess fließend ist und ständig durch eine freie und pluralistische öffentliche Debatte gefördert werden muss. Darüber hinaus bestehen zahlreiche historische, kulturelle und politische Unterschiede innerhalb Europas, so dass jeder Staat Demokratie seiner eigenen Vorstellung gemäß gestalten kann. Gesetzgebung und nationale Behörden können durch ihren direkten und ständigen Kontakt mit der Gesellschaft die besonderen Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der demokratischen Ordnung am besten bewerten. Dem Staat muss daher ein gewisses Ermessen im Hinblick auf diese länderspezifische und komplexe Beurteilung zukommen, die bezüglich der Entscheidungen der Gesetzgebung im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung ist. Schließlich stellt der GH fest, dass beide Parteien dasselbe Ziel verfolgen, nämlich die freie und pluralistische Debatte über Belange von öffentlichem Interesse. Der GH muss daher ein Gleichgewicht schaffen zwischen dem Recht der bf. NGO, Informationen von öffentlichem Interesse zu verbreiten – worauf die Öffentlichkeit Anspruch hat – und dem Anliegen der Behörden zu verhindern, dass der demokratische Prozess durch den Zugang vermögender Gruppen zu einflussreichen Medien verfälscht wird. Die Frage im vorliegenden Fall ist, ob das Verbot im Hinblick auf sein verfolgtes Ziel und den Ermessensspielraum des Staates zu weit ging. 2. Zur Verhältnismäßigkeit des Verbots Auch wenn das Verbot seit den 1950er Jahren einen integralen Bestandteil des Rundfunks in Großbritannien darstellte, wurde seine Notwendigkeit im Jahre 1998 besonders überprüft und ein Positionspapier mit einem beabsichtigten Verbot vorgelegt. Im Jahre 2001 erging das Urteil des GH im Fall VgT Verein gegen Tierfabriken/ CH1, woraufhin die Bedeutung dieses Urteils für die Ver- 1 Der GH beurteilte dabei das Verbot eines TV-Spots, der auf tierquälerische Nutztierhaltung aufmerksam machen sollte, als »in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig« und stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Österreichisches Institut für Menschenrechte NLMR 2/2013-EGMR einbarkeit des beabsichtigten Verbots mit der Konvention im weiteren Gesetzgebungsverfahren detailliert geprüft wurde. 2002 wurde ein Gesetzentwurf vorgelegt. Die Regierung erklärte ausführlich ihre Gründe für die Aufrechterhaltung des Verbots, die Bewertung als verhältnismäßig und legte sogar die ihr zur Verfügung stehenden Rechtsauskünfte in der Sache vor. Das Kommunikationsgesetz 2003, das das Verbot beinhaltet, wurde dann unter Beteiligung aller Parteien und ohne Gegenstimmen verabschiedet. Das Verbot war daher das Ergebnis einer besonderen parlamentarischen Überprüfung seiner kulturellen, politischen und rechtlichen Aspekte als Teil eines umfangreichen Systems zur Regelung öffentlicher Meinungsäußerung im Rundfunk in Großbritannien, wobei alle Stellen das Verbot als notwendigen Eingriff in die Rechte des Art. 10 EMRK ansahen. Dieses spezielle Vorgehen des Parlaments und die ausführliche Prüfung der Vereinbarkeit des Verbots mit der Konvention im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erklären die besondere Berücksichtigung der Parlamentsentscheidung durch die nationalen Gerichte. Die Verhältnismäßigkeit des Verbots wurde im Detail vor dem High Court und dem House of Lords untersucht. Beide Gerichte analysierten die relevante Rechtsprechung des GH, die Bedeutung des Falles VgT/CH und bezogen diese auf das Verbot. Die Richter befürworteten das Ziel des Verbots sowie die Begründung der Gesetzgebung bezüglich seines Umfangs und kamen zu dem Schluss, dass der Eingriff notwendig und verhältnismäßig iSd. Art. 10 EMRK war. Für den GH sind die genaue Überprüfung des komplizierten Systems zur Regelung politischer Medieninhalte durch das Parlament und die Gerichte sowie deren Ansicht, dass die allgemeine Maßnahme notwendig war, um eine Verfälschung der öffentlichen Debatte zu verhindern und den demokratischen Prozess zu stärken, von besonderer Bedeutung. Weiters hält es der GH für wichtig, dass das Verbot genau bestimmt war, um das Risiko einer Verfälschung unter geringstmöglicher Beeinträchtigung des Rechts auf Meinungsäußerung zu erfassen. Das Verbot bezieht sich auf bezahlte politische Werbung, da diese stets parteiisch ist, die Gefahr eines ungleichen Zugangs birgt und sich direkt auf den demokratischen Prozess auswirkt. Es ist darüber hinaus auf bestimmte Medien (Radio und TV) beschränkt, welche die einflussreichsten und finanzstärksten Medien und den Eckpfeiler des Regelungssystems im vorliegenden Fall darstellen. Die Schranken eines Verbots stellen einen wichtigen Faktor bei der Beurteilung seiner Verhältnismäßigkeit dar. Es bestanden folglich eine Reihe alternativer Medien, die der Bf. zugänglich waren. Die Bf. bezieht sich auf die Begründung, die der legislativen Entscheidung bezüglich des Umfangs des Verbots zugrunde lag. Sie bringt vor, dass eine Beschränkung des Verbots auf Radio und TV unlogisch sei. Der © Jan Sramek Verlag NLMR 2/2013-EGMR Animal Defenders International gg. das Vereinigte Königreich GH beurteilt jedoch eine Unterscheidung aufgrund des besonderen Einflusses des Rundfunks als nachvollziehbar, der insbesondere in der Funktion von Radio und TV als Unterhaltungsquelle innerhalb des Familien- und Privatlebens besteht. Weiters haben Informationen aus dem Internet oder den sozialen Medien aufgrund der bestehenden Wahlmöglichkeiten nicht dieselbe Bedeutung wie solche aus Radio und TV. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass es trotz der rasanten Entwicklung des Internets und der sozialen Medien in den letzten Jahren eine ernsthafte Veränderung im Hinblick auf deren Einfluss im Vergleich zu Radio und TV gibt, um das Bedürfnis besonderer Maßnahmen für Letztere zu minimieren. Weiters bringt die Bf. vor, dass Werbung im Rundfunk nicht teurer als in anderen Medien sei. Der GH befindet es als ausreichend festzustellen, dass Rundfunkwerbung besondere Vorteile hat und Werbende bereit sind, dafür hohe Summen zu zahlen, die die Möglichkeiten einer NGO, die an der öffentlichen Debatte mitwirken möchte, weit überschreiten. Nach Ansicht der Bf. sei auch die Erlaubnis von Rundfunkkampagnen politischer Parteien für die Verhältnismäßigkeit des Verbots irrelevant. Der GH stellt jedoch fest, dass eine kontrollierte Lockerung des Verbots für Körperschaften, die einen zentralen Platz im demokratischen Prozess einnehmen, einen bedeutenden Faktor darstellt, um das gesamte Gleichgewicht der allgemeinen Maßnahme zu beurteilen, auch wenn die Bf. von diesem Faktor nicht betroffen ist. Außerdem ist die Bf. der Meinung, dass die Regierung den Umfang des Verbots in Phasen außerhalb des Wahlkampfes hätte verringern können. Diesbezüglich bestehen Bedenken der Regierung im Hinblick auf die Gefahr des Missbrauchs und der Willkür. Die Missbrauchsgefahr ist primär von den nationalen Behörden zu beurteilen. Der GH betrachtet es als nachvollziehbar, dass das Risiko besteht, dass wohlhabende Akteure mit ihren Programmen durch soziale Interessengruppen auftreten, die nur zu diesem Zweck gegründet wurden. Finanzielle Deckelungen können von solchen wohlhabenden Gruppen dadurch umgangen werden, dass eine große Zahl an ähnlichen Interessengruppen gebildet wird, um zusätzliche Werbezeit zu erreichen. Der GH ist auch der Ansicht, dass ein Verbot, das eine einzelfallbezogene Prüfung von Werbenden und Werbespots erfordert, kein realisierbares Mittel zur Erreichung des legitimen Zieles darstellt. Insbesondere kann diese Art der Kontrolle zu Unsicherheit, Rechtsstreitigkeiten, Kosten und Verzögerungen sowie zu behaupteter Diskriminierung und Willkür führen. Dabei handelt es sich um Gründe, die eine allgemeine Maßnahme rechtfertigen können. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Regierung fürchtete, dass die vorgeschlagene alternative Möglichkeit nicht realisierbar sei und den Grundsatz der UnparteiÖsterreichisches Institut für Menschenrechte lichkeit des Rundfunks gefährden könnte, einen Eckpfeiler des Regelungssystems im vorliegenden Fall. Der GH betont darüber hinaus, dass es keinen europäischen Konsens unter den Mitgliedstaaten gibt, wie bezahlte politische Werbung im Rundfunk zu regeln ist. Ein fehlender Konsens kann für einen größeren Ermessensspielraum, als er üblicherweise für Beschränkungen der Meinungsäußerung zu Belangen im öffentlichen Interesse besteht, sprechen. Auch wenn der Trend sich von Rundfunkverboten weg bewegt, bleibt es unbestritten, dass große Unterschiede im Hinblick darauf bestehen, wie die Mitgliedstaaten solche Werbung unter Berücksichtigung der historischen, kulturellen und politischen Ungleichheiten sowie ihrer Vorstellung von Demokratie regeln. Dieser fehlende Konsens erweitert somit den Ermessensspielraum. Schließlich ist der GH nicht der Ansicht, dass die Auswirkungen des Verbots schwerer wiegen als die oben beschriebenen überzeugenden Rechtfertigungen der allgemeinen Maßnahme. Der GH nimmt auch die anderen Medien zur Kenntnis, die der Bf. offen standen, was das Hauptargument für die Verhältnismäßigkeit einer Zugangsbeschränkung zu möglicherweise nützlichen Medien ist. Insbesondere besteht für die Bf. die Möglichkeit, an politischen Diskussionen in Radio und TV teilzunehmen und zu nicht-politischen Themen zu werben. Die Bf. hatte einerseits Zugang zu Printmedien, dem Internet, einschließlich der sozialen Medien, und andererseits die Möglichkeit von Demonstrationen, Plakaten und Flyern. Auch wenn nicht gezeigt werden konnte, dass das Internet im betreffenden Staat größeren Einfluss als der Rundfunk hat, stellen die neuen Medien bedeutende Kommunikationsmittel zur Unterstützung der NGO bei der Erreichung ihrer Ziele dar. Folglich beurteilt der GH die von den Behörden angeführten Gründe zur Rechtfertigung des Verbots der Werbung der Bf. als zutreffend und ausreichend. Das Verbot stellt somit keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht der Bf. auf Meinungsäußerung dar. Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (9:8 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen und Richter Ziemele, Sajó, Kalaydjiyeva, Vučinić, De Gaetano, Tulkens, Spielmann und Lafranque). © Jan Sramek Verlag 3