gesundbleiben WENN DAS HERZ FLIMMERT Lange nicht so recht ernst genommen, ist Vorhofflimmern heute die häufigste therapiebedürftige Herzrhythmusstörung. Warum es jemanden trifft, bleibt manchmal rätselhaft. Text: Peter Seipel Fotos: Frank Blümler 8 www.aokplus-online.de ndreas Werchau, 62, hat seit 15 Jahren alle Mühe, dass er sein Vorhofflimmern im Griff hat und nicht die Sorge ums Herz ihn. Heiko Rühl fragt sich, warum er schon mit 30 Jahren heftige Anfälle hatte, obwohl er sportlich, schlank und beruflich gut unterwegs ist. Dr. Karoline Mätzig, 35, erfuhr erst bei einer Routineuntersuchung, dass sie Herzrhythmusstörungen hat. Nun befürchtet sie, dass es sich verschlimmern könnte. So unterschiedlich wie diese Biografien sind, so unterschiedlich können auch Auslöser und Krankheitsverläufe sein. Beim Vorhofflimmern (VHF) kreisen in den Herzvorhöfen elektrische Erregungswellen mit einer Frequenz von 350 pro Minute und mehr. Die Vorhöfe kön- nen sich nicht mehr zusammenziehen, sie „flimmern“ nur noch. Ohne Unterstützung der Vorhöfe verringert sich auch die Herzleistung. In der Regel tritt es zunächst einmalig auf, nach Pausen immer öfter. Plötzlich und ohne erkennbaren Anlass, fängt das Herz an, schnell und unregelmäßig zu schlagen. Die Anfälle dauern unterschiedlich lang und werden unterschiedlich intensiv empfunden. Allmählich ernst genommen Vorhofflimmern wird erst in den vergangenen Jahren von der Medizin richtig ernst genommen, berichtet Professor Dr. Gerhard Hindricks, Rhythmologe und Kardiologe am Herzzentrum Leipzig. Trink mal einen Schnaps, dann geht’s dir besser. Den Menschen fehlt oft das Verständnis. Andreas Werchau aus Leipzig „Heute weiß man, das ist eine chronischelektrische Erkrankung des Herzens. Und sie hat ganz wesentlichen Einfluss auf Folgeerkrankungen wie Schlaganfall und Herzmuskelschwäche sowie die Sterblichkeit.“ Vom Krankheitsbild des Patienten hängt es ab, ob der Arzt versuchen wird, die Herzfrequenz zu senken oder den normalen Herzrhythmus wiederherzustellen. Erstens kann der schnelle Herzschlag durch Medikamente wie sogenannte Betablocker gesenkt werden und das Vorhofflimmern wird toleriert. Zudem ist bei Vorhofflimmern das Risiko für einen Schlaganfall erhöht, da sich leichter Blutgerinnsel im Herzen bilden können. „Hier zeigt sich, dass sehr viele Patienten von der Blutverdünnung profitieren“, so der Experte. Außerdem kann der Arzt versuchen, den normalen Herzrhythmus wiederherzustellen. Entweder mit Medikamenten – sogenannten Antiarrhythmika – oder mit einer elektrischen Kardioversion. Dabei werden durch einen kurzen, starken Elektroschock alle Muskelzellen des Vorhofes gleichzeitig elektrisch angeregt. Ist es nicht möglich, den Herzrhythmus auf Dauer zu normalisieren, kommt auch eine Katheterablation infrage. Dabei werden mit einer Sonde die herzeigenen Schrittmacherzellen im linken Vorhof des Herzens durch Hochfrequenzstrom verödet. Betroffen von VHF sind überwiegend ältere Menschen über 70 Jahre. Kein Wunder, dass Heiko Rühl sehr überrascht war, als er sich noch 30-jährig in der Kliniknotaufnahme wiederfand. Er litt unter Atemnot wie nach einem 100-MeterLauf, sein Puls schoss in „regelmäßiger Ungleichmäßigkeit in die Höhe“, der ganze Brustkorb schien zu flattern. Immerhin hatte er keine Schmerzen und der Herzrhythmus beruhigte sich nach 36 Stunden nach diversen Medikamentengaben. Gegen weitere Attacken nimmt er Betablocker, außerdem trägt er ein Medikament bei sich, das den Rhythmus im Notfall wiederherstellen soll. Josef Bader, 53, hat die Ignoranz früherer Jahre kennengelernt. Er hatte schon als 20-Jähriger Anfälle von VHF. Aber dem damals leidenschaftlichen Eis- → www.aokplus-online.de 9 Was beim Vorhofflimmern im Herz passiert, erfahren Sie in der gesundbleiben Serie Wunderwerk Körper: www.aok.de/bleibgesundaktiv hockey- und Fußballspieler wurde oft nachgesagt, er sei ein Simulant. Das hörte erst auf, als er gegen eine Mannschaft von Klinikärzten spielte und der Oberarzt einen Anfall bei ihm erlebte. „Es ist als ob dir einer das Hirn rausbläst und du denkst du stirbst“, beschreibt er Attacken vor seiner Katheterablation. „Ich bin ja kein Luschi, aber wenn die Anfälle kommen, hast du Todesangst.“ Inzwischen wurde er mit wechselnden Medikamenten eingestellt. Trotz Ablation treten noch Rhythmusstörungen auf. Weiteren Eingriffen möchte er sich in Absprache mit seinem Arzt derzeit nicht unterziehen. „Man muss lernen, damit zu leben, das ist nichts für Ungeduldige“, sagt der Bayer, der auch von sich sagt, „ich stehe immer unter Strom und kann selten ruhig sitzen“. Aber jetzt wolle er abwarten und auf den medizinischen Fortschritt hoffen. Den typischen VHF-Patienten gibt es nicht. Das zeigen diese Fälle und viele weitere Leserzuschriften, die bleibgesund nach einem Aufruf erreicht haben. Vor allem Patienten ohne typische Risikofaktoren wie vorhergehende Herzerkrankungen fragen sich nach den Ursachen. Heiko Rühl: „Wenn ich wenigstens wüsste, woran es liegt. Ich würde sofort meine Wenn ich wüsste, woran es liegt, würde ich meinen Lebenswandel darauf einstellen. Heiko Rühl aus Wetzlar 10 www.aokplus-online.de Ernährung umstellen oder mehr Sport treiben.“ Und Josef Bader fragt sich: „Ich habe nicht getrunken, nicht geraucht, mich einigermaßen gesund ernährt und viel Sport getrieben – warum habe ich es?“ Das sei typisch, dass Betroffene verunsichert sind, die keine klare Diagnose haben, weiß Herzspezialist Hindricks. Umso wichtiger ist es, das VHF während einer akuten Phase per EKG zu dokumentieren und eine optimale Behandlung einzuleiten. Sein Tipp: Es ist sinnvoll zu lernen, den Puls selbst an der Arterie am Armgelenk zu tasten. Dann könne man zeitnah einen Arzt aufsuchen, wenn sich das Gefühl bestätigt, dass das Herz unregelmäßig schlägt. Auch neue Technologien wie Langzeit-EKGs, die über sieben bis zehn Tage laufen, können bei der Diagnose helfen. Auslöser Stress Stress scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Der Leipziger Andreas Werchau war stets sportlich und auch sonst ein aktiver Mensch. Dann gab es Todesfälle in der Familie, die eigene vorübergehende Arbeitslosigkeit nach der Wende und der anstrengende Neuanfang in einem Farben- und Lackherstellungsbetrieb. Zeitnah kamen Vorhofattacken, die sich steigerten und die zunehmende Angst vor dem nächsten Flimmern. Auch Heiko Rühl erinnert sich, dass sein erstes Herzflattern schon als 24-Jähriger im Stress einer Abschlussprüfung auftrat – sechs Jahre vor den gehäuften Anfällen 2013. Stress könne vor allem auf zwei Wegen den Herzrhythmus beeinflussen, erklärt Hindricks: Erstens weil das autonome Nervensystem den Körper in besonders stressi- gen Situationen mit dem herzantreibentrasystolie. Laut Experte Hindricks kann den Hormon Adrenalin überschwemmt. sich daraus – muss aber nicht – VHF entUnd zweitens ändert sich unter Stressbewickeln: Nämlich dann, wenn die Extradingungen die Wahrnehmung, sodass die systolie, die Betroffene wie ein InnehalStörung des Herzrhythmus intensiver und ten des Herzschlags spüren, in Ketten bedrohlicher wahrgenommen wird. Der von Extrasystolien übergeht, in denen psychische Druck steigt zusätzlich. der Puls für den Patienten gefühlt außer Andreas Werchau überwand seine Rand und Band gerät. „Wenn ich solch krankheitsbedingte Niedergeschlagenheit mithilfe eines neuen Kardiologen und nach einem langen Gespräch mit dem Arzt. Er stellte seine Ernährung um, versucht insgesamt kürzerzutreten, verzichtet völlig auf Alkohol, senkte sein Gewicht auf 74 Kilo bei einer Größe von 1,82 Meter und bekam „wieder Dr. Karoline Mätzig aus München Lust am Leben“. Eine Ablation konnte immerhin die Häufigkeit der Anfälle von Vorhofflimmern reduzieren, das Herzstolpern blieb jedoch. Die schwere Arbeit in seinem Beruf macht die Situation für den 62-Jährigen nicht leichter. Und auch nicht das fehlende Verständnis einiger Mitmenschen. Seine Bemühungen für eine gesunde Lebensweise werden schon mal mit Sprüchen kommentiert wie „Trink mal einen Schnaps, dann geht’s dir wieder besser“. ein Langzeit-EKG sehe, erzeuge ich bei den betroffenen Menschen eine erhöhte Achtsamkeit“, sagt Hindricks, „und vermittle aber auch, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Wenn das Flimmern diagnostiziert und leitliniengerecht behandelt wird, kann man damit wirklich sehr alt werden.“ Jetzt heißt es beobachten. Ich hoffe, dass das Herz nicht noch mehr außer Takt gerät. Frühe Diagnose Auch Vererbung spielt offenkundig eine Rolle, insbesondere wenn Herzrhythmusstörungen schon in jungen Jahren auftreten. So hat Dr. Karoline Mätzig erst bei der Routineuntersuchung während ihrer zweiten Schwangerschaft erfahren, dass ihr Herz stolpert. Die Schwangerschaft kam zum Happy End, aber die Verunsicherung bleibt. Das EKG der jungen Juristin zeigte eine sogenannte Ex- www.aokplus-online.de 11