Dr. phil. H. Hammächer LEGASTHENIE Leerformel für eine wissenschaftliche Herausforderung? Inhaltsverzeichnis I. Geschichte der Legasthenie-Forschung........................................................ 1 1. Der Begriff „Legasthenie“....................................................................... 1 2. Die medizinische Phase........................................................................... 4 3. Die wissenschaftlich-empirische Phase.................................................... 5 4. Die Rückkehr zur Neurologie.................................................................. 6 II. Legasthenie-Diagnose................................................................................. 9 1. Der Diagnostische Rechtschreibtest......................................................... 9 2. Das anamnestische Gespräch................................................................. 11 3. Der Intelligenztest.................................................................................. 12 4. Der Lesetest........................................................................................... 13 5. Die psychische Situation........................................................................ 15 III. Legasthenie-Therapie................................................................................ 16 1. Funktionstraining als Primärtherapie...................................................... 16 2. Ausblick................................................................................................ 21 Adresse des Autors............................................................................................ 22 Glossar der Fachbegriffe.................................................................................... 22 Erscheint demnächst in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Sprache (Zweig Münster) 1 I. Geschichte der Legasthenie-Forschung 1. Der Begriff Legasthenie Seit der Begriffsbestimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1916 durch den ungarischen Psychiater Ranschburg) ist der Begriff Legasthenie außerordentlich umstritten und nicht nur der Begriff, sondern auch Diagnosen und Therapieansätze. Für die einen ist Legasthenie eine Leerformel, die abgeschafft werden müsse, für die anderen stellt sie eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Für die Betroffenen ist diese vermeintliche Leerformel so oder so mit Leid, schlechten Berufsschancen und gesellschaftlicher Diffamierung verbunden. Der Begriff Legasthenie wird heute primär in Forschung und Wissenschaft verwendet. Von kultusministerieller Seite spricht man von „Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)“. Die Eindeutschung des Begriffs hat dem lateinisch-griechischen Fremdwort Leg-Asthenie=„Leseschwäche“ (legere=lesen, Asthenie= Schwäche) sicherlich auch etwas von seinem mystischen Schleier genommen. Nichtsdestoweniger haben 80% aller Bundesbürger das Wort Legasthenie schon einmal gehört und können es auch in Zusammenhang mit gestörten Lernprozessen bringen, doch kaum jemand ist in der Lage, es sachlich zu füllen. Als Lese-Schwäche ist die Legasthenie zu einseitig definiert, als Lese-Rechtschreibschwäche bereits erheblich besser, da Lesen und Rechtschreiben in der Regel gemeinsam betroffen sind. In jedem Jahrgang deutscher Grundschulen gibt es bis zu 10% lese-rechtschreibschwache Kinder. Da Legasthenie nicht so einfach definiert ist wie ein Beinbruch, sind die Nöte der Lehrer auch verständlich, ob sie nun ein Kind begründet als Legastheniker bezeichnen können oder nicht. Die Legasthenie ist nach dem heutigen Forschungsstand primär ein neuro-biologisches Problem, das natürlich auch Sekundärsymptome hervorruft. Entsprechend plural müssen die Therapien sein. 2 Abb. 1 nach: M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976 und J. Löffler/V. Meyer-Schepers, Richtig lesen und schreiben durch Lautanalyse, Bochum 1984 3 Abb. 2 nach: M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976 und J. Löffler/V. Meyer-Schepers, Richtig lesen und schreiben durch Lautanalyse, Bochum 1984 4 2. Die medizinische Phase Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in England die sogenannte kongenitale Wortblindheit diagnostiziert. Der Proband war gut im Rechnen, solange er es mit arabischen Ziffern zu tun hatte. Beim Diktat brachte er jedoch nur Unleserliches zustande. Eine zerebrale Dysfunktion ließ sich nicht nachweisen, was auch nicht verwunderlich ist, wenn man die neurologischen Diagnosemöglichkeiten zurückverfolgt. Die Symptomatik rechnet man heute der Aphasie zu und wird als Alexie bezeichnet. Ein Proband mit dieser Symptomatik ist natürlich auch gleichzeitig Legastheniker. Die besagten zerebralen Defizite schrieb man dem genetischen Code zu. Mit dieser Symptomatik begann die eigentliche Forschung auf dem Gebiet der Legasthenie, wobei stets vorausgesetzt worden ist, dass der Patient ansonsten über eine mindestens befriedigende bis gute Intelligenz verfügt. Dieses Kriterium der durchschnittlichen Intelligenz bestimmt bis heute die Definition der Legasthenie, so dass die Legasthenie grundsätzlich nur als Teilleistungsschwäche definiert und anerkannt ist.1 Aufgrund mangelhafter Kenntnis der zerebralen Prozesse im Allgemeinen und der daraus resultierenden vergeblichen Suche nach Sprachregionen, die speziell für Lesen und Rechtschreiben zuständig sein sollten, machte die Legasthenie-Forschung nur geringe Fortschritte. Es gab natürlich eine Reihe von Hypothesen. So nahm man lange Zeit an, dass unterentwickelte Neuronen2 bzw. Synapsen3 für die Ausfälle verantwortlich seien, was von der heutigen Neurologie im Übrigen bestätigt werden kann. Die zerebralen Ausfälle konnten entweder genetisch bedingt sein oder sie waren durch andere Ursachen hervorgerufen, beispielsweise durch Unfälle, Schocks, prä-, peri- und postnatale Probleme, die ihrerseits wiederum außerordentlich plural sein konnten. Auch wurde die ungenügend entwikelte Hirnhemisphärendominanz für das Vertauschen und Verdrehen von Buchstaben verantwortlich gemacht. Die Hypothesensammlung ließe sich beliebig fortsetzen. Ungenügende Untersuchungsmethoden führten indessen in allen Fällen weder zu einer operationalisierbaren Diagnose noch zu einer entsprechenden Therapie. Die heutige Neurologie kann viele der frühen Hypothesen verifizieren. Doch durch die Intervention der Psychologie, der Sonderpädagogik und auch der Psychiatrie nahm die Entwicklung in Diagnose und Therapie einen anderen Verlauf, der aus der Sicht der Neurologie als teilweise problematisch gewertet werden muss: Die psychologische Verhaltenstherapie wurde zur Primärtherapie und das Funktionstraining wurde vernachlässigt. Die Gründe für diese Entwicklung sind sehr vielschichtig. Einerseits hat die Neurologie zu wenig Interesse in die Legasthenie-Forschung investiert, was auch 1 H. Grissemann, Klinische Sonderpädagogik.., Bern, Stuttgart, Wien 1980, Seite 17 2 Nervenzellen 3 Kontaktstellen, an denen Impulse auf das Neuron übertragen werden. 5 wirtschaftliche Gründe hat, andererseits hat die Psychologie bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts der Meinung, dass die Legasthenie auf eine Verhaltungsstörung zurückzuführen sei. Die Schulen und damit die Lehrer müssen in diesem Fall außerhalb des therapeutischen Anspruchs bleiben, da die LRS-Kurse an den Schulen keine Legasthenie-Therapie sind, sondern eher eine Nachhilfe. Das weiß jeder Lehrer, der sich mit Legasthenie-Forschung peripher beschäftigt hat. Da sowohl Diagnose als auch Therapie der Legasthenie einen hohen wissenschaftlichen Anspruch haben müssen, hat auch der Kultusminister den Begriff Legasthenie aus den Erlassen herausgenommen. Dies führt oft zu Missverständnissen, wenn Lehrer den Eltern mitteilen, es gäbe keine Legasthenie mehr. Die psychologischen Fachpraxen sind nunmehr damit betraut. 3. Die empirisch-wissenschaftliche Phase In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die medizinische Forschung durch die Sonderpädagogik und die Psychologie erweitert. Das war dringend erforderlich, denn die Sekundärphänomene, wie Schulfrustration, Aggressivität, Angst usw. konnten weder von der Schule selbst noch von den Medizinern therapiert werden. Hatte man bisher nur schwere, primär den Medizinern auffällige Patienten behandelt, so wurde durch verbesserte und standardisierte Testverfahren unter Beibehaltung der intelligenzdiskrepanten Legasthenie-Definition nunmehr auch eine größere Zahl an Schülern systematisch getestet. So wurden auch leichtere Fälle von Legasthenie therapiewürdig4. Das hatte auch zur Folge, dass die Legasthenie „populär“ wurde. Selbst die Vorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie schätzte, dass „20 Prozent aller Schulanfänger gefährdet seien“5. Die leichte, frühkindliche Hirnschädigung wird nunmehr stark beachtet. Auch misst man einer konstitutionell-genetisch determinierten Teilreifungsverzögerung größere Bedeutung bei. Außerdem werden die psychogenetischen Faktoren stärker beachtet, denn diese Faktoren können Funktionsausfälle hervorrufen. Es deutet sich eine poliätiologische Verursachung an. Häufungen von Ausfällen bei Legasthenikern boten sich als Ursachen oder zumindest als partielle Ursachen der Legasthenie an, so beispielsweise sprachliche Artikulationsstörungen, undifferenzierte Artikulation oder die Schwierigkeit, einzelne Laute zu Lautgruppen zu verbinden. Maria Linder hat schon frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass Legasthenie eine Reihe von Sekundärphänomenen hervorbringt, die interdisziplinär-integrativ behandelt werden müssen, beispielsweise Lernmotivationsstörungen, Schulängste und Aggressionen, Konzentrationsschwächen und dergleichen. Es muss jedoch immer wieder betont werden, dass die Legasthenie nicht durch Therapie eines Sekundärphänomens behoben werden kann: Es ist sinnlos, die ödipalen Komplexe 4 H. Grissemann, Klinische Sonderpädagogik., Bern, Stuttgart, Wien 1980, Seite 11 5 Der Spiegel, Nr. 10/1985 6 des Legasthenikers zu therapieren und zu glauben, seine Rechtschreibung würde sich verbessern. Derartige Vorschläge kann man allen Ernstes u.a. bei Tilo Grüttner nachlesen6. 4. Die Rückkehr zur Neurologie Die überwiegende Mehrzahl der Wissenschaftler ist heute der Meinung, dass Legasthenie primär auf einer leichten Hirnschädigung beruht. Schwere Hirnschädigungen im sprachrelevanten Bereich des Gehirns verursachen selbstverständlich nicht nur Ausfälle, wie sie aus der Legasthenieforschung bekannt sind. Diese Fälle stehen hier auch nicht zur Diskussion. Man nahm lange Zeit an, dass es ein Sprachzentrum gäbe, das für Lesen und Schreiben verantwortlich sei. Diese Auffassung ließ sich nach neuesten Erkenntnissen jedoch nicht halten. Die Annahme eines isolierten Lese-Schreibzentrums stammt aus der Aphasieforschung, d.h. aus der Beobachtung von erworbenen Sprachstörungen (Aphasien) als Folge der Schädigung bestimmter Hirngebiete. Eine Alexie (erworbene Leseunfähigkeit) oder Agraphie (erworbene Schreibunfähigkeit) findet sich nach Schädigung im mittleren Gebiet des linken Scheitellappens7. Dass dieses Gebiet allein nicht das „Lese-Schreib-Zentrum“ sein kann, erwies sich schon innerhalb der Aphasiebefunde. Ausfälle oder starke Beeinträchtigung der Lese-Schreibleistung ergaben sich auch nach Schädigung anderer Areale: Broca-Areal Occipitalregion Prämotorischer Kortex prämot. Kortex Occipitalregion Broca-Areal Abb. 3 6 T. Grüttner, Helfen bei Legasthenie, Reinbek 1987, Seite 35 7 G. Reich, Bericht über den Fachkongress Legasthenie 1982, Seite 119 7 Bei Legasthenikern durchgeführte EEG-Untersuchungen gaben keine näheren Aufschlüsse, da normalerweise nur Ruhe-EEG gemacht werden. Erforderlich wären jedoch EEG-Untersuchungen bei verbaler Aktivität. Eindeutig fallen im EEG jedoch diejenigen Legastheniker auf, die sogenannte MCD-Fälle (minimale zerebrale Dysfunktion) sind. Das herkömmliche EEG scheint nach solchen Erfahrungen kein geeignetes Untersuchungsinstrument zur Diagnostizierung einer Legasthenie zu sein. Diese Untersuchung ist für Legastheniker nur dann empfehlenswert, wenn Wahrnehmungsleistungen bzw. deren Defizite „sehr auffällig“ sind. Methodisch erheblich verbesserte EEGs – als Brain Electrical Activity Mapping (BEAM) bezeichnet – sind indessen in der Lage, hochsignifikante Normabweichungen bei Legasthenikern anzuzeigen und zwar genau in den sprachrelevanten Arealen.8 Broca-Areal vorne prämotorischer Kortex (beidseits) auditives Assoziationsfeld incl. Wernicke-Zentrum visuelles Assoziationsfeld hinten Abb. 4 Bei visuell evozierten Potentialen – VEP – konnte eindeutig eine Minderleistung der linken Hemisphäre gezeigt werden. Die Minderleistung ergab sich bei nonverbalen Stimuli in dem gleichem Ausmaß wie bei verbalen. Das deutet mehr auf eine morphologische als auf eine sprachlich-funktionelle Schwäche hin. Die Minderleistung ergab sich in der linken Hemisphäre nur bei Legasthenikern (Diskrepanz zwischen IQ und Leseleistung). Bei einer Kontrollgruppe, die infolge ihres relativ geringen Alters eine gleichermaßen schlechte noch unterentwickelte absolute Leseleistung aufwies, war sie nicht feststellbar. Aus dieser Perspektive erfährt die Diskrepanzdefinition der Legasthenie eine neurologische Unterstützung. 8 G. Reich, Bericht über den Legasthenie-Fachkongreß 1982, S. 120 + 121 8 Untersuchungen bezüglich der Hemisphärendominanz zeigten, dass der Prozentsatz an Umkehrungen der normalen occipitalen Asymmetrie signifikant ist. Bei Legasthenikern beläuft er sich auf 41%, bei „Gesunden“ auf 13%. Legastheniker zeigen also signifikant häufiger als „Gesunde“ eine relative Minderentwicklung der linken Hemisphäre in ihrem sprachrelevanten Teil.9 gesunde Rechtshänder frontal („vorne“) occipital li.>re. bei 64 % der Probanden occipital („hinten“) Legastheniker frontal occipital li.<re. bei 41 % der Probanden occipital Abb. 5 Zusammenfassend kann demnach gesagt werden, dass es kein isoliertes LeseSchreib-Zentrum in der linken Hemisphäre gibt, sondern mehrere sprachaktive Gebiete in beiden Hemisphären, primär jedoch in der linken. Legastheniker zeigen bei unterschiedlichsten Untersuchungsmethoden eine neurologisch nachweisbare ausgedehnte Minderfunktion, Schädigung oder Minderentwicklung der linken Hemisphäre in den sprachrelevanten Gebieten. Auch spielt die Größenrelation der beiden Hemisphären eine bedeutende Rolle beim Zustandekommen des legasthenen Syndroms. Männer sind grundsätzlich stärker linkslateralisiert, wohingegen bei Frauen eine Lateralisierung fast völlig fehlt. Das hat unter anderem zur Folge, dass die bihemisphärische Sprachstrategie der Frauen zu besseren sprachlichen Leistungen und zu einer geringeren Störanfälligkeit führt. Empirisch lässt sich feststellen, dass das Verhältnis 1:4 ist, d.h. auf einen weiblichen Legastheniker kommen 4 männliche. Diese Feststellungen haben selbstverständlich auch zur Folge, dass ein bihemisphärisches Training angesetzt werden muss: Die synaptische Tätigkeit beider Hemisphären muss gleichzeitig angeregt werden. 9 Gunnar Reich, Bericht über Fachkongress Legasthenie 1982, S. 122 9 Die Frage, ob nun Legasthenie erblich sein kann, beantwortete Michael Angermeier noch mit nein10. Heute ist diese Frage eindeutig zu bejahen: Das Gehirn-Grundmuster, also die Disposition, wird vererbt. Etwa in der Mitte der Schwangerschaft verursacht ein Gen eine Disposition für Mangeldurchblutungen im Gehirn, das sich in dynamischer Entwicklung befindet. Diese Mangeldurchblutung löst abnorme Zellwanderungen aus, die im Verlauf der Hirnentwicklung zu feinen Fehlbildungen und Fehlvernetzungen führen. Betroffen sind vor allem Hirnareale, die mit Sprachverarbeitung zu tun haben, aber auch tiefer liegende Hirnstrukturen, die auditive und visuelle Signale verarbeiten, sind betroffen. Weitere Anomalien hängen mit Wanderungsstörungen von Hirnzellen zusammen, die im ersten Drittel der Schwangerschaft in die Großhirnrinde aufsteigen. 2/3 aller Legastheniker haben auch Störungen in der Blickmotorik (Blicksteuerung und simualtanes Sehen): Die Blickmotorik wird monatlich einmal von Herrn Prof. Dr. B. Fischer der Universität Freiburg in meiner Praxis getestet. Bei Defiziten schließt sich eine Therapie an. Neuere Forschungsarbeiten zeigen auch, dass Legastheniker in sprachrelevanten Regionen des Gehirns Stoffwechselstörungen haben können. Diese sehr häufig auftretende Störung kann man über ein Kontrastmittel (Positronen-EmissionsTomogramm – Pet) sichtbar machen. Mit der Verbesserung der Diagnosemöglichkeiten der Neurologie hat eine geradezu vehemente Entwicklung eingesetzt, die den primär somatischen Charakter des legasthenen Syndroms belegt. Dabei dürfen selbstverständlich die psychischen Sekundärphänomene nicht außer Acht gelassen werden. II. Legasthenie-Diagnose 1. Der Diagnostische Rechtschreibtest (DRT) Verdacht auf Legasthenie wird primär von Schulen und Eltern angemeldet. Die Symptome werden dargestellt (Abb.1), und der Einstieg in eine Diagnose und damit auch in die Therapie muss ein Diagnostischer Rechtschreibtest (DRT) sein. Der Test zeigt, wie die Rechtschreibleistungen des Probanden quantitativ und qualitativ einzuordnen sind. An einer Prozentrangskala (PR-Skala) wird dargestellt, in welchem Verhältnis die Leistung des Probanden zu den Leistungen anderer steht. Daran ist abzulesen, wo der Proband im Bereich der Schulnoten 1-6 liegt. Der akademische Streit, ob ein Legastheniker Platz 15 oder Platz 20 hat, ist müßig. Eine quantitative Auswertung bestätigt in fast allen Fällen, dass schwache (Schulnote 4 und schlechter) Rechtschreibleistungen vorliegen und dass dem Probanden geholfen werden muss. 10 M. Angermeier, Legasthenie, Hamburg 1976, S. 29 10 In der quantitativen Auswertung werden die Fehler gezählt, was einen Rohwert ergibt, den man dann in einer standardisierten Tabelle in einen PR-Wert umsetzt. PR 20 bedeutet, dass ein Proband 20% besser als der schlechteste Rechtschreiber unter gleichen Testbedingungen ist. Dieser Proband mit einem PR-Wert von 20 ist demnach 80% schlechter als der beste Rechtschreiber in diesem Test. Einige Wissenschaftler setzen die Grenzen der Legasthenie bei PR 25, andere sind der Meinung, dass alles unter PR 10 Legasthenie sei11. Dieser Streit ist insofern unsinnig, als sowohl ein Proband mit PR 10 wie auch jemand mit PR 25 sehr schlechte Rechtschreibleistungen zeigt und dass beiden Personen geholfen werden muss. Abb. 6: R. Müller, Deutsche Rechtschreibtests, Weinheim 1982 Wie die Abkürzungen der Fehlerarten in obiger Liste zeigen, soll der untere Teil vermeintliche Wahrnehmungsfehler aufzeigen und der obere die Regelfehler. Es muss sich um vermeintliche Wahrnehmungsfehler handeln, denn mit der Notierung dieser Fehlerklasse weiß man noch nicht, ob es sich um visuelle oder phonematische Wahrnehmungsschwächen oder andere Defizite handelt. Der DRT gibt also einen ersten Überblick und er zeigt dem Fachmann, wo er weiter untersuchen muss. 11 M. Angermeier, Legasthenie, Pro und Contra, Weinheim 1972, S. 20 11 2. Das anamnestische Gespräch Je nach Alter kann der Proband in das anamnestische Gespräch mit einbezogen werden. Da es jedoch immer auch um Medizinisches geht, ist sorgfältig abzuwägen, ob Grundschüler am Gespräch beteiligt werden sollten. Die Familie wird gebeten, ihre Beobachtungen darzustellen. Befragt wird die psychische Situation, das Verhalten in Elternhaus und Schule, die Entwicklung der Schwäche aus der Sicht der Eltern und Lehrer und dergl. mehr. Grundsätzlich müssen alle Bereiche angesprochen werden, die zur Legasthenie geführt haben können. In jedem Fall wird ein Seh- und Hörtest durchgeführt (mit einer statistisch nicht relevanten Zahl unentdeckt gebliebener Seh- und Hörschwächen ist hier zu rechnen). Im Hörtest wird nur das sensorische Hören überprüft und nicht die Lautverarbeitung im Gehirn. Diese beiden Tests sind meistens schon vom Hausarzt durchgeführt worden. Das anamnestische Gespräch zeigt, wo die Schwächen zu suchen sind. Dabei stellt sich relativ früh heraus, ob es sich eher um eine Legasthenie oder um eine allgemeine Leistungsschwäche handelt. Therapiebedürftig wäre beides, jedoch mit jeweils anderen Mitteln. Einige Wissenschaftler neigen dazu, die Diskrepanz-Definition zu verlassen und alle leserechtschreibschwachen Probanden als Legastheniker zu behandeln. Dieses Vorgehen erscheint indessen als höchst problematisch, da allgemein leistungsschwachen Kindern eher mit einer anderen Schule als mit einer Legasthenie-Therapie geholfen werden kann, die nur auf die partiellen Schwächen des Probanden einginge. Es ist sinnvoll, die IQ-Grenze in der Diskrepanz-Definition bei 100 IQ-Punkten anzusetzen, was eine mittlere Intelligenz bedeutet. Aus obigen Gründen ist es in allen Fällen unabdingbar, einen Intelligenztest durchzuführen. Das dient dazu, den Grenzwert festzustellen, andererseits aber auch dazu, die zerebrale Leistungsfähigkeit in ihrer Struktur zu überprüfen und sich der Persönlichkeit des Probanden zu nähern. 12 3. Der Intelligenztest Ein Intelligenztest gibt einen Gesamt-IQ an, der allerdings noch keinen diagnostischen Hinweis geben kann, ob es sich um eine Legasthenie handelt oder nicht. Um dies beurteilen zu können, müssen die Subtests (Untertests) interpretiert werden. Nonverbale (nicht-sprachliche) Intelligenztests sind für eine Legasthenie-Diagnose nicht zu empfehlen. Sie geben nur einen einzigen IQ-Wert an, der zwar etwas über die Gesamtleistungsfähigkeit aussagt, aber nicht deutlich macht, was genau die Defizite sind und in welchen Gehirnregionen sie auftreten. Zu empfehlen ist deshalb z.B. der HAWIK-Test, der sich in 11 Subtests gliedert. Ein Verbal- und ein Handlungsteil weisen getrennte IQ-Werte aus und erlauben eine recht gute Diagnose. Aufgrund der resultierenden Werte können dann spezifische Prüfungen und Therapievorschläge erfolgen. Zeigen sich z.B. visuelle Wahrnehmungsstörungen, wird eine diesbezügliche subtilere Prüfung apparativ oder auch mit dem FROSTIGTest empfohlen, die dann zu einem Therapievorschlag führen kann. Defizite in der visuellen Wahrnehmung sind allerdings nach heutigem Forschungsstand selten als Ursache der Legasthenie anzusehen, obwohl man noch vor 15 Jahren der Meinung war, die visuelle Wahrnehmung und ihre Verbesserung seien der Schlüssel zur Therapie. Dennoch ist es sinnvoll, die visuelle Wahrnehmung zu überprüfen und gegebenenfalls zu therapieren. Die größten Defizite finden sich jedoch im Bereich der Lautdiskriminierung (Unterscheidung und Verarbeitung von Lauten). Man spricht von einer phonematischen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwäche, die bei 55% aller Legastheniker anzutreffen ist. In einer Reihe neuerer Untersuchungen sind bei Legasthenikern gravierende partielle Sprach- und Sprechstörungen festgestellt worden12. Wenn ein Kind Laute nicht differenziert genug abzuhören und umzusetzen versteht, wird es auch erhebliche Schwierigkeiten haben, jedem Laut den richtigen Buchstaben zuzuordnen. Es kommt zu Verwechslungen, Ergänzungen und Verdrehungen. Die Lautunterscheidungsschwäche dürfte von zentraler Bedeutung für die ersten Stadien des Lesen- und Rechtschreiblernens sein. Wenn sie sich im Intelligenztest manifestiert, ist parallel zur Legasthenie-Therapie eine logopädische Behandlung anzuraten. Der HAWIK-Test macht auch deutlich, inwieweit der Proband zu begrifflicher Analogiebildung fähig ist, was sich zum Beispiel in mangelhaften Fähigkeiten zu sprachlicher Abstraktion zeigt. Der HAWIK-Test gibt ebenfalls Aufschlüsse über die Merkfähigkeit des Probanden. Damit ist nicht die allgemeine Gedächtnisleistung gemeint, die von „allen“ Neuronen getragen wird, sondern die Merkleistung für ankommende phonematische oder visuelle Signale. Es handelt sich hier um die Fähigkeit der Synapsenendkolben, diese Signale für kurze Zeit zu speichern und dann gegebenenfalls an andere Neuronen weiterzuleiten. Die akustische Merkfähigkeit ist bei den meisten Legasthenikern mehr oder weniger stark eingeschränkt. 12 M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976, S. 107 13 Unreife, Ausfälle, genetisch bedingte Schwächen der Neuronen und deren Synapsen lassen die Symptomatik Legasthenie erst zu bzw. verursachen sie. So geschädigte Synapsen können selbstverständlich auch nicht speichern und zwar weder im Kurzzeitgedächtnis noch im Langzeitgedächtnis. Diese Defizite haben natürlich zur Folge, dass die Speicherprozesse für Sprache in den Verbalregionen auch nicht zufriedenstellend ablaufen und dass Kinder/ Erwachsene auch in anderen legasthenierelevanten Subtests des HAWIK-R schlecht abschneiden, wie z.B. im Wortschatztest. Für Erwachsene mit legasthenem Syndrom empfiehlt sich der HAWIE-Test in revidierter Fassung. 4. Der Lesetest Wir halten einen Lesetest nicht für dringend erforderlich. Eine nicht-standardisierte Leseprobe dahingegen für unabdingbar, da sie als Teil der Diagnose angesehen werden muss, und das Gesamtbild der sprachlichen Kompetenz des Probanden abrundet. Lesetests sind in der Durchführung problematisch. Da wir davon ausgehen, dass jede Legasthenie-Therapie ausschließlich in Einzelsitzungen durchgeführt werden muss, wird der Therapeut ohnehin zu späterem Zeitpunkt seinen Probanden kennenlernen. Nach einigen Sitzungen sind die Leseschwächen analysiert. Ein erfahrener Legasthenie-Therapeut kann die Lese-Leistung eines Kindes empirisch gut einordnen. Grundsätzlich gilt jedoch für Lesetests, dass sie Fehler auf der Buchstabenebene und der Wortebene unterscheiden. Als Wortfehler gelten: Wortauslassungsfehler, Worthinzufügungsfehler, Ersetzungsfehler, wenn das zu lesende Wort durch ein anderes Wort ersetzt wurde, z.B. „über“ statt „für“13. Schon früh lernen Legastheniker, Worte in für sie nicht lesbaren Texten hinzuzufügen bzw. zu erfinden, um die Gestalt des Kontextes zu wahren. Gegen den Lesetest spricht auch, dass Kinder mit schwerer Legasthenie die zu lesenden Wörter stark entstellen, und dadurch eine objektive Klassifizierung der Fehler gar nicht mehr möglich ist. Grissemann hält deshalb Lesefehler vor allem für „Betriebsunfälle in der Deutungsnot mit wechselnden Häufungen in verschiedenen Fehlerkategorien“. 13 M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976, S. 51 14 15 5. Die psychische Situation Ca. 70% aller Kinder mit legasthenem Syndrom haben Auffälligkeiten im Persönlichkeitsbereich. Primär sind Angstzustände anzuführen, die sich nicht nur als Schulangst manifestieren. Viele (ca. 40%) sind labil, nervös, unruhig, zerstreut, unkonzentriert, launenhaft und stimmungslabil. Seltener sind sie allerdings aggressiv, eigensinnig, störend. Eine ebenso große Anzahl ist apathisch, depressiv, verträumt und auffallend kindlich. Weiterhin ist oft das Selbstwertgefühl beeinträchtigt, viele betroffene Kinder haben eine verminderte Frustrationstoleranz, einige sind kontaktscheu14. Die primär schulisch überforderten Kinder entwickeln Abwehr- und Ausweichstrategien, wie beispielsweise Verweigern der Mitarbeit in der Schule und im Elternhaus, sie verstecken Schulhefte oder behaupten, sie verloren zu haben etc. Es entsteht allmählich eine Abwehrhaltung gegenüber jeglichem Leistungsdruck, wobei auch die Fächer miteinbezogen werden, die eigentlich gut zu bewältigen wären. Das legasthene Syndrom wirkt sich selbstverständlich auf alle sprachlichen Fächer aus. Das Kind erlebt sich insgesamt als minderwertig und vernachlässigt ebenfalls die Fächer, die ihm früher gelegen haben. Es entwickelt sich ein Überdruss, der sich sowohl durch Apathie ausdrücken kann, als auch durch Feindseligkeiten gegenüber anderen, besseren Schülern. Überempfindlichkeit und Unruhe, Wichtigtuerei und tollkühnes Verhalten können sich abwechselnd und spontan einstellen, da sich das Kind in einem Problemkomplex gefangen sieht. Wichtigtuerei und tollkühnes Verhalten sind somit als Lösungsstrategien der Kinder zu verstehen, um vor sich selbst ihre Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren. Somit stellt Lügen, Verstecken von Heften usw. aus Sicht der Kinder ein sinnvolles Verhalten dar, um sich vor Misserfolgserlebnissen zu schützen. Ein Verständnis dieser Zusammenhänge kann somit den Erziehungsberechtigten und Pädagogen des Kindes den Umgang mit dem Kind erleichtern. Hieraus wird deutlich, dass die Kinder so oft wie möglich vermeiden, sich den für sie mit viel Frustrationen verbundenen Situationen wie Lesen und Schreiben auszusetzen. Neben der Leistungsverweigerung in der Schule sind sie auch außerhalb oft in keiner Weise bereit zum Üben. Lernspiele und anschaulich aufbereitetes Material werden von ihnen oft schnell als pädagogische Tricks entlarvt. Hier ist es wichtig, die Kinder in ihrer aktuellen Situation ernst zu nehmen und zunächst einmal an ihrer Motivation zu arbeiten. Dazu gehört auch, ihnen Erfolgserlebnisse durch kleinschrittiges Vorgehen zu verschaffen. Daher auch eine Bitte an die Eltern, die Entwicklung der Kinder zu verfolgen und ihnen auch kleine Erfolge rückzumelden, da eine offensichtliche Verbesserung der Schulnoten erst nach einiger Zeit zu erwarten ist. 14 M. Angermeier, Legasthenie, Frankfurt/M. 1976. S. 110 16 Entsprechend sind die psychosomatischen Beschwerden, wie Erbrechen, Schlafstörungen, Anfälligkeit für Krankheiten usw. Legastheniker sind demnach unserer Ansicht nach außerordentlich gefährdet und bedürfen in fast 70% aller Fälle einer begleitenden oder besser: integrierten Therapie, d.h. der Therapeut sollte sowohl Pädagoge/Psychologe als auch Philologe sein, damit das Kind nur eine Bezugsperson hat. Die psychische Symptomatik erscheint zum erstenmal im anamnestischen Gespräch, das als Einstieg in die Diagnose stattgefunden hat. Diese eher subjektiven Beurteilungen und Aussagen werden in der 2. Phase der Diagnostik, nach philologischen und neurologischen Untersuchungen, über das persönliche Gespräch und evtl. einer Reihe von Fragebogen und Tests verifiziert. Anschließend wird ein Therapieplan erstellt. III. Legasthenie-Therapie 1. Funktionstraining als Primärtherapie Nachdem diagnostiziert worden ist, welcher Art die zerebralen Schwächen sind, muss ein Funktionstraining einsetzen, das die Hirnregionen trainiert, die Ausfälle oder Schwächen zeigen. Dabei handelt es sich bei Legasthenikern primär um phonematische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwächen, sowie um Merkschwächen, resultierend aus mangelnder Speicherfähigkeit der Synapsenendkolben. Visuelle Wahrnehmungs- und Verarbeitungsschwächen sind möglich, machen jedoch, wie oben schon erwähnt, einen eher geringeren Anteil aus. Zerebrale Ausfälle bedingen häufig Konzentrationsschwächen. Die Konzentrationsfähigkeit wird mit Konzentrationsleistungstests geprüft, die auch kontinuierlich in der Therapie eingesetzt werden können, da sich das Leistungsniveau ständig verändert. Die grundsätzliche Frage, was trainiert werden soll, macht eine kurze Beschreibung des neuronalen Systems notwendig. Der Neokortex hat ca. 13 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die nicht kurzgeschlossen, sondern über Synapsen (Kontaktstellen) miteinander verbunden sind und durch Reizeinflüsse einen Strom produzieren, den wir „denken“ nennen. Neuron und Synapsen sind in Abb. 8 dargestellt. Ein Neuron kann bis zu 80000 Synapsen aufnehmen. Die Reizimpulse, die auf die Neuronen zukommen, werden von den Synapsen aufgenommen und weitergeleitet, so dass sich an den Synapsen „alles“ abspielt, was wir als nervlichen Reiz definieren, d.h. visuelle Reize, phonematische Reize usw., auch die bereits erwähnte Merkleistung und das Gedächtnis, im allgemeinen Sinne verstanden. Die neuronale Struktur muss so ausgerüstet sein, dass sie qualitativ und quantitativ gut arbeiten kann. Das bedeutet, dass es viele Neuronen und viele Synapsen geben muss, die dann auch noch funktionstüchtig sein müssen. 17 Abb. 8: Spektrum der Wissenschaft, 1984 Abb. 9 zeigt, wie die Synapsen arbeiten. Ankommende Erregerimpulse werden bis an den Synapsenendkolben herangeführt (synaptischer Spalt) und über die synaptische Membran („Filzgewebe“) an die Postsynapse weitergeleitet. An diesen Synapsenendkolben wird auch die Gedächtnisleistung des Gehirns erbracht, d.h. es werden Engramme – Eingravierungen – gebildet, die später „abgetastet“ werden können. Es handelt sich hierbei um chemische Prozesse, wie sie auf Abb. 10 dargestellt sind. Sobald ein elektrischer Impuls (Reiz) die Kontaktstelle erreicht, gibt die übermittelnde Zelle diesen sogenannten Neurotransmitter in winzigen Mengeneinheiten (Quanten) an die Empfängerzelle ab. Die freigesetzten Neurotransmitter-Moleküle lassen sich an Membranstrukturen der Empfängerzelle nieder, an den Rezeptoren. Durch diese Bindung öffnen sich Kanäle der Zellmembran, so dass Ionen in die Zelle strömen. Sobald genügend Ionen eingedrungen sind, entsteht ein elektrisches Signal, das nunmehr an der Empfängerzelle entlang wandert. In diesem Ionenstrom drückt sich die funktionelle Stärke der Synapse aus. Legastheniker verfügen über regional schlecht arbeitende Synapsen. Das kann genetisch bedingt sein bei vererbter Legasthenie oder auch prä-peri- oder postnatale Ursachen haben, wie zum Beispiel Sauerstoffmangel bei der Geburt. (Siehe Abb. 2) Sämtliche Denkprozesse spielen sich an der synaptischen Membran ab, auch das Gedächtnis. Aus der Struktur und dem Arbeitsmechanismus der Synapsen ergibt sich die Folgerung, dass Stoffwechselstörungen Legasthenie hervorrufen können. 18 Damit einher geht eine schlechtere Gedächtnisleistung und natürlich auch eine schlechte Denkleistung in der Region, die von den Ausfällen betroffen ist.15 Abb. 9: Spektrum der Wissenschaft, 1984 15 J. C. Eccles, Das Gehirn des Menschen, München, Zürich. 1973, S. 218 19 Abb. 10: Spektrum der Wissenschaft, 1984 Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass eine synaptische Aktivierung zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit der Synapse führt. Bei ausreichender Wiederholung dieser Aktivierung wird eine andauernde Stabilisierung dieser Leistungszunahme erreicht.16 Demgegenüber führt Nichtgebrauch zu einem Leistungs16 John C. Eccles, Gehirn und Seele, München, Zürich 1987, S. 78 20 rückgang. Die Hypertrophie der Synapsen ist jedoch nicht allein aktivierenden Lernprozessen zuzuschreiben, denn fast alle Zellen in den höchsten Ebenen des Zentralnervensystems zeigen kontinuierliche Impulsentladungen. Auf den höheren Ebenen des Gehirns ist jedoch Veränderbarkeit das Wesen seiner Leistung. Die große Plastizität der Synapsen bildet dafür die Grundlage. Abb. 11: J. C. Eccles, Das Gehirn des Menschen, München, Zürich 1989, Seite 231 Ein Funktionstraining zielt demnach immer darauf ab, eine Hyperthrophie von Synapsen zu erreichen, und die damit verbundenen Stoffwechselprozesse zu verbessern. Es gilt auch, die defizitär arbeitenden Synapsen anzuregen und denjenigen Synapsen Aufgaben zu erteilen, die „bereit“ sind, die Leistungen bereits ausgefallener Systeme zu übernehmen. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass sich durch intensive Funktionstrainings auch neue Synapsen bilden. Legasthenie kann nur durch kontinuierliches Üben überwunden werden. Allerdings muss dieses Üben sinnvoll gestaltet sein und gezielt eingesetzt werden. Das bedeutet, dass Legastheniker mit visuellen Wahrnehmungsstörungen selbstverständlich ein visuelles Wahrnehmungstraining absolvieren müssen und solche, die Wahrnehmungsschwächen im phonematischen Bereich haben, müssen ein entsprechendes phonematisches Wahrnehmungstraining machen. Es gilt jedoch auch die Faustregel für alle neurologischen Trainingseinheiten: Jedes spezifische Training trainiert auch das Gehirn in seiner Gesamtheit. Um die kognitiven Prozesse zu stabilisieren, muss jeder Legastheniker, gleich welcher Art sein Funktionstraining sein mag, auch ein philologisches Training absolvieren, was praktisch bedeutet, dass er Lese- und Schreibübungen machen muss, was nicht zuletzt auch dazu führt, dass sich seine schulischen Leistungen recht schnell verbessern. Dies wiederum führt zur psychischen Stabilisierung. Die Pluralität des Geschehens stellt erhebliche Anforderungen an den Therapeuten, denn er muss sowohl die Philologie als auch die Pädagogik und Psychologie vertreten. Aufgrund der individuellen Symptomatik ist es nicht sinnvoll, Kinder in Gruppen zu therapieren, sondern ausschließlich in Einzeltherapie. Wir sind uns der 21 Tatsache bewusst, dass viele Aspekte, die für eine Gruppentherapie sprechen, leider nicht zum Tragen kommen, doch müssen diese zugunsten des hohen Anspruchs an das individuelle Fehlerprofil und dessen genaues Ansteuern zurückstehen. Da wir nur Einzeltherapie für sinnvoll halten, sollte ein Legastheniker auch nur von einer Persönlichkeit betreut werden. Da die meisten Legastheniker als Grundschüler eine Therapie beginnen, muss der Therapeut selbstverständlich auch das gesamte Repertoire der Methodik und Didaktik der Grundschule beherrschen, um die Legasthenie-Therapie nicht als etwas Schulfremdes erscheinen zu lassen und um andererseits auch die stets einsetzenden schulischen Erfolge begleiten zu können – natürlich auch die Misserfolge, die das Kind noch eine geraume Zeit bewältigen muss. 2. Ausblick Wir haben gesehen, dass Legasthenie nicht als Leerformel gesehen werden kann, allerdings sollte man sich an die Diskrepanz-Definition halten, um das Ausufern aller möglichen Defizite einer Persönlichkeit unter dem Begriff Legasthenie zu subsumieren. Auch innerhalb der Diskrepanz-Definition gibt es noch eine Menge wissenschaftlicher Herausforderungen, die sich primär auf die neurologischen Untersuchungsansätze beziehen. Da wir erst am Anfang unserer Kenntnis über das zerebrale Geschehen stehen, wird die Wissenschaft mit Sicherheit noch eine Reihe von Fragen aufwerfen, die legasthenierelevant sind. Auch Pädagogik und Psychologie sind weiterhin gefordert, nicht nur im Sinne weiterer Untersuchungen und Konzepte im Bereich der Legasthenie-Therapie, sondern auch, sich von herkömmlichen Vorstellungen zu lösen, im Extremfall einem Legastheniker vorzuschlagen, er möge voltigieren oder schwimmen lernen, um seine Legasthenie zu therapieren. Es gibt natürlich noch eine ganze Reihe unwissenschaftlicher Behandlungsmethoden, die es sich hier nicht aufzuführen lohnt. Das Wort Legasthenie ist zwar aus den kultusministeriellen Erlassen verschwunden, doch der Status der Legastheniker hat sich damit nicht verändert. Eine akribische Untersuchung sollte Spekulationen oder Vertröstungen, wie „das wächst sich aus“ vorgezogen werden. Oft handelt es sich nur um zeitlich begrenzte Schwächen oder Defizite, die allerdings nicht als vorübergehend bezeichnet oder gar verharmlost werden sollten. Wesentlich erscheint uns auch, dass die Sozialämter ihre Verantwortung besser wahrnehmen als bisher, denn ca. 50% aller Legastheniker-Familien sehen sich nicht in der Lage, eine Legasthenie-Therapie zu bezahlen, da sie sehr kostenintensiv ist. Die Jugendämter übernehmen allerdings die Kosten einer Therapie, wenn die Persönlichkeit des Kindes als bedroht angesehen wird (BSHG, Eingliederungsparagraph 35 a, KJHG §§ 27 ff.). Die Kasse kommt nur dann für die Kosten auf, wenn die Legasthenie „Krankheitswert“ hat. 22 Adresse des Autors Dr. phil. Helmut Hammächer Oststor 74, 48165 Münster Tel. 02501-9640560, Funktelefon: 0171-3307575 Fax 02501-9640564 Internet: www.dr-hammaecher.de E-mail: [email protected] Glossar der Fachbegriffe Agraphie Alexie Anamnese(anamnestisch) Aphasie bihemisphärisches Training Dendriten Diskrepanz Diskrepanz-Definition EEG empirisch evoziert genetischer Code Gliazelle Hemisphäre Hypertrophie Lateralisierung kongenital morphologisch multifaktoriell Neokortex Neuronen occipital poliätiologisch prophylaktisch Regression somatisch Symptomatik Synapsen Transmitterbläschen zerebrale Dysfunktion Schreibunfähigkeit Leseschwäche die Vorgeschichte einer Krankheit Verlust des Sprechvermögens oder des Sprachverständnisses Training beider Hirnhälften Verästelungen von Nervenzellen Unterschied Lese-Rechtschreibschwäche bei sonst guter (IQ 100) bis sehr guter Intelligenz (über 120 IQ) Elektroenzephalogramm – Hirnstrommessung aus Erfahrungen und Beobachtungen gewonnen hervorgerufen Erbinformation Stützzellen des Nervensystems Hälfte des Großhirns und des Kleinhirns Größenwachstum nach einer Seite hin verlagern (Asymmetrie der beiden Hemisphären) angeboren der Form nach, die äußere Gestalt betreffend hat viele Faktoren Großhirnrinde Nervenzellen „hinten“ hat verschiedene Ursachen vorbeugend Rückbildung körperlich Erscheinungsbild Kontaktstellen an den Nervenzellen Bläschen (Vesikel), die eine Übertragungsflüssigkeit ausschütten Funktionsstörung des Gehirns