Auflage: 1558467 Gewicht: Hintergrundbericht/Reportage 12. Oktober 2015 Zurück zum Inhaltsverzeichnis GESUNDHEIT SEITE 21/23 Dünndarm «Wir sind wahrscheinlich zu sauber» Zu wenig Dreck mache den Darm krank, sagt der Gastroenterologe Bernhard Sauter. Und er erklärt, wieso der Dünndarm lebenswichtiger ist als andere Organe. Interview: Marc Bodmer Bild: René Ruis Bernhard Sauter, wie gut kennt man den Dünndarm? Das ist keine einfache Frage. Von den Hohlorganen, zu denen auch die Speiseröhre, der Magen und der Dickdarm zählen, kennt man den Dünndarm am schlechtesten. Warum ist das so? Zum einen ist er mit seinen fast drei Meter Länge sehr lang, zum andern liegt er in der Mitte des Verdauungstrakts und ist mit Sonden und anderen Untersuchungsmitteln nur schwer zugänglich. Doch der Dünndarm ist vergleichsweise wenig krank. Das ist erfreulich. Ja, denn ohne ihn könnten wir nicht leben. Ohne Magen oder Dickdarm kann man leben, selbst ohne Speiseröhre, aber nicht ohne Dünndarm. Was macht ihn so unverzichtbar? Im Dünndarm werden alle wesentlichen Nahrungsbestandteile aufgenommen wie Proteine, Kohlenhydrate, Mineralien, Vitamine und Fett. Dazu spielt er natürlich auch eine grosse Rolle beim Flüssigkeitshaushalt. Was leistet der Dünndarm? Täglich verarbeitet der Körper 6–8 Liter Verdauungssäfte. Ein grosser Teil davon wird im Dünndarm aufgenommen. Damit er dies kann, verfügt er über eine stark vergrösserte Oberfläche. Er hat Falten, Zotten und auf mikroskopischer Ebene kleinere Zöttelchen. All dies zusammen macht die Oberfläche 20 Mal grösser. Würde man einen menschlichen Dünndarm ausbreiten, so wäre er grösser als ein ganzer Tennisplatz. Was geschieht, wenn man verdorbene oder dreckige Nahrungsmittel isst? 1/4 Isst man zum Beispiel in den Ferien etwas Schlechtes, kann es zu Reisedurchfall kommen, ausgelöst durch Bakterien und deren Gifte. Das stört die Flüssigkeitsregulation massiv. Ein Extremfall ist die Cholera. Erkrankte können 10–20 Liter Flüssigkeit pro Tag verlieren! Ohne Hilfe sterben sie an Dehydratation. Sie vertrocknen. Aber auch in weniger extremen Fällen gilt Durchfall als riskant. Besonders für Kleinkinder kann Durchfall schnell gefährlich werden. Vor allem in Drittweltländern sterben viele Kinder daran. Ist keine Infusion verfügbar, hilft es, eine zwar widerliche, aber lebensrettende Lösung aus Wasser, Zucker und Salz zu trinken. Stimmt es, dass rohes Fleisch besonders viel Zeit benötigt, um verdaut zu werden, und gar zu faulen beginnt? Nein. Im Gegenteil, es sind vor allem die als gesund geltenden Nahrungsmittel wie Salat und Körner, die länger im Dickdarm liegen, wo sie von Bakterien verdaut und dabei Gase entwickelt werden, die stinken. Denken sie nur an einen Kuhstall… Man sagt: «Nach dem Essen sollst du ruhn oder 1000 Schritte tun.» Essen ist für den Dünndarm ein grosser Stress. Dafür benötigt er viel Blut. Strikt pathophysiologisch betrachtet, wäre eine Siesta sicher das Beste. Gehen wir spazieren, verlangen die Muskeln Blut. Dabei wird es für die Muskelarbeit abgezogen. Für die Verdauung ist es also sinnvoller, sich nach dem Essen zu schonen. Nebst der Verdauung leistet der Dünndarm noch viel mehr. Er ist mit sehr vielen Nerven durchzogen. Der ganze Verdauungstrakt – Magen, Dünndarm und Dickdarm – verfügt über so viele Nervenenden wie unser Gehirn. Man spricht von einem zweiten Gehirn. Das spiegelt sich auch in unserer Sprache wider: Schmetterlinge im Bauch, Liebe geht durch den Magen, man hat Schiss… Es gibt Personen, die sind mehr Bauchmenschen. Denen schlägt schnell etwas auf den Magen oder den Darm. Unter Stress haben die einen Schiss, andere sind verstopft. Das ist aber alles harmlos. Stimmt es, dass rund 90 Prozent der Nervenbahnen des Dünndarms zum Gehirn führen? Ja, bloss 10–20 Prozent der Bahnen gehen in die Gegenrichtung. Das zeigt wiederum, wie bauchgesteuert wir sind. Wir haben wenig Einfluss auf das autonome Nervensystem des Darms. Es ist nicht zuletzt darum so schwierig, einen Reizdarm zu behandeln. Obschon der Dünndarm relativ problemlos ist, gibt es schwerwiegende Erkrankungen. Beim Dünndarm geht gern vergessen, dass er das grösste Abwehrorgan des ganzen Körpers ist. Hier finden sich mehr Abwehrzellen als sonst irgendwo. Dies kommt bei Autoimmunkrankheiten zum Tragen, also Reaktionen, die sich gegen das eigene Gewebe richten. Es kann zu Krankheiten kommen wie Zöliakie, der Unverträglichkeit des Weizeneiweisses Gluten und zu Morbus Crohn. Beide Erkrankungen sind recht weit verbreitet und nehmen zu. Warum nimmt Zöliakie zu? Möglicherweise sind gewisse Weizensorten anders gezüchtet worden. Vielleicht ist der Glutenanteil höher oder anders als früher. Das lässt sich schwer sagen. Für Betroffene 2/4 ist eine glutenfreie Diät die derzeit beste Lösung, wobei es schwierig ist, sämtliche Getreideprodukte zu meiden. Laktose-Intoleranzen sind mittlerweile auch sehr häufig. Das lässt sich nicht mit Zöliakie vergleichen. Eine Laktose-Unverträglichkeit ist häufig genetisch bedingt und hat nichts mit einer Autoimmunerkrankung gemein. Sie löst weder Entzündungen aus, noch ist sie gefährlich. Wer Milchzucker nicht verträgt und trotzdem welchen isst, kann Durchfall und Blähungen bekommen, weiter nichts. Bei der Zöliakie kommt es zu Entzündungen, die den Darm schädigen können. Was sind die Eigenchaften des Morbus Crohn, der aggressivsten Dünndarmerkrankung? Morbus Crohn ist eine schwere Entzündung, die den gesamten Magen-Darm-Trakt erfassen kann. Wobei in zwei Dritteln der Fälle der Dünndarm betroffen ist. Es kann im Darm zu Verschlüssen, aber auch zu Löchern kommen, aus denen der Stuhl in die Bauchhöhle oder gar direkt aus der Bauchwand austritt. Das klingt sehr unschön. Kann man sich davor schützen? Eine Analyse des genetischen Materials hat gezeigt, dass mehr als 70 Gene an dieser Krankheit beteiligt sein können. Das zeigt, wie komplex diese Sache ist. Die genetischen Varianten können, müssen aber nicht eine Voraussetzung für die Erkrankung sein. Was braucht es dann noch? Umweltfaktoren können einen Einfluss haben. Rauchen kann Morbus Crohn fördern, aber auch Medikamente, etwa entzündungshemmende Schmerzmittel, oder eine schwere Entzündung wie eine Durchfallerkrankung können den Darm schädigen. Sind die entsprechenden Voraussetzungen gegeben, hört die Entzündung nicht mehr auf, und der Darm zerstört sich selber. Auch der Morbus Crohn nimmt zu. Warum? Die Hygienehypothese sagt, dass wir heute zu sauber sind. Man hat stets gepredigt: Man müsse die Hände waschen, alles des infizieren… Das ist wahrscheinlich schlicht zu viel des Guten. Der Darm ist das grösste Abwehrsystem des Körpers. Ihm kommt aber eine andere Rolle zu als zum Beispiel dem Immunsystem der Haut. Dringt ein Holzsplitter in die Haut ein, wird er sofort und aggressiv abgewehrt. Eiter wird gebildet, weil der Fremdkörper wieder raus soll. Und wie sieht das im Darm aus? Der Darm wird täglich von Hunderten von Millionen fremden Stoffen bombardiert wie Essen, Bakterien, Viren – alles, was dem Körper durch den Mund zugeführt wird. Wenn der Darm gleich voll auf Abwehr gehen würde, käme es nicht gut. Er ist viel toleranter. Verliert er aber diese Toleranz, kann er mit einer chronischen Entzündung reagieren. Wenn wir zu sauber sind und der Darm sich nicht regelmässig mit Dreck, Würmern und Ähnlichem beschäftigt, verliert er genau diese Toleranz und wird zu aggressiv. Ist der Morbus Crohn eine Zivilisationskrankheit? In einem gewissen Sinn schon. Überall dort, wo die Hygiene zunimmt, nimmt auch der Morbus Crohn zu. In Ländern wie Südsudan oder Kongo haben sie wenig bis keine 3/4 Crohn-Erkrankungen. Zu meiner Studienzeit gab es in China nur wenige Fälle. Heute ist das anders. Wie behandelt man den Morbus Crohn? Man versucht, die Entzündung zu unterdrücken. In einer ersten Phase setzt man häufig Cortison ein. Für längerfristige Behandlungen gibt es viele verschiedene Therapien, und es wird auch intensiv geforscht. 80–90 Prozent der MorbusCrohn-Patienten geht es gut, aber sie müssen von Spezialisten behandelt werden, weil das Krankheitsbild und die Therapie sehr komplex sind.MM --Bernhard Sauter (52) ist Gastroenterologe und Spezialist für entzündliche Darmerkrankungen in der Hirslanden-Klinik Zürich sowie Professor an der Mount Sinai School of Medicine in New York. © MIGROS MAGAZIN 4/4