Borreliose und Frühsommer-Meningoenzephalitis Prof. Dr. Reinhard Kaiser Klinikum Pforzheim – Neurologische Klinik Die beiden häufigsten durch Zecken übertragenen Erkrankungen in Europa sind die Borreliose und die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Abgesehen vom Übertragungsmodus und der Verursachung neurologischer Symptome weisen beide Erkrankungen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Ätiologie (Ursachen der Erkrankung) Die Borreliose wird durch verschiedene Subtypen des Bakteriums Borrelia burgdorferi sensu lato (s.l.) verursacht, die FSME durch ein gleichnamiges Virus. Epidemiologie Die Durchseuchungsrate der Zecken in Risikogebieten variiert für B. burgdorferi s.l. zwischen 5 bis 35 Prozent, für das FSME-Virus dagegen nur zwischen 0,1 bis 10 Prozent. Die Infektionsrate für beide Erreger ist in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Zecke unterschiedlich, so in Larven deutlich geringer als in Nymphen und erwachsenen Zecken. Im Gegensatz zu Borrelien, die erst nach mehreren Stunden aus dem Darm der Zecke in den Wirt gelangen, werden die FSME-Viren bereits kurz nach dem Stich mit den Speichel der Zecke in den Wirt injiziert. In Abhängigkeit vom Alter und der beruflichen bzw. freizeitmäßigen Exposition findet man im Blut bei etwa 10 bis 30 Prozent der gesunden Bevölkerung Antikörper gegen B. burgdorferi s.l., aber nur bei knapp 1 Prozent Antikörper gegen das FSME-Virus. Die klinische Manifestationsrate (Ausbruch der Krankheit) nach Infektion ist bei der FSME etwas zehnmal höher als bei der Borreliose. Da B.burgdorferi s.l. in ganz Deutschland vorkommt und die Durchseuchungsrate der Zecken mit B. burgdorferi s.l. signifikant höher ist als mit dem FSME-Virus, ist die auch Inzidenz (Zahl der Neuerkrankungen) der Borreliose – trotz der geringeren Manifestationsrate – etwa zehnmal höher als die der FSME. Krankheitsmechanismen Die Pathogenese (Entwicklung der Krankheit) der Borreliose unterscheidet sich von derjenigen der FSME im Wesentlichen dadurch, dass bei Letzterer die Symptome durch die Infektion von Nerven- und Hirnhautzellen entstehen – was zu deren Zerstörung führt, im Gegensatz dazu aber bei der Borreliose die Beschwerden eher durch die überschießende Immunreaktion verursacht werden. Inkubationszeit Die mittlere Inkubationszeit (Zeit zwischen Infektion und Krankheitsausbruch) beträgt bei der FSME ca. zehn Tage (Spannbreite: ein bis vier Wochen), bei der Borreliose je nach klinischer Manifestation dagegen einige Wochen (Spannbreite: wenige Tage bis Monate). Klinischer Verlauf Die Borrelieninfektion manifestiert am häufigsten an der Haut: überwiegend in Form einer Wanderröte (Erythema migrans). Seltener entwickelt sich Wochen nach der Infektion als Folge einer starken Entzündungsreaktion ein sogenanntes Lymphozytom, eine Schwellung und Verfärbung der Haut, meist im Bereich des Ohrläppchens, der Brustwarzen oder des Hodensacks. Noch seltener sieht man heutzutage eine chronische Hautentzündung, die Acrodermatitis chronica atrophicans. Die zweithäufigste Manifestation ist das Bannwarth-Syndrom bzw. die Meningopolyneuritis, eine meist sehr schmerzhafte Entzündung der Nervenwurzeln entlang des Rückenmarks mit nachfolgend auftretenden Lähmungen an Armen und Beinen. Häufig entwickelt sich außerdem eine Gesichtslähmung. Weitere neurologische Funktionsstörungen kommen vor, sind aber eher selten. Gelenkentzündungen als Folge einer Borrelieninfektion sind selten und betreffen überwiegend die großen Gelenke (Knie, Schulter, Ellenbogen, Sprunggelenk). Die FSME beginnt häufig mit den unspezifischen Symptomen einer „Sommergrippe“: die Patienten leiden unter Fieber, Kopfschmerzen und einer Beeinträchtigung des 2 Allgemeinbefindens. In dieser Prodromalphase ist die Serologie meist noch negativ, so dass die Diagnose kaum zu stellen ist. Nach vorübergehender Besserung entwickelt sich dann die Manifestationsphase. Sie äußert sich in ca. 50 Prozent als Meningitis (Hirnhautentzündung), in ca. 40 Prozent als Enzephalitis (Gehirnentzündung) und in 10 Prozent als Myelitis (Rückenmarksentzündung). Die meisten Patienten mit einer FSME leiden unter hohem Fieber, einem erheblich reduzierten Allgemeinbefinden, Alpträumen und starken Kopfschmerzen. Ein Teil von ihnen entwickelt zusätzlich Lähmungen, schwere Gleichgewichtsstörungen, epileptische Anfälle, Hörstörungen, Gesichtslähmungen, Schluckstörungen, Sprech-, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, eine emotionale Labilität, eine Stressintoleranz, wobei diese Beeinträchtigungen Monate und zum Teil auch Jahre lang anhalten können. Diagnose Beide Erkrankungen werden klinisch diagnostiziert, die Verdachtsdiagnose wird durch entsprechende serologische bzw. laborchemische Untersuchungen bestätigt. Therapie Die Borreliose lässt sich antibiotisch sehr gut behandeln, wobei in den meisten Fällen die Gabe von Antibiotika in Tablettenform für die Dauer von zwei bis drei Wochen ausreichend ist. Eine Impfung steht hier nicht zur Verfügung. Die FSME ist nicht kausal (ursächlich) behandelbar, hier werden die Symptome (Schmerzen, Fieber, Anfälle) medikamentös, Funktionsstörungen (Lähmungen, Gleichgewichtsstörungen) zusätzlich physio- und ergotherapeutisch behandelt. Die FSME lässt sich im Gegensatz zur Borreliose durch eine aktive Impfung vermeiden. Prognose Patienten mit einer Borreliose haben in aller Regel eine gute Prognose. Lediglich bei der Neuroborreliose kann die Rekonvaleszenz gelegentlich einige Wochen und manchmal auch Monate dauern. Die Symptome der heute sehr seltenen chronischen Neuroborreliose bilden sich häufig nur langsam und unvollständig zurück. Patienten mit einer FSME haben eine wesentlich ungünstigere Prognose. Nach mehreren europäischen Studien leiden ca. 30 bis 40 Prozent der Patienten unter lang anhaltenden Beschwerden (s.o.). Die Letalität der FSME liegt bei etwa einem Prozent. 3