REPORT Riskante Operationen bei Ärzte empfehlen fettleibigen Patienten immer häufiger eine Magenoperation Die Magenbypass-Operation ist umstritten. Die Chirurgen würden zu oft zum Skalpell greifen, kritisieren Fachleute. Der Eingriff ist gefährlich: Eine Mutter von zwei kleinen Kindern starb im Basler St. Claraspital nach der Operation. N ur mit einer Magenoperation könne Sandra Pauli «deutlich und nachhaltig» abnehmen: Das schrieben die Ärzte des Basler St. Claraspitals im letzten Oktober in einem Bericht an den Hausarzt der Frau. Zuvor hatte auch er Sandra Pauli die Operation empfohlen. Denn die Patientin hatte schon viele Diäten wie Herbalife oder Precon ohne Erfolg probiert. Die 36-jährige Frau aus Arisdorf BL wog 106 Kilo und hatte einen Body-Mass-Index von knapp 40. Kurz vor Weihnachten letzten Jahres, am 12. Dezember, liess sich Sandra Pauli im St. Claraspital operieren. Sie erhielt einen sogenannten Magenbypass. Bei dieser Operation trennen die Chirurgen einen kleinen Teil des Magens ab und verbinden ihn direkt mit dem verkürzten Dünndarm. Nachher hat der Magen nur noch die Grösse eines Pingpong-Balls. Die Folge: Man ist schneller satt (siehe Grafik rechts). Nach der Operation litt Sandra Pauli unter Übelkeit und musste sich immer wieder erbrechen. Vier Tage nach dem Eingriff verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand dramatisch: Im Patientenblatt steht, aus der Operationswunde sei eine «trübe, stinkende Flüssigkeit» geflossen. Deshalb operierten die Ärzte Sandra Pauli am 16. Dezember zum zweiten Mal. Dabei machten sie eine erschreckende Entdeckung: Der Dünndarm war abgeknickt. Als Folge davon stauten sich Verdauungssäfte. Zudem war eine Operationsnaht am Magen undicht. Deshalb trat Magensaft in den Oberbauch aus. Die Ärzte nähten die undichte Stelle wieder zu und reinigten den Bauchraum. Dennoch konnten sie nicht verhindern, dass es der Patientin immer schlechter ging. Denn der ausgetretene Magensaft hatte zu einer schweren Blutvergiftung ge- «Eine Magenoperation ist keineswegs immer nötig» Kurt Laederach, Übergewichtsexperte, Inselspital Bern 18 führt. Am frühen Morgen des 17. Dezember starb Sandra Pauli. Für die Familie ist der Todesfall ein schwerer Schlag. Denn Sandra Pauli hinterlässt nicht nur ihren Ehemann, sondern auch zwei kleine Töchter im Alter von zwei und sechs Jahren. Ihr Grossvater Angelo Taminelli sagt: «Wir sind wütend und bestürzt und können die Ereignisse im Spital nicht akzeptieren.» Jetzt betreuen Angelo Taminelli und seine Frau die Enkelkinder an zwei Wochentagen. «Auch der Vater der Kinder trägt eine grosse Last», sagt Taminelli. «Meine Tochter war nicht krank» Angelo Taminelli kritisiert, dass das Spital die Operation als einzige Möglichkeit zum Abnehmen dargestellt habe. Er ist überzeugt, dass seine Tochter auch mit gesünderem Essen und mehr Sport hätte abnehmen können, wenn sie von einem fachkundigen Arzt dazu angeleitet und motiviert worden wäre. Das St. Claraspital habe zudem die gesundheitlichen Folgen des Übergewichts übertrieben, um die Operation zu rechtfertigen. Im Bericht an den Hausarzt schrieb das Spital, Sandra Pauli leide an «extrem belastenden» Kniebeschwerden. Das stimme nicht, sagt Taminelli: «Meine Tochter war nicht krank – nur ihre Beweglichkeit war eingeschränkt.» Auf seiner Internetseite schildert das St. Claraspital die Magenbypass-Operation als Routineeingriff: Er werde «schon seit über 40 Jahren durchgeführt». Das Risiko, wegen der Operation zu sterben, gibt das Üb Sandra Pauli: Starb an den Folgen einer MagenbypassOperation Spital mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,1 bis 0,5 Prozent an. Und auch hier suggeriert das St. Claraspital, die Magenoperation sei für stark Übergewichtige praktisch die einzige Möglichkeit zum Abnehmen: Nur einer von zwanzig Patienten mit Body-Mass-Index über 35 schaffe es, mit gesunder Ernährung, Bewegung und Medikamenten langfristig abzunehmen. Fachleute widersprechen diesen Angaben des St. Claraspitals. Kurt Laederach, Spezialist für Übergewicht am Berner Inselspital, sagt: «Eine Magenoperation ist keineswegs immer nötig.» Operiert werden müsse nur, wenn Übergewichtige an gefährlichen Krankheiten leiden, wie schwer einstellbarem Diabetes oder Herzkrankheiten. Es stimme auch nicht, dass das Abnehmen ohne Operation unmöglich Gesundheitstipp Mai 2013 Übergewichtigen Das Prinzip des Magenbypass Nachher Vorher Nahrung Speiseröhre Verdauungssäfte Kleine Magentasche Magen Mit Klammernähten wird ein kleiner Teil des Magens abgetrennt und mit dem verkürzten Dünndarm verbunden. Der kleine Magen führt zu einem schnelleren Sättigungsgefühl Verschlossener Magen Zwölffingerdarm Zwölffingerdarm Dünndarm Hochgezogener Dünndarm Dünndarm S. BERGER Verdauungssäfte Gesundheitstipp Mai 2013 Der Dünndarm aus dem Magen wird mit dem hochgezogenen Abschnitt vernäht. So gelangen die Verdauungssäfte aus dem Zwölffingerdarm in den Dünndarm 19 REPORT sei, erklärt Laederach: «Auch nichtchirurgische Therapien können zum Erfolg führen. Bei unseren Programmen reduzieren die Patienten im Durchschnitt ihren BodyMass-Index um zwei bis drei Punkte» Zum Vergleich: Drei Punkte entsprechen ungefähr einem Gewichtsverlust von zehn Kilogramm bei einer Körpergrösse von 170 cm und einem Ausgangsgewicht von 110 Kilogramm. Zahl der Operationen ist stark gestiegen Der Basler Stoffwechsel-Spezialist Ulrich Keller kritisiert, dass Chirurgen in den Spitälern heute «viel zu viele» Magenoperationen durchführen: «Adipositas-Operationen sind ein grosses Geschäft, die Spitäler verdienen damit viel Geld.» Doch die Ärzte würden nicht bei allen Patienten genügend gründlich abklären, ob die Operation sinnvoll ist: «Für die seriöse Abklärung ist ein grosser zeitlicher Aufwand nötig.» Keller findet es zudem grundsätzlich falsch, bei einer jungen Mutter eine Magenbypass-Operation zu machen: «Ich würde warten, bis die Kinder älter sind und die elterliche Verantwortung kleiner ist.» Die Zahl der Magenbypass-Operationen ist in den letzten Jahren stark gestiegen: Im Jahr 2005 wurde die Operation rund 600-mal durchgeführt. Im Jahr 2011 waren es bereits rund 1900 Operationen. In jenem Jahr gingen die Krankenkassen auf Betreiben der Ärztegesellschaft dazu über, die Operation bereits ab Body-Mass-Index 35 zu bezahlen. Vorher setzten sie einen Body-Mass-Index von mindestens 40 voraus. Das heisst: Bei Personen mit Körpergrösse 170 cm war der Eingriff bis vor zwei Jahren erst ab einem Gewicht von 115 Kilo möglich, heute bereits ab 100 Kilo. Seit zwei Jahren ist die Operation auch bei Jugendlichen unter 18 Jahren erlaubt – obwohl Kinderärzte dagegen protestierten. Letztes Jahr bekamen in Schweizer Krankenhäusern über 2600 Patientinnen und Patienten einen Magenbypass. Dies geht aus der Statistik der Ärztegesellschaft Swiss Society for the Study of Morbid Obesity hervor. Doch die Bypass-Operation ist ein massiver Eingriff. Ulrich Keller erklärt: «Das Risiko von Kom- «Magenoperationen sind ein grosses Geschäft. Die Spitäler verdienen damit viel Geld» Ulrich Keller, Stoffwechsel-Spezialist plikationen ist grösser als bei anderen Methoden, weil der Darm an zwei Stellen neu zusammengefügt wird.» Eine englische Studie mit 7000 Erwachsenen zeigte, dass einen Monat nach der Magenbypass-Operation 3 von 1000 Patienten gestorben waren. Ein Jahr nach der Operation waren laut der Studie bereits 13 von 1000 Patienten gestorben. Dank dem Bypass nehmen die Patienten stark ab. Marco Bueter, Leiter der Adipositas-Chirurgie am Universitätsspital Zürich, erklärt: «Die meisten Patienten verlieren nach der Operation 60 bis 70 Prozent ihres Übergewichts.» Die wenigsten erreichen aber ihr Idealgewicht. Dazu kommt: Nach der Operation müssen die Patienten die Ernährungsgewohnheiten stark ändern. «Sie vertragen gewisse Speisen nicht mehr so gut», sagt Bueter, «zum Beispiel Nudeln, Reis oder Brot». Diese Speisen würden im Magen aufquellen und könnten stecken bleiben. Zudem sollten Operierte laut Bueter nur noch wenig Süsses essen, sonst gerät der Stoffwechsel ausser Kontrolle. Weil der verkürzte Darm weniger Vitamine und Mineralstoffe aufnimmt, müssen die Patienten für den Rest ihres Lebens Pillen schlucken. Dazu kommt: Die Operation kann psychisch bedingte Essprobleme nicht lösen. Kurt Laederach erklärt: «Weil das sogenannte Frustessen nach der Operation nicht mehr möglich ist, kann sich die Sucht verlagern.» Manche Patienten würden deshalb anderen unge- Vor- und Nachteile der Magenoperationen Eingriff Magenbypass Schlauchmagen Magenband Der Arzt trennt einen kleinen Teil des Magens ab und verbindet ihn mit dem Dünndarm Der Arzt verkleinert den Magen zu einem schmalen Schlauch Der Arzt verengt den Magen mit einem Band Anzahl Operationen 2 Vorteile 2610 – Weniger Lust auf kalorienreiche Speisen – Schnelle Sättigung 375 – Schnelle Sättigung – Einfachere, weniger gefährliche Operation als Magenbypass 84 – Lässt sich rückgängig machen – Man kann alles essen, aber nur in kleinen Mengen Nachteile – Relativ grosses Risiko von Komplikationen – Körper nimmt Vitamine schlecht auf – Patienten müssen ihre Ernährung stark umstellen – Wenig Langzeit– Kann verrutschen oder erfahrung einwachsen – Gefahr von Sodbrennen – Häufiges Erbrechen – Kann nicht rückgängig – Ist bei der Hälfte der gemacht werden Patienten wirkungslos – Grosse Operation mit – Manchmal Übelkeit und entsprechenden Risiken Bauchschmerzen – Gefahr von Vitamin– Gefahr, dass der und Eiweissmangel Magenballon platzt – Durchfall bei fettreicher – Ballon muss nach sechs Kost Monaten entfernt werden Reduktion des Übergewichts 3 63 Prozent 61 Prozent 73 Prozent 50 Prozent Schlauchmagen und Darmverkürzung 1 Der Arzt verkleinert den Magen und verkürzt den Dünndarm 20 – Ermöglicht schnelles Abnehmen Magenballon Der Arzt führt einen Ballon in den Magen ein 2 – Keine Operation nötig – Schnelle Sättigung Nicht nachgewiesen 1 Sogenannte biliopankreatische Diversion 2 Zahlen für das Jahr 2012, Quelle: Swiss Society for the Study of Morbid Obesity 3 Nach fünf Jahren, Quelle: Schweizerische Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4/11 20 Gesundheitstipp Mai 2013 Injektionsreservoir Mit Flüssigkeit zur Anpassung des Ballonvolumens Kleinerer Magen Ein Silikonband teilt den Magen. Das kleine Fassungsvermögen des oberen Teils führt zu einem schnelleren Sättigungsgefühl Reguliermechanismus Unter dem Band ist ein Ballon angebracht, mit dem die Grösse der Öffnung zum unteren Magenteil reguliert werden kann sunden Verlockungen erliegen wie übermässigem Alkoholkonsum oder Rauchen. «Deshalb ist vor der Operation eine psychiatrische Abklärung nötig», sagt Laederach. Risiken sind auch bei Magenband gross Neben dem Magenbypass gibt es noch weitere Operationsmethoden bei Übergewicht (siehe Tabelle links). Doch die anderen Methoden werden vergleichsweise selten durchgeführt. So erhielten im letzten Jahr nur noch 84 Patienten ein Magenband. Marco Bueter erklärt: «Im Universitätsspital Zürich verwenden wir keine Magenbänder mehr. Die Probleme sind zu gross.» Bei rund der Hälfte der Patienten passiere es, dass das Magenband verrutsche, zu eng eingestellt sei oder in die Magenwand einwachse. Eine vergleichsweise neue OperatiGesundheitstipp Mai 2013 onsmethode, der sogenannte Schlauchmagen, wurde letztes Jahr bei 375 Patienten angewendet. Bei dieser Operation wird der Magen zu einem dünnen Schlauch verkleinert. Ulrich Keller: «Mit dem Schlauchmagen hat man weniger Erfahrungen und der Nutzen für die Patienten ist kleiner.» Chirurgen kombinieren den Schlauchmagen manchmal auch mit dem Verkürzen des Dünndarms. Diese Operationsmethode heisst biliopankreatische Diversion. Die Wiener Diät-Spezialistin Birgit Lötsch sagt: «Diese Operation sollte nur als letzter Schritt durchgeführt werden, wenn andere Methoden versagt haben. Die Spätfolgen wie Vitaminmangel oder Osteoporose sind wesentlich schwerer als beim Magenbypass.» Doch auch bei diesen Operationsmethoden ist das Risiko von Komplikationen gross. Denn übergewichtige Patienten sind wegen ihres vergleichsweise schlechten Gesundheitszustandes oft Hochrisikopatienten, wie Marco Bueter erklärt. Zur Kritik der Angehörigen und der Fachleute sagt das St. Claraspital: «Wir bedauern den Tod von Frau Pauli sehr.» Die Magenbypass-Operation sei nach allen Regeln der ärztlichen Kunst von einem erfahrenen Oberarzt durchgeführt worden. Warum der Dünndarm abgeknickt war, sei nicht klar. Bei der zweiten Operation habe sich aber gezeigt, dass der Bypass fehlerfrei angelegt worden sei. Die Sterblichkeitsrate im St. Claraspital betrage weniger als 0,15 Prozent und liege damit unter dem internationalen Durchschnitt. Vor der Operation nähmen sich die Experten des Spitals jeweils viel Zeit für die Auswahl der Patienten: «Dies war auch bei Frau Pauli so.» Das St. Claraspital räumt ein, dass die Patientin nicht an einer lebensbedrohlichen Folgekrankheit wegen des Übergewichts litt. Die Kniebeschwerden seien aber für Sandra Pauli sehr belastend gewesen, vor allem beim Betreuen ihrer beiden Kinder. Deshalb treffe auch die Kritik nicht zu, dass das Spital die Familienstruktur zu wenig berücksichtigt habe. Zur Kritik an den Angaben auf der Internetseite sagt das Spital, eine Abnahme um zwei bis drei Body-Mass-Index-Punkte genüge nicht, um einen gesundheitlichen Nutzen zu erzielen. Andreas Gossweiler Aufruf: Haben Sie Erfahrungen mit einer Magenoperation? Schreiben Sie uns Ihre Meinung: Redaktion Gesundheitstipp, «Operation», Postfach 277, 8024 Zürich, [email protected] MAGENOPERATION Das müssen Sie wissen } } } } } } Die Krankenkassen zahlen Magenoperationen nur bei Body-Mass-Index über 35. Nach der Operation müssen Sie Ihre Essgewohnheiten stark verändern. Viele Patienten müssen lebenslang Vitaminpräparate einnehmen. Beim Abnehmen können sich Hautfalten bilden. Magenoperationen sind massive Eingriffe mit entsprechenden Gefahren. Wählen Sie für die Operation ein Spital, das eine grosse Erfahrung mit Magenoperationen hat. 21 S. BURGER Magenband