Ratgeber zur Antibiotikatherapie Teil 2

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Ratgeber zur Antibiotikatherapie Teil 2: Antibiotikagabe bei Harnwegsinfektionen
(Dr. med. Jutta Esser, Dr. phil. Martina Scharlach)
Harnwegsinfektionen gehören zu den häufigsten Infektionen des Menschen. Frauen im
jungen und mittleren Lebensalter erkranken um ein vielfaches häufiger als Männer. Mit
zunehmendem Lebensalter sind Männer und Frauen allerdings gleich häufig betroffen. Der
häufigste Infektionserreger von Harnwegsinfektionen ist Escherichia (E.) coli (rund
60 Prozent aller an ARMIN übermittelten Erreger aus Harnwegsmaterialien).
Mikrobiologische Diagnostik
Am häufigsten wird ein semiquantitativer Bakteriennachweis aus Mittelstrahlurin (am
besten Morgenurin) genutzt. Dafür sollte die Patientenvorbereitung beachtet werden (siehe
Leistungsverzeichnis des mikrobiologischen Labors). Eine Erregerzahl ? 105 KBE/ml gilt
bei negativem Hemmstofftest als pathologisch – bei deutlichen klinischen Symptomen gilt
das bereits bei Erregerzahlen von 103 bis 104 KBE/ml. Der Einsatz von Teststreifen (Nitrit,
Leukozyten) ist bei eindeutiger Symptomatik unnötig, kann jedoch bei unklarer
Symptomatik ergänzende Hinweise liefern. Hier sind die Bedingungen für falsch negative
und falsch positive Testergebnisse zu beachten. Abnahmefehler (zum Beispiel
Kontamination bei Uringewinnung) oder falsche Lagerung (zu lange, zu warm) können
falsch erhöhte Erregerzahlen bewirken. Mehr als zwei Erregerarten in signifikanter
Erregerzahl sind Hinweis auf Abnahme- beziehungsweise Lagerungsfehler.
Indikationen für mikrobiologische Untersuchungen
Komplizierte Harnwegsinfektionen
Generell bei Männern und bei Kindern unter 12 Jahren
Bei funktionellen oder anatomischen Anomalien
Bei relevanten Nierenfunktionsstörungen und/oder Begleiterkrankungen, die eine
Harnwegsinfektion begünstigen
Rezidivierende Harnwegsinfektionen (das heißt ? zwei Rezidive/Halbjahr
beziehungsweise ? drei Rezidive/Jahr)
Pyelonephritis
Nichtansprechen auf Therapie
Schwangerschaft
Z. n. urologischen Eingriffen (zum Beispiel Zystoskopie)
Harnwegsinfektionen im höheren Lebensalter
Kontrolle des Therapieerfolgs (außer bei unkomplizierter Zystitis)
Hinweise zur Antibiotikatherapie
Bei der Auswahl des Antibiotikums ist auch das Alter zu berücksichtigen – der Anteil
resistenter E. coli-Isolate steigt mit zunehmendem Lebensalter kontinuierlich an.
Fluorchinolone und Cephalosporine müssen Reserveantibiotika bleiben: Sie sind kein
Mittel der ersten Wahl bei einer unkomplizierten Zystitis. Beide Substanzen erhöhen das
Risiko für Clostridium difficile-Infektionen und die Selektion multiresistenter Erreger.
Harnwegsinfektionen bei sonst gesunden Frauen
Unkomplizierte Zystitis bei sonst gesunden Frauen
Klinik: Dysurie, Pollakisurie, suprapubischer Schmerz, eventuell Hämaturie, sichtbare
Trübung des Urins, kein Fieber
Resistenzsituation von E. coli (ARMIN 2014: niedergelassener Bereich,
Harnwegsmaterialien, Frauen < 50 Jahre; intermediärer und resistenter Anteil
zusammengefasst):
44 Prozent gegen Ampicillin und Amoxicillin
31 Prozent gegen Aminopenicillin/Betalaktamaseinhibitor (zum Beispiel
Sultamicillin)
21 Prozent gegen Cotrimoxazol und Trimethoprim
"Für die unkomplizierte Zystitis liegen wenige valide Resistenzdaten vor, da in der Regel
keine mikrobiologische Diagnostik durchgeführt wird. Eine Studie der Medizinischen
Hochschule Hannover ermittelte für Trimethoprim geringere Resistenzraten (17,5 Prozent)
bei Frauen mit der Diagnose 'unkomplizierte Harnwegsinfektion'." (Schmiemann et al.
2012)
7 Prozent gegen Fluorchinolone
4 Prozent gegen Cefpodoximproxetil
3 Prozent gegen Nitrofurantoin
2 Prozent gegen Fosfomycin
Laut DEGAM (Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin) stellt auch
die symptomatische und vor allem schmerzlindernde Therapie eine vertretbare
Alternative zur sofortigen antibiotischen Behandlung dar.
Unkomplizierte akute Pyelonephritis bei sonst gesunden Frauen
Klinik: Flankenschmerz, Fieber
Bei schweren Infektionen (das heißt mit systemischen Begleiterscheinungen wie
Fieber, Übelkeit, Erbrechen und/oder Kreislaufinstabilität) sollte eine stationäre
Einweisung erfolgen (Gefahr der Urosepsis), bei mildem bis moderatem Verlauf ist eine
orale Antibiotikatherapie möglich.
Es sollte immer eine Ursachenforschung erfolgen.
Resistenzsituation von E. coli siehe "Unkomplizierte Zystitis bei sonst gesunden
Frauen"
Immer Erregernachweis einschließlich Antibiogramm führen, Therapie gegebenenfalls
nach Antibiogramm umstellen
Für die kalkulierte Antibiotikatherapie sollten nur Substanzen gewählt werden, die noch
zu 90 Prozent wirken.
Rezidivierende Harnwegsinfektionen
Definition und Klinik: "Zweitinfektion" bei Infektion innerhalb von 14 Tagen,
"Neuinfektion" bei Infektion nach mehr als 14 Tagen; "Honeymoon-Zystitis" bei
Infektionen in zeitlichem Zusammenhang zum Geschlechtsverkehr; ? zwei
Rezidive/Halbjahr beziehungsweise ? drei Rezidive/Jahr
Gegebenenfalls gynäkologische Konsultation veranlassen (Descensus uteri mit
Restharnbildung begünstigt Infektionen)
Resistenzsituation von E. coli siehe "Unkomplizierte Zystitis bei sonst gesunden
Frauen"
Immer Erregernachweis einschließlich Antibiogramm führen, Therapie gegebenenfalls
nach Antibiogramm umstellen.
Harnwegsinfektionen bei sonst gesunden Schwangeren
Bei symptomatischem Harnwegsinfekt immer Erregernachweis einschließlich
Antibiogramm durchführen.
Gegebenenfalls Screening auf Bakteriurie mittels Urinkultur vorzugsweise im ersten
Trimenon: Bei zweimaligem Nachweis von ? 105 KBE/ml derselben Spezies im korrekt
entnommenen Mittelstrahlurin ohne klinische Zeichen einer Harnwegsinfektion liegt
eine in dieser Situation therapiebedürftige asymptomatische Bakteriurie vor.
Eine asymptomatische Bakteriurie in der Schwangerschaft ist eine Indikation für eine
Antibiotikatherapie; die Therapie sollte erst nach Vorliegen des Antibiogramms
resistenzgerecht eingeleitet werden.
Pyelonephritis einhergehend mit Flankenschmerz und Fieber tritt meist im letzten
Trimenon auf; Antibiotikatherapie sollte i. v. begonnen (Cefuroxim beziehungsweise
Cefotaxim) und Krankenhauseinweisung erwogen werden.
Nach Therapieende Erregereradikation mittels Kultur überprüfen.
Resistenzsituation von E. coli siehe "Unkomplizierte Zystitis bei sonst gesunden
Frauen"
Harnwegsinfektionen bei Männern
Akute Zystitis bei Männern
Klinik: Dysurie, Pollakisurie
Bei Männern handelt es sich oft um eine komplizierte Harnwegsinfektion (DD
Prostatitis, Geschlechtskrankheit)
Gegebenenfalls entsprechenden Facharzt hinzuziehen
Immer Erregernachweis einschließlich Antibiogramm führen, Therapie gegebenenfalls
nach Antibiogramm umstellen
Resistenzsituation von E. coli (ARMIN 2014: niedergelassener Bereich,
Harnwegsmaterialien, Männer; intermediärer und resistenter Anteil zusammengefasst):
58 Prozent gegen Ampicillin und Amoxicillin
43 Prozent gegen Aminopenicillin/Betalaktamaseinhibitor (zum Beispiel
Sultamicillin)
29 Prozent gegen Cotrimoxazol und Trimethoprim
25 Prozent gegen Fluorchinolone
9 Prozent gegen Cefpodoximproxetil
Akute Pyelonephritis bei Männern
Bei schweren Infektionen (das heißt mit systemischen Begleiterscheinungen wie
Fieber, Übelkeit, Erbrechen und/oder Kreislaufinstabilität) sollte eine stationäre
Einweisung erfolgen (Gefahr der Urosepsis)
Bei mildem bis moderatem Verlauf orale Antibiotikatherapie möglich
Es sollte immer eine Ursachenforschung erfolgen.
Immer Erregernachweis einschließlich Antibiogramm führen, Therapie gegebenenfalls
nach Antibiogramm umstellen.
Resistenzsituation von E. coli siehe "Akute Zystitis bei Männern"
Asymptomatische Bakteriurie
Definition: Nachweis von ? 105 KBE/ml im korrekt entnommenen Mittelstrahlurin
einmalig (Männer) beziehungsweise wiederholt (Frauen) ohne klinische Zeichen einer
Harnwegsinfektion
Eine asymptomatische Bakteriurie ist keine Indikation für eine Antibiotikatherapie.
Ausnahmen:
Schwangere (siehe oben)
Patienten in besonderen Situationen (zum Beispiel Nierentransplantation,
Chemotherapie et cetera)
Patienten vor Schleimhaut verletzenden Eingriffen (zum Beispiel Zystoskopie)
Harnwegsinfektionen bei Trägern von Urinkathetern
Klinik: Nach CDC-Richtlinien müssen folgende Kriterien für HW-Infektion bei Trägern von
Urinkathetern (ohne andere erkennbare Ursache) vorliegen:
1. Mindestens eines der folgenden Anzeichen ohne andere erkennbare Ursache: Fieber (>
38 °C), suprapubisches Spannungsgefühl, Schmerzen oder Spannungsgefühl im
costovertebralen Winkel und eine Urinkultur ? 105 Kolonien/ml Urin mit nicht mehr als zwei
Spezies von Mikroorganismen.
2. Mindestens eines der folgenden Anzeichen ohne andere erkennbare Ursache: Fieber (>
38 °C), suprapubisches Spannungsgefühl, Schmerzen oder Spannungsgefühl im
costovertebralen Winkel und Urinkultur mit ? 103 und < 105 Kolonien/ml Urin mit nicht mehr
als zwei Spezies von Mikroorganismen und Urinuntersuchung zeigt mindestens einen der
folgenden Befunde:
Harnteststreifen für Leukozytenesterase und/oder Nitrit positiv
Pyurie (? zehn Leukozyten/ml)
Keine Probenahme aus Urinbeutel
Möglichst Probenahme aus neu gelegtem Urinkatheter
Screening auf Bakteriurie ist bei Trägern von Harnwegskathetern nicht indiziert
Eine asymptomatische Bakteriurie erfordert keine antibiotische Therapie
Nachweis von Bakterien und Leukozyten im Urin ohne klinische Symptomatik ist nicht
ausreichend für die Diagnose Harnwegsinfekt bei Trägern von Harnwegskathetern
Immer Erregernachweis einschließlich Antibiogramm führen, Therapie gegebenenfalls
nach Antibiogramm umstellen
Harnwegsinfektionen mit MRGN oder ESBL-bildenden Bakterien
(MRGN = Multiresistente gramnegative Stäbchen, ESBL = Extended-Spectrum BetaLactamase)
Klinische Symptome einer typischen Harnwegsinfektion
ESBL-Bildung betrifft ausschließlich gramnegative Bakterien, meist E. coli und
K. pneumoniae
Erstnachweis von MRGN beziehungsweise ESBL-Bildnern am häufigsten bei
Harnwegsinfekten
Patienten in der Regel auch enteral besiedelt
Resistenzsituation E. coli-3MRGN (ARMIN 2014: niedergelassener Bereich,
Harnwegsmaterialien; intermediärer und resistenter Anteil zusammengefasst):
Nachweise von E. coli-3MRGN-Stämmen aus Harnwegen in den letzten Jahren
ansteigend
2 Prozent aller E. coli-Isolate bei Frauen < 50 Jahre
5 Prozent aller E. coli-Isolate bei Frauen ? 50 Jahre
8 Prozent aller E. coli-Isolate bei Männern
Hygienemanagement:
Information und Schulung des Personals
Aufklärung des Patienten (vor allem hygienische Händedesinfektion nach
Toilettengang)
Dokumentation und Information (auch an weiterbehandelnde Ärzte oder bei
Krankenhauseinweisung)
Sanierung von Trägern multiresistenter gramnegativer Erreger derzeit nicht
möglich
Kontrollabstriche für Patienten in häuslicher Umgebung nicht notwendig
Im Pflegeheim keine Isolierung, gute Basishygiene ausreichend
Informationsschriften zur Hygiene in der stationären und ambulanten Pflege hält das NLGA
bereit unter www.pflegehygiene.nlga.niedersachsen.de
Bei Nachweis von MRGN beziehungsweise ESBL-bildenden Erregern sind
Betalaktamantibiotika wie Penicilline und Cephalosporine unwirksam (Ausnahme:
Carbapeneme, die nur zur parenteralen Therapie zur Verfügung stehen – empfohlene
Antibiotika siehe Tabelle 8). Da unter den gramnegativen Infektionserregern neben der
Bildung von ESBL ein zunehmendes Auftreten von klinisch und epidemiologisch
bedeutsamen Mehrfachresistenzen zu beobachten ist, hat sich die KRINKO entschlossen,
für die Erarbeitung von Empfehlungen von Maßnahmen zur Prävention eine eigene
Definition der Multiresistenz bei gramnegativen Stäbchen zu verwenden. Die
Klassifizierung der KRINKO orientiert sich nicht an genetischen sondern an rein
phänotypischen Aspekten und legt die klinische Relevanz der Resistenz zu Grunde.
Dementsprechend werden die Bezeichnungen 3MRGN und 4MRGN (MRGN =
Multiresistente gramnegative Stäbchen) verwendet. Weitere Informationen: www.rki.de >
Infektionsschutz > Infektions- und Krankenhaushygiene.
Autorinnen:
Dr. med. Jutta Esser, Laborarztpraxis Osnabrück Dr. med. J. Enzenauer und
Kollegen
Dr. phil. Martina Scharlach (ARMIN-Daten und Redaktion), Niedersächsisches
Landesgesundheitsamt
Literatur:
Hooton TM et al.: Diagnosis, prevention, and treatment of catheter-associated urinary
tract infection in adults: 2009 International Clinical Practice Guidelines from the
Infectious Diseases Society of America. Clin Infect Dis 2010;50(5):625-63
Kassenärztliche Bundesvereinigung: Wirkstoff Aktuell. Rationale Antibiotikatherapie
bei Harnwegsinfektionen. Ausgabe 2/2012, Stand 14.03.2012 (Ergänzung vom
13.08.2014 zu Nitrofurantoin)
Nicolle LE et al.: Infectious Diseases Society of America Guidelines for the Diagnosis
and Treatment of Asymptomatic Bacteriuria in Adults. Clin Infect Dis 2005;40(5):643654
Robert Koch-Institut: Definition nosokomialer Infektionen (CDC-Definitionen). 7.
Auflage, Berlin 2011
S-3 Leitlinie AWMF-Register-Nr. 043/044: Harnwegsinfektionen. Epidemiologie,
Diagnostik, Therapie und Management unkomplizierter bakterieller ambulant
erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Deutsche Gesellschaft
für Urologie (federführend). 06/2010
S-3 Leitlinie AWMF-Register-Nr. 053/001: Brennen beim Wasserlassen. Deutsche
Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. 05/2009
Schmiemann G et al.: Resistance profiles of urinary tract infections in general practice
– an observational study. BMC Urol 2012;12:33
Weitere Teile der Reihe "Ratgeber zur Antibiotikatherapie"
Teil 1: Borreliose
(Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Wilfried Bautsch, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Helmut Eiffert)
Teil 3: MRSA - Infektion, Hygiene, Sanierung
(Dr. med. Katja Claußen, Dr. phil. Martina Scharlach, Dr. med. Matthias Pulz)
Teil 4: Infektionen der unteren Atemwege
(Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Wilfried Bautsch, Dr. phil. Martina Scharlach)
Teil 5: Infektionen der oberen Atemwege
(Dr. med. Thomas Lehners, Dr. phil. Martina Scharlach)
Teil 6: Bakterielle Durchfallerkrankungen
(Dr. med. Katja Clausen, Dr. phil. Martina Scharlach, Dr. med. Matthias Pulz)
Die Veröffentlichung ist Teil einer Ratgeber-Reihe zur oralen Antibiotikatherapie der
Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN) und des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes
(NLGA).
Der vollständige Ratgeber kann gegen eine Schutzgebühr von 10 Euro über die
Internetseite des NLGA (www.nlga.niedersachsen.de) bestellt werden.
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