Die Kultur mischt mit Wissenschaftler plädieren für ein erweitertes

Werbung
gedruckte Ausgabe
vom
Ressort: Wissen & Forschen
Die Kultur mischt mit
Wissenschaftler plädieren für ein erweitertes Verständnis von Genetik
Von Peter Düweke
Mischwesen erregen Anstoß. So mochte der Ordnungsfanatiker Carl von Linné biologische Mischlinge nicht: Im 18.
Jahrhundert hatten Tier- und Pflanzenarten sauber getrennt, typisch und im Großen und Ganzen unveränderlich zu sein.
Vermutlich hätte der schwedische Botaniker auch Maultier und Maulesel nicht gemocht. Beide halb Pferd, halb Esel und
dann auch noch verschieden: Ein Maulesel ist meist kleiner als ein Maultier und hat stärkere Beine, eine dickere Mähne und
kürzere Ohren. Liegt das daran, dass ein Maultier von Pferdestute und Eselhengst abstammt, ein Maulesel von Eselstute
und Pferdehengst? Eigentlich nicht. Jedenfalls sollten nach den klassischen Regeln der Vererbung beide gleich sein.
Die Antwort liegt in einem besonderen Teilgebiet der Genetik verborgen: Epigenetik. Die israelische Forscherin Eva
Jablonka brachte auf einer Tagung in Berlin ein Beispiel für Vererbung vor, das es nach den strengen Regeln einer allein
auf DNS-Sequenzen beruhenden Genetik nicht geben dürfte:
Viele Rattenmütter, aber nicht alle, lecken ihre Babys. Das ist Gold wert. Denn die oral versorgten Rattenbabys sind weniger
ängstlich und anfällig für Stress als ihre ungeleckten Genossen. Analysen zeigten, dass beide Gruppen genetisch
übereinstimmten. Heraus kam ein anderer Unterschied: Geleckte Ratten und deren Nachkommen besaßen mehr
Glucocorticoid-Rezeptoren. Für die Bildung der Rezeptoren ist ein Gen die Ursache, das in beiden Gruppen gleich war.
Allein das Lecken der Mutter schaltete auf noch ungeklärte Weise ein Gen im Baby ein. Und erstaunlicher noch: Der
geänderte Regulationsstatus des Gens wird vererbt, ebenso die Neigung zum Lecken.
Epigenetik ist nicht neu. Neu ist, dass immer mehr epigenetische Vorgänge zum Vorschein kommen. Besonders interessant
sind Prozesse, die Gene regulieren und diese auf die nächste Generation übertragen werden. Eva Jablonka, die an der
Universität Tel Aviv epigenetische Mechanismen erforscht, ist überzeugt, dass Genetik breiter verstanden werden muss als
bisher. „DNS ist entscheidend, aber sie ist nicht die ganze Geschichte. Was in der Entwicklung geschieht, beeinflusst
Vererbung auf verschiedenen Ebenen der biologischen Organisation.“
Bekannt ist seit langem, dass allein die Gensequenz für eine Fülle von Entwicklungsvorgängen nicht ausreicht. So
versuchen Forscher seit 40 Jahren die Genregulation aufzuklären. Wie bewerkstelligt es eine Zelle, die richtigen Gene zum
richtigen Zeitpunkt ein- oder auszuschalten? Epigenetik ist zu einem Großteil Genregulation, geht aber noch darüber
hinaus. Zum Beispiel basiert die viel gerühmte Stabilität der Gene und der DNS auf ständiger epigenetischer Reparatur
beschädigter Stellen. Schließlich werden Eigenschaften oder Merkmale vererbt, ohne dass DNS-Sequenzen verändert
wären.
Solche Vererbungsgeschichten klingen manchmal unglaublich, wie der Bericht von Marcus Pembrey. Der englische
Humangenetiker und seine Mitarbeiter fanden bei einer Studie in Nordschweden, dass Väter, die vor ihrer Pubertät geraucht
hatten, Söhne hatten, deren Körpergewicht erhöht war. Solche Phänomene sind noch weit von Aufklärung entfernt. Doch
epigenetische Vererbung anzunehmen, liegt nahe.
Ein Beispiel für epigenetische Vererbung ist genomische Prägung. Die Entwicklung des Fötus verlangt einen mütterlichen
und einen väterlichen Chromosomensatz. Dabei erhält der Fötus von den Eltern stillgelegte Gene. Bernhard Horsthemke,
Humangenetiker am Universitätsklinikum Essen, sagte, genomische Prägung entscheide darüber, welche mütterlichen oder
väterlichen Gene im Fötus zum Ausdruck kommen. So schränken mütterlich aktive Gene Ernährung und Wachstum des
Fötus ein, während väterlich aktive Gene sie fördern.
Eine Erklärung hierfür gibt die genetische Konflikttheorie. Danach verfolgen mütterliches und väterliches Genom
unterschiedliche Interessen. Unterm Strich, so Horsthemke, schaffe genomische Prägung Variation als Basis für Evolution.
Fehlerhafte Prägung bei der Spermien- und Eizellbildung oder Verlust der Prägung nach der Befruchtung kann zu
Erkrankungen führen. Ebenso sind epigenetische Störungen wahrscheinlich Ursache dafür, dass Zeugung im Reagenzglas
und Embryonentransfer zu einem erhöhten Risiko für bestimmte Krankheiten führen: zum Beispiel erkranken Kinder, die
durch eine künstliche Befruchtung gezeugt wurden (IVF), drei- bis sechsmal häufiger am Größenwuchs-Syndrom als
natürlich gezeugte Kinder.
Vielleicht ist der alte Streit zwischen Genen auf der einen und Umwelt und Kultur auf der anderen Seite bald abgeschlossen.
Denn kulturelle Einflüsse – oder Verhalten wie das der leckenden Rattenmütter – mischen auch bei der Übertragung von
Merkmalen und Eigenschaften mit. Die Frage, wie und was übertragen wird, die Genealogie, müsse im Mittelpunkt von
Bioethik und Medizin-Politik stehen, verlangte Sigrid Weigel, Leiterin des Projektes „Erbe, Erbschaft, Vererbung.
Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel“. Einen Paradigmenwechsel weg von den
Genen hin zu Umwelt und Kultur sieht aber niemand am Horizont aufziehen
Herunterladen