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Zwischen Realismus der Barmherzigkeit und -gesellschaftlicher
Entsolidarisierun
Präimplantationsdiagnostik im Dilemma
Von: Reiner Marquard, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 12 / 2010
Im Juli 2010 bestätigte der BGH den Freispruch für einen Berliner Arzt, der befruchtete Eizellen vor der Einpflanzung auf
genetische Auffälligkeiten untersuchte. Die Embryonen wurden daraufhin nicht übertragen. Der Vorgang hat zu kontroversen
Diskussionen geführt und zwingt zu einer ethischen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik. Reiner Marquard plädiert für
eine differenzierte Einschätzung, die zwischen generalisierenden Urteilen und Einzelfallentscheidungen unterscheidet.
Einer breiteren deutschen Öffentlichkeit wurde die Thematik der Präimplantationsdiagnostik (PID) im Jahr 1995 vor Augen
geführt. Die Ethikkommission der Lübecker Medizinischen Hochschule hatten über folgenden Antrag zu entscheiden: Die
Direktoren der dortigen Frauenklinik wandten sich an die Kommission mit dem Antrag, eine PID durchführen zu dürfen. Das
die PID (an pluripotenten Zellen) beantragende Ehepaar hatte nach der Geburt eines an Zystische Fibrose (CF) erkrankten
Kindes (delta F 508-Mutation) den eigenen jeweils heterozygoten Genstatus für die Krankheit CF eröffnet bekommen. In den
folgenden Jahren waren zwei Schwangerschaften nach positiv erfolgter Testung auf CF abgebrochen worden. Zum Zeitpunkt
des Antrags gab es bereits weltweit 14 Zentren in denen PID durchgeführt wurde, u.a. in Belgien, den Niederlanden, England
und den USA. Bis dato waren nach einer Präimplantationsdiagnostik 83 Schwangerschaften entstanden und 32 Kinder
geboren worden. Die Lübecker Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die PID ethisch durchaus zulässig sein könnte.
Insbesondere folgte sie der Meinung, dass für die damals 27jährige Frau eine PID als weniger belastend einzustufen sei als
wiederholte "Schwangerschaften auf Probe" mit eventuellen Abbrüchen. Rechtlich sah sie jedoch einen Widerspruch zum
gültigen Embryonenschutzgesetz (EschG), das der Gesetzgeber 1990 verabschiedet hatte. Die Durchführung einer PID wurde
deshalb in diesem konkreten Fall abgelehnt(1).
Was ist PID?
PID(2) ist ein Verfahren innerhalb der (nicht-invasiven und invasiven) Pränataldiagnostik (PND). Sie ist insofern kein
"Dammbruch", als ihre Möglichkeiten auf dem längst vollzogenen Quantensprung basieren, eine Befruchtung ex vivo künstlich
in vitro (IVF) verlagern zu können. PID dient der genetischen Untersuchung von Embryonen, die durch künstliche Befruchtung
erzeugt wurden. Bei einer künstlichen Befruchtung entnimmt man der Frau nach hormoneller Stimulation mehrere Eizellen und
befruchtet diese außerhalb des Körpers mit männlichen Spermien. Innerhalb von drei Tagen wächst der Embryo soweit, dass
er dann aus 6-8 Zellen besteht. Mindestens eine dieser Zellen wird für die PID benötigt. Nach einer Embryobiopsie (Entnahme
einer embryonalen Zelle) wird die so gewonnene Zelle mithilfe spezieller molekularbiologischer Methoden (PCR, FISH =
Polymerase Chain Reaction, Fluorescence-In-Situ-Hybridisierung) untersucht. Da jede der embryonalen Zellen im Prinzip die
Erbinformation des sich entwickelnden Lebewesens enthält, lässt die Untersuchung erkennen, ob genetische Defekte zu
erwarten sind. Dabei kann das Verfahren sowohl Anomalien auf Chromosomenebene, wie beispielsweise das Down-Syndrom
(Trisomie 21), als auch einen Defekt auf der "Gen-Ebene" detektieren. Ein Beispiel für einen Gendefekt ist die Mucoviszidose
(Zystische Fibrose), einem Krankheitsbild bei dem es zu Verschleimung von Lunge und Verdauungstrakt kommt.
Mukoviszidose ist die häufigste autosomal rezessive Erbkrankheit unter der weißen Bevölkerung mit einer Inzidenz von
1:2500. Diese äußert schwerwiegende Erkrankung bedarf lebenslanger Therapie, wobei die rezidivierenden
Lungeninfektionen einen lebenslimitierenden Faktor darstellen. Zunehmend findet die PID auch in der sog.
"Aneuploidie-Diagnostik" Anwendung: Mithilfe der PID können Embryonen detektiert werden, die einen abweichenden
Chromosomensatz aufweisen und in der natürlichen Reproduktionssituation zu einem Spontanabort führen würden. Dies ist
insbesondere bei Eizellen von älteren Frauen der Fall. PID wird damit zu einer Rückversicherung angesichts der sinkenden
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Schwangerschaftsraten mit fortschreitendem Lebensalter.
Das Spektrum der Befunde, die mithilfe der PID erhoben werden können, reicht von der Bluterkrankheit (Hämophilie A) mit
eher geringeren körperlichen Einschränkungen bis zu schwersten geistigen und körperlichen Fehlbildungen. Auch eine
Geschlechtsbestimmung ("sex selection") ist möglich, was aus medizinischer Sicht (einige Erbkrankheiten betreffen häufig nur
Jungen) bedeutsam und aus familien-planerischern Gründen (family-balancing) in anderen Kulturen erheblich sein kann. So
gibt es inzwischen einige berichtete Fälle von sex selection, etwa aus amerikanischen Reproduktionszentren oder aus Indien.
Mit der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) kann man auch bei der künstlichen Befruchtung an sich schon durch
die Wahl eines X- oder Y-Spermiums beeinflussen, ob ein männliches oder weibliches Lebewesen entstehen soll. PID ist auch das muss gesagt werden - ein die betreffende Frau belastendes, medizinisch aufwändiges und kostenintensives (ca.
6.000 €) Verfahren.
Wurde eine PID durchgeführt, liegt der Befund in der Regel nach einem halben Tag vor. Da der Frau mehrere Eizellen
entnommen worden sind und diese befruchtet und untersucht wurden, steht die Medizin nun vor der Entscheidung, welcher
Embryo sich am besten für die Übertragung eignet. Dabei liegt es im Sinn des Verfahrens, sich für die Embryonen mit den
besten Chancen zu entscheiden. Wegen der im Vergleich zur natürlichen Reproduktion geringen Schwangerschaftsrate
generell nach künstlicher Befruchtung, implantiert man häufig mehr als einen Embryo (in Deutschland nicht mehr als zwei
höchstens drei), wobei dies natürlich die Gefahr einer Mehrlingsschwangerschaft in sich birgt (in Amerika wurde von
Übertragungen von mehr als zehn Embryonen berichtet). Damit nimmt man Mehrlingsschwangerschaften billigend und oft
bewusst in Kauf. Nach internationalen Zahlen sind etwa 30-40% aller Kinder die durch assistierte Reproduktion zur Welt
kommen Mehrlinge. Mehrlingsschwangerschaften gehen u.a. einher mit einer erhöhten Frühgeburtlichkeit, Frühgeburten
haben ein höheres Risiko von Behinderungen und einer höheren Säuglingssterblichkeit.
Der Embryo/die Embryonen werden in die Gebärmutter der Frau transferiert; später wird mittels Ultraschall das Vorliegen
einer Schwangerschaft überprüft. Häufig dient eine konventionelle pränatale Diagnostik in Form einer Amniocentese
(Fruchtwasseruntersuchung) der Erhärtung des PID-Befundes. Damit ersetzt die PID also keine Pränataldiagnostik (PND). Für
wen ist PID gedacht? Ursprünglich war das Verfahren ein Produkt der Weiterentwicklung der künstlichen Befruchtung. Es
wurde in denselben wissenschaftlichen Zentren (Hammersmith Hospital, London) eingeführt wie in den 70er Jahren die IVF.
Man kann die PID also durchaus in ihrer Entstehungsgeschichte als Qualitätssicherung der künstlichen Befruchtung sehen.
Mittlerweile ist das Verfahren der IVF damit also nicht nur für unfruchtbare Paare gedacht, sondern in Kombination mit der PID
auch für Paare mit hohem genetischem Risiko für ein "krankes" Kind. Das Risiko kann entweder durch eine bereits manifeste
Erkrankung eines der beiden Partner bekannt sein oder durch eine humangenetische Beratung hervortreten. Auch ein erstes
erblich behindertes Kind ist ein Indiz für eine erhöhte Gefährdung. Mit einer künstlichen Befruchtung und PID können solche
Paare also unter Umständen zu einem erblich nicht belasteten Kind kommen. Wobei gesagt sein muss, dass für ansonsten
fruchtbare Paare die künstliche Befruchtung zu niedrigeren Schwangerschaftsaussichten führt, als es natürlicherweise bei
ihnen der Fall wäre. Oft müssen mehrere langwierige Befruchtungszyklen durchlaufen werden. Auch ist die PID wie jedes
diagnostische Verfahren nicht frei von Irrtümern.
Die Folgen des BGH-Urteils vom 6. Juli 2010
In Deutschland ist PID nicht ausdrücklich verboten, erschien jedoch dadurch nicht möglich, da das Embryonenschutzgesetz
(EschG) von 1990 den Verbrauch von totipotenten(3) Zellen (allerdings ohne im Gesetzestext den Begriff der Totipotenz zu
spezifizieren) untersagt (im Moment gilt ein Embryo bis zu seinem Acht-Zell-Stadium als totipotent); außerdem verbietet das
EschG einen Embryo zu einem anderen Zweck, als zu seiner Erhaltung zu verwenden (§2), die PID würde aber eventuell
darauf hinauslaufen, einen Embryo zu verwerfen. Deshalb wurde § 2.1 ESchG als generelles Verbot auch auf die
Problemstände der PID angewandt: "Wer einen extrakorporal erzeugten menschlichen Embryo zu einem nicht seiner
Erhaltung dienenden Zweck verwendet, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft."
Nun hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 6. Juli 2010 den Freispruch eines Berliner Frauenarztes bestätigt, der
2005 und 2006 bei drei Paaren im Reagenzglas befruchtete pluripotente (!) Zellen(4) auf genetische Auffälligkeiten detektiert
hatte. Jeweils einer der PartnerInnen stand unter einer genetischen Belastung. Im ersten Fall hatte der Mann einen
Gendefekt, der zur Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom hätte führen können. In einem zweiten Fall wies die Frau eine
partielle Trisomie 22(5) auf. Das dritte Paar hatte bereits eine schwer behinderte Tochter. Von insgesamt acht Zellen wiesen
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vier Zellen einen entsprechenden Defekt auf. Der Arzt informierte die Frauen, die es aber ablehnten, sich die defekten Eizellen
übertragen zu lassen. Der Arzt legte die Eizellen ab, d.h. sie starben ab. Der Arzt zeigte sich selbst an, weil nicht einzusehen
vermochte, dass die Verhinderung einer womöglich traumatischen Schwangerschaft strafbar sein soll. Das Landgericht Berlin
sprach ihn frei, weil PID nicht gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verstoße. Der Arzt habe ja mit der Absicht
gehandelt, Schwangerschaften zu ermöglichen, und er habe nicht im Sinne des ESchG Embryonen "verwendet" (das ESchG
von 1990 hob ja auf die aus dem Ausland für Forschungszwecke importierten Stammzelllinien ab und wollte die Herstellung
von Embryonen zu Forschungszwecken unterbinden und betraf nicht Problemstände der Fortpflanzungsmedizin, speziell die
Aussonderung von Embryonen wegen schwerster Beschädigungen). Die Staatsanwaltschaft strengte eine Revision an. Das
Urteil wurde im Juli 2010 durch den BGH bestätigt. Nach dem BGH-Urteil ist das ESchG im Hinblick auf die PID nicht
aussagekräftig, weil das Anliegen der PID ("Entdeckung schwerer genetischer Schäden des extrakorporal erzeugten
Embryos"(6)) nach dem Wortlaut der Historie des EschG nicht strafbar ist.
Die Reaktionen auf das Urteil waren wie erwartet konträr. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe,
begrüßte das Urteil, weil nun "endlich" die "unlogische Diskrepanz" zwischen der erlaubten vorgeburtlichen Diagnostik
(Pränataldiagnostik) und PID aufgehoben worden sei(7). Die Süddeutsche Zeitung sprach gar von einem guten Urteil, "denn
es ist ein Urteil für das Leben"(8). Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, MdB Hubert Hüppe, rügte das Urteil
hingegen als einen "Dammbruch". Das Urteil bedeute, dass "Menschen mit Behinderungen schon vor ihrer Geburt aussortiert
werden"(9). In die gleiche Richtung kommentierte die FAZ: "Die Methode PID dient dazu, bestimmte Formen des Lebens gar
nicht erst entstehen zu lassen. Damit wird aber einer Abwägung von lebenswertem Leben und lebensunwertem Leben weit
jenseits der Grenze von lebensfähig und nicht lebensfähig Tor und Tür geöffnet."(10) Giovanni Maio, Medizinethiker in
Freiburg, warnt vor einem Rückschritt hin "zu einer Entsolidarisierung und Negativbewertung des nicht leistungsfähigen
Lebens". PID sei die Abkehr von "der bedingungslosen Annahme eines jeden Menschen" (erkenntnisleitendes Interesse einer
Entscheidung z.B. gegen die Schwangerschaft sind nach neuesten repräsentativen Befragungen jedoch nicht "Angst vor
Behinderung" oder "Selektionsüberlegungen", sondern die Klärung, inwieweit soziale und biografische Aspekte
Planungsnotwendigkeit erforderlich machen(11)). Maio plädiert für eine Neuformulierung des EschG, das die PID ausdrücklich
verbietet(12). Der evangelische Theologe und Medizinethiker Hartmut Kreß hält das BGH Urteil "in der Hinsicht
bahnbrechend, dass es die Legitimität der Güterabwägung im Umgang mit frühembryonalem Leben, die
Entscheidungskonflikte von Eltern und das Anliegen des Gesundheitsschutzes ernst nimmt"(13).
Wie unterschiedlich die Reaktionen auch sein mögen, die Praxis in den Reproduktionszentren wird sich nachhaltig ändern.
Genetische Analytik inklusive der Verwerfung der als fehlerhaft detektierten Embryonen scheint enttabuisiert zu sein. Die
momentane Rechtsunsicherheit, in welchen Fällen detektiert und verworfen werden darf, ist unbestimmt. Die Richter legten
zwar Wert auf die Festsstellung, dass "einer unbegrenzten Selektion von Embryonen anhand genetischer Merkmale" nicht das
Wort geredet worden wäre, doch besteht rechtlicher Handlungsbedarf. Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Edzard
Schmidt-Jortzig, mahnte eine klare gesetzliche Regelung zur PID an. Der BGH habe angedeutet, dass PID bei
schwerwiegenden genetischen Erkrankungen straffrei bleibt. Es sei jedoch völlig offen, ob dies verbindlich und was genau
eine schwerwiegende Erkrankung sei(14). Der Ethikrat selbst hat eine Arbeitsgruppe gebildet, die bis zum Sommer 2011 eine
Stellungnahme abgeben soll. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph in Hamburg, deutet an, in welche Richtung
man denken muss: Es bietet sich eine Parallele zu § 218a Abs. 2 StGB an. Die Geburt eines behinderten Kindes könnte
als unzumutbare Gefahr für das seelische Wohlbefinden der Mutter eine PID angezeigt erscheinen lassen. Zum Zweck dieser
Klärung sind die etablierten Praktiken und Techniken der Pränataldiagnostik (PND) in utero zweifelsfrei erlaubt. Dann aber ist
es absurd, PID bei Strafe zu untersagen, "(d)enn sie verfolgt, auf einem weitaus weniger belastenden Weg, genau dasselbe
Ziel: die aufgeklärte, verantwortliche Entscheidung einer Frau für oder gegen das Leben mit einem behinderten Kind zu
ermöglichen."(15)
Rechtlich wie ethisch gibt es keine Gründe für ein strafbewehrtes Verbot der PID. Eine Gesellschaft, die
Schwangerschaftsabbrüche erlaubt, schließt ein Verdikt der Rechtswidrigkeit des Abbruchs aus. Er ist rechtmäßig. Dass der
Abbruch als rechtswidrig bezeichnet wird, "hat in unserer Rechtsordnung nicht den Schatten einer verbindlichen Geltung"(16).
Der Embryo ist verfassungsnormativ nicht Inhaber fundamentaler Grundrechte. Das GG erzwingt somit kein Verbot der PID.
"Niemand, der bei Trost ist, wird die Notwendigkeit eines rechtlichen Schutzes für Embryonen bestreiten. Aber niemand, der
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ehrlich ist, wird den gebotenen Schutz in Umfang und rechtlicher Form für gleichrangig mit dem für geborene Menschen
erklären"(17), da ansonsten die Strafe für Abtreibung an vorsätzlichen Totschlag oder Mord angeglichen werden müsste. Eine
Neuregelung des ESchG steht somit aus! Die Indikation für eine erlaubte PID sollte mindestens so weit reichen wie für einen
späten Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Diagnose. PND und PID haben nämlich den gleichen sachlichen Zweck:
"der potentiellen Mutter eines geschädigten Kindes zu helfen, eine unzumutbar schwere Gefahr für ihre künftige seelische
Gesundheit zu vermeiden."(18) Deshalb kann man den Erwartungen von Reinhard Merkel an den nun zu erstellenden
Gesetzesentwurf nur zustimmen: "Was er (der Gesetzgeber) unbedingt ignorieren möge, sind die offen ideologischen,
sachlich abwegigen und grob utilitaristischen Geisterbeschwörungen, mit denen jetzt ein ausdrückliches Verbot der PID zum
Schutz der Gesellschaft gefordert wird: vor "Designerkindern", vor "social engineering" oder gar vor einer "behindertenfreien
Welt" - ein Postulat, das ja nicht etwa die vollkommene Selbstverständlichkeit ausdrückt, es sei gut, dass diejenigen unter
uns, die behindert sind, leben und gleiche Rechte haben, sondern den nachgerade bizarren Zynismus, es sei gut, dass sie
behindert sind."(19)
PID und die morphologische ­Beurteilung von Embryonen mit electiv Single-Embryo-Transfer (eSET)
Der Jahresbericht des DIR (Deutsches IVF-Register) 2003 stellt lapidar fest: "Die Möglichkeit unter mehreren Embryonen
diejenigen auszuwählen, die die höchste Wahrscheinlichkeit haben, sich einzunisten, bzw. nach Möglichkeit nur einen
einzigen Embryo zurückzusetzen (sog. electiv Single Embryo Transfer) stellen Wege zur Optimierung der Behandlung dar, so
wie sie im Ausland bereits beschritten werden(20). "Dies bedeutet höhere Schwangerschaftsraten bei gleichzeitig deutlich
vermindertem Auftreten von Mehrlingsschwangerschaften. Dies wiederum bedeutet eine höhere Sicherheit für werdende
Mutter und Kind. Es bleibt zu hoffen, dass diese Wege in Zukunft auch in Deutschland möglich werden."(21) In diesem Fall
würde sich die Anzahl der kryokonservierten Embryonen allerdings erheblich erhöhen.
In der Fachzeitschrift Human Reproduction berichten finnische Mediziner, dass der Transfer von nur einem Embryo ebenso
häufig zu einer Schwangerschaft führt, "wenn man im Frühstadium unter mehreren Embryos einen in "Top-Qualität"
auswählt"(22). Das Verfahren - nach bisheriger Lesart des ESchG als verboten deklariert! - detektiert in der Kulturschale
zwei bis drei Tage alte befruchtete Eizellen. Im Lichtmikroskop wird entschieden, welche Eizelle die ersten Teilungsschritte
morphologisch optimal durchlaufen hat (Zellteilung, Entwicklungsgeschwindigkeit, Differenzierungsprozesse). Das Verfahren
orientiert sich an der Selbstselektion der Embryonen durch Beobachtung der Embryonen in der Petrischeibe. Wenn ein
Embryo als übertragungswürdig befunden wird, wird eben entgegen der bisherigen Praxi auch nur dieser eine Embryo
transferiert (eSET). Im Vergleich zur gängigen Praxis der Übertragung zweier Embryonen wurde bei einer repräsentativen
Untersuchung nachgewiesen, dass die Embryonen-Selektion die Schwangerschaftsrate erhöht. Neu ist zudem, dass sich mit
diesem Verfahren selbst bei älteren Frauen gute Ergebnisse erzielen lassen. Die Frauen in der finnischen Studie waren
zwischen 36 und 39 Jahren alt.
Das Verfahren ist in Deutschland galt wie gesagt wegen des ESchG als nicht erlaubt (nicht für geeignet befundene
Embryonen müssten kryokonserviert, bzw. abgelegt werden). Das ESchG war aber für die Möglichkeiten dieser
reproduktionsmedizinischen Technik nicht verfasst worden. Hintergrund der ethischen Bedeutsamkeit von eSET ist, dass in
Deutschland (anders als in anderen europäischen Ländern) infolge IVF Mehrlingsschwangerschaften zum gravierenden
Problem geworden sind (ca. 20 % aller unter IVF registrierten Geburten waren Mehrlingsgeburten - darunter 1% Drillinge).
"Vor allem höhergradige Mehrlingsschwangerschaften mit Drillingen sind überaus belastend."(23) Es drohen gravierende
gesundheitliche Gefährdungen: Frühgeburtlichkeit, Morbidität, Entwicklungsstörungen, Wachstumsretadierung und neuronale
Dysfunktionen. Lediglich 70% der Drillingskinder werden nach z.T. wochenlanger klinischer Intensivbetreuung den Eltern
gesund übergeben. Auch eine sog. "fetale Reduktion" kann keine ethisch vertretbare Lösung sein (hier wird nicht selektiv
vorgegangen, sondern es wird der Fetus im Mutterleib getötet, der am günstigen für den Eingriff zu erreichen ist). Der
abgetötete Fetus verbleibt im Mutterleib und wird "mazeriert mit ausgestoßen", was traumatisierende Folgen für die Beteiligten
haben kann. Mehrlingsschwangerschaften sind in Deutschland durch IVF nicht Schicksal, sondern sind ein iatrogen und
gesellschaftlich toleriertes Risiko, um eine höhere "baby-take-home"-Rate zu ermöglichen.
Als das ESchG am 01.01.1991 in Kraft trat, war der eSET noch nicht möglich. Das Gesetz hat daher die damals gängige
Praxis verrechtlicht, bei einer IVF bis zu drei Embryonen zu transferieren. Aufgrund der - wie man meinte - restriktiven
Vorgabe durch das ESchG hat Deutschland europaweit die höchste Drillingsrate. Mehrlingstransfer ist in anderen
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europäischen Ländern ausdrücklich untersagt. Mittlerweile raten deutsche ReproduktionsmedizinerInnen wie die
Bundesärztekammer von einem Drei-Embyro-Transfer dringend ab. An die Politik geht von daher die Forderung, die
morphologische Begutacht von Embryonen zuzulassen. Da der Kinderwunsch von ReproduktionsmedizinerInnen "lege artis"
behandelt werden muss, ergibt sich ohnedies ein Konflikt mit der geltenden Rechtslage, was dazu führt, dass in Einzelfällen in
Deutschland nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft bereits behandelt wird(24). Der eSET ermöglicht zugunsten der
Schwangeren wie des erhofften Kindes einen höheren Gesundheitsschutz. Durch das BGH-Urteil öffnet sich auch hier eine
Tür zu einer angemessenen Rechtssetzung.
PID im Dilemma
Die PID steckt voller nachvollziehbarer Sehnsüchte nach gesunden Kindern und wissenschaftlichem Ehrgeiz, sie ist auch
ebenso belastet durch ethische und medizinisch-wissenschaftlich ungelöste Probleme.
•
Soll im schwerwiegenden Fall eine "Schwangerschaft auf Probe" eingegangen werden, um dann eine Abtreibung
vornehmen zu lassen, wenn durch PID die psychische und physische Belastung weniger belastend ist?
•
Abtreibung wird in unserer Gesellschaft weitgehend toleriert. Vor diesem Hintergrund ist es nicht vermittelbar, dass ein
Embryo im Achtzellstadium mehr Lebensrechte haben soll, als ein bereits in morphologischer Hinsicht zur Spezies Mensch
zuordnungsfähiger Fetus.
•
Bei Gefahr der Vererbung einer schwerwiegenden genetischen Erkrankung werden schon jetzt pränatale
Untersuchungen vorgenommen. Bei entsprechender Disposition oder Erkrankung kann momentan nach der sog.
medizinischen Indikation verfahren werden.
Ethische Probleme stellen sich bei der Beurteilung einer Disposition zu Chorea Huntington; wenn behinderte Eltern mit Hilfe
der P(I)D die Geburt eines ebenfalls behinderten Kindes erreichen wollen (z.B. bei Taubheit der Eltern ein taubes Kind); bei
Lifestyle-Medizin (das behinderte Kind als "wrongful life" oder soziale oder ökonomische Beschädigung); bei medizinisch
problematischen Mehrlingsschwangerschaften; bei (erhöhtem) Alter (Schwangerschaftserkrankungen); wenn ICSI bei Sterilität
und Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes angewendet werden soll (Fehlbildungsrate bei IVF und ICSI).
Ethische Probleme stellen sich auch im Hinblick auf die Spätabtreibung. 1995 wurde eine Rechtslage geschaffen, durch die
zwar die sog. eugenische Indikation aufgehoben werden sollte zugunsten einer sog. medizinischen Indikation, faktisch jedoch
wurde die eugenische Indikation ausgeweitet. Um behindertenfeindlichen Einstellungen entgegenzuwirken, wurde in der
Neufassung des Gesetzes zur Regelung von Schwangerschaftsunterbrechungen (1995) die embryopathische Indikation
aufgegeben. Ein behindertes Kind hätte bis zur 22. SSW straffrei abgetrieben werden können. Jetzt gilt bei diagnostizierter
Fehlbildung des Fetus die medizinische Indikation auch über die 22. SSW hinaus(25). Die Praxis der Spätabtreibung ist als
aktive (nichtfreiwillige) Euthanasie zu charakterisieren!26 Durch eine Injektion von Kaliumchlorid in das Herz durch die
Bauchwand und Gebärmutterwand der Schwangeren hindurch wird der Fetus getötet. Die 1995 getroffenen Regelungen
müssen revidiert werden (Fristsetzung), "denn den weit entwickelten, extrauterin lebensfähigen und bereits
schmerzempfindlichen Feten gebührt Würde- und Lebensschutz"27. Zu bedenken ist generell, dass die meisten
Behinderungen erst mit oder nach der Geburt auftreten; die meisten Eltern, die ein behindertes Kind bekommen haben,
passen sich langfristig gut an diese Herausforderung an und empfinden das Kind als eine Bereicherung für ihr Leben.
Vorgeburtliche Diagnostik kann nur einen Bruchteil möglicher Behinderungen erfassen.
So sehr in vielen Fällen berechtigte Bedenken an einer PID bestehen, es ist nicht zu umgehen, dass im Einzelfall die Frage
nach einer PID ethisch verantwortlich gestellt und entsprechend zu beantworten ist. Schwerst erkrankten Menschen oder
Eltern gegenüber, die ein schwersterkranktes Kind erwarten sollen, muss es einen Realismus des Erbarmens in dem Sinne
geben, dass ihre Not eine medizinische Indikation nicht im Ansatz als unmoralisch disqualifiziert, wenn diese Indikation in ein
moralisches Dilemma führt. Moralisch ist nicht in jedem Fall der, der etwas unterlässt. Und unmoralisch ist nicht in jedem Fall
der, der etwas riskiert. Dilemmatische Situationen lassen sich nicht kategorisch lösen, sondern nur in einer
verantwortungsethischen Folgen- und Güterabwägung, wobei Fakten- und Sinnwissen eine Koalition eingehen müssen.
Der Zürcher Theologe Johannes Fischer schlägt deshalb vor, zwischen moralischen und sittlichen Urteilen zu unterscheiden:
"Moralische Urteile sind generalisierend bzw. generalisierbar. Sittliche Urteile sind dagegen auf Einzelfälle bezogen und
entziehen sich Generalisierungen."28 Es geht um eine Unterscheidung von generalisierenden Urteilen und Urteilen, die an der
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Einzelfallgerechtigkeit orientiert sind. Diese Unterscheidung aufnehmend könnte gelten, dass generalisierbare Urteile
substanzontologisch begründet sein müssen, sittliche Urteile hingegen relational. Dass PND oder gar PID als
Erfüllungsgehilfen der "optionalen" Geburt des "designten" oder verhinderten Menschen eine moralische Unmöglichkeit
darstellen, muss ein generalisierendes und generalisierbares Urteil unserer Zivilisation sein. Der Lebensschutz ist der
Instrumentalisierung des Lebens kategorial vorgeordnet. Eine Zivilisation, die sich von der Lebensschutzpflicht suspendieren
wollte, würde individueller (und institutioneller) Willkür Tor und Tür öffnen. Und doch gibt es sozusagen sittliche Notstände, in
denen Menschen um Entscheidungen ringen, die mit traditionellen Wertmustern nicht zu erzielen sind29.
Das würde bedeuten, dass PID in einem konkreten Fall die Lebensschutzpflicht des Staates außer Kraft setzt. Die Frage ist,
ob der Staat eine Einzelfallgerechtigkeit zulassen kann, gerade weil die Geltung genereller Regeln nicht in Zweifel steht. Albin
Eser demonstriert eine solche Option am Beispiel der aktiven Sterbehilfe: "Eine Möglichkeit wäre die, dass man zwar am
Schuldspruch festhält, aber in solchen Fällen von Strafe absieht.30 Auf diese Weise ist sicher gestellt, dass Tötung von
geborenem (oder im Fall der PID) ungeborenem Leben in jedem Fall unrechtmäßig und "daher ein Schuldspruch
unverzichtbar ist." Die subjektiven Gründe können jedoch im Einzelfall so bestimmend sein, dass "auf Strafverhängung"
verzichtet würde31.
Im Dilemma zwischen Lebensschutz und Abwehr lebensbedrohlicher Gefahr im Falle eines genetisch geschädigten Embryos
und der momentan bestehenden Option auf eine Spätabtreibung und des Wunsches nach (momentan noch gesetzlich
ungeklärter) PID fragte Eberhard Jüngel: "Sind die Absichten dieser Eltern als verwerflich oder gar kriminell zu betrachten?"32
Eine evangelische Dogmatikerin (Gunda Schneider-Flume) hat unlängst apodiktisch festgestellt: "Mit dem Vertrauen auf die
Geschichte des Erbarmens eröffnet der Glaube einen Raum, in dem es keinen Verbrauch menschlichen Lebens gibt."33
Der Realismus der Barmherzigkeit gilt nicht nur exklusiv dem werdenden Leben. Hier scheiden sich die Geister. Vor allem
Frauen sind im Konflikt auf ihre sehr besondere Weise auf den Realismus des Erbarmens angewiesen, auf einen Realismus,
der sie nicht apodiktisch vor ein Forum stellt, das den Barmherzigkeitsbegriff im vorhinein so festlegt, dass für sie selbst keine
Barmherzigkeit übrig bleibt, sondern nur die Erfüllung einer Norm, die ihnen in diesem Moment unbarmherzig erscheinen
muss. Sollte es nicht möglich sein, dass auch in der Pränatalmedizin solche rechtfertigenden Notstände durch ein Ethik-Konzil
festgestellt werden können? Die Barmherzigkeitsperspektive mutet uns zu, "zu unterscheiden zwischen zumutbarem und
unzumutbarem Leiden, zwischen abwendbarem und unabwendbarem Leiden"34. Das sind im Sinne generalisierender Urteile
dann in der Tat Mindeststandards, die nicht unterlaufen werden dürfen, aber es werden doch auch genug rechtfertigende
Notstände übrig bleiben, die sich eben nicht generalisieren lassen, sondern medizinethisch ergebnisoffen angeschaut werden
müssen.
Welche Aspekte könnten für PID sprechen?
PID darf nicht der Weg in eine sich entsolidarisierende Gesellschaft sein. In der Abwehr dieser Gefahr ist aber nicht bestimmt,
inwieweit es einen Realismus des Erbarmens gegenüber Betroffenen gibt, die in ihrer individuellen Not nach Entlastung
suchen. PID sollte deshalb nur nach einer Pflichtberatung und im Rahmen eines ärztlichen Ethik-Konzils angewendet werden
dürfen - bei Verdacht auf schwerste nicht heilbare Erbkrankheiten (d.h. z.B. nicht als Mittel zur Geschlechterbestimmung und
-auswahl oder zum Ausschluss an sich therapierbarer Krankheiten). Ein im Einzelfall absehbares psycho-soziales Risiko muss
gegen den Kinderwunsch abgewogen werden. "Hier greift die Handlungsregel, dass das Prinzip des Nichtschadens (hier:
Nichtschaden im Hinblick auf das erhoffte Kind) Vorrang besitzt vor dem Prinzip des Nutzens, wobei es hier überdies um den
eigenen Nutzen geht (Verwirklichung des persönlichen Kinderwunsches)."35 Der Wunsch des Elternpaares nach einer PID
kann auf authentischem, aufrichtigem Kinderwunsch und ernster Sorge um das Wohl des erhofften Kindes beruhen. Das
betrifft vor allem Eltern aus erblich belasteten Familien angesichts schwerer und schwerster Krankheiten
(Wiederholungsrisiko). Eine ergebnisoffene Pflichtberatung intendiert keine automatische Zustimmung oder Abweisung,
sondern verweist auf die erheblichen moralischen (und medizinischen) Risiken der PID.
PID bedeutet eine Vorverlegung der pränatalen Diagnostik am Ungeborenen (ca. 10.-16. Woche) auf den Embryo in vitro. Im
Falle der benannten Einschränkung zur Ermöglichung von PID bedeutet dies bei Feststellung eines schwersten genetischen
Defektes, dass eine eventuelle Abtreibung im späteren Stadium nicht vorgenommen werden muss, d.h. PID kann eine
Verringerung der Belastung für Schwangere bedeuten.
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Lebensschutz oder Gesundheitsschutz, d.h. abgestufter Lebensschutz, bzw. begrenzte Autonomie des Elternwillens? Es gibt
eine Würdekollision! Jüngel spricht von "bioethischen Aporien"36. Aporetische Widerfahrnisse erschließen sich für
Befürwortende der PID auch im Horizont religiöser Leiderfahrung und nicht tendenziell im Horizont medizin-technischer
Fortschrittserwartung. Theologischer, moralischer oder philosophischer Rigorismus nährt sich aus der hypertrophen Angst vor
komplexen Situationen. Theologische Ethik reflektiert die Ethik unter dem Aspekt des "unbedingten Vorrang(s) der Person vor
ihren Werken"37. Theologische Rede von der Rechtfertigung entmythologisiert sowohl den sich mit seinen Taten übertreffen
wollenden Übermenschen wie den sich durch seine Taten zum Unmenschen verwerfenden. Der Realismus des Erbarmens
gilt uneingeschränkt und fordert zu einer klaren Trennung der Person von ihren Werken. Der Mensch ist nicht die Addition
seiner guten oder schlechten Taten. Er ist ins Leben und so zur Verantwortung gerufen. Er verantwortet sich.
Wir werden lernen müssen, dilemmatische Situationen nicht im vorhinein moralisch zu instrumentalisieren, sondern uns ihnen
im Sinne der Güter- oder Übelabwägung38 ruhig und gelassen zuzuwenden. Die Kirchen werden gut daran tun, dann nicht im
Sinne von Lk. 18,9-14 moralisch abseits zu stehen, während umgekehrt notvoll guter Rat teuer ist. Die Kirche steht künftig in
bioethischen Fragen entweder am Rande und kommentiert Geschehenes - und bleibt damit marginal, oder sie beteiligt sich
und bietet sich sozusagen als "Sprachgesell" (Paul Gerhardt) in schwerer Zeit an. Es beginnt die theologisch-ethische
Verantwortungsübernahme und es verstummt die kirchliche Rede als Dokument pastoraler correctness. Sofern die Kirche
Volkskirche sein und bleiben möchte, muss sie bereit sein, in Situationen der Gefährdung und in Ereignissen, die unter der
Signatur eines moralischen Notstandes zu fassen sind, im ethischen Diskurs einer Güter- oder Übelabwägung mit einer
theologischen Grammatik behilflich sein zu können. Wer in einem so verstandenen Notstand Entscheidungen zu treffen hat
(z.B. im Falle einer zu befürchtenden schweren Behinderung), ist und bleibt belastet und verdient umso mehr Unterstützung
im Entscheidungsprozess. Wer aber unterstützt, muss sich selbst auch ethisch riskieren.
Paul Gerhardt besingt in seinem Lied "Befiehl du deine Wege" die "ewge Treu und Gnade" Gottes. Gott "weiß und sieht, was
gut sei oder schade"39. Es mag sein, dass PID den Blick dafür schärft, was nicht nur gut, sondern auch schade (aber eben
nicht in jedem Fall einfach böse) ist - und deshalb angenommen werden muss. Ein apodiktisches Nein zur PID löst nicht die
Aporie und hilft nicht den betroffenen Menschen in ihrer Entscheidungsnot. Die Evangelische Kirche sollte in diesem Sinne
den Gesetzgeber unterstützen, eine ambivalente (eine die beide Seiten kräftigende) Gesetzesvorlage zu erstellen, die
unangemessene Erwartungen an die PID abwehrt und sich daraufhin der Notlage von Eltern zuwendet.
Anmerkungen:
1
Vgl. Ruth Marquard: Positionen zur Präimplantationsdiagnostik. Dissertation Medizinische Fakultät der
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2004, 35.
2
Vgl. zum folgenden Ruth Marquard: Positionen zur Präimplantationsdiagnostik, 4-35; Reiner Marquard: Ethik in der
Medizin. Eine Einführung in die evangelische Sozialethik, Stuttgart 2007, 127-134.
3
Entwicklungsfähigkeit einer Zelle, sich unter geeigneten Bedingungen in alle Zell- und Gewebetypen differenzieren zu
können. Pluripotenz bedeutet die Entwicklungsfähigkeit einer Zelle oder eines Gewebes, sich lediglich in mehr als einen Zelloder Gewebetyp differenzieren zu können.
4
Das BGH-Urteil äußert sich nichts über den Umgang mit totipotenten Zellen.
5
Kinder, die unter Hypothek dieser Chromosomenveränderung geboren werden, weisen meist Organschäden sowie
körperliche und geistige Behinderungen auf.
6
BGH erlaubt Gentests an Embryonen. - In: FAZ Nr. 154 v. 7.7.2010, 1; vgl. auch Janisch: Anspruch auf ein gesundes
Baby. - In: SZ Nr. 152 v. 6.7.2010, 1.
7
Ebd.
8
Wolfgang Janisch: Ein Urteil für das Leben. - In: sueddeutsche.de Leben v. 6.7.2010. URL:
http://sueddeutsche.de/leben/praeimplantations-diagnostik-ein-urteil-fuer-das-leben-1.970871.
9
Ebd.
10
D.D.: Tor und Tür. - In: FAZ Nr. 154 v. 7.7.2010, 1.
11
Cornelia Helfferich: frauen leben - BZgA Köln 2000 (Studie zu Lebensläufen und Familienplanung): Sonderauswertung
über "Einstellungen von Frauen zu Planbarkeit und Machbarkeit bei Familienplanung unter besonderer Berücksichtigung des
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
Seite 7/9
Aspektes "pränatale Diagnostik"."
12
Interview: Sarinna Pfauth: "Auch das kränkste Leben ist wertvoll". - In: sueddeutsche.de Leben v. 6.7.2010. URL:
http://sueddeutsche.de/leben/giovanni-maio-giovanni-maio-1.970518.
13
Hartmut Kreß: Präimplantationsdiagnostik und Fortpflanzungsmedizin angesichts des ethischen Pluralismus.
Rechtspolitische Gesichtspunkte nach dem Urteil des BGH. - In: Zeitschrift für Rechtspolitik 7/2010, (201-205) 205.
14
Vgl. epd-Wochenspiegel 43/2010, 19.
15
Reinhard Merkel: Lebensrecht und Gentest schließen sich aus. - In: FAZ Nr. 177 v. 3.8.2010 S.3.
16
Ebd.
17
Ebd.
18
Ebd.
19
Ebd.
20
Vgl. dazu Reiner Marquard: Ethik in der Medizin, 103.129.
21
URL: http://www.meb.uni-bonn.de/frauen/DIR_downloads/dirjahrbuch2003.pdf.
22
SZ Nr. 126 v. 2.6.2006, 18.
23
Hartmut Kreß: Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz - Selbstbestimmungsrechte - heutige Wertkonflikte. Zweite,
vollständig überarbeitete und erweitere Auflage, Stuttgart 2009, 201.
24
Vgl. Hartmut Kreß: Medizinische Ethik, 201.
25
Vgl. Reiner Marquard: Ethik in der Medizin, 124-126.
26
Hartmut Kreß: Medizinische Ethik, 213.
27
Ebd.
28
Johannes Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 246. Die begrifflichen
Bestimmungen sind etwas unglücklich gewählt. Moral und Sitte sind ihrer Begriffsgeschichte nach identische Begriffe: Moral
ist die Summe der geltenden Normen, Wertstandards und Verhaltensweisen, die sich in einer Gesellschaft installiert haben.
Moral ist das, was man üblicherweise tut (Sitte und Konvention).
29
Vgl. Reiner Marquard: Christliches Menschenbild und Präimplantationsdiagnostik (PID) - In: DPfBl 6/2002, 264-270.
30
Albin Eser: Möglichkeiten und Grenzen der Sterbehilfe aus der Sicht eines Juristen. - In: Walter Jens/Hans Küng:
Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Selbstverantwortung, München/Zürich 21995, 176.
31
Ebd. Der gewohnheitsrechtlich anerkannte "übergesetzliche Notstand" fand 1969 Eingang in das Strafgesetzbuch. Es
gibt den "rechtfertigenden" und den "entschuldigenden" Notstand. Eine im Hinblick auf den "entschuldigenden" Notstand
ausgeführte Tat bleibt nach wie vor rechtswidrig. In beiden Fällen bleibt die Tat straflos, wenn nur durch ihre Durchführung
eine gegenwärtige Gefahr für Leben und Leib sowie andere Rechtsgüter abgewendet werden konnte.
32
Eberhard Jüngel: Bioethische Aporien. - In: Ders.: Beziehungsreich. Perspektiven des Glaubens, Stuttgart 2002, (71-90)
84.
33
Gunda Schneider-Flume: Der Realismus der Barmherzigkeit in der Gesellschaft. Überlegungen zur theologischen
Debatte um die Bioethik. - In: ThLZ 7/8 2005, Sp. (727-740) 738.
34
Eberhard Jüngel: Hoffen, Handeln - und Leiden. Zum christlichen Verständnis des Menschen aus theologischer Sicht. -
In: Ders.: Beziehungsreich, (13-40) 35.
35
Hartmut Kreß: Medizinische Ethik, 188.
36
Eberhard Jüngel: Bioethische Aporien, 71.
37
Eberhard Jüngel: Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine
theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 226.
38
Vgl. dazu Marquard: Ethik in der Medizin, 63-68.
39
EG, 361.3.
Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771
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