Schriftliche Arbeit im Rahmen der theologischen Kurse (Wiener Kurs, Kurstyp 1, Dienstag, 2009 - 2011) Medizinethik I Embryonenforschung Mag. Lukas Madl Genetiker Akademischer Geoinformatiker Registered Technology Transfer Professional 3710 Ziersdorf Fahndorf 72 Mobil: 0676 830 86 303 Februar 2012 Zusammenfassung Die Betrachtungen im Hauptteil dieser Arbeit basieren auf dem Buch Grundkurs Medizin-Ethik von Günther Pöltner, Wien 2002 Inhaltsverzeichnis Persönliche Hinführung .................................................................................................... 3 Embryonenforschung: Fortschritt oder Irrsinn? ................................................................. 5 Der Mensch und seine Stammzellen ...................................................................................... 5 Der Disput ............................................................................................................................... 7 Der Mensch und das Gute ...................................................................................................... 7 Deontologische Ethik.......................................................................................................... 8 Teleologische Ethik ............................................................................................................. 9 Strukturganzheit einer Handlung ....................................................................................... 9 Der Mensch in der Forschung .............................................................................................. 10 Der Mensch und die Würde ................................................................................................. 13 Der Mensch und die Person ................................................................................................. 15 Contra Embryonenforschung ........................................................................................... 15 Pro Embryonenforschung................................................................................................. 15 Der Mensch und das Subjekt................................................................................................ 16 Persönliche Schlussbemerkungen ....................................................................................19 A) Ist Forschung an embryonalen Stammzellen sittlich legitim, ja oder nein?.................... 19 B) Welches Verhältnis zwischen Wissenschaft, Technologie und Ethik ist wünschenswert? .............................................................................................................................................. 20 Literatur ..........................................................................................................................22 2 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Persönliche Hinführung Wir schreiben das Jahr 2002. Mein Kollege ist ziemlich aufgeregt und erzürnt: „Österreich wird wieder zur Bananenrepublik“ sagt er zu mir. Ich verstehe nicht. Wir sind beide Forschungsmanager bei den Austrian Research Centers. Unsere Aufgabe ist es, internationale F&E Kooperationen zu etablieren, die Unternehmensgruppe im europäischen Forschungsraum zu positionieren und dafür zu sorgen, dass ausreichend Mitteln aus den EU Forschungsprogrammen lukriert werden. Tags zuvor – erzählt der Kollege weiter – hat Frau Bundesminister Gehrer, zuständig für Wissenschaft, Bildung und Kultur, gegen das 6. EU Forschungsprogramm gestimmt. Österreich hat damit als einzige EU Mitgliedsland das neu aufgesetzte Rahmenprogramm abgelehnt. Die Begründung der Ministerin: Es gäbe ethische Bedenken, weil in dem geplanten Programm auch Projekte mit humanen embryonalen Stammzellen förderbar sein sollen. Mein Kollege steht mit seinem Zorn nicht alleine da. Heftige Kritik setzt bei Österreichs Forschungselite ein. Dr. Konopitzky, Bereichsleiter bei Boehringer Ingelheim, lässt in den Medien verkünden: "Wir haben uns mit der Ablehnung des 6. Rahmenprogramms an letzter Stelle der EU platziert. Die Optik im Ausland ist eine Katastrophe. Ich werde von ausländischen Kollegen mit einer Mischung von Hohn und Mitleid behandelt." Und Konopitzky weiter: "Es wird definitiv zu Nachteilen kommen. Das ist eine dramatisch schlechte Entscheidung." 1 Das sind scharfe Worte. Doch es geht bei der aufbrechenden Diskussion nicht allein um die Frage, ob Österreich in der „wissensbasierten Gesellschaft“ wettbewerbsfähig bleibt. Vielmehr wird die Frage gestellt, ob es denn ethisch überhaupt zulässig sei, dass österreichische Wissenschaftler behindert werden, an hochwertigen therapeutischen Zielen mitzuarbeiten. Solche embryonalen Stammzellen haben schließlich ein hohes klinisches Potenzial, heißt es. Sie könnten der Schlüssel für hochwirksame Therapien gegen schwere Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer, Schlaganfall, Diabetes oder gar Krebs sein. Wer kann es daher verantworten, der Forschung auf diesem Hoffnungsgebiet Fesseln anzulegen und damit leidenden Menschen mögliche Therapien vorzuenthalten? So schreibt auch die Wissenschaftsjournalistin Eve Herold: „While over 100 million Americans await the cures that current medicine cannot offer them, the most promising research of a generation is beeing held hostage by politics” 2. 1 ORF on Science; http://sciencev1.orf.at/science/news/53525; vom 29. Februar 2012 Eve Herold, Stem Cell wars, Palgrave MacMillan, 2006, frei übersetzt: „Während mehr als 100 Millionen US Amerikaner Heilungen erhoffen, welche die derzeitige Medizin nicht anbieten kann, werden die vielversprechendsten Forschungsvorhaben einer ganzen Generation von der Politik in Geiselhaft genommen.“ 2 3 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Ich kann meinem Kollegen nicht gleich antworten. Vielmehr wirbelt eine Fülle von Fragen durch meinen Kopf und bedrängt mein Herz. Sie rufen nach einer fundierten Antwort. Sind wir als Forscher, Wissenschaftler und Forschungs-Manager für die ethische Debatte, in der wir uns plötzlich befinden, überhaupt ausgerüstet? Haben wir die notwendigen Werkzeuge zur Güterabwägung in unserer Ausbildung mitbekommen? Ist eine Güterabwägung bei der Frage der Forschung an embryonalen Stammzellen überhaupt statthaft? Ja, das Ziel Therapien für schwere Krankheiten zu finden verdient unsere hohe Anerkennung. Aber was ist mit den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen; sind diese vertretbar? Schließlich werden embryonale Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewonnen, also aus Menschen, denen ein absoluter Lebensschutz zusteht, oder? Hat sich die Wissenschaft nicht verabscheuungswürdig vergangen, als sie an Menschen ohne deren Einwilligung „geforscht“ hat, wie unter Nazi Herrschaft. Embryonen können aber keine Einwilligung geben. Oder handelt es sich wirklich nur um „Zellhaufen“, wie viele behaupten? Wo stößt das Recht der Forschung auf Freiheit an seine Grenzen? Und weiters: Wie realistisch sind denn die Heilungsversprechungen für unheilbar Kranke überhaupt? Ist die Sprache der Wissenschaft noch seriös oder ist sie zur Sprache der Werbung geworden, die geschickt mit Hoffnungen und Sehnsüchten operiert? Wieso wird nicht mit voller Kraft an ethisch unproblematischen Alternativen gearbeitet, wie den adulten Stammzellen? Aus dem Gewirr von Fragen verdichten sich schließlich zwei Kernfragen, denen ich auf Basis von Günter Pöltners Buch: Grundkurs Medizin-Ethik in diesem Aufsatz nachgehen will: A) Ist die Forschung an embryonalen Stammzellen sittlich legitim, ja oder nein? B) Welches Verhältnis zwischen Wissenschaft, Technologie und Ethik sollten wir anstreben? 4 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Embryonenforschung: Fortschritt oder Irrsinn? Der Mensch und seine Stammzellen Warum werden menschliche Embryonen eigentlich als Forschungsobjekte eingesetzt? Zunächst muss unterschieden werden zwischen einer Forschung, die dem Erhalt und der Verbesserung der Lebensbedingungen von Embryonen selbst dient, und einer Forschung, bei welcher das medizinische Wissen auf dem Weg der Vernichtung von Embryonen 3 gewonnen wird. Letztere wird deshalb auch als „verbrauchende Embryonenforschung“ bezeichnet; sie ist Thema dieser Arbeit. Die Hauptmotivation für die Forschung mit Embryonen ist, embryonale Stammzellen zu gewinnen. Anfang der 1980er-Jahre gelang es Wissenschaftlern erstmals, embryonale Stammzellen aus Mäuseembryonen zu isolieren und im Labor zu züchten. Die Meldung von zwei amerikanischen Forscherteams im Jahre 1998 über die Entdeckung von embryonalen menschlichen Stammzellen löste dann eine regelrechte Forschungslawine aus. Stammzellen sind einfach gesagt „Alleskönner“. Sie sind in ihrer Entwicklung noch nicht festgelegt. Aus ihnen können also Nervenzellen, Knochenzellen, Blutzellen, grundsätzlich jeder der über 200 Zelltypen des menschlichen Körpers, hervorgehen. Embryonale Stammzellen können sich außerdem in Kultur uneingeschränkt vermehren. Auf Grund dieser Eigenschaften möchten Wissenschaftler die Zellen dazu verwenden, Ersatzgewebe für schwer kranke Menschen heranzuzüchten. Abbildung 1: Ein Weg, embryonale Stammzellen zu gewinnen, 4 ist aus Blastozysten, die durch in-vitro Fertilisation entstanden sind (Quelle ) 3 Auf die manchmal vorgenommene Unterscheidung zwischen Embryo und Präembryo (menschlicher Keim vor Einnistung in der Gebärmutter) wird im Rahmen dieser Arbeit verzichtet. 4 Grafik aus: http://www.allmystery.de/dateien/,1288276481,stammzellenforschung500px.jpg 5 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Nach der Vereinigung von Ei- und Samenzelle entstehen bei den ersten Teilungen totipotente Stammzellen. Aus der befruchteten Eizelle entwickelt sich innerhalb von fünf bis sechs Tagen die Blastozyste (s. Abb.1). Diese besteht aus der inneren und äußeren Zellmasse. Aus der inneren Zellmasse, dem Embryoblasten bilden sich nachfolgend alle anderen Körperzellen des Embryos, aus der äußeren Zellmasse, dem Trophoblasten, die Plazenta. Entnimmt man der Blastozyste eine Zelle aus dem Embryoblasten so ist diese pluripotent, denn sie kann zwar noch alle Zellen des Körpers bilden, aber nicht mehr die Plazenta. Wenn sich der Embryo über den Fetus bis zum Erwachsenen entwickelt, so wird das Entwicklungspotenzial der Zellen immer weiter eingeschränkt. Aber auch der erwachsene Körper besitzt noch Stammzellen, also adulte Stammzellen. Das bekannteste Beispiel sind die Blutbildungszellen, die sämtliche Zellen des Blutes bilden. Embryonale Stammzellen werden heute vor allem aus zwei Quellen gewonnen: zum einen aus „überzähligen“ Embryonen, die im Rahmen künstlicher Befruchtungen (IVF) anfallen und nicht mehr „benötigt“ werden, und aus abgetriebenen Embryonen. Zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen aus dem IVF Embryonen wird der Trophoblast zerstört. Die nun zugängliche innere Zellmasse wird in Nährmedien aufgenommen und kultiviert. Heute werden auch andere Herstellungsverfahren von embryonalen Stammzellen diskutiert, etwa durch Zellkerntransfer oder Parthogenese. Deren technische Beschreibung und ethische Beurteilung würden allerdings den Umfang dieser Arbeit sprengen. Humane embryonale Stammzellen werden sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die klinische Forschung als hoch interessant eingeschätzt. Es wird angenommen, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeit zur unbegrenzten Vermehrbarkeit eine schier unerschöpfliche Quelle zur Gewinnung von Zell- und Gewebeersatz darstellen. Aufgrund ihrer Differenzierungseigenschaften sind sie als Forschungsobjekt geeignet, um eine Vielzahl von Entwicklungsprozessen im Detail zu untersuchen. In der Grundlagenforschung stehen die Aufklärung von molekularen Mechanismen der Spezialisierung einzelner Zellen, sowie die Untersuchung der Organisation von Zellen im Gewebeverband und in Organen im Vordergrund. Darüber hinaus möchte man ein verbessertes Verständnis der Entwicklung und Regulation früher Stammzellstadien erreichen, und die Mechanismen, die der Fähigkeit zu Vermehrung und Differenzierung zugrunde liegen, erforschen. Im Rahmen der klinischen Forschung erhofft man sich von embryonalen Stammzellen die Möglichkeit zur Schaffung von Gewebeersatz, besonders im Hinblick auf solche Gewebe, die nur ein geringes oder gar kein Regenerationsvermögen aufweisen, wie z. B. Nervengewebe. Ziel ist die Anwendung von embryonalen Stammzellen zur Behandlung von verschiedenen Krankheiten, z. B. neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson und Multiple Sklerose, Diabetes mellitus Typ 1 sowie Krankheiten des Herz-Kreislaufsystems. 6 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Der Disput Die Frage, ob mit embryonalen menschlichen Stammzellen geforscht werden darf oder nicht, enthält Sprengkraft. Viele Menschen setzen darauf große Hoffnungen, andere sehen darin einen ethischen Dammbruch. Die einen malen in glühendsten Farben die Befreiung der Menschheit von Krankheiten wie Krebs, Diabetes, Parkinson oder sprechen auch von einem „Mega-Markt“, die anderen meinen, dass damit unschuldige menschliche Lebewesen getötet werden. Im Großen und Ganzen gibt es heute drei Positionen zur „verbrauchenden Embryonenforschung“: 1) Die eine plädiert für ein kategorisches Verbot. Mit dem Beginn menschlichen Lebens beginnt dessen volle Schutzwürdigkeit. Der Embryo ist Träger einer umfassenden Menschenwürde. Das schließt jede Art von Güterabwägung, auch hinsichtlich medizinisch hochrangiger Forschungsziele, aus. 2) Die polare Position dazu sieht überhaupt keine Schutzwürdigkeit von Embryonen mit der Begründung, es handle sich bei diesen um Zellhaufen. Blastozysten haben keine Nerven, kein Schmerzempfinden und schon gar kein Bewusstsein. Lebensschutz kommt nur Lebewesen zu, bei denen sogenannte „moralisch relevante Eigenschaften“ vorliegen. 3) Eine dritte, mittlere Position hält zwar prinzipiell am Lebensschutz von Beginn neuen menschlichen Lebens fest, läßt aber Ausnahmen im Zeichen hochrangiger Forschungsziele zu. 5 Welche Position ist nun die richtige? Kann das überhaupt entschieden werden? Was sind mögliche Kriterien zur Unterscheidung? Welches Menschenbild liegt hinter den verschiedenen Positionen? Um hier weiterzukommen, müssen wir uns jener Wissenschaft zuwenden, die sich systematisch darum bemüht zu erkennen, was gutes und richtiges Handeln ist, und wie sich dieses begründet, also der Ethik. Der Mensch und das Gute In der Ethik wird das Ethos, bzw. die Moral wissenschaftlich befragt und reflektiert. Das Ethos ist eine konkrete geschichtliche Form menschlichen Miteinanderlebens – das heißt die gelebte, sittlich bestimmte Überzeugung einer Gruppe, einer Gesellschaft oder Epoche. Es umfasst damit Grundhaltungen, Wertmaßstäbe, Sinnvorstellungen und Handlungsregeln und bildet so einen Rahmen für das Verhalten der Menschen untereinander. 5 7 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 173 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Ethik ist demgegenüber die philosophische Wissenschaft des Ethos. In der Ethik wird über das sittlich gute, menschliche Handeln methodisch reflektiert. Sie erstellt Kriterien für gutes und schlechtes (böses) Handeln und bewertet die Motive und Folgen des Handelns. Diese Reflexion und Bewertung ist aber kein wissenschaftlicher Selbstzweck. Vielmehr gehört zur ethischen Erkenntnis die praktische Umsetzung. Ziel der Ethik ist nämlich - wie Aristoteles formuliert: „…nicht die Erkenntnis, sondern das Handeln… 6“. Die Ethik wird daher auch als „praktische Philosophie“ bezeichnet. Als philosophische Disziplin beruft sich die Ethik auf die praktische Vernunft, nicht auf eine Autorität oder auf Konventionen. Sie befasst sich also mit der Moral hinsichtlich ihrer Begründbarkeit. Ethik ist somit keine subjektive Geschmacksfrage und kann auch nicht irrational betrieben werden. Im Laufe der Kulturgeschichte der Ethik sind verschiedene Maßstäbe entwickelt worden, um zwischen gutem von schlechtem, zwischen gutem und bösem Handeln unterscheiden zu können. Für unsere Fragestellungen, wie ein ethisches Urteil im Bereich medizinischer Forschung gebildet werden kann, werden im Folgenden kurz drei Ansätze skizziert: Deontologische Ethik Aus einer deontologischen 7 Sicht wird die Sittlichkeit danach beurteilt, ob sie einem anerkannten, moralischen Prinzip entspricht. Handlungen können damit in sich – unabhängig von den Folgen - moralisch gut oder schlecht sein. Ein Beispiel für ein mögliches deontologisches Prinzip ist etwa, dass das Töten Unschuldiger auf jeden Fall verboten ist. Zu den bekanntesten deontologischen Theorien zählt die Ethik Kants. Nach Kant gewinnen wir moralische Urteile auf einem Weg einer Universalisierung unserer Maximen. Maximen sind subjektive, individuell geprägte Handlungsregeln. Ein Beispiel für Maximen sind etwa „Sei hilfsbereit“ oder „Achte auf deine Gesundheit“. Ob Maximen moralisch sind oder nicht, kann mit der einfachen Frage geprüft werden, ob sie verallgemeinerungsfähig sind. Das grundlegende Prinzip nach Kant – der kategorische Imperativ - lautet demnach: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ 8 Vereinfacht ausgedrückt kann die Frage auch so gestellt werden: „Kann ich wollen, dass alle so handeln wie ich jetzt?“ Die Stärke dieses Ansatzes liegt in einer einfachen Anwendung des Verallgemeinerungsverfahrens. Nach Kant kann jeder Mensch mit seiner eigenen praktischen Vernunft prüfen, ob er sich sittlich gut verhält, oder nicht. Voraussetzung dafür ist, dass er guten Willens ist und lange genug vernünftig nachdenkt. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik I, 1095a Von griechisch: deon: das Erforderliche, die Pflicht 8 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WW IV/42 7 8 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Der Ansatz Kants besitzt jedoch den Nachteil, mit der Universalisierbarkeit nur ein notwendiges, nicht schon ein hinreichendes Merkmal der Sittlichkeit anzugeben. Mit dem kategorischen Imperativ wird nicht beantwortet, was das Gute denn inhaltlich eigentlich ist. Es wird gesagt, was auf alle Fälle moralisch schlecht ist, nicht aber positiv ausgedrückt, was hier und jetzt zu tun ist. Teleologische Ethik Unter teleologischen 9 Ethiken versteht man solche Ansätze, die ihr Hauptaugenmerk auf bestimmte Zwecke oder Ziele richten. In ihnen wird die Forderung erhoben, Handlungen sollten ein Ziel anstreben, das in einem umfassenderen Verständnis gut ist. Der Inhalt dieses Zieles wird von den verschiedenen Richtungen auf recht unterschiedliche Art und Weise bestimmt. Im Unterschied zu den deontologischen Theorien beurteilt eine teleologische Ethik die Sittlichkeit einer Handlung nach ihren Folgen. Teleologische sind zumeist utilitaristische Theorien. Ausgangspunkt des Utilitarismus ist das Streben des Menschen nach Wohlergehen. Maßstab der Folgen ist der Nutzen, den die Folgen einer Handlung bewirken. Der Maßstab des Nutzens ist wiederum die Befriedigung bzw. Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse. Letztlich geht es jedoch nicht um den Einzelnen, sondern um das allgemeine Wohlergehen. Der oberste moralische Grundsatz aus dieser Sicht lautet: das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen. Eine Stärke des utilitaristischen Verfahrens liegt darin, dass Handlungen danach beurteilt werden, wie sie sich auf das allgemeine Wohlergehen auswirken, und nicht nur welchen persönlichen Nutzen der Handelnde davon hat. Eine wesentliche Schwäche des utilitaristischen Verfahrens ist, dass es eine Funktionalisierung des Einzelnen im Hinblick auf das allgemeine Wohlergehen zulässt. „Ist nämlich der Gesamtnutzen einer Handlung das einzige Gerechtigkeitskriterium, dann gibt es keine unverletzlichen individuellen Rechte, weshalb selbst die elementarsten Menschenrechte – Recht auf Leben, Gesundheit, Freiheit – um eines höheren Gesamtnutzens willen verletzt werden könnten“ 10. Strukturganzheit einer Handlung Dieser für die europäische, insbesondere kontinental-europäische Ethik maßgebliche Ansatz der aristotelisch-thomistischen Tradition geht bei der Beurteilung der Sittlichkeit einer Handlung von der Strukturganzheit der Handlung aus 11. Die Sittlichkeit einer Handlung bemisst sich für diesen Ansatz nach all ihren Strukturmomenten, d.h. eine Handlung ist gut, 9 Von griechisch: telos: Zweck, Ziel Pöltner, Medizin-Ethik, S.42 11 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S.45 10 9 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl wenn alle ihre konstitutiven Elemente gut sind. Die Strukturmomente der Handlung umfassen: Ziel, Absicht, Mittel, Umstände und absehbare Folgen. Das bedeutet etwa, dass nicht nur das Ziel einer Handlung gut sein soll, sondern es müssen auch die richtigen Mittel zu Erreichung des Zieles gewählt werden. Der Zweck heiligt also nicht die Mittel. Auch Ziel und Absicht des Handelnden müssen sich nicht decken. So kann etwa ein Arzt eine Therapie vorschlagen, in der Absicht sich zu bereichern; oder ein Humanexperiment in der Absicht durchgeführt werden, die eigene Karriere voranzutreiben. Schließlich muss eine Handlung situationsgerecht sein, den konkreten Umständen entsprechen und ihre Folgen verantwortbar sein. Dieser Ansatz ist für eine Medizin-Ethik besonders geeignet, weil er die Strukturganzheit und damit auch das Ziel des Handels berücksichtigt. Er ist schließlich in Orientierung auch am ärztlichen Handeln entwickelt worden (der Vater von Aristoteles war Arzt). Er hat gegenüber dem deontologischen Ansatz Kants den Vorteil, nicht bloß die notwendigen, sondern auch die hinreichenden Bestimmungen sittlichen Handelns, nicht nur formale sondern auch inhaltliche Momente anzugeben. Und gegenüber dem teleologischen Ansatz des Utilitarismus hat er den Vorteil, bei der moralischen Urteilsbildung nicht bloß ein Teilaspekt, nämlich die Folgen des Handelns, sondern die gesamte Handlungsstruktur zu berücksichtigen. Der Mensch in der Forschung Wie beeinflusst nun die ethische Frage nach sittlich gutem und richtigem Handeln eine medizinische Forschung und deren therapeutische Anwendung? Wenn man verstehen will, wie die verschiedenen Ebenen von menschlichen Handlungsvollzügen ineinander wirken, ist es hilfreich, auch heute noch mit den Griechen zu beginnen. Nach der Auffassung der antiken Philosophie waren es vor allem drei Grundvollzüge, in denen der Mensch sein Leben verwirklicht, nämlich in der Trias von theoria, praxis und poiesis. theoria: Das Wissen um des Wissens willen; die von Zwecken freie Betrachtung über die natürlichen Dinge bis zu den höchsten Ursachen; die Grundfrage ist nach der Wahrheit; die Grundunterscheidung ist zwischen wahr und falsch; die Pflege der theoretischen Wissenschaften praxis: Erkenntnis des rechten Handelns; die Gestaltung des miteinander Lebens; das Handeln als menschenbezogener Vollzug; die praktische Vernunft entwirft Regeln des Zusammenlebens; Handeln im eigentlichen Sinne; die Grundunterscheidung ist zwischen gut und böse; die Pflege der praktischen Wissenschaften von Ethik und Politik 10 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl poiesis: technisch-praktischer Vollzug: Herstellen, Machen, Know-How; alle möglichen Formen der Produktion; die schöpferische Tätigkeit, die sich auch in Handwerk, Gestaltung und Kunst zeigt; die Grundunterscheidung ist zwischen richtig und falsch (= zweckmäßig und unzweckmäßig) Forschung Trias des menschlichen Vollzugs theoria Erkennen Wissen praxis Handeln Verantwortung poiesis Machen Können GrundlagenForschung ForschungsEthik Angewandte Forschung GrundUnterscheidung wahr / falsch gut / böse richtig / falsch (zweckmäßig / unzweckmäßig) Am ärztlichen Handeln lässt sich zeigen, wie diese drei unterschiedlichen Ebenen menschlichen Vollzugs untrennbar ineinander greifen. Einerseits betrifft es unmittelbar den kranken Mitmenschen, ist also der Sphäre der praxis zuzuordnen. Andererseits ist der Zweck des ärztlichen Handelns, die Gesundheit wieder „herzustellen“, hat also mit poiesis, mit „Machen“ zu tun. Allerdings ist die Gesundheit nicht ein künstliches von Menschenhand hergestelltes Werk. Das Heilen besteht ja eigentlich nicht in einem Herstellen, sondern im besten Fall in einem Wiederherstellen der Gesundheit. Nach wie vor ist also der alte Satz gültig: medicus curat, natura sanat (der Arzt behandelt, die Natur heilt). Um fachlich die richtigen Entscheidungen treffen zu können, bedarf der Arzt und die Ärztin schließlich entsprechendes Wissen aus der Sphäre der theoria. Das ärztliches Handeln muss also sachlich kompetent (setzt sich aus theoria und poiesis zusammen) und gleichzeitig sittlich zu verantworten sein (praxis) 12. Das heißt, es ist immer unter zwei verschiedenen, jedoch untrennbar zusammengehörigen Hinsichten zu beurteilen, nämlich: a) hinsichtlich der fachlichen Unterscheidung von richtig und falsch, und hinsichtlich der moralischen Unterscheidung von gut und böse. Wir erwarten zu Recht, dass ein Arzt nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Diese beiden Ebenen der Kompetenz, die medizinisch-fachliche und die medizinisch-ethische, bedingen einander, denn „ein sittlichpraktisches Wissen ohne Sachwissen ist leer, ein Sachwissen ohne sittlich-praktisches Wissen ist blind“ 13. 12 13 11 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 26 Pöltner, Medizin-Ethik, S. 27 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Das Thema dieses Aufsatzes reflektiert aber nicht so sehr das ärztliche Handeln an sich, sondern das Verhältnis zwischen Ethik und medizinischer Forschung. Die Basis neuzeitlichmodernen Wissenschaftsverständnisses war, dass die pure Aneignung von Wissen (theoria), die Forschung an sich, ethisch neutral ist. Erst dort, wo das gewonnene Wissen umgesetzt wird (poiesis), beginnen ethische Fragen relevant zu werden (praxis). Heute kann aber diese Unterscheidung von außer-moralischer Grundlagenforschung und moralisch relevanter Anwendung nicht mehr durchgehend aufrecht erhalten werden. Denn in vielen Fällen ist die Grundlagenforschung in sich schon Anwendung – also keineswegs moralisch neutral. Wir müssen uns fragen, woran und womit geforscht wird, wer oder was das „Objekt“ der Forschung ist. In der Tat: Genau das ist die Kernfrage bei der Forschung an embryonalen Stammzellen, nämlich welchen „moralischen Status“ diese besitzen. Es war freilich nur eine Frage der Zeit zu erkennen, dass Forschung an sich ethische Fragen aufwirft. Denn wenn die Grundeinstellung des Menschen zur Natur deren Beherrschung ist, liegt es in der Konsequenz der Sache, dass aus dem Subjekt der Herrschaft - der Mensch - ein Objekt der Beherrschung wird. An diesem Punkt sind wir heute tatsächlich angelangt. Der Gedanke der Naturbeherrschung durch den Menschen, ist umgeschlagen in einen Gedanken der Herrschaft des Menschen über den Menschen; bis hinein in die Genstruktur (man denke nur an Themen wie „Designer Babys“, Menschen Klone und Keimbahn Interventionen). Abbildung 2: Das Subjekt der Forschung und der Naturbeherrschung – der Mensch - wurde zum „Objekt der Beherrschung“ (eigene Grafik) Die Frage nach der sittlichen Legitimität von Forschungszielen und der dafür eingesetzten Mittel konnte nur so lange unreflektiert liegen bleiben, solange man die - etwas naive Überzeugung hatte, wissenschaftlicher Fortschritt und Naturbeherrschung seien identisch mit Fortschritt an Humanität und Freiheitsgewinn. 12 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Fortschritt (= praxis?) poesis theoria Abbildung 3: Mündet vermehrtes Wissen und zunehmende Naturbeherrschung automatisch zu einen Fortschritt an Humanität? (eigene Grafik) Der Mensch und die Würde Die „Sprache“ der Wissenschaft und Technik überschreitet geographische, politische und kulturelle Grenzen, sie ist global. Ein Genetiker aus New Dehli hat inhaltlich eine ähnliche Ausbildung genossen, wie eine Genetikerin aus Wien. Wissenschaftler tauschen sich fachlich weltweit aus und vermitteln sich gegenseitig die neuesten Forschungsergebnisse. Das Gleiche gilt aber nicht für die ethische Einstellung. Der Wissenschaftler aus New Dehli ist in einem anderen Elternhaus, in einer anderen Kultur, mit einer anderen Tradition, in einem anderen politischen System und wahrscheinlich in einer anderen Religion als die Wienerin aufgewachsen. Faktoren, die wesentlich das jeweilige Ethos prägen. Diese Situation stellt heute eine enorme Herausforderung dar. Wie können ethische Fragen, die sich durch weltweite wissenschaftlich-technische Entwicklungen ergeben, gelöst werden, wenn die Einstellung, was gutes Handeln eigentlich ist, sehr unterschiedlich ist. Als Ausgangsbasis für eine gemeinsame, transkulturell akzeptierte Grundüberzeugung bietet sich der „weltweit anerkannte“ Gedanke der Menschenwürde und der aus ihr fließenden Menschenrechte an. In der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 genehmigt und verkündet wurde, steht: „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen unveräußerlichen Rechte“. Und im Artikel 1 heißt es weiter: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Beim genauen Lesen der Präambel fällt auf: Die Menschenwürde wird darin allen Menschen anerkannt 14 – nicht zuerkannt 15. Der Unterschied in der Wortwahl liegt darin, dass die Würde nicht ein Merkmal oder ein Zustand ist, der ein Mensch einen anderen zuerkennt, sondern, dass sie bereits mit seiner Existenz vorgegeben ist. Die Würde kann daher nur anerkannt werden. Die Würde kommt damit jedem Menschen zu, einfach deshalb weil er ein 14 15 13 Synonyme für anerkennen: hoch achten, attestieren, bezeugen Synonyme von zuerkennen: zuteil werden lassen, verfügen, erteilen Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Mensch ist. Die Würde kann also nicht zuerkannt, sondern nur geachtet (oder mißachtet) werden 16. Die Würde selbst liegt darin – wie der Artikel 1 betont - dass der Mensch ein Wesen von Vernunft und Gewissen, und damit ein Wesen der Freiheit ist. Mit Freiheit kann allerdings nicht der aktuelle Freiheitsvollzug gemeint sein. Denn faktisch sind nicht alle Menschen in der Lage, ihre Freiheit zu vollziehen (manche können es noch nicht, manche nicht mehr). Wenn es also, wie es in dem Menschenrechtsdokument heißt, alle Menschen frei geboren sind, faktisch aber nicht alle frei sind, dann ist mit der allen Menschen zukommenden Freiheit das prinzipielle Frei-Sein-Können gemeint. „Weil der Mensch Würde besitzt, ist er Person“ 17. Er ist ein „Jemand“ und nicht ein „Etwas“. Mensch zu sein heißt schon, Person zu sein. Diese Untrennbarkeit von Mensch und Person bringt der ontologische 18 Personenbegriff zum Ausdruck. „Einfach weil er Mensch ist, kraft seines Menschseins, kommt dem Menschen Würde zu. Und genau deshalb ist er Person“ 19. Diese ethische Grundüberzeugung von der Würde jedes Menschen führt dann bei Kant zu der Formel: „Handle so, dass du eine Person, jederzeit als Zweck und niemals bloß als Mittel gebrauchst 20“. Der Mensch existiert also als Zweck an sich, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für den Willen eines anderen. Die Formel schließt nicht aus, dass man Menschen nicht auch als Mittel verwenden kann, z.B. Arbeiter in einem Arbeitsvertrag, aber niemals bloß als Mittel. Eine reine Funktionalisierung des Menschen verbietet sich. Beispiele für eine „Totalverzweckung“ des Menschen wäre etwa Folter, Sklaverei oder auch das Klonen von Menschen. Eine ethische Güterabwägung unterscheidet sich von einer anderen Bewertung - etwa einer technischen oder ökonomischen - genau durch den „Selbstzweckcharakter“ des Menschen. Sie darf nicht allein danach erfolgen, ob ein Ziel nützlich oder praktisch ist, sondern im Blick auf die Würde des Menschen. Denn die Würde des Menschen darf nie Gegenstand, sondern immer nur Prinzip ethischer Abwägungen sein. Würde zu besitzen bedeutet ein unbedingtes Tabu zu erhalten. Nämlich nicht nur einen Wert zu haben, ein Mittel oder ein Objekt für irgendjemand zu sein, sondern selbst ein „jemand“ zu sein, und als solcher den unbedingten Respekt von anderen verlangen zu können. 16 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 49 Pöltner, Medizin-Ethik, S. 51 18 Ontologisch vom griechischem: To on, das Seiende 19 Pöltner, Medizin-Ethik, S. 51 20 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, WW IV / 429 17 14 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Der Mensch und die Person Contra Embryonenforschung Die Anerkennung der Menschenwürde aller Menschen schließt also die „Totalverzweckung“ eines Menschen aus. Mit dem Beginn eines neuen Menschenlebens, mit Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, beginnt auch dessen volle Schutzwürdigkeit. Verbrauchende Embryonenforschung muss daher strickt verboten sein. Die bruchlose Kontinuität der Lebensentwicklung zeigt, dass der Mensch ab der Befruchtung als Mensch gelten muss und sich nicht erst zum Menschen hin entwickelt: Der Mensch ist Mensch in allen Phasen seines Lebens; er ist immer ein „jemand“. Von „unbewußt“ zu „bewußt“ gibt es einen gleitenden Übergang, nicht aber von „etwas“ zu „jemand“ 21. Die Würde des Menschen kann daher nicht gegen andere Güter, etwa therapeutische Ziele, abgewogen werden. Eine medizinische Forschung, ein therapeutischer Zweck kann also nicht das Mittel der „Totalverzweckung“ von Embryonen „heiligen“. Eine verbrauchende Embryonenforschung missachtet die Würde des Menschen, indem sie das Subjekt des Menschen - des Embryos - zu bloßen biologischen Faktizität degradiert. Hier stößt das Grundrecht der Freiheit der Forschung an seine sittlich legitime Grenze. Kernpunkte der Argumentation gegen eine verbrauchende Embryonenforschung sind daher: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Kant Lebensrecht Person Forschung Anerkennung der Würde aller Menschen Verbot der Totalverzweckung Jeder Mensch hat Lebensrecht Mensch ist Person von Anfang an Umfassender Lebensschutz von Embryonen Verbot der verbrauchenden Embryonenforschung Pro Embryonenforschung Viele halten heute allerdings den Begriff der Menschenwürde für brüchig, nutzlos und inhaltsleer. Sie decken ihre Position philosophisch mit einer Tradition, die von John Locke bis hin zu Peter Singer reicht. In dieser sind die Begriffe der Person und des Menschen zu trennen. Maßgeblich ist dabei nicht der ontologische, die Menschenwürde zum Ausdruck bringende Personenbegriff, sondern der bewusstseinstheoretische Personenbegriff. Personsein wird vom Vorliegen bestimmter Merkmale, wie Empfindungsfähigkeit, Rationalität, Selbstbewusstsein oder Zukunftsbezug abhängig gemacht 22. Das Lebensrecht ist deshalb nicht ein Menschen-, sondern ein Personenrecht. Die Eigenschaft der Rationalität etwa besitzen nicht alle menschlichen Individuen (z.B. Feten, Neugeborene, Komatöse). Hingegen meinen vehementere Vertreter dieser Position sogar, 21 22 15 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 174 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 177 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl dass Rationalität bei höher organisierten Tieren, z.B. Menschenaffen ausgemacht werden kann. Es gäbe demnach einige menschliche Wesen, die keine Personen sind, und einige Personen, die keine menschlichen Wesen sind. Aus dieser Position heraus ist ein verbrauchendes Experimentieren mit Embryonen ethisch nicht verwerflich. Embryonen besitzen einen Status, der sie einer Güter- und Interessensabwägung zugänglich macht. Ein Lebensschutz ist eben an Merkmale gebunden, die für das Vorliegen von Personalität als konstitutiv erachtet wird. Schutzwürdig ist ein „menschliches Leben“ erst dann, wenn die „Personenmerkmale“ im Laufe der Entwicklung auftreten. Eine verbrauchende Embryonenforschung verletzt nach dieser Auffassung also keine Rechte des Embryos. Kernpunkte der Argumentation für eine verbrauchende Embryonenforschung sind daher: Lebensrecht Person Forschung Lebensrecht besitzen nur Personen Person-Sein ist an (moralisch relevante) Eigenschaften und Merkmale gebunden Embryonen sind keine Personen, sie haben daher kein Recht auf Lebensschutz verbrauchende Embryonenforschung ist daher sittlich erlaubt Der Mensch und das Subjekt Ist nun ein menschliches Wesen von Anfang an kompromisslos zu schützen, weil die Menschenwürde mit der Existenz mitgegeben ist, oder erst wenn bestimmte „personale“ Merkmale ausgebildet sind? Um den moralischen Status des menschlichen Embryos beurteilen zu können, ist es wesentlich zu fragen „wer oder was“ das Subjekt dieses Lebens und Werdens denn eigentlich ist. Häufig verwendete Formulierungen wie etwa „beginnendes menschliches Leben“ können problematisch mißverständlich sein, denn sie können leicht dazu verleiten, den eigentlichen Fragepunkt zu übersehen. Wir müssen uns aber ganz konkret fragen: Wer lebt im „werdenden menschlichen Leben“? Und weiters: Was heißt hier genau „werden“?23 Zur Veranschaulichung: Wenn ein Arzt einen Patienten behandelt, kann es notwendig sein, ihn vorübergehend als „menschlichen Organismus“ zu betrachten. Aber das bedeutet nicht, dass in der Folge ein „menschlicher Organismus“, sondern nach wie vor Jemand – nämlich ein kranker Mitmensch – behandelt wird. Ein Mensch kann zwar zu einem menschlichen Organismus vergegenständlicht werden – das ist die Voraussetzung für medizinische Forschung – dabei geht aber das „eigentlich Menschliche“ verloren. 23 16 Vgl. Pöltner, Medizin-Ethik, S. 207 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Es lebt und stirbt primär nicht ein „menschlicher Organismus“, sondern jeweils ein jemand – eine Person. Auch Eltern zeugen nicht einen „menschlichen Organismus“ oder einen Fötus, sondern ihr Kind und dieses wird geboren. Für eine sachgerechte Rede vom „menschlichen Leben“ ist es daher wichtig, die unverkürzte mitmenschliche Erfahrung als Basis für eine anthropologische Reflexion zu machen und nicht auf eine Fachterminologie zu setzen, die einem methodischen Reduktionismus entstammt. Dasselbe gilt für den Ausdruck „menschliches Leben“. Dieses „menschliche Leben“ ist das Leben eines Menschen unter dem reduzierten Gesichtspunkt biologischer Vergegenständlichung. Wird also vom „Beginn menschlichen Lebens“ oder von „menschlichen Zellen“ gesprochen, darf der analoge Sinn dieser Sprache nicht vergessen werden. Was sollte die Differenz zwischen „beginnenden menschlichen Leben“ und mir selbst sein? Habe ich einen Vorläufer meiner selbst namens „menschlichen Leben“ gehabt, der sich zu mir hin entwickelt hat? Nein, meine Eltern haben nicht „menschliches Leben“, sondern mich selbst gezeugt. Auch bei der Fragen nach dem Subjekt des Werdens, ist es wichtig eine sachgerechte Sprache zu wählen, um dem Problem auf den Grund zu gehen. Wer oder was wird? Was heißt hier „werdendes menschliches Leben“? Streng gedacht wird nicht aus einem Kind ein Erwachsener, vielmehr muß es genauer heißen: du selbst, der du jetzt ein Kind (ein Bub) bist, wirst einmal (wenn alles gut geht) ein erwachsener Mann sein, und du, die du jetzt eine erwachsene Frau bist, bist einmal ein Kind (Mädchen) gewesen. Nicht das Kind ist ein Erwachsener geworden, sondern du selbst hast dich gewandelt und bist im Wandel derselbe / dieselbe. Ich, der ich Fetus gewesen bin, bin zum erwachsenen Menschen geworden – „ich“ bin aber nicht Mensch geworden. Mit dem Personalpronomen „ich“ meine ich nicht eine meiner Lebensphasen, sondern mich in der Ganzheit meiner leiblichen zeitlichen Existenz. „Embryo“ kann nicht ein von mir verschiedenes Individuum meinen, schon gar nicht ein bloßes Etwas, sondern eine gewesene Lebensphase meiner selbst. Nicht der Embryo ist zu einem erwachsenen Menschen geworden, sondern ich selbst bin es geworden. Man darf nicht Lebensphasen zum Subjekt des Werdens machen. Genau das suggeriert aber eine sorglos substantivische und noch dazu ausschließlich fachterminologische Redeweise (Embryo, Fetus, Leibesfrucht). 17 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Abbildung 3: Eine typische wissenschaftlich-reduktionistische Darstellung, wie embryonale Stammzellen hergestellt 24 werden. Sie suggeriert, dass der Fötus noch kein Mensch, sondern eben ein Fötus ist. (Quelle ) Wenn unterschiedliche Existenzphasen mit einzelnen Substantiva bezeichnet werden, wird die Identität des Subjekts abstrahiert und verleitet zu dessen Zerstückelung in selbständige Lebewesen. Dadurch kann vergessen werden, dass Lebensphasen jemandes Lebensphasen sind. 24 Bild aus Robert David, Warum ist die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen auch in Deutschland notwendig?, in „Politische Studien“, Sonderheft 1, 2002 18 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Persönliche Schlussbemerkungen In den persönlichen Schlussbemerkungen möchte ich auf die anfangs gestellten Fragen zurückkommen: A) Ist Forschung an embryonalen Stammzellen sittlich legitim, ja oder nein? Pöltner legt in seinem Buch Grundkurs Medizin-Ethik übersichtlich die kontroversiellen Argumente, die für und gegen die verbrauchende Embryonenforschung vorgebracht werden, dar. Mit den Erläuterungen, wie vom Menschen sachgerecht zu reden sei, zeigt er dann sehr deutlich und eindrucksvoll, dass der Mensch sich stets als Mensch und nicht zum Menschen entwickelt. Eine Auffassung, die ich zu 100% teile. Der Mensch kann daher nur von Anfang an als Person betrachtet werden. Damit verbietet sich, unter anderem nach der Kant’schen Ethik, eine reine Funktionalisierung des Embryos. Person-Sein muss als Eingriffsgrenze jeglichem wissenschaftlichen und ökonomischen Interesse entgegen stehen. Die menschliche Würde, die sich aus dem Person-Sein ergibt, ist ihrem Wesen entsprechend keine Eigenschaft. Niemand ist in der Lage und darum auch nicht berechtigt, durch eine inhaltliche Liste von Qualitätsmerkmalen, das Prädikat der Personalität zu vergeben. Alle Versuche, Person-Sein an Entwicklungsabschnitten festzumachen, sind willkürlich und meines Erachtens - mehr interessensgeleitet, als vom Wunsch, die Wahrheit zu erkennen. Sicherlich, die Wahrheit können wir nie voll besitzen. Aber es ist unsere Aufgabe sie mit vollem Verstand und ganzem Herzen zu suchen. Nur weil wir als Menschen „wahrheitsfähig“ sind, können wir sittliche Menschen sein, das heißt zwischen Gut und Böse unterscheiden und uns in der Lebenspraxis danach ausrichten. Die individuelle Person, die wir von Natur aus sind, liegt als Disposition vor. Beim Erwachsenen zeigt sie sich üblicherweise durch Rationalität, Selbstbewusstsein, Sittlichkeit, Vernunft und Freiheit. Aber, ob sich das Person-Sein zeigt, liegt nicht in unserer Hand. Es kann sich zeigen, aber es muss es nicht, wie etwa bei einem geistig schwer behinderten Menschen. Und es kann sich auch noch nicht gezeigt haben, wie bei einem Embryo. Die Merkmale des „Sich-Zeigens“ sind aber nicht konstitutiv für die Menschenwürde. Niemand kann letztlich in der Tiefe wissen, wie die beiden Hinsichten des Menschen, die wir Leib und Seele, Körper und Geist, Vitalität und Rationalität nennen, wirklich zu verstehen sind und miteinander zusammenhängen. Niemand weiß, wie notwendig oder unzerreißbar beide von Anfang an zusammengehören. Der Mensch ist und bleibt wie Augustinus formuliert eine magna quaestio 25. Wo es sich aber so verhält, da muss gelten: „im Zweifel für die Person“. Das heißt „jedem Menschen ist von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod die Würde einer Person zuzuerkennen“ 26. 25 26 19 Vgl. Augustinus, Confessiones IV 4, 9, ed. J. Bernhart, Frankfurt/M. 1987, 150/151. Dignitas Personae, Kongregation für die Glaubenslehre, 2008, S.1 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Ich plädiere daher für eine Sicht, die mehr Staunen, mehr Ehrfurcht und mehr Scheu zeigt. Der unauflösbare Geheimnischarakter der Verbindung von „biologischer Materie“ und Personalität im Menschen ist einfach zu respektieren. Wir benötigen eine anthropologische Wissenschaft, die immer wieder aufzeigt, dass das Wesen Mensch die Erkenntnis über sich selbst unendlich übersteigt. Eine solche schützt die Würde des Menschen als Mysterium. Konkret bedeutet das: Embryonen zu töten heißt, Träger von Menschenwürde zu töten. Verbrauchende Embryonenforschung ist daher – für welchen Zweck auf immer – sittlich unstatthaft. B) Welches Verhältnis zwischen Wissenschaft, Technologie und Ethik ist wünschenswert? Die Bestimmung und Aufgabe der universitären Bildung war – und ist es, denke ich, immer noch – der Ort zu sein, wo umfassend die eigentliche Wahrheit über den Menschen und das Universum gesucht wird 27. Dieses unmittelbare Streben nach Erkenntnis hat einen hohen Wert an sich und ist das, was in der antiken Philosophie als theoria bezeichnet worden ist. Heute wird allerdings von den Universitäten erwartet, dass sie wesentliche Akteure in Innovationssystemen sind, das heißt neue Technologien entwickeln und die kommerzielle Verwertung ihrer Ergebnisse mit Nachdruck vorantreiben. Das gilt insbesondere für die naturwissenschaftlichen und technischen Studien. Die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in Technologien haben auch tatsächlich außerordentliche Vorteile für die Gesellschaft hervorgebracht und die Lebensqualität vieler Menschen entscheidend verbessert. Zugleich haben die Naturwissenschaften aber auch ihre Grenzen. Sie können nicht alle Fragen über den Menschen und seine Existenz beantworten. Die menschliche Person, ihr Platz und ihr Sinn im Universum lassen sich nicht in den Grenzen der Wissenschaften erfassen. Schließlich beruht die wissenschaftliche Methodik darauf, dass nur Objekte untersucht werden. Subjekte, Selbstsein, Personalität werden hingegen systematisch ausgeblendet. Das ist methodisch legitim. Problematisch wird es dort, wo ein naturwissenschaftliches Verständnis über die Welt und den Menschen totalitär wird und ein Deutungsmonopol auf die ganze Lebenswirklichkeit erhebt. Die Gefahr besteht dabei, dass wir – vielleicht gar nicht bewusst – in allem dem entfremdenden Blick der Naturwissenschaften folgen, und dabei unsere eigene Innerlichkeit verlieren. Die Unmittelbarkeit unseres Erlebens, die Innenseite unseres Daseins, die existentielle Selbsterfahrung muss aber neben einer reduktionistischen Sichtweise bestehen bleiben. 27 20 Universitas kommt vom lateinischen und bezieht sich auf umfassende Bildung Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl In einer Euphorie der ständigen und beschleunigten Wissensvermehrung ist nüchtern zu bedenken 28, dass damit nicht eine Nichtwissensverringerung einsetzt. Vielmehr gilt: „Je mehr wir wissen, desto mehr werden wir wissen, was wir alles nicht wissen“ 29. Das heißt die Tiefe des Nichtverstehens ist nicht auszuschöpfen, auch wenn der Mensch immer mehr weiß. Deshalb kann die Kumulation von wissenschaftlichen Daten und Fakten auch nie die Weisheit überflüssig machen. Die Tendenz der modernen Naturwissenschaften, sich für den eigentlichen oder einzig legitimen Zugang zur Wirklichkeit zu halten und für alles zuständig zu sein, ist in modernen Gesellschaften einigermaßen durch die universalen Menschenrechte, die aus der Menschenwürde hervorgehen und sie konkretisieren, gebändigt. Umso wichtiger ist es, dass die Menschenwürde nicht durch „die Hintertür“, wie etwa bei der embryonalen Stammzellforschung, ausgehöhlt und „entsorgt“ wird. Vielmehr benötigen die Aneignung und vor allem auch der Gebrauch wissenschaftlicher Kenntnisse das Orientierungslicht einer ethischen Weisheit. Daher wäre es – meiner Ansicht nach - sehr wichtig, wenn ethisches Fragen und Lernen eine bedeutendere Rolle in der akademischen Ausbildung zukommt. Wir benötigen eine Integration professionell-fachlicher Ausbildung mit moralisch-ethischer Bildung. Es ist heute eine der großen Aufgaben, dass wir wissenschaftlich-technische Riesen nicht zugleich als ethische Zwerge zurückbleiben. Es bedarf einer fundierten, ganzheitlichen Reflexion, um überhaupt sagen zu können, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen, und auch eines entsprechenden Mutes auszusprechen, was wir nicht wollen. Nur wenn das Streben nach Erkenntnis und neuen Technologien mit der Suche nach dem, was gut und edel ist, Hand in Hand geht, können wir darauf vertrauen, dass die Fortschritte in den Naturwissenschaften tatsächlich dem Aufbau einer besseren Welt dienen. Ethische Maßstäbe sind keine Fesseln des Fortschritts, sondern vielmehr Schlüssel für das wahre Menschsein des Menschen. Schließlich geht es in der Ethik nicht allein darum, Grenzen zu legen, sondern vielmehr darum, ethisch unbedenkliche Wege aufzuzeigen und für diese vehement einzutreten. Wer beispielsweise die Forschung mit embryonalen menschlichen Stammzellen ablehnt, sagt damit noch nicht Nein zur Forschung mit adulten Stammzellen 30. 28 Man denke hier etwa an die Verheißungen, die bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms (human genome project) gemacht wurden. Nach einer Enttäuschungsphase setzt sich jetzt die nächste Hoffnungswelle auf die Proteomik. 29 Eduard Zwierlein, Gezeugt nicht gemacht in „Grundvollzüge der Person“, Institut zur Förderung der Glaubenslehre, 2008 30 Interessanterweise hat der Vatikan und das US-amerikanische Pharmaunternehmen NeoStem 2010 eine Zusammenarbeit in der Erforschung adulter Stammzellen vereinbart. 21 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl Wenn die Suche nach dem Wahren (theoria) und dem Guten (praxis) sich miteinander verbinden und die schöpferische Machbarkeit (poiesis) inspirieren und lenken, die drei Ebenen des menschlichen Vollzugs sich also harmonisch ergänzen und stärken, dann – und nur dann - wird der technologische Fortschritt tatsächlich dem Wohl des Menschen dienen. Ethik (praxis) Wissenschaft (theoria) Technologie (poiesis) Abbildung 4: Ausgewogenes Verhältnis zwischen den drei Sphären des menschlichen Vollzuges Literatur Pöltner Günther, Grundkurs Medizin-Ethik, Wien 2002 Zwierlein Eduard, Gezeugt nicht gemacht in „Grundvollzüge der Person“, Institut zur Förderung der Glaubenslehre, 2008 Kongregation für die Glaubenslehre, Dignitas Personae, Vatikan, 2008 22 Schriftliche Arbeit: Theologische Kurse; Lukas Madl