Legasthenie - Praxis Dr. Hammächer

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Dr. phil. H. Hammächer
LEGASTHENIE
Leerformel für eine
wissenschaftliche Herausforderung?
Inhaltsverzeichnis
I.
Geschichte der Legasthenie-Forschung........................................................ 1
1. Der Begriff „Legasthenie“....................................................................... 1
2. Die medizinische Phase........................................................................... 4
3. Die wissenschaftlich-empirische Phase.................................................... 5
4. Die Rückkehr zur Neurologie.................................................................. 6
II.
Legasthenie-Diagnose................................................................................. 9
1. Der Diagnostische Rechtschreibtest......................................................... 9
2. Das anamnestische Gespräch................................................................. 11
3. Der Intelligenztest.................................................................................. 12
4. Der Lesetest........................................................................................... 13
5. Die psychische Situation........................................................................ 15
III. Legasthenie-Therapie................................................................................ 16
1. Funktionstraining als Primärtherapie...................................................... 16
2. Ausblick................................................................................................ 21
Adresse des Autors............................................................................................ 22
Glossar der Fachbegriffe.................................................................................... 22
Erscheint demnächst in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Sprache (Zweig
Münster)
1
I. Geschichte der Legasthenie-Forschung
1. Der Begriff Legasthenie
Seit der Begriffsbestimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1916 durch den
ungarischen Psychiater Ranschburg) ist der Begriff Legasthenie außerordentlich
umstritten und nicht nur der Begriff, sondern auch Diagnosen und Therapieansätze.
Für die einen ist Legasthenie eine Leerformel, die abgeschafft werden müsse, für
die anderen stellt sie eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Für die
Betroffenen ist diese vermeintliche Leerformel so oder so mit Leid, schlechten
Berufsschancen und gesellschaftlicher Diffamierung verbunden.
Der Begriff Legasthenie wird heute primär in Forschung und Wissenschaft
verwendet. Von kultusministerieller Seite spricht man von „Schülerinnen und
Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)“. Die Eindeutschung des Begriffs hat dem lateinisch-griechischen
Fremdwort Leg-Asthenie=„Leseschwäche“ (legere=lesen, Asthenie= Schwäche)
sicherlich auch etwas von seinem mystischen Schleier genommen. Nichtsdestoweniger haben 80% aller Bundesbürger das Wort Legasthenie schon einmal gehört
und können es auch in Zusammenhang mit gestörten Lernprozessen bringen, doch
kaum jemand ist in der Lage, es sachlich zu füllen.
Als Lese-Schwäche ist die Legasthenie zu einseitig definiert, als Lese-Rechtschreibschwäche bereits erheblich besser, da Lesen und Rechtschreiben in der
Regel gemeinsam betroffen sind. In jedem Jahrgang deutscher Grundschulen gibt
es bis zu 10% lese-rechtschreibschwache Kinder. Da Legasthenie nicht so einfach
definiert ist wie ein Beinbruch, sind die Nöte der Lehrer auch verständlich, ob sie
nun ein Kind begründet als Legastheniker bezeichnen können oder nicht. Die
Legasthenie ist nach dem heutigen Forschungsstand primär ein neuro-biologisches
Problem, das natürlich auch Sekundärsymptome hervorruft. Entsprechend plural
müssen die Therapien sein.
2
Abb. 1 nach:
M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976 und J. Löffler/V.
Meyer-Schepers, Richtig lesen und schreiben durch Lautanalyse,
Bochum 1984
3
Abb. 2 nach:
M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976 und J. Löffler/V.
Meyer-Schepers, Richtig lesen und schreiben durch Lautanalyse, Bochum 1984
4
2. Die medizinische Phase
Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in England die sogenannte kongenitale Wortblindheit diagnostiziert. Der Proband war gut im Rechnen, solange er
es mit arabischen Ziffern zu tun hatte. Beim Diktat brachte er jedoch nur Unleserliches zustande. Eine zerebrale Dysfunktion ließ sich nicht nachweisen, was auch
nicht verwunderlich ist, wenn man die neurologischen Diagnosemöglichkeiten
zurückverfolgt. Die Symptomatik rechnet man heute der Aphasie zu und wird als
Alexie bezeichnet. Ein Proband mit dieser Symptomatik ist natürlich auch
gleichzeitig Legastheniker. Die besagten zerebralen Defizite schrieb man dem
genetischen Code zu.
Mit dieser Symptomatik begann die eigentliche Forschung auf dem Gebiet der
Legasthenie, wobei stets vorausgesetzt worden ist, dass der Patient ansonsten über
eine mindestens befriedigende bis gute Intelligenz verfügt. Dieses Kriterium der
durchschnittlichen Intelligenz bestimmt bis heute die Definition der Legasthenie, so
dass die Legasthenie grundsätzlich nur als Teilleistungsschwäche definiert und
anerkannt ist.1
Aufgrund mangelhafter Kenntnis der zerebralen Prozesse im Allgemeinen und der
daraus resultierenden vergeblichen Suche nach Sprachregionen, die speziell für
Lesen und Rechtschreiben zuständig sein sollten, machte die Legasthenie-Forschung nur geringe Fortschritte. Es gab natürlich eine Reihe von Hypothesen. So
nahm man lange Zeit an, dass unterentwickelte Neuronen2 bzw. Synapsen3 für die
Ausfälle verantwortlich seien, was von der heutigen Neurologie im Übrigen
bestätigt werden kann. Die zerebralen Ausfälle konnten entweder genetisch bedingt
sein oder sie waren durch andere Ursachen hervorgerufen, beispielsweise durch
Unfälle, Schocks, prä-, peri- und postnatale Probleme, die ihrerseits wiederum
außerordentlich plural sein konnten. Auch wurde die ungenügend entwikelte
Hirnhemisphärendominanz für das Vertauschen und Verdrehen von Buchstaben
verantwortlich gemacht. Die Hypothesensammlung ließe sich beliebig fortsetzen.
Ungenügende Untersuchungsmethoden führten indessen in allen Fällen weder zu
einer operationalisierbaren Diagnose noch zu einer entsprechenden Therapie. Die
heutige Neurologie kann viele der frühen Hypothesen verifizieren. Doch durch die
Intervention der Psychologie, der Sonderpädagogik und auch der Psychiatrie nahm
die Entwicklung in Diagnose und Therapie einen anderen Verlauf, der aus der Sicht
der Neurologie als teilweise problematisch gewertet werden muss: Die psychologische Verhaltenstherapie wurde zur Primärtherapie und das Funktionstraining
wurde vernachlässigt.
Die Gründe für diese Entwicklung sind sehr vielschichtig. Einerseits hat die
Neurologie zu wenig Interesse in die Legasthenie-Forschung investiert, was auch
1
H. Grissemann, Klinische Sonderpädagogik.., Bern, Stuttgart, Wien 1980, Seite 17
2
Nervenzellen
3
Kontaktstellen, an denen Impulse auf das Neuron übertragen werden.
5
wirtschaftliche Gründe hat, andererseits hat die Psychologie bis in die 70er Jahre
des 20. Jahrhunderts der Meinung, dass die Legasthenie auf eine Verhaltungsstörung zurückzuführen sei. Die Schulen und damit die Lehrer müssen in diesem
Fall außerhalb des therapeutischen Anspruchs bleiben, da die LRS-Kurse an den
Schulen keine Legasthenie-Therapie sind, sondern eher eine Nachhilfe. Das weiß
jeder Lehrer, der sich mit Legasthenie-Forschung peripher beschäftigt hat. Da
sowohl Diagnose als auch Therapie der Legasthenie einen hohen wissenschaftlichen Anspruch haben müssen, hat auch der Kultusminister den Begriff Legasthenie
aus den Erlassen herausgenommen. Dies führt oft zu Missverständnissen, wenn
Lehrer den Eltern mitteilen, es gäbe keine Legasthenie mehr. Die psychologischen
Fachpraxen sind nunmehr damit betraut.
3. Die empirisch-wissenschaftliche Phase
In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die medizinische Forschung
durch die Sonderpädagogik und die Psychologie erweitert. Das war dringend
erforderlich, denn die Sekundärphänomene, wie Schulfrustration, Aggressivität,
Angst usw. konnten weder von der Schule selbst noch von den Medizinern
therapiert werden. Hatte man bisher nur schwere, primär den Medizinern auffällige
Patienten behandelt, so wurde durch verbesserte und standardisierte Testverfahren
unter Beibehaltung der intelligenzdiskrepanten Legasthenie-Definition nunmehr
auch eine größere Zahl an Schülern systematisch getestet. So wurden auch leichtere
Fälle von Legasthenie therapiewürdig4. Das hatte auch zur Folge, dass die
Legasthenie „populär“ wurde. Selbst die Vorsitzende des Bundesverbandes
Legasthenie schätzte, dass „20 Prozent aller Schulanfänger gefährdet seien“5.
Die leichte, frühkindliche Hirnschädigung wird nunmehr stark beachtet. Auch misst
man einer konstitutionell-genetisch determinierten Teilreifungsverzögerung größere
Bedeutung bei. Außerdem werden die psychogenetischen Faktoren stärker beachtet,
denn diese Faktoren können Funktionsausfälle hervorrufen. Es deutet sich eine
poliätiologische Verursachung an. Häufungen von Ausfällen bei Legasthenikern
boten sich als Ursachen oder zumindest als partielle Ursachen der Legasthenie an,
so beispielsweise sprachliche Artikulationsstörungen, undifferenzierte Artikulation
oder die Schwierigkeit, einzelne Laute zu Lautgruppen zu verbinden. Maria Linder
hat schon frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass Legasthenie eine Reihe von
Sekundärphänomenen hervorbringt, die interdisziplinär-integrativ behandelt
werden müssen, beispielsweise Lernmotivationsstörungen, Schulängste und
Aggressionen, Konzentrationsschwächen und dergleichen. Es muss jedoch immer
wieder betont werden, dass die Legasthenie nicht durch Therapie eines
Sekundärphänomens behoben werden kann: Es ist sinnlos, die ödipalen Komplexe
4
H. Grissemann, Klinische Sonderpädagogik., Bern, Stuttgart, Wien 1980, Seite 11
5
Der Spiegel, Nr. 10/1985
6
des Legasthenikers zu therapieren und zu glauben, seine Rechtschreibung würde
sich verbessern. Derartige Vorschläge kann man allen Ernstes u.a. bei Tilo Grüttner
nachlesen6.
4. Die Rückkehr zur Neurologie
Die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler ist heute der Meinung, dass
Legasthenie primär auf einer leichten Hirnschädigung beruht. Schwere Hirnschädigungen im sprachrelevanten Bereich des Gehirns verursachen selbstverständlich
nicht nur Ausfälle, wie sie aus der Legasthenieforschung bekannt sind. Diese Fälle
stehen hier auch nicht zur Diskussion. Man nahm lange Zeit an, dass es ein
Sprachzentrum gäbe, das für Lesen und Schreiben verantwortlich sei. Diese
Auffassung ließ sich nach neuesten Erkenntnissen jedoch nicht halten. Die
Annahme eines isolierten Lese-Schreibzentrums stammt aus der Aphasieforschung,
d.h. aus der Beobachtung von erworbenen Sprachstörungen (Aphasien) als Folge
der Schädigung bestimmter Hirngebiete. Eine Alexie (erworbene Leseunfähigkeit)
oder Agraphie (erworbene Schreibunfähigkeit) findet sich nach Schädigung im
mittleren Gebiet des linken Scheitellappens7.
Dass dieses Gebiet allein nicht das „Lese-Schreib-Zentrum“ sein kann, erwies sich
schon innerhalb der Aphasiebefunde. Ausfälle oder starke Beeinträchtigung der
Lese-Schreibleistung ergaben sich auch nach Schädigung anderer Areale:
Broca-Areal
Occipitalregion
Prämotorischer Kortex
prämot. Kortex
Occipitalregion
Broca-Areal
Abb. 3
6
T. Grüttner, Helfen bei Legasthenie, Reinbek 1987, Seite 35
7
G. Reich, Bericht über den Fachkongress Legasthenie 1982, Seite 119
7
Bei Legasthenikern durchgeführte EEG-Untersuchungen gaben keine näheren Aufschlüsse, da normalerweise nur Ruhe-EEG gemacht werden. Erforderlich wären
jedoch EEG-Untersuchungen bei verbaler Aktivität. Eindeutig fallen im EEG
jedoch diejenigen Legastheniker auf, die sogenannte MCD-Fälle (minimale
zerebrale Dysfunktion) sind. Das herkömmliche EEG scheint nach solchen
Erfahrungen kein geeignetes Untersuchungsinstrument zur Diagnostizierung einer
Legasthenie zu sein. Diese Untersuchung ist für Legastheniker nur dann empfehlenswert, wenn Wahrnehmungsleistungen bzw. deren Defizite „sehr auffällig“ sind.
Methodisch erheblich verbesserte EEGs – als Brain Electrical Activity Mapping
(BEAM) bezeichnet – sind indessen in der Lage, hochsignifikante Normabweichungen bei Legasthenikern anzuzeigen und zwar genau in den sprachrelevanten
Arealen.8
Broca-Areal
vorne
prämotorischer Kortex
(beidseits)
auditives Assoziationsfeld
incl. Wernicke-Zentrum
visuelles Assoziationsfeld
hinten
Abb. 4
Bei visuell evozierten Potentialen – VEP – konnte eindeutig eine Minderleistung
der linken Hemisphäre gezeigt werden. Die Minderleistung ergab sich bei nonverbalen Stimuli in dem gleichem Ausmaß wie bei verbalen. Das deutet mehr auf eine
morphologische als auf eine sprachlich-funktionelle Schwäche hin. Die
Minderleistung ergab sich in der linken Hemisphäre nur bei Legasthenikern (Diskrepanz zwischen IQ und Leseleistung). Bei einer Kontrollgruppe, die infolge ihres
relativ geringen Alters eine gleichermaßen schlechte noch unterentwickelte
absolute Leseleistung aufwies, war sie nicht feststellbar. Aus dieser Perspektive
erfährt die Diskrepanzdefinition der Legasthenie eine neurologische Unterstützung.
8
G. Reich, Bericht über den Legasthenie-Fachkongreß 1982, S. 120 + 121
8
Untersuchungen bezüglich der Hemisphärendominanz zeigten, dass der Prozentsatz
an Umkehrungen der normalen occipitalen Asymmetrie signifikant ist. Bei
Legasthenikern beläuft er sich auf 41%, bei „Gesunden“ auf 13%. Legastheniker
zeigen also signifikant häufiger als „Gesunde“ eine relative Minderentwicklung der
linken Hemisphäre in ihrem sprachrelevanten Teil.9
gesunde Rechtshänder
frontal („vorne“)
occipital li.>re. bei 64 %
der Probanden
occipital („hinten“)
Legastheniker
frontal
occipital li.<re. bei 41 %
der Probanden
occipital
Abb. 5
Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, dass es kein isoliertes LeseSchreib-Zentrum in der linken Hemisphäre gibt, sondern mehrere sprachaktive
Gebiete in beiden Hemisphären, primär jedoch in der linken. Legastheniker zeigen
bei unterschiedlichsten Untersuchungsmethoden eine neurologisch nachweisbare
ausgedehnte Minderfunktion, Schädigung oder Minderentwicklung der linken
Hemisphäre in den sprachrelevanten Gebieten. Auch spielt die Größenrelation der
beiden Hemisphären eine bedeutende Rolle beim Zustandekommen des legasthenen Syndroms. Männer sind grundsätzlich stärker linkslateralisiert, wohingegen bei
Frauen eine Lateralisierung fast völlig fehlt. Das hat unter anderem zur Folge, dass
die bihemisphärische Sprachstrategie der Frauen zu besseren sprachlichen
Leistungen und zu einer geringeren Störanfälligkeit führt. Empirisch lässt sich
feststellen, dass das Verhältnis 1:4 ist, d.h. auf einen weiblichen Legastheniker
kommen 4 männliche. Diese Feststellungen haben selbstverständlich auch zur
Folge, dass ein bihemisphärisches Training angesetzt werden muss: Die synaptische Tätigkeit beider Hemisphären muss gleichzeitig angeregt werden.
9
Gunnar Reich, Bericht über Fachkongress Legasthenie 1982, S. 122
9
Die Frage, ob nun Legasthenie erblich sein kann, beantwortete Michael Angermeier
noch mit nein10. Heute ist diese Frage eindeutig zu bejahen: Das Gehirn-Grundmuster, also die Disposition, wird vererbt. Etwa in der Mitte der Schwangerschaft
verursacht ein Gen eine Disposition für Mangeldurchblutungen im Gehirn, das sich
in dynamischer Entwicklung befindet. Diese Mangeldurchblutung löst abnorme
Zellwanderungen aus, die im Verlauf der Hirnentwicklung zu feinen Fehlbildungen
und Fehlvernetzungen führen. Betroffen sind vor allem Hirnareale, die mit
Sprachverarbeitung zu tun haben, aber auch tiefer liegende Hirnstrukturen, die
auditive und visuelle Signale verarbeiten, sind betroffen. Weitere Anomalien
hängen mit Wanderungsstörungen von Hirnzellen zusammen, die im ersten Drittel
der Schwangerschaft in die Großhirnrinde aufsteigen.
2/3 aller Legastheniker haben auch Störungen in der Blickmotorik (Blicksteuerung
und simualtanes Sehen): Die Blickmotorik wird monatlich einmal von Herrn Prof.
Dr. B. Fischer der Universität Freiburg in meiner Praxis getestet. Bei Defiziten
schließt sich eine Therapie an.
Neuere Forschungsarbeiten zeigen auch, dass Legastheniker in sprachrelevanten
Regionen des Gehirns Stoffwechselstörungen haben können. Diese sehr häufig
auftretende Störung kann man über ein Kontrastmittel (Positronen-EmissionsTomogramm – Pet) sichtbar machen.
Mit der Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten der Neurologie hat eine geradezu
vehemente Entwicklung eingesetzt, die den primär somatischen Charakter des legasthenen Syndroms belegt. Dabei dürfen selbstverständlich die psychischen
Sekundärphänomene nicht außer Acht gelassen werden.
II. Legasthenie-Diagnose
1. Der Diagnostische Rechtschreibtest (DRT)
Verdacht auf Legasthenie wird primär von Schulen und Eltern angemeldet. Die
Symptome werden dargestellt (Abb.1), und der Einstieg in eine Diagnose und damit
auch in die Therapie muss ein Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) sein. Der
Test zeigt, wie die Rechtschreibleistungen des Probanden quantitativ und qualitativ
einzuordnen sind. An einer Prozentrangskala (PR-Skala) wird dargestellt, in
welchem Verhältnis die Leistung des Probanden zu den Leistungen anderer steht.
Daran ist abzulesen, wo der Proband im Bereich der Schulnoten 1-6 liegt. Der
akademische Streit, ob ein Legastheniker Platz 15 oder Platz 20 hat, ist müßig. Eine
quantitative Auswertung bestätigt in fast allen Fällen, dass schwache (Schulnote 4
und schlechter) Rechtschreibleistungen vorliegen und dass dem Probanden
geholfen werden muss.
10
M. Angermeier, Legasthenie, Hamburg 1976, S. 29
10
In der quantitativen Auswertung werden die Fehler gezählt, was einen Rohwert
ergibt, den man dann in einer standardisierten Tabelle in einen PR-Wert umsetzt.
PR 20 bedeutet, dass ein Proband 20% besser als der schlechteste Rechtschreiber
unter gleichen Testbedingungen ist. Dieser Proband mit einem PR-Wert von 20 ist
demnach 80% schlechter als der beste Rechtschreiber in diesem Test.
Einige Wissenschaftler setzen die Grenzen der Legasthenie bei PR 25, andere sind
der Meinung, dass alles unter PR 10 Legasthenie sei11.
Dieser Streit ist insofern unsinnig, als sowohl ein Proband mit PR 10 wie auch
jemand mit PR 25 sehr schlechte Rechtschreibleistungen zeigt und dass beiden
Personen geholfen werden muss.
Abb. 6: R. Müller, Deutsche Rechtschreibtests, Weinheim 1982
Wie die Abkürzungen der Fehlerarten in obiger Liste zeigen, soll der untere Teil
vermeintliche Wahrnehmungsfehler aufzeigen und der obere die Regelfehler. Es
muss sich um vermeintliche Wahrnehmungsfehler handeln, denn mit der Notierung
dieser Fehlerklasse weiß man noch nicht, ob es sich um visuelle oder
phonematische Wahrnehmungsschwächen oder andere Defizite handelt.
Der DRT gibt also einen ersten Überblick und er zeigt dem Fachmann, wo er weiter
untersuchen muss.
11
M. Angermeier, Legasthenie, Pro und Contra, Weinheim 1972, S. 20
11
2. Das anamnestische Gespräch
Je nach Alter kann der Proband in das anamnestische Gespräch mit einbezogen
werden. Da es jedoch immer auch um Medizinisches geht, ist sorgfältig abzuwägen, ob Grundschüler am Gespräch beteiligt werden sollten. Die Familie wird
gebeten, ihre Beobachtungen darzustellen. Befragt wird die psychische Situation,
das Verhalten in Elternhaus und Schule, die Entwicklung der Schwäche aus der
Sicht der Eltern und Lehrer und dergl. mehr. Grundsätzlich müssen alle Bereiche
angesprochen werden, die zur Legasthenie geführt haben können.
In jedem Fall wird ein Seh- und Hörtest durchgeführt (mit einer statistisch nicht
relevanten Zahl unentdeckt gebliebener Seh- und Hörschwächen ist hier zu rechnen). Im Hörtest wird nur das sensorische Hören überprüft und nicht die Lautverarbeitung im Gehirn. Diese beiden Tests sind meistens schon vom Hausarzt durchgeführt worden. Das anamnestische Gespräch zeigt, wo die Schwächen zu suchen
sind. Dabei stellt sich relativ früh heraus, ob es sich eher um eine Legasthenie oder
um eine allgemeine Leistungsschwäche handelt. Therapiebedürftig wäre beides,
jedoch mit jeweils anderen Mitteln. Einige Wissenschaftler neigen dazu, die Diskrepanz-Definition zu verlassen und alle leserechtschreibschwachen Probanden als
Legastheniker zu behandeln. Dieses Vorgehen erscheint indessen als höchst problematisch, da allgemein leistungsschwachen Kindern eher mit einer anderen Schule
als mit einer Legasthenie-Therapie geholfen werden kann, die nur auf die partiellen
Schwächen des Probanden einginge.
Es ist sinnvoll, die IQ-Grenze in der Diskrepanz-Definition bei 100 IQ-Punkten
anzusetzen, was eine mittlere Intelligenz bedeutet. Aus obigen Gründen ist es in
allen Fällen unabdingbar, einen Intelligenztest durchzuführen. Das dient dazu, den
Grenzwert festzustellen, andererseits aber auch dazu, die zerebrale Leistungsfähigkeit in ihrer Struktur zu überprüfen und sich der Persönlichkeit des Probanden
zu nähern.
12
3. Der Intelligenztest
Ein Intelligenztest gibt einen Gesamt-IQ an, der allerdings noch keinen diagnostischen Hinweis geben kann, ob es sich um eine Legasthenie handelt oder nicht. Um
dies beurteilen zu können, müssen die Subtests (Untertests) interpretiert werden.
Nonverbale (nicht-sprachliche) Intelligenztests sind für eine Legasthenie-Diagnose
nicht zu empfehlen. Sie geben nur einen einzigen IQ-Wert an, der zwar etwas über
die Gesamtleistungsfähigkeit aussagt, aber nicht deutlich macht, was genau die
Defizite sind und in welchen Gehirnregionen sie auftreten. Zu empfehlen ist
deshalb z.B. der HAWIK-Test, der sich in 11 Subtests gliedert. Ein Verbal- und ein
Handlungsteil weisen getrennte IQ-Werte aus und erlauben eine recht gute
Diagnose.
Aufgrund der resultierenden Werte können dann spezifische Prüfungen und
Therapievorschläge erfolgen. Zeigen sich z.B. visuelle Wahrnehmungsstörungen,
wird eine diesbezügliche subtilere Prüfung apparativ oder auch mit dem FROSTIGTest empfohlen, die dann zu einem Therapievorschlag führen kann.
Defizite in der visuellen Wahrnehmung sind allerdings nach heutigem Forschungsstand selten als Ursache der Legasthenie anzusehen, obwohl man noch vor 15
Jahren der Meinung war, die visuelle Wahrnehmung und ihre Verbesserung seien
der Schlüssel zur Therapie. Dennoch ist es sinnvoll, die visuelle Wahrnehmung zu
überprüfen und gegebenenfalls zu therapieren.
Die größten Defizite finden sich jedoch im Bereich der Lautdiskriminierung
(Unterscheidung und Verarbeitung von Lauten). Man spricht von einer phonematischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwäche, die bei 55% aller Legastheniker anzutreffen ist. In einer Reihe neuerer Untersuchungen sind bei
Legasthenikern gravierende partielle Sprach- und Sprechstörungen festgestellt
worden12. Wenn ein Kind Laute nicht differenziert genug abzuhören und umzusetzen versteht, wird es auch erhebliche Schwierigkeiten haben, jedem Laut den
richtigen Buchstaben zuzuordnen. Es kommt zu Verwechslungen, Ergänzungen
und Verdrehungen. Die Lautunterscheidungsschwäche dürfte von zentraler
Bedeutung für die ersten Stadien des Lesen- und Rechtschreiblernens sein. Wenn
sie sich im Intelligenztest manifestiert, ist parallel zur Legasthenie-Therapie eine
logopädische Behandlung anzuraten.
Der HAWIK-Test macht auch deutlich, inwieweit der Proband zu begrifflicher
Analogiebildung fähig ist, was sich zum Beispiel in mangelhaften Fähigkeiten zu
sprachlicher Abstraktion zeigt. Der HAWIK-Test gibt ebenfalls Aufschlüsse über
die Merkfähigkeit des Probanden. Damit ist nicht die allgemeine Gedächtnisleistung gemeint, die von „allen“ Neuronen getragen wird, sondern die Merkleistung für ankommende phonematische oder visuelle Signale. Es handelt sich hier
um die Fähigkeit der Synapsenendkolben, diese Signale für kurze Zeit zu speichern
und dann gegebenenfalls an andere Neuronen weiterzuleiten. Die akustische
Merkfähigkeit ist bei den meisten Legasthenikern mehr oder weniger stark
eingeschränkt.
12
M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976, S. 107
13
Unreife, Ausfälle, genetisch bedingte Schwächen der Neuronen und deren Synapsen lassen die Symptomatik Legasthenie erst zu bzw. verursachen sie. So
geschädigte Synapsen können selbstverständlich auch nicht speichern und zwar
weder im Kurzzeitgedächtnis noch im Langzeitgedächtnis.
Diese Defizite haben natürlich zur Folge, dass die Speicherprozesse für Sprache in
den Verbalregionen auch nicht zufriedenstellend ablaufen und dass Kinder/
Erwachsene auch in anderen legasthenierelevanten Subtests des HAWIK-R
schlecht abschneiden, wie z.B. im Wortschatztest.
Für Erwachsene mit legasthenem Syndrom empfiehlt sich der HAWIE-Test in
revidierter Fassung.
4. Der Lesetest
Wir halten einen Lesetest nicht für dringend erforderlich. Eine nicht-standardisierte
Leseprobe dahingegen für unabdingbar, da sie als Teil der Diagnose angesehen
werden muss, und das Gesamtbild der sprachlichen Kompetenz des Probanden
abrundet. Lesetests sind in der Durchführung problematisch. Da wir davon
ausgehen, dass jede Legasthenie-Therapie ausschließlich in Einzelsitzungen
durchgeführt werden muss, wird der Therapeut ohnehin zu späterem Zeitpunkt
seinen Probanden kennenlernen. Nach einigen Sitzungen sind die Leseschwächen
analysiert. Ein erfahrener Legasthenie-Therapeut kann die Lese-Leistung eines
Kindes empirisch gut einordnen. Grundsätzlich gilt jedoch für Lesetests, dass sie
Fehler auf der Buchstabenebene und der Wortebene unterscheiden. Als Wortfehler
gelten: Wortauslassungsfehler, Worthinzufügungsfehler, Ersetzungsfehler, wenn
das zu lesende Wort durch ein anderes Wort ersetzt wurde, z.B. „über“ statt „für“13.
Schon früh lernen Legastheniker, Worte in für sie nicht lesbaren Texten hinzuzufügen bzw. zu erfinden, um die Gestalt des Kontextes zu wahren.
Gegen den Lesetest spricht auch, dass Kinder mit schwerer Legasthenie die zu
lesenden Wörter stark entstellen, und dadurch eine objektive Klassifizierung der
Fehler gar nicht mehr möglich ist. Grissemann hält deshalb Lesefehler vor allem für
„Betriebsunfälle in der Deutungsnot mit wechselnden Häufungen in verschiedenen
Fehlerkategorien“.
13
M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976, S. 51
14
15
5. Die psychische Situation
Ca. 70% aller Kinder mit legasthenem Syndrom haben Auffälligkeiten im Persönlichkeitsbereich. Primär sind Angstzustände anzuführen, die sich nicht nur als
Schulangst manifestieren. Viele (ca. 40%) sind labil, nervös, unruhig, zerstreut,
unkonzentriert, launenhaft und stimmungslabil. Seltener sind sie allerdings
aggressiv, eigensinnig, störend. Eine ebenso große Anzahl ist apathisch, depressiv,
verträumt und auffallend kindlich. Weiterhin ist oft das Selbstwertgefühl
beeinträchtigt, viele betroffene Kinder haben eine verminderte Frustrationstoleranz,
einige sind kontaktscheu14.
Die primär schulisch überforderten Kinder entwickeln Abwehr- und Ausweichstrategien, wie beispielsweise Verweigern der Mitarbeit in der Schule und im
Elternhaus, sie verstecken Schulhefte oder behaupten, sie verloren zu haben etc. Es
entsteht allmählich eine Abwehrhaltung gegenüber jeglichem Leistungsdruck,
wobei auch die Fächer miteinbezogen werden, die eigentlich gut zu bewältigen
wären. Das legasthene Syndrom wirkt sich selbstverständlich auf alle sprachlichen
Fächer aus. Das Kind erlebt sich insgesamt als minderwertig und vernachlässigt
ebenfalls die Fächer, die ihm früher gelegen haben. Es entwickelt sich ein
Überdruss, der sich sowohl durch Apathie ausdrücken kann, als auch durch Feindseligkeiten gegenüber anderen, besseren Schülern. Überempfindlichkeit und
Unruhe, Wichtigtuerei und tollkühnes Verhalten können sich abwechselnd und
spontan einstellen, da sich das Kind in einem Problemkomplex gefangen sieht.
Wichtigtuerei und tollkühnes Verhalten sind somit als Lösungsstrategien der
Kinder zu verstehen, um vor sich selbst ihre Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Somit stellt Lügen, Verstecken von Heften usw. aus Sicht der Kinder ein
sinnvolles Verhalten dar, um sich vor Misserfolgserlebnissen zu schützen. Ein
Verständnis dieser Zusammenhänge kann somit den Erziehungsberechtigten und
Pädagogen des Kindes den Umgang mit dem Kind erleichtern.
Hieraus wird deutlich, dass die Kinder so oft wie möglich vermeiden, sich den für
sie mit viel Frustrationen verbundenen Situationen wie Lesen und Schreiben auszusetzen. Neben der Leistungsverweigerung in der Schule sind sie auch außerhalb
oft in keiner Weise bereit zum Üben. Lernspiele und anschaulich aufbereitetes
Material werden von ihnen oft schnell als pädagogische Tricks entlarvt. Hier ist es
wichtig, die Kinder in ihrer aktuellen Situation ernst zu nehmen und zunächst
einmal an ihrer Motivation zu arbeiten. Dazu gehört auch, ihnen Erfolgserlebnisse
durch kleinschrittiges Vorgehen zu verschaffen. Daher auch eine Bitte an die
Eltern, die Entwicklung der Kinder zu verfolgen und ihnen auch kleine Erfolge
rückzumelden, da eine offensichtliche Verbesserung der Schulnoten erst nach
einiger Zeit zu erwarten ist.
14
M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976. S. 110
16
Entsprechend sind die psychosomatischen Beschwerden, wie Erbrechen, Schlafstörungen, Anfälligkeit für Krankheiten usw. Legastheniker sind demnach unserer
Ansicht nach außerordentlich gefährdet und bedürfen in fast 70% aller Fälle einer
begleitenden oder besser: integrierten Therapie, d.h. der Therapeut sollte sowohl
Pädagoge/Psychologe als auch Philologe sein, damit das Kind nur eine Bezugsperson hat.
Die psychische Symptomatik erscheint zum erstenmal im anamnestischen Gespräch, das als Einstieg in die Diagnose stattgefunden hat. Diese eher subjektiven
Beurteilungen und Aussagen werden in der 2. Phase der Diagnostik, nach philologischen und neurologischen Untersuchungen, über das persönliche Gespräch und
evtl. einer Reihe von Fragebogen und Tests verifiziert. Anschließend wird ein
Therapieplan erstellt.
III. Legasthenie-Therapie
1. Funktionstraining als Primärtherapie
Nachdem diagnostiziert worden ist, welcher Art die zerebralen Schwächen sind,
muss ein Funktionstraining einsetzen, das die Hirnregionen trainiert, die Ausfälle
oder Schwächen zeigen. Dabei handelt es sich bei Legasthenikern primär um
phonematische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwächen, sowie um Merkschwächen, resultierend aus mangelnder Speicherfähigkeit der Synapsenendkolben.
Visuelle Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwächen sind möglich, machen
jedoch, wie oben schon erwähnt, einen eher geringeren Anteil aus. Zerebrale
Ausfälle bedingen häufig Konzentrationsschwächen. Die Konzentrationsfähigkeit
wird mit Konzentrationsleistungstests geprüft, die auch kontinuierlich in der
Therapie eingesetzt werden können, da sich das Leistungsniveau ständig verändert.
Die grundsätzliche Frage, was trainiert werden soll, macht eine kurze Beschreibung
des neuronalen Systems notwendig. Der Neokortex hat ca. 13 Milliarden
Nervenzellen (Neuronen), die nicht kurzgeschlossen, sondern über Synapsen
(Kontaktstellen) miteinander verbunden sind und durch Reizeinflüsse einen Strom
produzieren, den wir „denken“ nennen. Neuron und Synapsen sind in Abb. 8 dargestellt. Ein Neuron kann bis zu 80000 Synapsen aufnehmen. Die Reizimpulse, die
auf die Neuronen zukommen, werden von den Synapsen aufgenommen und
weitergeleitet, so dass sich an den Synapsen „alles“ abspielt, was wir als nervlichen
Reiz definieren, d.h. visuelle Reize, phonematische Reize usw., auch die bereits
erwähnte Merkleistung und das Gedächtnis, im allgemeinen Sinne verstanden. Die
neuronale Struktur muss so ausgerüstet sein, dass sie qualitativ und quantitativ gut
arbeiten kann. Das bedeutet, dass es viele Neuronen und viele Synapsen geben
muss, die dann auch noch funktionstüchtig sein müssen.
17
Abb. 8: Spektrum der Wissenschaft, 1984
Abb. 9 zeigt, wie die Synapsen arbeiten. Ankommende Erregerimpulse werden bis
an den Synapsenendkolben herangeführt (synaptischer Spalt) und über die synaptische Membran („Filzgewebe“) an die Postsynapse weitergeleitet. An diesen Synapsenendkolben wird auch die Gedächtnisleistung des Gehirns erbracht, d.h. es
werden Engramme – Eingravierungen – gebildet, die später „abgetastet“ werden
können. Es handelt sich hierbei um chemische Prozesse, wie sie auf Abb. 10 dargestellt sind. Sobald ein elektrischer Impuls (Reiz) die Kontaktstelle erreicht, gibt die
übermittelnde Zelle diesen sogenannten Neurotransmitter in winzigen
Mengeneinheiten (Quanten) an die Empfängerzelle ab. Die freigesetzten Neurotransmitter-Moleküle lassen sich an Membranstrukturen der Empfängerzelle nieder,
an den Rezeptoren. Durch diese Bindung öffnen sich Kanäle der Zellmembran, so
dass Ionen in die Zelle strömen. Sobald genügend Ionen eingedrungen sind,
entsteht ein elektrisches Signal, das nunmehr an der Empfängerzelle entlang
wandert. In diesem Ionenstrom drückt sich die funktionelle Stärke der Synapse aus.
Legastheniker verfügen über regional schlecht arbeitende Synapsen. Das kann
genetisch bedingt sein bei vererbter Legasthenie oder auch prä-peri- oder postnatale
Ursachen haben, wie zum Beispiel Sauerstoffmangel bei der Geburt. (Siehe Abb. 2)
Sämtliche Denkprozesse spielen sich an der synaptischen Membran ab, auch das
Gedächtnis. Aus der Struktur und dem Arbeitsmechanismus der Synapsen ergibt
sich die Folgerung, dass Stoffwechselstörungen Legasthenie hervorrufen können.
18
Damit einher geht eine schlechtere Gedächtnisleistung und natürlich auch eine
schlechte Denkleistung in der Region, die von den Ausfällen betroffen ist.15
Abb. 9: Spektrum der Wissenschaft, 1984
15
J. C. Eccles, Das Gehirn des Menschen, München, Zürich. 1973, S. 218
19
Abb. 10: Spektrum der Wissenschaft, 1984
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass eine synaptische Aktivierung
zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit der Synapse führt. Bei ausreichender Wiederholung dieser Aktivierung wird eine andauernde Stabilisierung dieser Leistungszunahme erreicht.16 Demgegenüber führt Nichtgebrauch zu einem Leistungs16
John C. Eccles, Gehirn und Seele, München, Zürich 1987, S. 78
20
rückgang. Die Hypertrophie der Synapsen ist jedoch nicht allein aktivierenden
Lernprozessen zuzuschreiben, denn fast alle Zellen in den höchsten Ebenen des
Zentralnervensystems zeigen kontinuierliche Impulsentladungen. Auf den höheren
Ebenen des Gehirns ist jedoch Veränderbarkeit das Wesen seiner Leistung. Die
große Plastizität der Synapsen bildet dafür die Grundlage.
Abb. 11:
J. C. Eccles, Das Gehirn des Menschen, München, Zürich 1989,
Seite 231
Ein Funktionstraining zielt demnach immer darauf ab, eine Hyperthrophie von
Synapsen zu erreichen, und die damit verbundenen Stoffwechselprozesse zu
verbessern. Es gilt auch, die defizitär arbeitenden Synapsen anzuregen und
denjenigen Synapsen Aufgaben zu erteilen, die „bereit“ sind, die Leistungen bereits
ausgefallener Systeme zu übernehmen. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass
sich durch intensive Funktionstrainings auch neue Synapsen bilden.
Legasthenie kann nur durch kontinuierliches Üben überwunden werden. Allerdings
muss dieses Üben sinnvoll gestaltet sein und gezielt eingesetzt werden. Das
bedeutet, dass Legastheniker mit visuellen Wahrnehmungsstörungen selbstverständlich ein visuelles Wahrnehmungstraining absolvieren müssen und solche,
die Wahrnehmungsschwächen im phonematischen Bereich haben, müssen ein
entsprechendes phonematisches Wahrnehmungstraining machen. Es gilt jedoch
auch die Faustregel für alle neurologischen Trainingseinheiten: Jedes spezifische
Training trainiert auch das Gehirn in seiner Gesamtheit.
Um die kognitiven Prozesse zu stabilisieren, muss jeder Legastheniker, gleich
welcher Art sein Funktionstraining sein mag, auch ein philologisches Training
absolvieren, was praktisch bedeutet, dass er Lese- und Schreibübungen machen
muss, was nicht zuletzt auch dazu führt, dass sich seine schulischen Leistungen
recht schnell verbessern. Dies wiederum führt zur psychischen Stabilisierung.
Die Pluralität des Geschehens stellt erhebliche Anforderungen an den Therapeuten,
denn er muss sowohl die Philologie als auch die Pädagogik und Psychologie
vertreten. Aufgrund der individuellen Symptomatik ist es nicht sinnvoll, Kinder in
Gruppen zu therapieren, sondern ausschließlich in Einzeltherapie. Wir sind uns der
21
Tatsache bewusst, dass viele Aspekte, die für eine Gruppentherapie sprechen, leider
nicht zum Tragen kommen, doch müssen diese zugunsten des hohen Anspruchs an
das individuelle Fehlerprofil und dessen genaues Ansteuern zurückstehen. Da wir
nur Einzeltherapie für sinnvoll halten, sollte ein Legastheniker auch nur von einer
Persönlichkeit betreut werden. Da die meisten Legastheniker als Grundschüler eine
Therapie beginnen, muss der Therapeut selbstverständlich auch das gesamte
Repertoire der Methodik und Didaktik der Grundschule beherrschen, um die
Legasthenie-Therapie nicht als etwas Schulfremdes erscheinen zu lassen und um
andererseits auch die stets einsetzenden schulischen Erfolge begleiten zu können –
natürlich auch die Misserfolge, die das Kind noch eine geraume Zeit bewältigen
muss.
2. Ausblick
Wir haben gesehen, dass Legasthenie nicht als Leerformel gesehen werden kann,
allerdings sollte man sich an die Diskrepanz-Definition halten, um das Ausufern
aller möglichen Defizite einer Persönlichkeit unter dem Begriff Legasthenie zu
subsumieren. Auch innerhalb der Diskrepanz-Definition gibt es noch eine Menge
wissenschaftlicher Herausforderungen, die sich primär auf die neurologischen
Untersuchungsansätze beziehen. Da wir erst am Anfang unserer Kenntnis über das
zerebrale Geschehen stehen, wird die Wissenschaft mit Sicherheit noch eine Reihe
von Fragen aufwerfen, die legasthenierelevant sind. Auch Pädagogik und
Psychologie sind weiterhin gefordert, nicht nur im Sinne weiterer Untersuchungen
und Konzepte im Bereich der Legasthenie-Therapie, sondern auch, sich von
herkömmlichen Vorstellungen zu lösen, im Extremfall einem Legastheniker
vorzuschlagen, er möge voltigieren oder schwimmen lernen, um seine Legasthenie
zu therapieren. Es gibt natürlich noch eine ganze Reihe unwissenschaftlicher
Behandlungsmethoden, die es sich hier nicht aufzuführen lohnt.
Das Wort Legasthenie ist zwar aus den kultusministeriellen Erlassen verschwunden, doch der Status der Legastheniker hat sich damit nicht verändert. Eine
akribische Untersuchung sollte Spekulationen oder Vertröstungen, wie „das wächst
sich aus“ vorgezogen werden. Oft handelt es sich nur um zeitlich begrenzte Schwächen oder Defizite, die allerdings nicht als vorübergehend bezeichnet oder gar verharmlost werden sollten.
Wesentlich erscheint uns auch, dass die Sozialämter ihre Verantwortung besser
wahrnehmen als bisher, denn ca. 50% aller Legastheniker-Familien sehen sich nicht
in der Lage, eine Legasthenie-Therapie zu bezahlen, da sie sehr kostenintensiv ist.
Die Jugendämter übernehmen allerdings die Kosten einer Therapie, wenn die
Persönlichkeit des Kindes als bedroht angesehen wird (BSHG, Eingliederungsparagraph 35 a, KJHG §§ 27 ff.). Die Kasse kommt nur dann für die
Kosten auf, wenn die Legasthenie „Krankheitswert“ hat.
22
Adresse des Autors
Dr. phil. Helmut Hammächer
Oststor 74,
48165 Münster
Tel. 02501-9640560,
Funktelefon: 0171-3307575
Fax 02501-9640564
Internet: www.dr-hammaecher.de
E-mail: [email protected]
Glossar der Fachbegriffe
Agraphie
Alexie
Anamnese(anamnestisch)
Aphasie
bihemisphärisches Training
Dendriten
Diskrepanz
Diskrepanz-Definition
EEG
empirisch
evoziert
genetischer Code
Gliazelle
Hemisphäre
Hypertrophie
Lateralisierung
kongenital
morphologisch
multifaktoriell
Neokortex
Neuronen
occipital
poliätiologisch
prophylaktisch
Regression
somatisch
Symptomatik
Synapsen
Transmitterbläschen
zerebrale Dysfunktion
Schreibunfähigkeit
Leseschwäche
die Vorgeschichte einer Krankheit
Verlust des Sprechvermögens oder des Sprachverständnisses
Training beider Hirnhälften
Verästelungen von Nervenzellen
Unterschied
Lese-Rechtschreibschwäche bei sonst guter (IQ
100) bis sehr guter Intelligenz (über 120 IQ)
Elektroenzephalogramm – Hirnstrommessung
aus Erfahrungen und Beobachtungen gewonnen
hervorgerufen
Erbinformation
Stützzellen des Nervensystems
Hälfte des Großhirns und des Kleinhirns
Größenwachstum
nach einer Seite hin verlagern (Asymmetrie der
beiden Hemisphären)
angeboren
der Form nach, die äußere Gestalt betreffend
hat viele Faktoren
Großhirnrinde
Nervenzellen
„hinten“
hat verschiedene Ursachen
vorbeugend
Rückbildung
körperlich
Erscheinungsbild
Kontaktstellen an den Nervenzellen
Bläschen (Vesikel), die eine Übertragungsflüssigkeit ausschütten
Funktionsstörung des Gehirns
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