6 Die komplexen Zahlen 6.1 Historisches Eckpunkte der historischen Entwicklung: • Girolamo Cardano (1501–1576) operiert zum ersten Mal mit sogenannten imaginären √ √ Wurzeln: 5 + −15 und 5 − −15 als Lösungen von x(10 − x) = 40. • Rafael Bombelli (1526–1572) lehrt als erster das formal korrekte Rechnen mit komplexen Zahlen, allerdings ohne exakte Fundierung. Z. B. schreibt er (2 ± i)3 = 2 ± 11i. • Leonhard Euler (1707–1783) rechnet intuitiv und souverän mit komplexen Zahlen und findet viele weitere Zusammenhänge, macht aber ebenfalls keinen Versuch einer theoretischen Herleitung. • Carl Friedrich Gauß (1777-1855): geometrische Deutung der Menge der komplexen Zahlen, Gaußsche Zahlenebene • Augustin-Louis Cauchy (1789–1857): algebraische Deutung komplexer Zahlen, C als endlicher Erweiterungskörper von R. Hierin ist eine komplexe Zahl eine Äquivalenzklasse von Polynomen mit reellen Koeffizienten unter einer geeigneten Äquivalenzrelation. • William Rowan Hamilton (1805–1865): komplexe Zahlen als geordnete Paare reeller Zahlen. 6.2 Die Konstruktion der komplexen Zahlen C nach Hamilton Idee: Die einfachste in R nicht lösbare Gleichung ist x2 + 1 = 0. Wenn man nun so tut, als gäbe √ es eine Lösung, die man mit i = −1 (i wie imaginäre Einheit) bezeichnet, und fordert, dass i in einer Obermenge C von R enthalten sein sollte, in der – so weit wie möglich – die bekannten Rechenregeln gelten sollen, kommt man mit i2 = −1 zu folgenden Regeln für a, a0 , b, b0 ∈ C: • Für die Addition: (a + b · i) + (a0 + b0 · i) = (a + a0 ) + (b + b0 ) · i, • für die Multiplikation: (a + b · i) · (a0 + b0 · i) = (a · a0 − b · b0 ) + (a · b0 + a0 · b) · i. Insbesondere sollten diese Regeln auch für alle a, a0 , b, b0 ∈ R gelten. Es soll an dieser Stelle betont werden, dass durch diese Einführung der Wurzel aus −1 nicht sichergestellt ist, dass dies widerspruchsfrei möglich ist. Z. B. kann man sich sehr leicht davon überzeugen, dass die Einführung einer Zahl j = 0−1 als Versuch der Ergänzung der reellen Zahlen um das multiplikative Inverse der Zahl 0 zum Scheitern verurteilt ist. Da dann 0 · j = 1 gilt, genügt es, das Produkt (0 + 0) · 1 einmal direkt sowie mit Hilfe des Distributivgesetzes auszurechnen, um festzustellen, dass in dem so konstruierten Zahlbereich nun 1 = 2 gilt, was natürlich ein großes Opfer im Hinblick auf das Permanenzprinzip darstellt :-). In unserem Falle gelangt man zu folgender Definition 1 (Menge der komplexen Zahlen) In der Menge R × R aller geordneten reellen Zahlenpaare z := (x, y) führt man eine Addition und eine Multiplikation ein wie folgt: Für z1 , z2 ∈ R × R mit z1 = (x1 , y1 ) und z2 = (x2 , y2 ) ist 1. z1 + z2 = (x1 , y1 ) + (x2 , y2 ) := (x1 + x2 , y1 + y2 ) 2. z1 · z2 = (x1 , y1 ) · (x2 , y2 ) := (x1 x2 − y1 y2 , x1 y2 + y1 x2 ) Die Menge C := R × R heißt Menge der komplexen Zahlen. Es kostet einigen rechnerischen Aufwand, folgenden Satz nachzuweisen (Übung!): Satz 1 (C, +, ·) ist ein Körper. Das multiplikative neutraleElement ist e := (1, 0), das inverse zu z = (x, y) 6= (0, 0) ist gegeben x −1 . durch z := x2 +y2 , x2−y +y 2 Satz 2 Die Abbildung i : R → C mit x 7→ (x, 0) ist injektiv. Durch sie wird R isomorph auf den Unterkörper i(R) ⊆ C abgebildet. R ist kanonisch isomorph“ zu i(R) bzw. kanonisch eingebettet“ in C. Daher identifiziert man ” ” üblicherweise diese beiden isomorphen Mengen. Damit ist also (x, 0) = x. Mit der traditionellen (auf Euler zurückgehenden) Festlegung i := (0, 1) wird diese Einbettung durch die Schreibweise z = (a, b) = a+ib mit a, b ∈ R verdeutlicht. Hierbei bezeichnet a = <(z) (oder Re z) den Realteil und b = =(z) (oder Im z) den Imaginärteil der komplexen Zahl z. Beispiele: 1. (−i)1 = −i,(−i)2 = −1,(−i)3 = i,(−i)4 = 1 usw. √ √ 2. −1 · −4 = i · 2i = 2i2 = −2 3. Zur Vereinfachung des folgenden Bruchs erweitert man mit der konjugiert komplexen Zahl: (5+5i)(3+4i) 15−20+35i 5+5i = −5+35i = − 15 + 75 i 3−4i = (3−4i)(3+4i) = 9+16 25 p p √ √ 4. ( 1 + −3 + 1 − −3)2 = 6 6.3 Lassen sich die komplexen Zahlen anordnen? Satz 3 Es gibt keine Relation z1 < z2 für z1 , z2 ∈ C, so dass die in R gültigen Sätze (Trichotomie, Transitivität und Monotonie) in C ebenfalls gelten. Beweis: Für reelle Zahlen a folgt aus der Monotonie: a 6= 0 ⇒ a2 > 0. Gäbe es eine <-Relation in C, so würde also gelten: i2 = −1 > 0. Außerdem wäre 12 > 0. Die Monotonie erlaubt die Addition dieser beiden Ungleichungen, was i2 + 1 > 0, also 0 > 0 ergibt, was absurd ist. Wir haben hier also den Fall, dass das Permanenzprinzip, also die Forderung nach möglichst weit gehender Erhaltung aller bisherigen Regeln bei einer Zahlbereichserweiterung, an ihre Grenzen stößt. Man muss also in den sauren Apfel beißen und die Möglichkeit des Anordnens aller Zahlen aufgeben.1 Besonders klar wird dies bei der geometrischen Deutung der komplexen Zahlen mit Hilfe der Gaußschen Zahlenebene. Diese wird durch die waagerechte reelle Achse und die senkrechte imaginäre Achse aufgespannt. In ihr ist jede komplexe Zahl durch einen Punkt repräsentiert; der Zahl 0 entspricht der Achsenschnittpunkt. Die Addition lässt sich darstellen als Addition der entsprechenden Ortsvektoren.2 1 Verzichtet man auf die Forderung der Monotonie, gibt es sehr wohl mögliche Anordnungen, etwa die durch folgende Festlegung gegebene lexikographische Anordnung: Für z1 = a1 + ib1 und z2 = a2 + ib2 ist z1 < z2 genau dann, wenn a1 < a2 oder wenn a1 = a2 und b1 < b2 . 2 Die anschauliche Darstellung der Multiplikation erfordert einen größeren Aufwand, nämlich den Übergang zu sogenannten Polarkoordinaten. Hierbei wird jede komplexe Zahl durch die Länge ihres Ortsvektors (bzw. den Betrag der Zahl) und den Winkel des Ortsvektors zur positiven reellen Achse dargestellt. Bei der Multiplikation zweier komplexer Zahlen ergeben sich Länge und Winkel des Produktvektors als Produkt bzw. Summe der entsprechenden Größen der Ausgangsvektoren. Man betrachte etwa so einfache Produkte wie 2i · i = −2 etc. 6= 5 z1 + z2 = −1 + 3i rX y X BMB XXXXr z = 3 + 2i 1 3 B z2 = −4 + i r r i y X −5 XXXX B 6 5 XB Q Q < Q Q sr z1 = 3 − 2i Q / r −4 z3 = −3 − 4i p |z3 | = (−3)2 + (−4)2 = 5 Gaußsche Zahlenebene Wie in R lässt sich jedoch der Betrag einer komplexen Zahl definieren: Definition 2 Sei z ∈ C mit z = a + ib (a, b ∈ R). Die nichtnegative Zahl |z| := absoluter Betrag von z. √ a2 + b2 heißt Definition 3 Wenn z = a + ib (a, b ∈ R), dann heißt z = a − ib die zu z konjugiert komplexe Zahl. Es gilt der Satz 4 Es gilt für alle z, w ∈ C: 1. |z| = 0 ⇔ z = 0. √ 2. |z| = z · z. 3. |zw| = |z| · |w|. 4. |z + w| ≤ |z| + |w|. Veranschaulichung: In der Gaußschen Zahlenebene ist der Betrag einer komplexen Zahl durch den Abstand des entsprechenden Punktes vom Nullpunkt bzw. durch die Länge des entsprechenden Ortsvektors gegeben. Die letzte Aussage des Satzes entspricht dann der Dreiecksungleichung der Elementargeometrie. 6.4 Weitere Eigenschaften von C Satz 5 (Vollständigkeit von C) C ist vollständig. D. h. jede komplexe Fundamentalfolge hat einen komplexen Grenzwert. Beweisidee: Für jede Folge (zn ) in C betrachte man wegen zn = xn + iyn mit xn , yn ∈ R die reellen Folgen (xn ) und (yn ). Wegen der Vollständigkeit von R konvergieren diese, so dass etwa limn→∞ xn = x und limn→∞ yn = y. (zn ) konvergiert dann auch, und es gilt: limn→∞ zn = x+iy. Satz 6 (Fundamentalsatz der Algebra) C ist algebraisch abgeschlossen. D. h. jedes nicht konstante Polynom mit Koeffizienten aus C hat in C mindestens eine Nullstelle. Beispiel: Das Polynom x2 + x + 1 hat die komplexen Nullstellen x1 = − 21 + √ − 21 − 12 3 i. 1 2 √ 3 i und x2 = 6.5 Zusammenfassung Der gerade konstruierte Zahlbereich C ist also ein vollständiger, algebraisch abgeschlossener Körper, der R als Unterkörper enthält. Für diese Zahlbereichserweiterung musste die Möglichkeit der Anordnung aufgegeben werden. Im Gegenzug erhält man jedoch einen Zahlbereich, in dem alle Polynome Nullstellen haben. Das Rechnen in C statt in R macht viele Zusammenhänge einfacher und übersichtlicher und ist heute aus der Physik und den Ingenieurswissenschaften nicht mehr wegzudenken. Die Beschäftigung mit der komplexen Analysis (oder Funktionentheorie) führt auch zu einem der schönsten und erstaunlichsten Zusammenhänge der Mathematik, nämlich der Gleichung eiπ + 1 = 0, die die fünf vielleicht wichtigsten Zahlen der Analysis miteinander verknüpft. 6.6 Übungen 1. Zeigen Sie, indem Sie die nötigen Voraussetzungen überprüfen: (C, +, ·) ist ein Körper. √ 2. Zeigen Sie: Für z, w ∈ C gilt: |z| = z · z und |zw| = |z| · |w|. 3. Stellen Sie folgenden komplexen Zahlen in der Normalform a + ib dar: 2 √ 3 3 1 1+i 1 n n , , − + 3+7i 1−i 2 2 i , (1 + i) + (1 − i) . 4. Bestimmen Sie alle komplexen Nullstellen von x3 − x2 + x − 1 = 0.