Auszug aus: Loch, A. & Schiffmann, P. (2009) Interkulturelle Orientierung und Handlungskompetenz. Bad Honnef .InWEnt. 1. Grundbegriffe internationaler Handlungskompetenz Der Gegenstand, den wir glauben gefangen zu haben, ist bloß eine Summe von Abstraktionen und nicht der Gegenstand selbst Daisetz Teitaro Suzuki (鈴木大拙) Internationale Handlungskompetenz ist für moderne Entwicklungszusammenarbeit unabdingbar. Sie ist in Zeiten zunehmender globaler Verflechtungen von Wirtschaft, Kommunikation, Kultur und Politik einerseits permanente Herausforderung und andererseits eine Selbst-Verständlichkeit geworden, die nahezu alle beruflichen Felder und Biographien durchdringt. Die Kompetenz zum Umgang mit kultureller Vielfalt und „ungewohnten“ Standards des Handelns und Denkens ist im Ausland genauso gefordert wie von Mitarbeitern, deren heimatliches berufliches Umfeld sich zunehmend internationalisiert. Will man in entwicklungspolitischen Kontexten Milleniumsziele erreichen, Armut und Umweltzerstörung reduzieren und globale Strukturpolitik betreiben (BMZ 2008), braucht es dazu Menschen, deren persönliche Qualifikation diese Herausforderungen widerspiegelt. Dazu sind mehr als nur fachlich-professionelle Fähigkeiten, Sprachkenntnisse und eine generelle Sozialkompetenz gefragt. Internationale Handlungsfelder fordern vom Einzelnen, mit anderen Formen von „Normalität“ konstruktiv umzugehen und zugleich das eigene Wertesystem und die eigene kulturelle Identität kritisch zu reflektieren. Das erste Kapitel führt hierzu in grundlegende Konzepte der aktuellen Forschung ein. Bei der Beschäftigung mit interkultureller Kompetenz ist zunächst zu klären, was „Kultur“ eigentlich ist und zu welchen Verzerrungen die vermeintliche Gleichsetzung von „Kulturen“ und „Nationen“ führt. Es ist nicht davon auszugehen, dass es den klar konturierten Kulturträger (beispielsweise „den Deutschen“) gibt, alle Latinos Dinge am liebsten manhana erledigen oder alle asiatischen Counterparts sich permanent darum bemühen, Gesicht zu wahren. Dennoch macht es Sinn, sich vor der Ausreise in ein anderes Land mit Fragen von kulturell unterschiedlichen Zeitbegriffen, Bedeutsamkeiten von Harmoniewahrung oder eigenen, kulturell geprägten Formen der Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung auseinanderzusetzen. Bei aller Globalisierung hört das Lokale nämlich nicht auf zu existieren. Es gibt Kultur, auch wenn sie schwer fassbar ist. Im Rahmen des Tourismus hat sich zwar für Hotelpersonal ein internationaler Verhaltenskodex herausgebildet, der dazu führt, dass zwischen einer Empfangsdame in Bali, Kairo und Berlin kaum noch wesentliche Unterschiede hinsichtlich des kommunikativen Handelns auftreten, die sich auf „Kultur“ zurückführen ließen. Dieselben Mitarbeiterinnen werden sich jedoch, wenn sie nach Feierabend ihre Familien und Freundinnen treffen, so verhalten, wie es ihre Herkunftskultur für diese Kontexte nahe legt. Wer länger und erfolgreich in Entwicklungsländern arbeitete, weiß, wie wichtig kulturelle Faktoren und soft skills sind: Kultur wird insbesondere spürbar, wenn man nicht nur als Reisegast kurzzeitig der Fremde begegnet, sondern mit konkreten Akteuren (Zielgruppen, Ministerialbeamten, lokalen Vorgesetzten und Mitarbeitern) über längere Zeit im gleichen Handlungsraum kommuniziert und agiert. Fach- und Führungskräfte verwenden wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge 70-90% ihrer Arbeitszeit auf interpersonelle Kommunikation. Diese mag je nach Land, Situation und beteiligten Personen unterschiedlich ausfallen. Man kann sich jedoch mit einer mittleren Schärfeneinstellung den Dreieckskonstellationen aus Kontext-Akteur-Kultur (event. Kultur-Situation-Person) nähern und entdeckt alsbald, dass in der Praxis eine Vielzahl typischer Situationen existieren, in denen gerade deutsche "Selbstverständlichkeiten" mit den „Selbst-verständlichkeiten“ der Kooperationspartner Loch & Schiffmann (2009): Grundbegriffe internationaler Handlungskompetenz kollidieren. Über unterschiedliche Vorstellungen von „Pünktlichkeit“ oder „Qualität“ wird beispielsweise häufig geklagt. Oberflächlich betrachtet, scheinen die Manager in den Business-Lounges der Welt alle gleich, nutzen sie doch die gleichen Windows-Oberflächen und googeln sich ähnliche Informationen aus dem World Wide Web. Fragt man jedoch erfolgreiche deutsche Fachkräfte, wie viel Zeit sie darauf verwenden, in Entwicklungsländern Tee zu trinken, „small talk“ zu betreiben, Netzwerke zu pflegen und abends auf semi-offizielle Empfänge zu gehen, ergibt sich ein anderes Bild: Hier gilt die Trennung von „Schnaps und Arbeit“, dort die Vermischung und Durchdringung von Privat- und Arbeitssphäre. Was für den einen „small talk“ ist, ist für den anderen „big talk“, nämlich Beziehungsarbeit. Internationale Handlungskompetenz erfordert, Kultur in diesen Fällen nicht nur als „ultima ratio“ zu betrachten, wenn man sich Probleme der Zusammenarbeit nicht mehr anders erklären kann („Das liegt an deren Kultur! Die sind nicht gewohnt, präzise zu arbeiten … kommen nicht auf den Punkt … die sind so!“), sondern die Logik hinter dem fremden Verhalten zu begreifen. Kulturen sind in sich logisch, es gibt „Kulturgrammatiken“. Fragt man umgekehrt Counterparts, was sie an den Deutschen schätzen und was nicht, bekommt man in Lateinamerika, Asien, Orient oder Afrika oft ganz ähnliche Antworten. Kapitel 1.3. liefert hierzu einige theoretische Modelle (Werte, Normen, Kulturstandards, Kulturdimensionen), die dies zu erklären versuchen. Grundsätzliches zu verstehen erfordert, zum Teil Komplexität zu reduzieren. Im Folgenden werden dazu häufig Extremvarianten gegenübergestellt. Dieses Kulturkontrastierungsprinzip entspricht dabei einem westlichen Stil der Informationsstrukturierung, nämlich der Polarisierung in oben und unten, links und rechts, Soll und Haben, schwarz und weiß. Dazu ist ein gewisses FachVokabular notwendig. Als eine Art „advanced organizer“ sind zu nennen: Tabelle 1: Grundbegriffe kulturvergleichender Forschung Kultur A Kultur B Sachorientierung Direkte Kommunikation Low-context cultures Individualismus absolute Wahrheit monochrone Zeitauffassung/ Uhrzeit Langzeitorientierung Schuldkulturen Universalismus Beziehungsorientierung Indirekte Kommunikation High-context cultures Kollektivismus situative Wahrheit polychrone Zeitauffassung/ Ereigniszeit Kurzzeitorientierung Schamkulturen Partikularismus Die Wirklichkeit ist natürlich viel nuancierter; es gibt etliche Facetten und Zwischentöne, derweil die Extrempole kaum in Reinform anzutreffen sind. Die Abbildungen mit derartigen prototypischen Gegenüberstellungen sind zunächst für den Aufbau eines Orientierungssystems geeignet (und späterhin praktisch, um schnell einmal wieder nachzulesen); sie sind zugleich gefährlich, wenn sie unzulässig verallgemeinert oder verabsolutiert werden und die Darstellungen zu Stereotypen degenerieren. Am besten nähert man sich den Darstellungen dialektisch und pragmatisch: Man verstehe die eine Seite, etwa die Werte, die eine afrikanische Mutter ihren Kindern in der Erziehung vermittelt und die später vielleicht auch den sozialen Umgang am Arbeitsplatz prägen, überprüfe (selbst-)kritisch die andere Seite (die nicht notwendigerweise „deutsche“ Werte und Normen reflektiert; sie können auch Schweizer, Österreicher, Ostfriesen sein – oder die einer bestimmten Unternehmenskultur), vergesse das ganze wieder und gehe offen für Neues in konkrete Verhandlungen, Meetings und Projekte hinein. Es gibt keine universalen „Kochrezepte“ für erfolgreiches internationales Handeln – wer diese verspricht ist ein Scharlatan. Die nachfolgenden Grundlagenkapitel sind von der Annahme geleitet, dass das „hier und dort“ Differenzen aufweist, die sich auf das Handeln auswirken und man gut daran tut, typische Unterschiede zu benennen, um einen konstruktiven Umgang mit ihnen zu entwickeln. Diese Einführung in die Grundlagen internationaler Zusammenarbeit will nicht nur potentielle Konfliktfelder und Probleme aufzeigen. Die Kommunikation zwischen Kulturen kann Freude bereiten und Spielräume erweitern. Unterschiede sind produktiv – je nachdem was man aus ihnen macht. Natürlich ist auch ein Text über Grundbegriffe internationaler Handlungskompetenz selbst bereits kulturell geprägt: Würde ein buddhistischer Zen-Meister über den gleichen abstrakten Gegenstand nachdenken, käme sicher etwas ganz anderes mit noch mehr Bildern, Metaphern und Gleichnissen dabei heraus. Loch & Schiffmann (2009): Grundbegriffe internationaler Handlungskompetenz Direkte versus indirekte Kommunikation Ich verhandle mit einem Chinesen und der sitzt mir gegenüber, lächelt und nickt mit dem Kopf und das nun schon seit 10 Minuten! Lächeln und Nicken sind vertraute Reize, aber es hätte doch längst eine verbale Bestätigung kommen müssen. Was also geht vor? Findet der Chinese meine Angebote einfach lächerlich? Stimmt ihnen zu? Was meinte er eben, als er im Nebensatz diesen völlig überzogenen Betrag erwähnte? Wozu schon wieder Tee? Und warum das endlose Kommentieren meiner Visitenkarte? Nebelbomben? Macht er sich gar lustig über mich? Oder ist ihm alles unangenehm und sein Lächeln Zeichen von Verlegenheit? Im Kontakt mit Südostasiaten sind Deutsche gelegentlich irritiert, weil Chinesen zu ihren Ausführungen stets Lächeln, mit dem Kopf nicken oder sogar verbal „ja“ sagen. Dabei bedeutet dies sinngemäß: „Ich höre, rede weiter, ich kann dir sprachlich oder geistig folgen“. Nur im günstigsten Fall kann es auch bedeuten: „Ich bin einverstanden“. Genau dies wäre es aber, was der Geschäftspartner haben möchte. Er wundert sich dann anschließend, wenn von chinesischer Seite Fragen kommen, die offensichtlich werden lassen, dass die Chinesen keinesfalls einverstanden sind. Inder wackeln auf eine bestimmte Art mit dem Kopf - ein Verhalten, das Menschen aus Kulturen, in denen auf ähnliche Weise Verneinungen ausgedrückt werden, sogar noch stärker irritiert als das Lächeln der Chinesen. Die Bedeutung indes ist vergleichbar. Ausdrucksgesten und Mimik sind kulturabhängig. Es sind entweder unterschiedliche Gesten oder es kann auch vorkommen, dass dieselbe Geste etwas anderes bedeutet als zuhause (vgl. Kapitel 1.4.). In einer Kultur, die eher indirekt kommuniziert, wird viel nonverbal ausgedrückt. Eine kleine Hebung der Braue ersetzt eine lange Ausführung. Diese Gesten müssen korrekt decodiert werden, sonst stiften sie Verwirrung. Wichtig ist vor allem, sich die Geisteshaltung hinter direkter und indirekter Kommunikation zu vergegenwärtigen. „Wichtiges zuerst“ gilt auch in Asien, nur ist etwas anderes das Wichtigste, nämlich die Person, die Macht hat, etwa Einkaufsmacht und diese Person muss günstig gestimmt werden, sonst lässt man das Verhandeln besser bleiben. Tabelle 1: Direkte versus indirekte Kommunikation Direkte Kommunikation Indirekte Kommunikation „Ohne Umschweife „zur Sache“ kommen“. Anliegen können direkt angesprochen werden, ohne Vorgeschichte oder Erläuterungen, man geht gerne „in medias res“. „Die Sache“ muss nicht unbedingt explizit angesprochen werden - man versteht sich dennoch sehr genau. Lob, Wünsche und Anliegen werden direkt, offen und öffentlich angesprochen, unmittelbar an die zuständige Person adressiert. Kommunikation über „Dritte“ oder andere „Umwege“ sind eher verpönt. Allmähliche Hinführung zum Thema, Tee trinken. Anliegen werden indirekt angesprochen, Kritik wird – wenn überhaupt indirekt geäußert. Klare Fragen – klare Antworten: Alles andere wird eher als „Herumdrucksen“, mangelnde Offenheit, Ehrlichkeit oder auch mangelnde Qualifikation empfunden. Häufig relativierende sprachliche Floskeln, wie „actually..“, „yes, yes … no problem“. Ein explizites „Nein“ wird als unhöflich empfunden, stattdessen sollten eher Begriffe wie „weniger gut“ oder „bedenkenswert“ verwendet werden. Direkt sagen, was man denkt: Die eigene Meinung, auch wenn sie kontrovers ist, direkt und offen auszusprechen, wird sehr geschätzt. Die Harmonie des Ganzen wird mehr geschätzt als die Vertretung einer Individualmeinung. Kritik direkt und zeitnah aussprechen: Dies gilt als „offen und ehrlich“, jemanden sofort und direkt mit der eigenen Kritik zu konfrontieren, ohne Zuwarten auf einen besseren Moment. Lieber Gesicht geben (decken), als jemanden das Gesicht verlieren lassen – Kritisches daher nicht öffentlich, sondern eher unter vier Augen oder äußern oder über Dritte lancieren. Auf den Nenner bringen: Eindeutigkeit, präzise Begriffsdefinitionen, direkte Aussagen werden wertgeschätzt. Metaphern, Bilder, Umschreibungen sind zu uneindeutig, allenfalls etwas für Dichter, Romantiker oder Verliebte. Bei der Arbeit und im Geschäftsleben hat derlei nichts zu suchen. Vorliebe für Sprichwörter, Bildern, Analogien, sie sind weniger festlegend als ein „Klartext“. Wer die Bedeutung nicht versteht, sollte nachfragen oder sich anderweitig kundig machen. Bilder sind wichtige Bedeutungsträger. Verbal statt nonverbal: Im Arbeitsleben gilt die verbale Botschaft als verbindlich. Im Liebesleben und Unprofessionellen ist Raum für Paraverbales. Nonverbale und paraverbale Signale werden reichlich gesendet – und dekodiert. Als unprofessionell gilt, den Kontext, das Sozialgefüge, das Alter oder die Hierarchien nicht beachtet zu haben. Indirekte Kommunikation wird von Menschen, die in einer Low-context culture (vgl. Kapitel 1.3.) aufgewachsen sind, zumeist als „unpräzise“, inkohärent, blumig – kurzum, ein Ärgernis Loch & Schiffmann (2009): Grundbegriffe internationaler Handlungskompetenz wahrgenommen. Zumeist gehen die indirekten Signale in einer Verhandlung auch noch mit einer Form der Informationsstrukturierung einher, die nicht linear ist. Es wird nicht ein Verhandlungsgegenstand systematisch nach dem anderen abgehandelt, sondern ein „Kuddelmuddel“ aufs Tablett gebracht. Abbildung 1: Subjektives Erleben von Verhandlungsführungen Abbildung 14: Subjektives Erleben von Verhandlungsführung Quelle: Loch et al. (1999) Was soll man also tun? Change it, leave it or love it! Da man weder seine Interaktionspartner, deren Kultur noch die vorgegebene Verhandlungssituation verändern kann und zudem meist nicht gewillt ist, ganz aus der Verhandlung auszusteigen, bleibt vor allem die dritte Option. Idealerweise gelingt es mit etwas Übung, selbst indirekt zu kommunizieren, zumindest aber die Botschaften der anderen Seite zu entschlüsseln. Tabelle 2: Wie man indirekt kommuniziert: Anliegen vorbringen, Anliegen ablehnen Wie man ein Anliegen vorbringt Gemeinsamkeiten suchen und herstellen. Herausfinden, was könnte das Interesse des Gesprächspartners an meinem Anliegen sein? Finde ich ähnlich gelagerte Erfahrungen, Bedürfnisse, Motive? Eine Situation und Argumentation aufbauen, die es dem Gesprächspartner kaum möglich macht, abzulehnen ohne sich selbst zu widersprechen. Das gemeinsame Interesse an diesem Anliegen betonen, ihn „ködern.“ Langsam vorgehen, viele Schleifen (Arabesken) drehen, um des anderen Schwachstellen zu finden und ihn „einwickeln.“ Zwischendurch immer wieder andere Sachen einflechten, gemeinsame positive Erfahrungen, Verbindendes, … Das Hauptanliegen gegen Ende eher beiläufig einflechten, keine sofortige Reaktion erwarten, Zeit lassen um zu sehen, ob der Gesprächspartner „angebissen“ hat. Wenn Störung oder Disharmonie aufkommt, das Anliegen zurückstellen und zuerst die Störung beseitigen. wie man ein Anliegen ablehnt Nicht auf das Anliegen eingehen, es überhören, übergehen übergangsloser Themenwechsel. Gesprächsverlauf unterbrechen, vom Thema ablenken: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten…/ „Oh, da fällt mir ein…“ Etwas Dringliches zwischendurch erledigen müssen (beispielsweise ein Telefonat oder Gebet). „I hear you“ bedeutet bestätigen, aber das Thema nicht aufgreifen. Verschieben auf später: „Eine hervorragende Idee, wir sollten gelegentlich…“ Zuständigkeit abwehren: „Eine sehr gute Idee, ich werde Herrn XY darauf aufmerksam machen, damit er…“ Obsolet machen: „Ihre Idee ist hervorragend. Herr XY hat sich bereits sehr intensiv damit beschäftigt. Er wird sich freuen zu hören, dass Sie sein Anliegen unterstützen…Sie sollten gelegentlich mal mit ihm reden.“