Neuropathischer Schmerz – eine Herausforderung

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Schmerz
Hausarzt Medizin
Schmerzarten
Serie Schmerz – Folge 2
von Dr. med. Christoph Gerhard
Neuropathischer
Schmerz – eine
Herausforderung
Bei neuropathischen Schmerzen sind einfache Analgetika der WHO-Stufe 1 in der Regel ohne wesentliche Wirkung.
Das Erkennen, Erfassen und die Behandlung neuropathischer
Schmerzen sind komplex.
Schmerzen können unterschiedliche patho­
physiologische Ursachen haben. Sie werden
daher in verschiedene Schmerzarten unter­
teilt. Wenn Schmerzrezeptoren bzw. Nozi­
zeptoren im Gewebe gereizt werden spricht
man von einem Nozizeptorschmerz. Neu­
ropathische Schmerzen entstehen dagegen,
wenn schmerzleitende oder verarbeitende
Neurone an irgendeiner Stelle zwischen den
peripheren Nervenendigungen und dem Ge­
hirn beeinträchtigt werden. Dies kann im
Verlauf der peripheren Nerven, im Rücken­
mark oder im Gehirn geschehen. So kön­
nen beispielsweise eine schwere periphere
Nervenverletzung im Rahmen eines Unfalls,
ein Schlaganfall oder eine Querschnitts­
lähmung zu neuropathischen Schmerzen
führen.
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Es gibt 2 Arten von neuropathischen
Schmerzen. Bei den Neuralgien schießen
Schmerzen für Sekunden ein. Ein typisches
Beispiel ist die Trigeminusneuralgie. Der Se­
kundenschmerz kann dabei von vernichten­
der Intensität sein.
Darüber hinaus gibt es den neuropathischen Brenn- oder Dauerschmerz. Typische
Beispiele hierfür sind
▪▪ Schmerzen bei Polyneuropathie, z. B. bei
Diabetikern,
▪▪ Schmerzen nach Querschnittslähmung,
▪▪ Schmerzen nach Schlaganfall in der be­
troffenen Körperhälfte,
▪▪ Schmerzen bei Multipler Sklerose,
▪▪ Phantomschmerzen nach Amputation ei­
ner Gliedmaße, der Brust bzw. des Hodens.
Bei neurologisch Erkrankten sind neuropa­
thische Schmerzen verständlicherweise häu­
figer. So kann es durch Befall einer Gehirn­
region oder Rückenmarksregion zu zentral
neuropathischen Schmerzen kommen. Man
nennt sie zentral neuropathisch, da sich die
Schädigung im Zentralnervensystem findet.
Üblicherweise kann man diese Schmerzart
dadurch feststellen, dass anatomisch typi­
sche Strukturen, z. B. eine Körperhälfte oder
der ganze Körper, querschnittsförmig ab ei­
ner gewissen Körperhöhe abwärts von den
Schmerzen betroffen sind.
Auch Tumorpatienten erleiden häufig neu­
ropathische Schmerzen durch Druck des Tu­
mors auf umgebendes Nervengewebe. Sie
sind in der Regel peripher neuropathisch, da
Nervengewebe im Körper und nicht im Zen­
tralnervensystem geschädigt wird.
Schmerzcharakter
Während nahezu jeder Mensch in seinem Le­
ben somatische Nozizeptorschmerzen (wenn
man sich in den Finger schneidet), viszera­
le Nozizeptorschmerzen (wenn man sich den
Magen „verdirbt“), neuralgiforme Schmer­
zen (wenn man sich den „Musikantenkno­
chen“ anstößt) erleidet, kennen nur wenige
den neuropathischen Brennschmerz aus ei­
Der Hausarzt 04/2015
Hausarzt Medizin
Fallbeispiel
Frau K. (32 Jahre) hat seit ihrer Jugend einen
Diabetes mellitus und leidet seit Kurzem auch
an einer Polyneuropathie. Jetzt beklagt sie, dass
ihre Füße wie Feuer brennen. Außerdem sei
die Berührung an den Füßen extrem schmerzhaft. Manchmal schmerze schon die Bettdecke,
die auf den Füßen liege. Die bisher verordneten
Schmerzmittel (Diclofenac und Metamizol) hätten überhaupt keine Besserung ergeben.
Kommentar
Foto: philphilphotography / iStockphoto
Die Schilderung von Brennschmerzen und ­
Allodynie (Berührung wird als Schmerz empfunden) sind typisch für neuropathischen Schmerz,
bei dem Stufe-1-Analgetika in der ­Regel nicht
helfen.
gener Erfahrung. Die Betroffenen beschreiben diesen Schmerz oft bizarr, z. B. als „brennend wie Feuer“, „bohrend“ oder „wie Tiere
unter der Haut“. Da sich diese Beschreibungen fremd anhören, werden Menschen mit
dieser Schmerzart häufig missachtet. Hinzu kommt, dass neuropathische Schmerzen
besonders schwer zu behandeln sind. Diese
Frustration zusammen mit der mangelnden
eigenen Erfahrung dieser Schmerzart kann
leicht zu einer Fehleinordnung als „eingebildete“ Beschwerden führen.
Schmerzerfassung
Auch in der Schmerzerfassung des neuropathischen Schmerzes gilt die Grundregel,
dass nur derjenige den Schmerz gut beurteiDer Hausarzt 04/2015
len kann, der ihn erleidet. Einfache Skalen
wie die Numerische Rangskala (Einordnung
durch den Betroffenen auf einer Skala von 0
- 10) oder die verbale Rangskala (Einordnung
durch den Betroffenen als leicht, mittelstark, sehr stark etc.) eigenen sich auch hier
gut. Sie ersetzen aber nicht die empathische
Annäherung an den betroffenen, leidenden
Menschen.
Bei verbal oder vom Bewusstsein her eingeschränkten Patienten muss in einer suchenden Haltung nach Ausdrucksformen von
Schmerzen gefahndet werden. ­Etablierte
Skalen für Demenzbetroffene (z. B. BESD),
schwer neurologisch Erkrankte (z. B. ZOPA)
oder geistig Behinderte (z. B. EDAAP) können
unterstützend hinzugezogen werden.
Therapie
Ist schon die Erfassung des neuropathischen
Schmerzes dadurch erschwert, dass es sich
meist um einen für uns ungewohnten, nicht
alltäglichen Schmerz handelt, so ist die Therapie umso komplexer. Die in der 1. Stufe des
WHO-Stufenschemas eingesetzten Analgetika (z. B. Paracetamol, Ibuprofen, Metamizol) sind in der Regel beim neuropathischen
Schmerz unwirksam.
Zur Therapie des neuropathischen Brennschmerzes eignen sich dagegen Opioide und
Koanalgetika (insbesondere Antidepressiva
und Antiepileptika wie Gabapentin, Prega­
balin). Neuralgiforme Schmerzen sprechen
am besten auf Antikonvulsiva aus der Gruppe der Koanalgetika an (z. B. Carbamazepin,
Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin) an.
Dr. med. Christoph
Gerhard
Arzt für Neurologie,
Palliativmedizin und
spezielle Schmerztherapie,
Katho­lisches Klinikum Oberhausen
und Institut für
Allgemeinmedizin der Universität Essen, E-Mail:
[email protected]
Koanalgetika sind neben den Opioiden von
zentraler Bedeutung in der Behandlung des
neuropathischen Schmerzes. Sie sind Medikamente, die ursprünglich nicht gegen
Schmerzen, sondern für andere Anwendungen entwickelt wurden, aber zur Schmerztherapie in speziellen Situationen eingesetzt
werden. Im Folgenden werden 2 wichtige
Gruppen der Koanalgetika, nämlich spezielle
Antidepressiva und Antikonvulsiva, die sich
für den schmerztherapeutischen Einsatz eignen, genauer beschrieben.
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Hausarzt Medizin
Antidepressiva wirken im Zentralnervensystem. Sie hemmen u. a. über das Rückenmark aufsteigende schmerzleitende Systeme. Diese Hemmung kommt
dadurch zustande, dass abTab. 1: Antidepressiva als
steigende schmerzdämpfende
Koanalgetika
Systeme verstärkt werden, die
Wirkstoff
Gruppe
Dosierung
dann Schmerzsignale der aufsteigenden schmerzleitenden
Amitriptylin
TZA
25 – 75 mg
Systeme abschwächen.
Nortriptylin
TZA
25 – 75 mg
Diese Wirkung ist völlig unVenlafaxin
SNRI
37,5 – 75 mg
abhängig von der antidepresDuloxetin
SNRI
30 – 60 mg
siven Wirkung. In den BeiMirtazapin
NaSSA
15 – 30 mg
packzetteln wird darauf leider
TZA = Trizyklisches Antidepressivum
SNRI = Selektiver Serotonin- und Noradrenalin-­
meist nicht hingewiesen. Die
Wiederaufnahme-Hemmer
Betroffenen verstehen deshalb oft nicht, warum ihnen
gegen Schmerzen ein AntideTab. 2: Antiepileptika als
pressivum verordnet wird. EiKoanalgetika
ne ausführliche Aufklärung
Wirkstoff
übliche Dosierung*
über Sinn und Nutzen dieser Medikamentengruppe bei
Carbamazepin
600 – 1.200 mg (Retardpräparate bevorzugen)
Schmerzen ist deshalb besonOxcarbazepin
900 – 1.800 mg
ders wichtig.
Gabapentin
900 – 2.400 mg
Nicht alle Antidepressiva wirPregabalin
300 – 600 mg
ken gleich gut gegen Schmer*) in Einzelfällen höhere Dosis
zen. Es hat sich gezeigt, dass
vor allem die auf das Noradrenalinsystem wirkenden Antidepressiva eine
gute Wirkung gegen neuropathische Brennschmerzen haben (Tab. 1).
Bestimmte Antikonvulsiva, d. h. Medikamente gegen epileptische Anfälle, z.B. Carbamazepin, Gabapentin, Oxcarbazepin, Pregabalin, wirken über die Stabilisierung von
Nervenmembranen. Diese Stabilisierung
von Nervenmembranen ist nicht nur bei epiSind Sie fit in der
leptischen Anfällen im Gehirn von Nutzen.
Schmerztherapie?
Sie ist auch bei neuropathischen Schmerzen
In unserer 9-teiligen
Schmerz-Serie erfahsinnvoll, besonders bei neuralgiformen (einren Sie, worauf es bei
schießenden) Schmerzen.
Schmerzpatienten anCarbamazepin und Oxcarbazepin wirkommt. Schwerpunkt
ken zwar gut bei Neuralgien, sind aber nicht
in Ausgabe 6: Kopfgut geeignet bei neuropathischem Brennschmerzen.
schmerz. Zahlreiche Nebenwirkungen wie
Müdigkeit, Schwindel, Hyponatriämie und
Allergien müssen beachtet werden.
Gabapentin und Pregabalin haben weniger Nebenwirkungen als Carbamazepin. Sie
sind sowohl bei neuralgiformem als auch bei
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neuropathischem Dauerschmerz geeignet.
Sie werden über die Niere ausgeschieden und
können deshalb auch bei Leberfunktionsstörungen eingesetzt werden. Gabapentin muss
alle 6 bis 8 Stunden, Pregabalin nur alle 12
Stunden gegeben werden (Tab. 2).
Von den Opioiden können grundsätzlich alle Präparate der Stufe 2 und 3 (in alphabetischer Reihenfolge: Buprenorphin, Fentanyl,
Hydromorphon, Levomethadon, Morphin,
Oxycodon, Tapentadol, Tilidin, Tramadol)
eingesetzt werden.
Opioide mit koanalgetischer Begleitwirkung (Tramadol, Levomethadon, Tapentadol) sind zur Behandlung neuropathischer
Schmerzen vorteilhaft. Levomethadon, Tapentadol und Tramadol bewirken neben ihrer Opioideigenschaften auch eine Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung (ähnlich
den Antidepressiva), Levomethadon wirkt
auch auf NMDA-Rezeptoren (ähnlich wie
Ketamin).
Literatur: Gerhard C. Neuro Palliative Care. Hans Huber Verlag Bern 2011; Gerhard C. QB 13 Palliativmedizin.
Schattauer Verlag Stuttgart 2014; Gerhard C. Praxiswissen
Palliativmedizin. Georg Thieme Verlag Stuttgart 2014.
Interessenkonflikte: keine
Fazit
▪▪ Wegen ihres nicht alltäglichen Charakters
sind neuropathische Schmerzen schwerer
zu erfassen.
▪▪ Übliche Analgetika aus der Stufe 1 des
WHO-Schemas wirken in der Regel nicht.
▪▪ Koanalgetika sind ein Hauptpfeiler der
Therapie.
▪▪ Bestimmte Antikonvulsiva (z. B. Carbamazepin, Gabapentin) wirken am besten bei
Neuralgien.
▪▪ Bestimmte Antidepressiva (z. B. Amotriptylin, Mirtazapin) helfen vor allem bei neuropathischem Brennschmerz.
▪▪ Opioide (Stufe 2 oder 3) sind bei neuropathischem Dauerschmerz wirksam.
▪▪ Opioide mit koanalgetischer Begleitwirkung (z. B. Levomethadon, Tapentadol,
Tramadol) können Vorteile bieten.
Der Hausarzt 04/2015
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