Deutscher Städtetag Dezernat V Kulturelle Vielfalt in der Stadtgesellschaft - Chance und Herausforderung für die kommunale Politik und kommunale Kulturpolitik - Ein Positionspapier des Kulturausschusses des Deutschen Städtetages (in der 125. Sitzung am 7. Oktober 2004 in Freiberg abschließend beraten) Vorwort Bereits 1992 hatte der Kulturausschuss des Deutschen Städtetags ein Papier zur kulturellen Vielfalt in Deutschland erarbeitet und darin Empfehlungen für das Zusammenleben in deutschen Städten formuliert. Die Empfehlungen hatten Anfang der neunziger Jahre für eine moderne kommunale Ausländerpolitik zweifelsohne eine impulsgebende Wirkung. Blickt man jetzt - 12 Jahre danach - auf das Positionspapier, so wird deutlich, dass sich die gesellschaftlichen Realitäten und damit die politischen Handlungsnotwendigkeiten verändert haben. Die „Ausländerpolitik“ der 80er und 90er Jahre bewegte sich zwischen zwei Polen. Sie war einerseits geprägt von der Annahme, dass sich die Integration der Migranten / innen im Sinne von Assimilation zu vollziehen habe. Ziel war eine Art „fertig integrierter Ausländer“. Anderseits wurde von einem, aus dem Rückblick betrachtet, idealisierten Bild der multikulturellen Gesellschaft ausgegangen - dem friedlichen Miteinander und Nebeneinander unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Beide Konzepte greifen zu kurz: Unsere (Stadt-)Gesellschaft ist vielfältiger und komplexer geworden und unser Blick auf sie differenzierter. Die Stichworte, die als auslösende Faktoren für diese Entwicklung gelten, sind bekannt: zunehmende Globalisierung/Internationalisierung/ Europäisierung, zunehmende reale und virtuelle Mobilität von Menschen, Waren und Informationen. Wir erleben einen tiefgreifenden technischen, ökonomischen sowie sozialen und demografischen Wandel - die Gesellschaft und unser Zusammenleben verändern sich rasch. Der Status „Ausländer/in“ oder „Deutsche/r“ reicht schon lange nicht mehr als Anknüpfungspunkt für differenziertes politisches Handeln - ebenso wichtig sind Kategorien wie z. B. das Geschlecht, das Alter oder auch die Glaubenszugehörigkeit. „Vielfalt“ bestimmt unser gesellschaftliches Leben und „Vielfalt“ ist in Politik (Politics of Diversity), Wirtschaft und Verwaltung (Diversity Management) ein Schlüsselbegriff sowie Grundlage für strategisches Handeln geworden. Die „kulturelle Vielfalt“, d. h. die Gestaltung des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnischer, religiöser und nationaler Gruppen, ist hierbei sicherlich eine der zentralsten Herausforderungen für Politik und Gesellschaft. Auch unser Blick auf Migration und Integration hat sich verändert. Inzwischen ist offensichtlich, dass Migration - auch für Deutschland - keine Ausnahmeerscheinung und Integration ein facettenreicher gesamtgesellschaftlicher Prozess ist. Die Bundsrepublik Deutschland ist in den letzten 50 Jahren faktisch Einwanderungsland geworden. Bei der Integration geht es um ein ganzes Paket von Zielen und ungelösten Fragen - um die Teilhabe der Migranten/innen am ökonomischen und sozialen Leben, um Bildungschancen und Sprachkompetenz. Schließlich spielen Distanzen, Differenzen und Dissense zwischen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den verschiedenen ethnischen Minderheitsgesellschaften eine Rolle. Diese können vielleicht nicht überwunden werden, müssen aber von „beiden Seiten“ respektiert werden. Das -2heißt, es geht bei der Integration auch um gemeinsame und für alle gültige Regeln, die als Fundament für das Zusammenleben notwenig sind. Vielfalt und speziell kulturelle Vielfalt bestimmt unsere alltägliche Lebensrealität. Die Kommunalpolitik ist hier zweifelsohne besonders gefordert, neue Konzepte für das Miteinander in einer heterogenen Stadtgesellschaft zu entwickeln, denn letztendlich ist die Stadt der Ort, wo das gesellschaftliche Zusammenleben konkret und alltäglich stattfindet und wo es auch gestaltet werden muss. Je komplexer unsere Gesellschaft wird, desto offensichtlicher ist, dass es keine einfachen Lösungen gibt und geben wird, wie das Miteinander in einer Stadtgesellschaft zu organisieren ist. Das heißt: Wir brauchen einerseits offene(re) Begriffe, Ideen und Konzepte für Vielfältigkeit in unseren Stadtgesellschaften. Wir müssen andererseits aber auch ganz speziell die Herausforderungen und die Chancen bzw. den Gewinn der nationalen, religiösen und ethnischen Vielfalt in unseren Städten betrachten - besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Internationalisierung und Globalisierung unserer Wirtschaft. Das Positionspapier „Kulturelle Vielfalt in der Stadtgesellschaft - Chance und Herausforderung die kommunale Politik und die kommunale Kulturpolitik“ versucht hierfür eine Grundlage zu schaffen. Es kann und will keine Lösungen anbieten - die konkreten städtischen Konzepte müssen individuell und vor Ort in den Kommunen entwickelt werden. Es ist Aufgabe der Stadtpolitik, die Vielfalt im Allgemeinen und die kulturelle Vielfalt im Besonderen als Gewinn und Bereicherung für das städtische Leben anzuerkennen und zu nutzen sowie dazu beizutragen, dass sich diese Vielfalt in einem ebenso offenen wie aufgeschlossenen Klima entfalten kann. Damit wir in den Städten tragfähige Konzepte für den Umgang mit kultureller Vielfalt entwickeln können, brauchen wir eine gemeinsame Grundlage, ein gemeinsames Verständnis von Migration und Integration. Wir wissen, die Debatten zu diesem Thema werden oft hochemotional geführt. Um so wichtiger ist es, Kerngedanken zu formulieren, manchen gewohnten Blick zu korrigieren und auch das eine oder andere Vorurteil auszuräumen. Erst auf der Grundlage eines gemeinsamen gedanklichen Fundaments ist es möglich, die einzelnen Handlungsfelder kommunaler Integrationsarbeit zu beleuchten. Einem Handlungsfeld muss bei der Frage, wie mit der kulturellen Vielfalt in der Stadt umzugehen ist, besondere Beachtung geschenkt werden - der kommunalen Kulturarbeit und Kulturpolitik. Die Kulturakteure in den Städten sind sich seit jeher ihrer besonderen Verantwortung bewusst, unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen und integrative Angebote in der Stadt zu befördern und mitzugestalten. Dies wird in Zukunft verstärkt ihre Aufgabe sein. 1. Vielfalt in der Stadt - Kerngedanken Eine Stadt - viele Lebenswelten Die Kategorie „Ausländer“, d. h. die ethnisch-nationale Herkunft, ist kein, allein tragfähiges, Unterscheidungskriterium. Wir - „Deutsche“ und „Migranten/innen“ - leben in einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Bezüge, die unser Leben und unsere persönliche Identität prägen. Die Geschlechtszugehörigkeit, die ethnische und nationale Herkunft, der Bildungshintergrund, die Glaubenszugehörigkeit, die sexuelle Orientierung, das Alter, der Gesundheitszustand etc. - all das kennzeichnet die Vielfalt. Die ethnische oder auch nationale Herkunft ist hierbei nur ein Aspekt unter anderen. -3Unsere städtische Gesellschaft ist ein buntes Mosaik aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Je nachdem, welche der obengenannten Kategorien man anlegt gehört man zu einer sog. Mehrheits- oder einer Minderheitsgesellschaft. Allein der Blick auf jene Personengruppen, die in den letzten 60 Jahren in die Bundesrepublik einwanderten, macht deutlich, wie heterogen die Gruppe der Migranten/innen ist: Die Vertriebenen aus Osteuropa in der Nachkriegszeit, die Arbeitsmigranten/innen aus Südeuropa in den 60er und 70er Jahren, die Spätaussiedler/innen in den 80er und 90er Jahren sowie Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge aus europäischen wie außereuropäischen Staaten in den 80er und 90er Jahren. Nicht nur diese Aufzählung von Herkünften und Einwanderungsgründen macht die Vielfalt innerhalb der Gruppe der Migranten/innen deutlich, auch deren unterschiedliche Berufs- und Lebensbezüge: Sie leben auf Zeit hier wie z. B. Studierende, Wissenschaftler/innen, Greencard-Inhaber, Saisonarbeitskräfte oder Asylsuchende. Sie sind Kinder und leben schon als sogenannte dritte Generation hier. Sie sind Unternehmer/innen, Angestellte internationaler Unternehmen oder machen gerade eine Ausbildung. Sie sind arbeitslos oder gehen in Rente, sind verwitwete Männer oder alleinerziehende Frauen. „Eine Stadtgemeinschaft - viele Lebenswelten“ - dieses Motto ist die Grundlage eines Integrationskonzeptes einer deutschen Großstadt. „Vielfalt bedeutet Stärke - Vielfalt braucht Individualität“ wiederum ist die Kernbotschaft eines internationalen Unternehmens. Beide Leitsätze nehmen unsere Lebensrealität zum Ausgangspunkt und tragen in ihrem Kern die Botschaft, dass Vielfalt ein gesellschaftlicher Reichtum ist und dass es um ein gleichberechtigtes Miteinander unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen geht. Stadt in Bewegung - städtisches Leben ist von Zu- und Abwanderung geprägt Im Vordergrund politischer Debatten steht in der Regel die Zuwanderung. Dieser Blick auf Migration erfasst nur einen Teil der Lebensrealität in unserer Gesellschaft und in unseren Städten. Zwischen 1961 und 1997 sind über 23 Millionen ausländische Staatsangehörige in das frühere Bundesgebiet bzw. die Bundesrepublik Deutschland zugezogen, 17 Millionen haben es im gleichen Zeitraum wieder verlassen. Dies ergibt einen Überschuss von ca. sechs Millionen in 36 Jahren, bzw. ca. 169.000 pro Jahr. Zudem ist auffallend, dass seit 1989 immer mehr deutsche Staatsangehörige das Land für längere Zeit oder für immer verlassen haben. Waren dies in den 70er und frühen 80er Jahren zwischen 50.000 und 65.000 jährlich, so stieg die Zahl ab 1998 auf über 100.000. Die Zahlen machen deutlich: Kennzeichnend für die Bundesrepublik war und ist ein permanentes Zusammenspiel von Zu- und Abwanderung. Das heißt: Städtisches Leben ist in wesentlich höherem Masse Veränderungen - Pendelbewegungen - ausgesetzt und damit wesentlich dynamischer als die eher statischen Begriffe wie „Einwanderung“ oder „Auswanderung“ zu fassen vermögen. Das „Kommen und Gehen“ ist ein konstituierendes Element von Stadtgesellschaften. Die Stadt wird auch in Zukunft immer mehr eine Stadt in Bewegung sein. Migration, d. h. Zuwanderung, Abwanderung und nicht zu vergessen die Binnenwanderung sind heute der gesellschaftliche Normalfall und keine temporäre Ausnahmeerscheinung. -4Kulturelle Vielfalt in Deutschland - individuelle kommunale und regionale Konzepte sind notwendig Zur Zeit beträgt der Anteil nicht-deutscher Staatsangehöriger in Deutschland ungefähr 9 %. Die größte Gruppe bilden mit ca. 2 Mio. die Türken und Türkinnen. Dieser allgemeine Blick auf Migranten/innen anhand statistischer Durchschnittswerte bedarf der Präzisierung, denn 71 % der ca. 8 Millionen nicht-deutschen Staatsangehörigen leben in nur vier Ländern - in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Einen überdurchschnittlichen Migrantenanteil haben zudem die Stadtstaaten und die urbanen Zentren der alten Länder; dieser liegt in den Kernstädten bei bis zu 40 %. Die sehr unterschiedliche geografische Verteilung der Zugewanderten innerhalb Bundesrepublik macht deutlich, dass differenzierte, auf die spezifischen regionalen und lokalen Gegebenheiten abgestimmte städtische Konzepte notwendig sind. Toleranz, Nichtdiskriminierung und Respekt gegenüber Diversität ist unser kostbarster Kulturbesitz Im Vorwort wurde betont: Für das Funktionieren des Zusammenlebens in unseren Städten sind beide Seiten verantwortlich - die deutsche Mehrheitsgesellschaft und die ethnischen Minderheitsgesellschaften. Gerade weil das Ausloten des Miteinanders oft schwierig ist, stellt sich die Frage, was die zentrale und wichtigste normative Grundlage für das gesellschaftliche Miteinander ist. Gesucht wird also nach einer für alle gültigen Plattform, nach einem gemeinsamen Nenner, an den sich alle halten müssen. Diesen findet man in erster Linie bei den zivilen Werten, in deren Mittelpunkt die Achtung der Menschenrechte steht, die bei uns im Grundgesetz niedergelegt sind. Normatives Herzstück ist hierbei sicherlich die Toleranz auf der Grundlage von Respekt. Bei der Diskussion um die Integration von Migranten/innen gilt es deshalb, auch deutlich zu machen, dass die sogenannten kulturellen Werte der deutschen Mehrheitsgesellschaft nie ein ausreichendes Fundament darstellen können. Sie werden vielmehr ergänzt durch die vielfältigen Wertorientierungen der bei uns lebenden ethnischen Gruppen. Abgesehen davon ist die deutsche Bevölkerung weder eine homogene Gruppe, noch ist in Deutschland eine klar definierte Nationalkultur auszumachen oder auch ein homogenes, ausschließlich national begründetes Wertefundament. Zentraler Orientierungsrahmen für das Zusammenleben Aller in Deutschland ist das Grundgesetz, weil hier in erster Linie allgemeine Menschenrechte und nicht nur nationale Bürgerrechte definiert werden. Den Gedanken, zivile Werte als Fundament für kulturelle Vielfalt zu betrachten, brachte der Amsterdamer Bürgermeister im Jahr 1997 auf den Punkt, indem er „Toleranz, Nichtdiskriminierung und Respekt gegenüber Diversität als unseren kostbarsten Kulturbesitz“ bezeichnete. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit vielen Facetten Migration hat, wie deutlich wurde, viele Facetten und ist sowohl ein Gewinn als auch eine Herausforderung für unsere (Stadt-)Gesellschaft. Der Migration quasi gegenüber steht die Integration - auch sie hat ebenso viele Facetten, die es zu beleuchten gilt. Grundsätzlich ist unstrittig, dass Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, die sowohl die deutsche Aufnahmegesellschaft als auch die Migranten/innen in die Pflicht nimmt. Dennoch scheiden -5sich genau bei dem Thema „Integration“ die Geister bzw. bei der konkreten Frage: „Was ist Integration und was hat sie zu leisten?“. Um in unseren Städten tragfähige Integrationskonzepte zu entwickeln, brauchen wir ein gemeinsames Grundverständnis über die Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen von Integration. Integration ist ein Prozess Der Versuch, sich dem Begriff „Integration“ über seine Bedeutung zu nähern und hieraus die Aufgaben für Integration klar zu beschreiben, führt nicht weiter. Begriffe wie Vervollständigung, Eingliederung, Vereinigung sind statisch, suggerieren einen Endzustand und ignorieren damit die Gesellschaft als „Perpetuum mobile“. Integration ist ein vielgestaltiger gesellschaftlicher Prozess, der - streng genommen - nie beendet ist, da auch eine (Aufnahme-) Gesellschaft immer im Fluss ist und nie einen Endzustand erreichen kann. Integration bedeutet mehr als die Eingliederung von Migranten/innen Auffallend an der öffentlichen Debatte ist zudem, dass zwischen den Begriffen „Ausländer“ und „Integration“ eine Art sachlich-logische Verbindungslinie hergestellt wird, d. h. wenn wir von Integration sprechen, meinen wir die Migranten/innen, die es zu integrieren gilt - im Sinne von: in die Gesellschaft zu integrieren. Abgesehen von der Tatsache, dass, wie dargestellt, die Gruppe der Migranten/innen wie jede andere gesellschaftliche Gruppe sehr heterogen ist, impliziert diese Annahme, dass die anderen, d. h. deutschen gesellschaftlichen Gruppen bzw. Teilgruppen per se integriert sind. Es geht hier nicht darum, die spezifischen Probleme, die zum Teil überdurchschnittlich Migranten/innen bzw. bestimmte Migrantengruppen betreffen, zu nivellieren - z. B. hohe Arbeitslosenquote, geringe schulische Leistung der Kinder und damit verbunden ein geringes Bildungsniveau oder auch höhere Delinquenzraten. Es geht jedoch darum, dass Integration als gesellschaftliche Aufgabe nicht auf die Gruppe der Migranten/innen reduziert werden kann. Weder die ethnische Herkunft noch die Staatsangehörigkeit sind ausreichende Indikatoren für einen sogenannten Integrationsbedarf. Zudem wird besonders in politischen Diskussionen zu schnell und zu pauschal vom „Scheitern der Integration“ gesprochen. Dieser Blick, dieses Fokussieren auf das, was nicht funktioniert, wird jedoch der Realität - auch der Realität in unseren Städten - nicht gerecht, denn der Normalfall des Zusammenlebens in Deutschland ist nicht per se problematisch. „Harte“ und „weiche“ Integrationsfaktoren Integration ist eine vielschichtiger Prozess, bei dem es im Kern darum geht, den Migranten/ innen einerseits die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, aber ihnen andererseits diese in zentralen Punkten auch abzufordern. Es gibt unterschiedliche Instrumente, die den Prozess steuern und stützen, sogenannte materielle bzw. sozioökonomische sowie politisch-rechtliche und soziale Integrationsfaktoren. Zu den materiellen Faktoren gehören z. B. die Integration in den Arbeitsmarkt, in das Erwerbsleben und in die sozialen Sicherungssysteme; speziell bei Kindern und Jugendlichen die Integration in die Bildungs- und Ausbildungssysteme. Die politisch-rechtliche Integration umfasst die Einbindung der Migranten/innen in die Prozesse der politischen Willensbildung, und soziale Integration wiederum bedeutet in informelle Beziehungsnetze, in Nachbarschaften und Freundschaften einbezogen zu sein. Diese Unterscheidung in „harte“ und „weiche“ Integrationsfaktoren ist wichtig, um die Handlungsmöglichkeiten und -reichweiten städtischer Integrationsarbeit realistisch einzuschätzen. Die Aktivitäten der Kommunen sind vielfältig und weitreichend, doch sie vermögen nur begrenzt die Defizite bei der materiellen Integration zu kompensieren, z. B. bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt. -6Das Leitmotto für eine städtische Integrationspolitik könnte sein: Verbindendes suchen – Verschiedenheiten zulassen. Unabhängig davon, wie viel die Stadt bei der Integration von Migranten/innen bewegen kann, ist es notwendig, auch die Prämissen des Zusammenlebens in unseren Stadtgesellschaften neu zu gewichten. Die Vorstellung, dass kulturelle und ethnische Vielfalt das störungsfreie Miteinander in einer Gesellschaft bedeutet, ist nicht haltbar. Gerade die Konzepte der 80er Jahre, die Idee der multikulturellen Gesellschaft auf der einen Seite und die Idee des assimilierten Ausländers auf der anderen Seite, transportierten das Ideal des harmonischen Zusammenlebens. Grenzsetzung und Konflikte, Differenzen und Dissensen hatten hier keinen Platz. In unserer Gesellschaft sind jedoch auch Disharmonien spürbar: So wird z. B. der Wunsch nach Grenzsetzung, bzw. nationaler Grenzsetzung im Sinne von „die Grenzen schließen“ mit zunehmender Deutlichkeit von den Bürgern/innen der deutschen Aufnahmegesellschaft formuliert. Umgekehrt ist auch bei einem Teil der Migranten/innen, z. B. bei Folgergenerationen der Arbeitsmigranten/innen, die vor 35-45 Jahren aus den Anwerberstaaten nach Deutschland einreisten, der Wunsch nach Abgrenzung von den gesellschaftlichen Lebensbezügen hier in Deutschland spürbar. Darüber hinaus gibt es zum Teil Konflikte zwischen unterschiedlichen Migrantengruppen. Letztendlich wird hier - auf allen Seiten - ein grundlegendes Gefühl der Unsicherheit, des Unbehagens und der Fremdheit ausgedrückt, das nicht nur legitim ist, sondern das auch politisch ernst zu nehmen ist. Politik muss zulassen, dass in einer Gesellschaft immer wieder neu formuliert werden kann, was Menschen und Gruppen verbindet und was sie trennt. Wir müssen Verschiedenheit und Abgrenzungen - auf beiden Seiten - zulassen. In klassischen Einwanderungsländern wie Kanada ist dieser Gedanke integraler Bestandteil der Integrationspolitik - grundsätzliches Ziel ist einerseits, ethnisch bedingte, soziale Ungleichheit abzubauen und andererseits kulturelle Verschiedenheit zu erhalten. Heute wissen wir - es gibt keine Konsensgesellschaft, und es gibt auch keine städtische Konsensgesellschaft. Gesellschaftliches Leben ist von Konsens und Dissens, Konflikt/Zwiespalt und Einheit/Einigkeit geprägt. Die große Anforderung an die Politik in einer vielfältigen, demokratischen und offenen Gesellschaft besteht nicht nur darin, wie sie Koexistenz organisiert, sondern auch darin, wie sie Differenz organisiert. Eine kommunale Integrationspolitik muss also auf der Grundlage beider Aspekte - Integration und Segregation - entwickelt werden; das Leitmotto hierfür könnte lauten: Verbindendes suchen und Verschiedenheiten zulassen. Migrations- und Integrationspolitik - gemeinsame Verantwortung von EU, Bund, Ländern und Kommunen Migration und Integration bedürfen eines durchdachten politischen Managements - darüber sind sich inzwischen alle politischen Kräfte einig. Betrachtet man die von der EU formulierten Kernelemente der Integrationspolitik, so wird deutlich, dass es hier um eine gemeinsame Verantwortung aller staatlichen Ebenen geht - denn Integration umfasst ein recht komplexes Paket unterschiedlicher Aktivitäten: • • • • • • Eingliederung in den Arbeitsmarkt Bildung und Sprache Wohnen und Leben in den Städten Gesundheits- und Sozialdienste Soziales und kulturelles Umfeld Staatsangehörigkeit, Zivilbürgerschaft. -7Sicherlich gibt es klar abgegrenzte Zuständigkeiten. Die Migrationpolitik ist eine Angelegenheit des Bundes und seit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 auch zunehmend der EU. Beide setzen den Rahmen, z. B. über die Steuerung der Zuwanderung oder das Staatsangehörigkeitsrecht. Alle anderen Kernelemente der Integrationspolitik betreffen Bund, Länder und Kommunen gemeinsam. Die Bereiche Arbeit, Gesundheit, Bildung sowie Partizipation an Prozessen der demokratischen Willensbildung beruhen in erster Linie auf der Gesetzgebung von Bund und Ländern. Die kommunale Ebene dagegen ist jene, wo die Gesetze umgesetzt werden und die Bürger/innen dem Staat unmittelbar begegnen. Kulturelle Vielfalt und die Zukunft kommunaler Politik Kommunen handeln im Bereich Integration von Migranten/innen einerseits auf der Grundlage bundesrechtlicher Rahmenbedingungen bzw. vollziehen Bundesrecht - z. B. im Bereich Ausländerrecht oder über Sozialgesetzgebung (betr. unterschiedliche Zielgruppen - Ausländer, Flüchtlinge, Spätaussiedler). Andererseits vollbringen sie vielfältige Integrationsleistungen in unterschiedlichen Bereichen - zu nennen sind: Bildung, Ausbildung, Sprachförderung - Sprachförderung im Elementarbereich - Förderung der Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen in der Schule - Sprachförderung für bestimmte erwachsene Zielgruppen (Mütter/Ehefrauen) Soziale Leistungen - Leistungen für spezifische Zielgruppen und Lebenslagen (Alter, Behinderung, Arbeitslosigkeit, Gesundheit/Krankheit, jugendliche Migranten/innen) - Konfliktlösung Wohn- und Lebensumfeld - Stadtentwicklungspolitik und städtische Wohnbaupolitik - Bürgerschaftliche Initiativen von Migranten/innen bzw. Vereinen, Migranten/innen in Quartiers- und Stadtteilinitiativen - Sport und Freizeit Kulturarbeit - s. Kapitel „Interkulturalität - Chance und Herausforderung für die kommunale Kulturpolitik“. Über die genannten kommunalen Handlungsfelder hinaus geht es aber auch um die Einbindung von Migranten und Migrantinnen in die Stadtpolitik (z. B. über Ausländerbeiräte und Fachausschüsse für Integration und Internationales) und in die Stadtverwaltung (Einstellung von Mitarbeiter/innen mit Migrationshintergrund). Ferner geht es um die Optimierung der Service- und Dienstleistungsangebote der Ausländerbehörden oder auch um die Förderung der interkulturellen Kompetenz der Mitarbeiter/innen der Stadtverwaltung und städtischen Einrichtungen. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie soll lediglich das breite Spektrum kommunaler Verantwortung und Aktivitäten illustrieren und damit deutlich machen: Integration ist und bleibt auf der Basis der kulturellen Vielfalt eine kommunale Querschnittaufgabe. Wenn wir kulturelle Vielfalt als Strukturprinzip unserer Stadtgesellschaft anerkennen, so heißt das auch, dass wir Stadtpolitik neu denken müssen - denn Migranten/ innen sind nicht ein Teil, sondern ein Bestandteil unserer Stadtgesellschaften. Es geht also um -8eine interkulturelle Qualitätsentwicklung, vielleicht sogar um einen interkulturellen Perspektivenwechsel. Wir müssen prüfen, ob unsere Politik, unsere Verwaltung, unsere Einrichtungen, unsere Angebote zukunftsfähig sind und welche Konzept für das Zusammenleben in unseren muliethnischen Stadtgesellschaften notwendig und möglich sind. 2. Interkulturalität - Chance und Herausforderungen für die kommunale Kulturpolitik Interkulturalität ist ein Begriff, der in den letzten Jahren Einzug in die Diskussion um die Gestaltung des Miteinanders in der multiethnischen Stadtgesellschaft gefunden hat. Er hat den Begriff „Multikulturelle Gesellschaft“ abgelöst. Multikulturalismus gilt inzwischen als überholtes Politikkonzept, da es von einem Nebeneinander in sich geschlossener Kulturen ausgeht. Der gedankliche Grundansatz von Interkulturalität hingegen ist ein anderer: Er verbindet das Nebeneinander und das Miteinander unterschiedlicher Kulturen, versteht ihr Zusammenleben als Prozess, bei dem sich immer wieder neue Verbindungen, Trennungen und Schnittmengen ergeben. Die Kulturarbeit und Kulturpolitik kann und muss zur Gestaltung des interkulturellen Lebens in der Stadt viele Beiträge leisten. Erstens hat sie wichtige eigene Potenziale, die sie einbringen kann - v. a. die Kunst. Zweitens hat sie eine zentrale Verantwortung, Brücken zwischen der lokalen und globalen Kultur zu schlagen, und drittens erfüllt die interkulturelle Kulturarbeit ganz konkrete Aufgaben für das Zusammenleben in unseren Städten. Kunst - ein wichtiges Potenzial für die interkulturelle Kulturarbeit Kunst ist international - das macht die Kunst seit jeher zu etwas Besonderem, Weltoffenem. Diese Internationalität von Kunst hat zwei Aspekte. Auf der einen Seite steht der Weltkunstgedanke, die Idee, dass Kunst universalen und grenzenlosen Charakter hat und haben kann. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass natürlich auch die Produzenten/innen und Interpreten/innen von Kunst, also die Künstler/innen weltweit wandern. Kunst kennt keine nationalen Grenzen und ist durchaus auch interkulturell, aber dies schließt nicht automatisch ein, dass Kunst auch einen Beitrag zum interkulturellen Dialog leisten kann und will. Dennoch: Die Kunst lebt davon, Verbindungen zu suchen, herzustellen und daraus Neues entwickeln. Das Theater interpretiert Klassiker neu in Sao Paulo, Anklam, Frankfurt und Paris, ein bildender Künstler aus Nigeria entwirft ein Zukunftsbild von New York, die Baukunst hat den Neoklassizismus hervorgebracht etc. Kunst ist verbindend, wirkt aber nicht automatisch integrativ. Genau hierin liegt der besondere Beitrag der Kunst. Ihr Eigenwert und ihr Eigenleben liefern hilfreiche Metaphern - und damit Grundlagen - für den Umgang mit kultureller Vielfalt in unsere Gesellschaft und damit auch für die Entwicklung eines modernen Verständnisses von Integration. Interkulturelle Kulturarbeit - die Verbindung von globaler und lokaler Kultur Interkulturelle Kulturarbeit findet bei uns vor Ort in den Kommunen statt - in Ausstellungen, in soziokulturellen Zentren, in Vereinen etc. Bei uns vor Ort ist aber auch die sogenannte kulturelle Globalisierung spürbar, d. h. Konsum- und Kulturmuster, die weltweit anzutreffen sind, oder aus unterschiedlichen Kulturkreisen bei uns Fuß fassen. Dieses Verhältnis zwischen lokaler und globaler Kultur ist, wie wir wissen, nicht spannungsfrei, denn es wird befürchtet, dass „unsere“ Kultur überlagert wird. Diese Angst kann zwar einerseits relativiert werden, muss jedoch andererseits ernst genommen werden. Inzwischen wissen wir: Kulturelle Globa- -9lisierung ist zwar eine Herausforderung, aber keine Bedrohung, denn auch hier gilt, dass unterschiedliche Kulturmuster verschmelzen und daraus Neues entsteht. Das merken wir gerade im Alltag: Kochtraditionen vermischen sich, wir lernen Capoeira und Taekwondo, wir hören turkish house und oriental pop, haben vor ca. 20 Jahren die Straßencafés entdeckt und richten unsere Wohnung nach Feng Shui ein. Durch die kulturelle Globalisierung, die weltweite Wanderung unterschiedlicher Konsummuster, Kulturmuster sowie Kulturtraditionen werden künstlerische Inhalte verschmolzen, entstehen neue Kunstformen, globale Kulturindustrien und neue Seh- und Rezeptionsgewohnheiten. Dies verändert das kulturelle Leben in einer - auch örtlichen - Gesellschaft/Gemeinschaft. Für die Menschen heißt das, dass sie sich irgendwo im Spannungsfeld zwischen globaler und lokaler Kultur befinden. Aufgaben interkultureller Kulturarbeit Nimmt man die ethnisch-kulturelle Vielfalt unter den genannten Prämissen zum Ausgangspunkt, so wird deutlich, wo die zentralen Aufgaben und Handlungsfelder interkultureller Kulturarbeit liegen. Es geht im Kern darum, den unterschiedlichen Teilgesellschaften in der Stadt einen Platz zu geben und den Austausch zwischen ihnen zu fördern. Das heißt konkret: Interkulturelle Kulturarbeit muss erstens die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen wahrnehmen und fördern, den Angehörigen der unterschiedlichen ethnischnationalen Gruppen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich in der Stadt zu verorten. Dazu gehört die Förderung der Kulturarbeit der ethnisch-nationalen Minderheiten einerseits als auch die Selbstvergewisserung der Bevölkerung der Aufnahmegesellschaft andererseits - z. B. über Baukultur/Denkmalpflege oder auch die Förderung lokaler und regionaler Traditionen in allen Sparten. Interkulturelle Kulturarbeit muss zweitens die Verbindung zwischen den unterschiedlichen ethnisch-nationalen Gruppen herstellen. Hier steht einerseits im Vordergrund, über Kunst und Kultur die Auseinandersetzung mit dem „Anders Sein“ zu fördern - sei es über Museen und Ausstellungen, Filme, sei es über Angebote von Volkshochschulen, Bibliotheken, Theatern oder auch über internationale Kunstprojekte. Andererseits ist es natürlich wichtig, den interkulturellen Dialog und die Begegnung zu unterstützen, z. B. über Kulturaustausch und Städtepartnerschaften, thematische Projekte, Stadtteil- und Quartiersprojekte, Begegnungsräume, z. B. sozio- und interkulturelle Zentren, Künstlerförderung etc. Kommunale Kulturpolitik und kulturelle Vielfalt Interkulturelle Kulturarbeit hat, wie deutlich wurde, eine Doppelfunktion. Sie muss einerseits den ethnisch-kulturellen Eigensinn fördern, d. h. „dem Eigenen“ Raum verschaffen und sie muss andererseits den ethnisch-kulturellen Gemeinsinn, d. h. das Miteinander fördern. Auch und gerade für die interkulturelle Kulturarbeit gilt also das Motto „Verbindendes suchen und Verschiedenheiten zulassen“. Die Realität interkultureller Kulturarbeit sieht in Deutschland jedoch anders aus. Sogenannte „Ausländerangelegenheiten“ werden meist verwaltungsmäßig den Sozialabteilungen zugeordnet, die Kulturabteilungen fördern in der Regel einzelne Kulturprojekte. Dahinter verbirgt sich immer noch die Sichtweise, dass Kunst und Kultur von Migranten/innen ein Sonderfall und nicht integraler Bestandteil der Kulturpolitik in unserem Lande ist. - 10 - Es ist die interkulturelle Kulturarbeit, die die Vielfalt als gesellschaftliche Realität in unseren Städten aufgreift, thematisiert, Brücken schlägt und damit für das Zusammenleben und das gesellschaftliche Klima in unseren Städten einen wichtigen Beitrag leistet. Dennoch müssen wir uns auch vor Augen halten, was sie nicht kann - z. B. Bildungsdefizite bei Jungendlichen ausräumen, Arbeitplätze schaffen, soziale Notlagen beheben, Kriminalität verhindern. Diese Feststellung mag für manche/n Kulturpolitiker/innen und in der Kulturarbeit Aktiven zu nüchtern und damit zu ernüchternd klingen, aber Fakt ist: Kulturarbeit kann nichts gegen die „harten“ Integrationshemmnisse ausrichten. Interkulturelle Kulturarbeit ist ein - komplementärer „weicher“ Integrationsfaktor, der auf der Ebene der künstlerischen Produktion, der sinnlichen, mentalen und intellektuellen Wahrnehmung und Auseinandersetzung arbeitet und darüber hinaus Kommunikation und Begegnung möglich macht. Die „harten“ Faktoren zielen auf das materielle und die „weichen“ Faktoren auf das mentale/emotionale Eingebundensein des Individuums in der Aufnahmegesellschaft sowie auf den Austausch der unterschiedlichen ethnischen, kulturellen und sozialen Gruppen. Dies ist, aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive betrachtet, ein essentieller und damit existenzieller Beitrag für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Interkulturelle Kulturarbeit kann nur dann ihre gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, wenn sie als integraler Bestandteil einer gesamten - auch kommunalen - Integrationsstrategie gesehen wird und nicht als Reparaturinstanz einer zu kurz greifenden Integrationspolitik. Auf der Grundlage dieser Prämisse sollten jeweils auf die Stadt oder die Region zugeschnittene Konzepte interkultureller Kulturarbeit entwickelt werden, die die interkulturellen Aufgaben und Leistungen einzelner Kultureinrichtungen, kultureller Handlungsfelder und Initiativen beleuchtet. Wenn wir die kulturelle Vielfalt und damit auch die Präsenz von Migranten/innen als das akzeptieren, was sie ist, nämlich eine gesellschaftliche Tatsache, dann müssen wir genau diese Tatsache sowohl in den Köpfen der Menschen als auch in unseren Einrichtungen - deren Strukturen, Dienstleistungen und Angebote - neu verankern. Dies kann nur in Form eines kooperativen Miteinanders zwischen den Kulturakteuren, den zivilgesellschaftlichen Kräften in der Stadt und der Stadt selbst geschehen.