Südostschweiz, Graubünden, 29.9.2015

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REGION
Südostschweiz | Dienstag, 29. September 2015
Die Wissenschaft, die Tote
wieder zum «Sprechen» bringt
Ob bei Jürg Jenatsch oder den Skeletten von Falein: Wer in der historischen Anthropologie tätig ist,
verhilft auch der Bündner Archäologie zu wichtigen Erkenntnissen. Wie Christine Cooper, Anthropologin in Vaduz.
von Jano Felice Pajarola
Cooper ist die Begeisterung für ihre
Tätigkeit anzumerken, ein «langweili­
ges» Skelett sei ihr noch nie unterge­
kommen, «jedes ist wieder ein neues
Individuum», meint sie. Braucht es kei­
ne schützende Distanz, wenn man je­
den Tag mit Toten zu tun hat? «Ich
möchte keinen Beruf, der mich nicht
berührt», entgegnet sie. «Aber klar, ge­
wisse Dinge sind schon heftig. Und
man macht sich dann Gedanken darü­
ber, was sie über die menschliche Na­
tur aussagen. Oder darüber, dass sich
diese Natur nie ändert, wenn man heu­
te so in die Welt hinaus schaut.»
Heftig: So war schon das Thema von
Coopers Dissertation, für die sie Skelet­
te aus der Schlacht von Dornach unter­
suchte, des 1499 geschlagenen finalen
Kampfs des Schwabenkriegs. Ein Mas­
saker, bei dem von 3600 bis 4900 Gefal­
lenen ausgegangen wird – bis zu einem
Viertel der Schlachtteilnehmer.
I
m Kindergarten wollte sie Palä­
ontologin werden, die Lebewe­
sen vergangener Erdzeitalter er­
forschen. «Ich hatte es mit den
Dinosauriern», erinnert sie sich.
Dann, nach dem Gymnasium, machte
sie ein Praktikum in der Archäologie –
«da haben mich menschliche Knochen
sofort fasziniert.» Und spätestens von
da an war ihr Weg vorgegeben. Christi­
ne Cooper: Heute ist sie Anthropologin
beim Amt für Kultur und Archäologie
in Liechtenstein, und zu ihren bekann­
testen Forschungsobjekten gehören die
sterblichen Überreste dreier Individu­
en, die 2014 auf dem Maiensäss Falein
zwischen Bergün und Filisur entdeckt
wurden. Ein grosser Teil der Informa­
tionen, die man über die nach wie vor
rätselhaften frühmittelalterlichen To­
ten hat, stammen aus Coopers einge­
hender Untersuchung der aufgefunde­
nen Skelette (Ausgabe vom 4. Juni).
Das Feld wurde «abgekeult»
Den Menschen selbst im Fokus
Die historische Anthropologie oder Ar­
chäoanthropologie, wie Coopers Diszi­
plin bezeichnet wird, ist ein Teilgebiet
der Biologie, gleichzeitig aber auch ei­
ne Nachbarwissenschaft der Archäolo­
gie. Auch in Graubünden arbeiten die
Fachrichtungen eng zusammen: Wäh­
rend die Archäologie materielle Hin­
terlassenschaften des Menschen unter­
sucht, rückt bei der historischen Anth­
ropologie der Mensch selbst in den Fo­
kus – man bringt sozusagen die Toten
zum «Sprechen», um Wissen über indi­
viduelle Schicksale, aber auch frühere Im Dialog mit den Toten: Skeletten wie jenen aus Falein entlockt Anthropologin Christine
Bild Parc Ela
Bevölkerungen und ihre Lebensweisen Cooper unterschiedlichste Informationen.
zu gewinnen.
Heftig war nicht nur der Kampf in Dor­
nach, auch die Kriegsordnung war bru­
tal und erbarmungslos. Denn Gefange­
ne wurden nicht gemacht. Die anthro­
«Skelette
sind eine
andere Art
von historischer
Quelle.»
Christine Cooper
Anthropologin
«Die Toten von Falein»: Krimis und andere Texte sind willkommen
Wer verfasst die beste
Kriminalgeschichte zum
rätselhaften frühmittelalterlichen Mordfall auf
dem Maiensäss Falein
zwischen Bergün und
Filisur? Noch bis Ende
Jahr können im Rahmen
des Parc-Ela-Schreibwettbewerbs «Die Toten von
Falein» deutsche oder
romanische Texte abgege-
ben werden: Kurzgeschichten oder Erzählungen, Slam Poetry oder
Spoken Word – das
Format ist offen.
Bis jetzt haben bereits
mehr als zwei Dutzend Autorinnen und Autoren ihre
Texte abgegeben; mitmachen kann weiterhin jeder,
der Lust am Schreiben hat.
Die Erkenntnisse der An-
An Kopfmodellen experimentiert
Cooper wollte aber auch wissen: Ist es
möglich, die typischen Verletzungsfor­
men der Schädel aus der Schlacht von
Dornach einer der damals üblichen
Waffen zuzuordnen, zum Beispiel Ein­
oder Zweihändern, Hellebarden, Arm­
brustbolzen? «Ich liess solche Waffen
von einem Schmied nachmachen», er­
zählt die Anthropologin – und sie tes­
tete sie gleich selbst an realistischen
Kopfmodellen, um die Verletzungen
experimentell zu reproduzieren. Letzt­
lich konnte Cooper mit ihren Untersu­
chungen das lückenhafte Bild mittel­
alterlicher Schlachten um weitere Puz­
zleteile ergänzen.
Der Bagger wäre die Alternative
Knochen als Erkenntnisquelle
Geschlecht, Sterbealter, Körpergrösse,
krankhafte Veränderungen – solche
und weitere Daten lassen sich aus den
menschlichen Überresten herauslesen,
die die Archäologie der Anthropologie
liefert. «Skelette sind eine andere Art
von historischer Quelle», sagt Cooper.
Gewisse sozialgeschichtliche Erkennt­
nisse seien nur über die Anthropologie
möglich – zum Beispiel Demografi­
sches wie der Altersaufbau oder das
Geschlechterverhältnis einer Popula­
tion, Angaben zur Kindersterblichkeit
oder zu Krankheitsbelastungen im All­
tag.
pologisch eruierten Verletzungen an
den untersuchten Schädeln stützen die
Überlieferung: Nach Ende der Kampf­
handlung wurde das Schlachtfeld von
den Siegern «abgekeult» – alle Schwer­
verletzten wurden getötet. Die Schädel
weisen Spuren von Enthauptungsver­
suchen auf, teilweise von exzessiver Ge­
waltanwendung, die bei einem stehen­
den oder fluchtfähigen Menschen un­
möglich wäre. Die Opfer dürften wehr­
los am Boden gelegen haben.
thropologie gehören zu
den Fakten, die in einem
Text verarbeitet werden
können: Die in Falein gefundenen Knochen gehören zu einem 20 bis 30
Jahre alten Mann, einer 30
bis 40 Jahre alten Frau
und einer zweiten Frau unbekannten Alters. Die beiden entdeckten Schädel
weisen schwere Kopfver-
letzungen auf. Was könnte
in Falein ums Jahr 800
geschehen sein? Fantasie soll die Wissenslücke
füllen.
Eine Jury wird die eingereichten Beiträge beurteilen – und natürlich gibt es
auch Preise zu gewinnen.
Weitere Infos zum Wettbewerb finden sich unter
www.parc-ela.ch. (jfp)
Mit sterblichen Überresten zu arbeiten
– Bedenken aus ethischer Sicht hat sie
deswegen nicht. «Normalerweise stam­
men die Skelette ja aus Notgrabungen,
und die Alternative zur Bergung wäre,
dass sie vom Bagger zerstört werden»,
betont Cooper. Archäologen und Anth­
ropologen hingegen würden diesen To­
ten viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit
zukommen lassen. Sie selbst jedenfalls,
findet Cooper schmunzelnd, habe kei­
ne Mühe mit der Vorstellung, in ferner
Zukunft vielleicht auch als anthropolo­
gisches Forschungsobjekt der Wissen­
schaft zu dienen.
Noch nicht abgeschlossen
Die Arbeit zu Falein ist für Cooper
noch nicht abgeschlossen; sollte es im
nächsten Jahr in Pnez eine Nachgra­
bung geben, wäre sie als Anthropolo­
gin erneut involviert. Vorderhand aber
erwartet sie anderes Forschungsmate­
rial aus Graubünden: Sie wird die Ske­
lette aus den kürzlich entdeckten Grä­
bern bei der mittelalterlichen Kapelle
Sonch Antöni in der Val Müstair zum
«Sprechen» bringen.
INS ERAT
Eine Revolution – aber invasiv und teuer
Für Kantonsarchäologe Thomas Reitmaier bergen die neuen Methoden der Anthropologie grosses Potenzial.
von Jano Felice Pajarola
Man hat sogar herausgefunden, dass
er eine Zeit lang viel Fisch gegessen
hat. Jörg Jenatsch: Er ist ein Beispiel
dafür, mit welchen Technologien man
heute Knochen die gespeicherten In­
formationen entlocken kann. Im Rah­
men der Exhumierung von 2012 kam
es unter anderem zu einer Analyse
der stabilen Isotope – sie geben Auf­
schluss über den Speiseplan eines In­
dividuums. Und im Fall von Jenatsch
würde das Ergebnis mit seiner Biogra­
fie übereinstimmen: Die vielen Fisch­
speisen «decken sich mit seinem Auf­
enthalt in Venedig», erklärt Kantons­
archäologe Thomas Reitmaier. Bei Je­
natsch wurden noch weitere moderne
Methoden der Anthropologie ange­
wendet: Aus Teilen des Oberschenkel­
knochens und einem Zahn wurde alte
DNA extrahiert, um seine Verwandt­
schaft mit männlichen Nachkommen
seines Urgrossvaters zu prüfen. Zwar
ergab sich daraus kein schlüssiges Re­
sultat, doch zusammen mit weiteren
Ergebnissen der Anthropologie – Al­
ter, Schädelfrakturen – ergab sich eine
gute Indizienlage, um den «unter der
Orgel Begrabenen» aus der Churer Ka­
thedrale als Jenatsch zu identifizieren.
Tausende Knochen und Zähne
Leitende Anthropologin war Christi­
na Papageorgopoulou. Nicht ihr erster
Einsatz in Graubünden: In vierjähri­
ger Arbeit hatte sie bis 2009 die über
400 mittelalterlichen Skelette aus der
Tomilser Ausgrabung Sogn Murezi
untersucht, ein Fundus aus mehr als
50 000 Knochen und 6000 Zähnen.
Auch andernorts im Einsatz
Gute Dienste hat die Anthropologie in
den letzten Jahren auch bei der Por­
chabella­Gletscherleiche geleistet. In
Disentis wurden Skelettfunde aus den
Gräbern auf dem Klosterareal ausge­
wertet. In Müstair wurden Bestattun­
gen unter die Lupe genommen. Und
beim Zizerser Königshof konnte auf­
gezeigt werden, dass Skelette aus mit­
telalterlichen Gräbern zu miteinander
verwandten Personen gehören. Aber
zurück zu Jenatsch. Für Reitmaier ist
klar: Die eingesetzten Methoden der
Anthropologie haben «ein unglaubli­
ches Potenzial». Da spiele sich eine Re­
volution ab – allerdings müsse man
zurückhaltend sein. Dafür gibt es gute
Gründe: Die Verfahren sind invasiv, es
sind Eingriffe ins alte Knochenmate­
rial nötig. Und sie sind teuer. Reit­
maier ist aber überzeugt: «Die Metho­
den werden noch perfektioniert. Es ist
nur eine Frage der Zeit, bis sie weniger
invasiv und kostengünstiger sind.»
Was ihn fasziniert: Aus den sterbli­
chen Überresten lassen sich Ver­
wandtschaftsbeziehungen oder Migra­
tionsbewegungen feststellen – für die
Archäologie wichtige Erkenntnisse.
«So kommt man direkt an den Men­
schen heran, nicht nur an das, was
von ihm übrig bleibt.»
Angela
Casanova- LISTE
Maron
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in den Nationalrat
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