Schriftenreihe des Zentralinstituts für Regionenforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Neue Folge · Band 6 Julia Oberhofer/Roland Sturm Koalitionsregierungen in den Ländern und Parteienwettbewerb Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. November 2010 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2010 Buch&media GmbH, München und Zentralinistitut für Regionenforschung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Printed in Germany · isbn 978-3-86906-142-9 Inhalt Roland Sturm Einleitung: Mehrebenenpolitik in Partei und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Agenda Setting in Bund und Ländern: Wie groß ist die Interdependenz? Günther Beckstein Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern: Wie unabhängig können Länder Politik machen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Stefan Raue Nachrichten aus dem Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Ursula Münch Föderale und parteipolitische Interdependenzen bei schulpolitischen Innovationsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Nicole Seher Die Politikpositionen der Landesparteien im Politikfeld Kultus . . . . . . . . . . 46 Josef Schmid Die (mangelnde) Interdependenz in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik im deutschen Föderalismus – Von der Unitarisierung zur Balkanisierung? . . . . . 65 Koalitionsmanagement in den Ländern und Koalitionsparteien im Wettbewerb Hendrik Träger/Sven Leunig Ebenenübergreifende Auswirkungen von Koalitionsverhandlungen in den Ländern am Beispiel des »Magdeburger Modells« (1994) . . . . . . . . 85 Markus M. Müller Koalitionstheorie und Koalitionspraxis am Beispiel Baden-Württembergs . 105 Eckhard Jesse/Thomas Schubert Koalitionen in Sachsen – Regierungskonstellationen und Bündnispolitik im Hegemonialparteiensystem 1990–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Martin Florack Institutionalisierung eines dosierten Parteienwettbewerbs – Eine institutionentheoretische Analyse des Koalitionsmanagements in Nordrhein-Westfalen 1995–2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Eberhard Sinner Koalitionsmanagement in den Ländern und Koalitionsparteien im Wettbewerb – Beispiel Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Katja Auer Die schwarz-gelbe Koalition in Bayern – Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . 179 Markus Jox Szenen einer früh zerrütteten Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Regionalisierung nationaler Parteien und Interessenwahrnehmung selbstständiger Landesparteien Klaus Detterbeck Die Regionalisierung nationaler Parteien im internationalen Vergleich . 193 Frank Delmartino Koalitionsregierungen und Parteienwettbewerb – Der Fall Belgien . . . . . 219 Julia Oberhofer Die Regionalisierung von gesamtstaatlichen Parteien – Der Fall Italien . 231 Manuel Massl/Günther Pallaver Interessenwahrnehmung selbstständiger Landesparteien – Die Rolle der Südtiroler Volkspartei im römischen Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Gerhard Hirscher Landespartei und Mehrebenenpolitik – Anmerkungen zur Rolle der CSU . . 277 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Roland Sturm Einleitung: Mehrebenenpolitik in Partei und Staat 1. Zur Mehrebeneninterdependenz E ine einfache Beobachtung lässt sich nicht bestreiten: Politik findet in (geographischen, funktionalen, ideologischen etc.) Räumen statt. Ob Räume nur neutrale Grenzmarker sind oder ob sie Inhalte von Politik (mit)bestimmen bzw. ob ihre Grenzen selbst ein dauernder Gegenstand politischer Auseinandersetzung sind, ist hingegen Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Sicher ist, dass Räume – gleich welcher Art – miteinander in Beziehung stehen. Dennoch zeigt sich raumorientierte Politik gleichzeitig raumavers, politische Räume sind keine »wasserdichten« Container für Macht und Interessen. Im deutschen Föderalismus war schon immer unumstritten, dass Politik nur als Mehrebenenpolitik zu konzipieren ist. International hat vor allem die wachsende Rolle der Europäischen Union bzw. deren Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU die Überzeugung wachsen lassen, dass zur Erfassung der politischen Dynamik des Regierens jenseits von Staatlichkeit nach den Möglichkeiten von multi-level governance (MLG) zu fragen ist. Zunächst wurde dies eher mechanisch bzw. deskriptiv getan in der Überzeugung, dass Aushandeln und Tauschgeschäfte sich mehr nach dem machtpolitischen Angebots- und Nachfragespiel richten als nach dem Selbstbewusstsein politischer Entscheidungsebenen. Es schien möglich, nun mehrere Zukünfte Europas nebeneinander zu diskutieren, vom europäischen Bundesstaat über das Europa der Vaterländer bis hin zum Europa der Regionen. Der Schein trog. Es erwies sich rasch, dass der mit dem Nationalstaat verknüpfte Raum machtpolitisch und legitimatorisch nicht marginalisiert werden konnte. Innerstaatlich war der Kampf um das Zentrum der Mehrebenenpolitik in Deutschland schon seit der Grundentscheidung für einen »unitarischen Föderalismus« (Hesse 1962) zugunsten des Bundes verloren. Hier verbirgt sich auch keine Forschungsfrage mehr. Eine solche wird aber deutlich, wenn man von der Pauschalbetrachtung von multi-level governance absieht und sich die Frage nach den Ungleichzeitigkeiten machtpolitischer Einleitung Arrangements in den institutionellen, partizipatorischen und materiellen über mehrere Ebenen reichenden Politikräumen und dem Zusammenhang dieser Ebenen stellt. Simona Piattoni (2010: 22) betont zu Recht: »Trying to confine the analysis of MLG to only one of these analytical planes would be futile and deprive the concept of its main source of interest and fertility.« Für ein Verständnis deutscher Politik soll hier im Folgenden auf die europäische Ebene verzichtet werden. Nicht weil diese für die deutsche Politik unerheblich wäre – das Gegenteil ist der Fall (Sturm 2010a). Sondern weil eine der Voraussetzungen für die Annäherung an unsere Fragestellung ist, dass sowohl im Polity-, als auch im Politics- und im Policy-Bereich vergleichbar gewichtige Zusammenhänge zwischen den politischen Räumen bestehen. Untersucht werden soll nämlich nicht nur das Offensichtliche, die horizontale und die vertikale Dimension von Mehrebenenpolitik, sondern auch die Zusammenschau von vertikalem und horizontalem Raumbezug. Tabelle 1: Raumbezug und Politikanalyse in Deutschland: Mehrebeneninterdependenz (1)Verfassung (Polity) (2) Willensbildung, Parteien etc. (Politics) (3) Politikfelder (Policies) Bund Bund Bund Land Land Land = Bundes- bzw. Landespolitik Quelle: Eigene Darstellung. Welche Zusammenhänge erklären Politikergebnisse, Institutionenwandel, oder den Parteienwettbewerb? Die Beiträge dieses Bandes verorten sich zunächst in den traditionellen Forschungskontexten (1), (2) und (3). Zur Mehrebeninterdependenz im Bereich der Verfassungsordnung ist eine reichhaltige Föderalismusliteratur vorhanden. Sie ist sich zwar nicht einig, ob sie die zu beobachtende Politikverflechtung aus normativer oder funktionalistischer Perspektive beurteilen soll (Sturm 2010b; Kropp 2010). Am Befund der interdependenten Mehrebenenpolitik als Verfassungsrealität wird aber nicht gezweifelt. Wenig untersucht ist, ob die spezifischen Interdependenzen den Präferenzen der politischen Parteien bzw. der innerparteilichen Dynamik von Präferenzbildungen entsprechen. Die Föderalismusreformen der Jahre 2006 und 2009 scheinen zu belegen, dass – wenn auch wenig reflektiert – die existierenden Interdependenzmuster Vorbildcharakter haben, z. B. wenn eine neue quasi-Gemeinschaftsaufgabe Verwal Roland Sturm: Mehrebenenpolitik in Partei und Staat tungszusammenarbeit kreiert wurde (Art. 91c GG). Der voreilige Hinweis auf eine zugrunde liegende Pfadabhängigkeit wird durch die Einführung der Abweichungsgesetzgebung 2006 aber wieder in Frage gestellt (Sturm 2010c). Dass die Logik von Politikfeldern Verfassungspolitik erzwingen kann, hat 2010 die Einführung der Mischverwaltung in das Grundgesetz zur Rettung der Argen eindrucksvoll bewiesen. Es besteht also durchaus die Notwendigkeit, auf der Polity-Ebene theoretisch anspruchsvoller die deutsche Mehrebenenpolitik mit Erklärungen aus den Bereichen Politics und Policy anzureichern. Ein Wechsel der zu erklärenden Variablen von der Polity-Ebene zur Politics- oder Policy-Ebene weist auf vergleichbare Forschungslücken hin. Immer wieder untersucht wurde der Parteienwettbewerb auf Bundes- und Landesebene und dessen Wechselbeziehungen. Aus der Perspektive des rational choice-Ansatzes wurde plausibel zum Verhalten politischer Eliten in den Regionen argumentiert. Individuelle Präferenzbildung im Hinblick auf Karrieren, Ämter und Budgets sprechen in Deutschland für eine Vertiefung der Mehrebenenpolitik im Föderalismus. Etwas anders sieht es im Hinblick auf den Parteienwettbewerb aus. Hier zwingt die zunehmende gesellschaftliche und wirtschaftliche Differenzierung zur wahlstrategischen Anpassung der Parteien an landespolitische Sondersituationen. Dies hat auch zunehmend programmatische und organisatorische Folgen. Während Wechselwirkungen von Länder- und Bundeswettbewerb von Parteien immer wieder diskutiert wurden, ist die Literatur zur Wechselwirkung von Koalitionsbildungen in Bund und Ländern noch eher spärlich. Hier besteht zunehmend Erklärungsbedarf, nicht zuletzt weil hier die Mehrebenenbeziehungen zwischen Autonomie, Unübersichtlichkeit und (versuchter) Bevormundung auf Bundesebene ausgestaltet werden, und das in einem zunehmend volatiler werdenden parteipolitischen Umfeld. Neben der unspektakulären Polity-Ebene, die auf das Land als politisch relevanten Raum verweist, ist vor allem die Policy-Ebene für zusätzliche Erklärungen der parteipolitischen Mehrebenendynamik heranzuziehen. Sie äußert sich zum einen als Streit um Kompetenzen und Vorrang von Bundes- oder Landespolitik (v. a. die Bildungspolitik ist hier zu nennen), aber auch als Konkurrenz der Länder um beste Lösungen (beispielsweise in der Industriepolitik oder beim Bürokratieabbau), teilweise auch, wie in der Arbeitsmarktpolitik ,als Nebeneinander von Bund und Ländern, also als Negation der Mehrebenenpolitik. Die Literatur zum Policy-Making hat am weitestgehenden den Mehrebenen- und Mehrdimensionenansatz der intergouvernementalen Beziehungen Einleitung umgesetzt. Akteursanalysen betten die Logik bürokratischen Verhaltens (Fachbruderschaften etc.) und deren bounded rationality in die Logik der Politikfelder ein. Über Politik und Verwaltung hinaus werden gesellschaftliche Akteure, Wissenschaft und die Zivilgesellschaft (auch als normativer Bezugspunkt) in weitem Maße einbezogen (Netzwerke, epistemic communities). Normen werden Prägekraft bei dem Erfassen gesellschaftlicher Herausforderungen und der Selektion von Handlungsalternativen zugeschrieben (advocacy coalitions, belief systems). Und selbstverständlich existieren Alternativen für politisches Handeln auf Politikfeldern, die ohne eine Analyse der Dynamik des Parteienwettbewerbs nicht verständlich wären. 2.Forschungshypothesen Es ist hier nicht der Ort, umfassend der Bund-Land/Polity-Politics-Policy Gesamtsicht nachzuspüren. Auch die folgenden Beiträge dieses Bandes können dies nur exemplarisch tun. Eine Vielzahl von Hypothesen zum Zusammenhang der zwei Ebenen und drei Bereiche von Politik sind möglich. Hier nur drei Beispiele: 1. Je stärker eine kritische Masse von Politikfeldern oder auch einzelne Politikfelder regional in unterschiedlicher Weise Ressourcen beanspruchen oder mobilisieren, und je mehr die Entscheidung in Politikfeldern in den Parteienwettbewerb gerät, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die politische Ordnung stärker dezentralisiert (Verfassungsordnung als abhängige Variable). Für diese Hypothese findet sich Evidenz beispielsweise in der Grundgesetzänderung von 2010, mit der die Mischverwaltung im GG (Art. 91e) für die gemeinsame Betreuung von Langzeitarbeitslosen eingeführt wurde. Hier hatte das Kommune/Länder-Bund Konfliktniveau eine ausreichende materielle Basis, um parteipolitisch relevant zu sein. Es konnte anknüpfen an parteipolitisch unterschiedliche Konzepte der Arbeitsvermittlung. Die Politisierung der Arbeitsvermittlung führte zur Verfassungsänderung, zunächst informell; dann aber, weil das Bundesverfassungsgericht diese informelle Uminterpretation der Verfassung nicht zuließ, auch formal. Dezentralisierungsfälle sind im deutschen Falle weniger häufig als in Staaten, die sich bezüglich des Bund-Länder-Verhältnisses im ständigen Prozess der Verfassungsfortentwicklung befinden (Belgien, Spanien, UK). Die Reaktion des deutschen Föderalismus auf Policy-Diversity ist häufig eher para10 Roland Sturm: Mehrebenenpolitik in Partei und Staat dox. Gefordert wird Einheitlichkeit und Standardisierung. Deshalb ist auch die Zentralisierung früher stärker dezentraler Politikfelder (Bsp. Umweltpolitik) durchaus möglich. 2. Je stärker die verfassungsrechtliche Stellung der Länder und je umstrittener eine große Anzahl von Politikfeldern bzw. bestimmte Politikfelder in der Gesellschaft, desto wahrscheinlicher ist eine regionalisierte Willensbildung, einschließlich der internen und externen Regionalisierung des Parteiensystems (Parteiensystem als abhängige Variable). Hier wären die medien- oder bildungspolitischen Vorstellungen der Parteien, aber auch ihre Haltung zu Fragen wie »Kruzifix« oder »Kopftuch« in der Schule zu nennen. In solchen Fragen erweisen sich die Parteien intern durchaus als »Parteiföderationen« mit deutlich unterschiedlichen Präferenzen. Aber auch in der Industrie- und der Arbeitsmarktpolitik wurde eine regionalisierte innerparteiliche Willensbildung nachgewiesen. Die externe Regionalisierung des Parteiensystems, also die unterschiedlichen Länderparteiensysteme, waren schon seit den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland stark von der regionalisierten Präferenzbildung geprägt bis zu dem Grade, dass im Bund unübliche Einparteienregierungen entstanden und immer wieder zeitlich begrenzt neue Parteien regionalisierten Protest auffingen. 3. Je stärker eine Verfassungsordnung dezentralisiert ist und je stärker dies auch für den Parteienwettbewerb gilt, desto wahrscheinlicher ist es, dass auf allen Politikfeldern regional angepasste Lösungen für politische Probleme gesucht und gefunden werden (Politikfelder als abhängige Variable). Angesichts der Armut der deutschen Länder an ausschließlichen Zuständigkeiten findet man hier Beispiele nicht nur (Ausnahmen: Streit um Schulformen oder Nichtraucherschutz), aber in erster Linie bei der Politikimplementation, die auch in den regionalen Parteienwettbewerb gerät. Regional angepasste Lösungen finden sich in der Landwirtschaft, der Förderung erneuerbarer Energien oder der Organisation von Verwaltung bzw. dem Bürokratieabbau. Dieser Band liefert Evidenz zu den in den drei Hypothesen angedeuteten Zusammenhängen. Wir haben bewusst unterschiedliche Wahrnehmungen und Zugänge zusammengeführt, von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern. Die Beiträge konzentrieren sich in erster Linie auf die Mehrebenenpolitik aus der Politikfeldperspektive und aus der Parteiensystemperspektive. Letztere wird im Hinblick auf die beiden Perspektiven 11 Einleitung Koalitionshandeln und innerparteiliche Regionalisierung bzw. Autonomisierung untersucht. Eher implizit wird das Thema Polity-Wandel bei der Analyse von Verfassungsordnungen im Kontext des internationalen Vergleichs, insbesondere im Hinblick auf Italien und Belgien, angesprochen. Der Band erhebt nicht den Anspruch, die vielfachen Interdependenzen der beiden Ebenen des deutschen Föderalismus und der drei Facetten des Politischen umfassend zu klären. Er ist als Denkanstoß gedacht und er liefert Zugänge zur Vertiefung der angesprochenen Themenfelder. 3.Zu den Beiträgen des Bandes Der erste Themenkomplex der Beiträge durchleuchtet die Interdependenzbeziehungen von Bund und Ländern. Der frühere bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein setzt sich mit der Grundsatzfrage auseinander, wie unabhängig Länder Politik machen können. Diese Frage greift aus der Sicht eines kritischen Begleiters der Politik auch der Beitrag des ZDF-Journalisten Stefan Raue auf. An einzelnen Politikfeldern wird diese Fragestellung weiterentwickelt, zunächst bei einem Thema, das zum »Hausgut« der Länder gehört, nämlich der schulischen Bildung. Die Münchner Politikwissenschaftlerin Ursula Münch arbeitet eindrucksvoll die unterschiedlichen Erwartungen von Bund und Ländern an die Steuerung des Bildungswesens heraus und zeigt, dass selbst bei der schulischen Bildung Länderautonomie nur im Kontext von Parteienwettbewerb und intergouvernementalen Beziehungen zu verstehen ist. Die parteipolitische Durchdringung des Politikfeldes Kultus wird im Beitrag der Mannheimer Politikwissenschaftlerin Nicole Seher vertieft. In diesem Politikfeld ist die landespolitische Rolle einer Partei für die Positionierung in Sachfragen von großer Bedeutung. Vom Politikfeld »Arbeitsmarktpolitik« wäre zu erwarten gewesen, dass es ein top-down-Gegenstück zum bottom-up-Thema »Bildung« darstellt. Der Tübinger Politikwissenschaftler Josef Schmid zeigt jedoch, dass hier zwischen Bund und Ländern eher »Nichtkooperation« vorherrscht bzw. statt Hierarchie ein »Komplementärregime« etabliert wurde, was neue Fragen an den Zusammenhang von Verfasstheit des Politikfeldes, der dortigen Willensbildung und der Policy-Folgen provoziert, die bisher in der Forschung systematisch kaum untersucht wurden. Unser besonderer Dank gilt Andreas Mense, der uns bei der Redaktion vielfältig unterstützt hat. 12 Roland Sturm: Mehrebenenpolitik in Partei und Staat Der zweite Themenkomplex der Beiträge ist dem Koalitionsmanagement im Bund und in den Ländern gewidmet. Der Fokus der intergouvernementalen Beziehungen verschiebt sich von der Politikfeld- auf die Politics-Dimension. Hier stehen konkrete Erfahrungen in den Ländern im Vordergrund. Der Beitrag der Jenaer Politikwissenschaftler Hendrik Träger und Sven Leunig konzentriert sich auf die Bund-Länder-Kontextualisierung des sogenannten »Magdeburger Modells« und dessen Folgen für Koalitionsverhandlungen. Der Politikwissenschaftler Markus M. Müller von der Zeppelin University Friedrichshafen analysiert systematisch das Koalitionshandeln in Baden-Württemberg. Die Chemnitzer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse und Thomas Schubert arbeiten die Besonderheiten der Koalitionspolitik in Sachsen heraus. Zu den wandelnden Koalitionskonstellationen in Nordrhein-Westfalen entwickelt der Duisburger Politikwissenschaftler Martin Florack ein Strukturmodell, mit Hilfe dessen er die nordrhein-westfälischen Erfahrungen bewertet. Dem bayerischen Fall der (neuen) Erfahrung mit Koalitionen auf Landesebene sind drei Beiträge gewidmet, die interessante unterschiedliche Perspektiven liefern. Der koalitionserfahrene Landtagsabgeordnete und frühere Staatsminister Eberhard Sinner kann aus der Beteiligtenperspektive berichten. Die Journalistin Katja Auer von der Süddeutschen Zeitung und der Journalist Markus Jox von der Abendzeitung vermitteln die Wahrnehmungen professioneller Beobachter des politischen Tageskampfes zu Schwarz-Gelb in Bayern. Ein weiteres Mehrebenenproblem ist die interne Koordination bzw. Regionalisierung nationaler Parteien. Der Magdeburger Politikwissenschaftler Klaus Detterbeck berichtet hierzu aus einer international vergleichenden Perspektive und bietet ein entsprechendes analytisches Rüstzeug an. Frank Delmartino, Politikwissenschaftler in Leuven (Belgien), stellt den Extremfall der weitgehenden Auflösung nationaler Parteien in Belgien vor. Die Erlanger Politikwissenschaftlerin Julia Oberhofer analysiert die Tendenzen zur Regionalisierung der italienischen nationalen Parteien. Ergänzt wird der Blick auf die Mehrebenenbeziehungen innerhalb der Parteien durch die Perspektive eigenständiger Regionalparteien und deren Einbindung in den nationalen Parteienwettbewerb. Die Innsbrucker Politikwissenschaftler Manuel Massl und Günther Pallaver untersuchen die Südtiroler Volkspartei (SVP). Und der Politikwissenschaftler und Referent für Grundsatzfragen bei der Hanns-Seidel-Stiftung, Gerhard Hirscher, diskutiert die Rolle der CSU in der Mehrebenenpolitik des deutschen Föderalismus. 13 Agenda Setting in Bund und Ländern: Wie groß ist die Interdependenz?