_________________________________________ Der Wert der Werbung ökonomische, gesellschaftliche und politische Aspekte _________________________________________ I. II. III. IV. V. Leben ist werben........................................ 2 Der Markt als Tabu-Brecher?..................... 3 Medien – "im Treibhaus der Werbung"?....11 Politische Manipulation an der Markt-Kommunikation..........................16 Voodoo-Glaube von der Werbewirkung......21 Vortrag von Volker Nickel Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Festveranstaltung zur Verleihung akademischer Grade Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald 28. November 2003 Der Wert der Werbung Seite 2 I. Leben ist werben Der Wert der Werbung – das ist ein Thema mit rascher Quintessenz: "Die Reklame ist jene Erscheinung in der modernen Kultur, bei der aber auch beim besten Willen nichts als Widerwärtiges gefunden werden kann. Sie ist als Ganzes wie in ihren Teilen und in allen ihren Formen für jeden Menschen und Geschmack rundweg ekelhaft". Leider ist diese Einlassung nicht mehr so ganz taufrisch. Von der Seele geschrieben hat sie sich am 6. März 1908 Werner Sombart, jener Nationalökonom und Soziologe, der um die Jahrhundertwende als Romantiker und heftiger Gegner der kommerziellen Werbung unter den Wirtschaftstheoretikern galt. Doch auf der Suche nach dem Zeitbogen der Gegenwart wird man gleichfalls schnell fündig. Zitat aus dem im Jahr 1997 erschienene katholischen Erwachsenen-Katechismus: "Werbung wirkt häufig deprimierend, ja zynisch, sie schafft künstliche Bedürfnisse, die einem humanen Lebensstil wenig entsprechen. Sie propagiert Glücksverheißungen, die von den angepriesenen Produkten nicht erfüllt werden können." Nun ist das mit der Beweiskraft von Glücksverheißungen so eine Sache, wird manch Ungläubiger denken. Aber – Gott sei Dank – da gibt es ja den Vatikan. Der hatte vor noch nicht allzulanger Zeit in einem Positionspapier zur Ethik in der Werbung seine Einschätzung der Markt-Kommunikation der Wirtschaft neu justiert. So unterstreicht das Dokument unter anderem, dass Werbung "das wirksamste sozio-ökonomische Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse" ist. Werbung trage "zur Leistungsfähigkeit und zur Preissenkung" der Produkte bei, kurbele den wirtschaftlichen Fortschritt an und helfe den Konsumenten, "wohlüberlegte, kluge Entscheidungen zu treffen". Der Wert der Werbung Seite 3 Dies alles trage zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zu höheren Einkommen und zu einem annehmbareren menschlichen Lebensstil für alle bei. Werbung helfe gleichfalls, die Medien "einschließlich jene der Kirchen" zu finanzieren, mit denen die Menschen überall auf der Welt mit Informationen, Unterhaltung und Inspiration versorgt werden. Mit diesen Erkenntnissen der zweithöchsten Instanz ließe sich der Vortrag über den Wert der Werbung fabelhaft abschließen. Erlauben Sie dennoch einige Fußnoten! Sie betreffen die Grenzen der kommerziellen Kommunikation, die Medien und die Politik. Was ist Werbung? Der Begriff stammt aus dem Althochdeutschen "hwerban". Er bedeutet, 'sich drehen‘, 'sich umtun', 'sich bemühen'. Die Sache aber ist älter: Werbung ist ein Urphänomen menschlicher Existenz. Das Zustandekommen aller freiwilligen Sozialbeziehungen, die Wechselwirkungsprozesse in und auch zwischen Gruppen sind ohne Zuordnung von Sympathie und Antipathie nicht möglich. Und das heißt manchmal auch: Nicht ohne Selbstdarstellung. Man braucht sich in diesem Zusammenhang selbst nur Fragen zu beantworten wie zum Beispiel: - Wer macht nicht auch Werbung für sich selbst? - Wer klärt schon über sich selbst objektiv auf? – zum Beispiel wenn er sich bewirbt – auch als Politiker ? Stellt also zum Beispiel seine Nachteile in gleicher Weise wie seine Vorteile dar? Legt seine psychologische Bilanz vor? - Wer will nicht andere überzeugen, beeinflussen? - Wer betrachtet sein Passfoto nicht unter dem Aspekt möglicher sozialer Attraktivität? Oder zusammengefasst: Leben ist werben. Der Wert der Werbung Seite 4 II. Der Markt als Tabu-Brecher? Wer wirbt, der muss beim anderen Interesse wecken. Aufmerksamkeit zu erringen ist heute werbefachliche Schwerstarbeit. Die Konkurrenz ist gewaltig. Jeder buhlt um Aufmerksamkeit – Politiker und Bischöfe, Professoren und Doktoren, Gewerkschaftsführer und Journalisten, Bürgerbewegungen, Verbände, Künstler – sie alle sind für jeden Marmeladenfabrikanten Mitbewerber um das Interesse der Bürger. Ist aber Aufmerksamkeit für Zahnbürsten und Autos, Küchenkrepp und Waschmaschinen überhaupt noch produzierbar – angesichts der Omnipotenz von gesellschaftlichen Mitteilungsbedürfnissen auf der Bühne der Öffentlichkeit? Ist heute das Problem der kommerziellen Werbung nicht ihre vermeintliche Macht, sondern ihre Ohnmacht? Werbung ist eine Sache des Optimismus. Larmoyanz, Wehklagen, Selbstmitleid – das passt nicht zu einer Branche mit ihrem Implantat tagesaktueller Lebensfreude. Wenn des Volkes Stimmung in Grau versunken ist, wie passt dazu aber die bunte fröhliche Werbewelt? Kann die Wirtschaft mit Anzeigen, Spots und Plakaten bei den Verbrauchern ein Umdenken bewirken – hin zu einer optimistischeren Einstellung und zu einer generell wieder höheren Konsumfreude? In den Abschwungphasen der deutschen Volkswirtschaft sind diese Fragen immer wieder gestellt worden. Was also kann Werbung? Markt-Kommunikation kann rezessive Phasen einer Volkswirtschaft abfedern helfen. Und sie ist in der Lage, den Wiederaufschwung zu verstärken. Werbung hat aber ihre Grenzen: Ihre volkswirtschaftliche Rolle besteht im effektvollen und kostengünstigen Kommunikationsprozess zwischen den Marktpartnern – also zwischen Anbietern und Kunden. Sie taugt nicht als zentral zu dirigierendes Instrument der Wirtschaftspolitik nach dem Motto: Nun Der Wert der Werbung Seite 5 werbt mal schön, damit die lahmende Konjunktur wieder auf Trab kommt. Der Wert der Werbung liegt in ihrem mikroökonomischen Einsatz: als Marktinstrument des einzelnen Anbieters und des Handels im Wettstreit um Kunden und damit um Marktanteile. Der ökonomische Effekt der Werbung entfaltet sich durch individuelle betriebswirtschaftliche Entscheidungen. Deshalb macht Werbung für das einzelne Unternehmen immer Sinn – ob in der Rezession, ob in rückläufigen oder gesättigten Märkten. Für den Kampf um Marktanteile gibt es keine Atempause. Wenn aber zum Beispiel in der Automobilindustrie – wie im vergangenen Jahr geschehen – der eine Konzern seinen Werbeetat zweistellig erhöht, der andere aber zweistellig zusammenstreicht, sind daran individuelle Unternehmensziele ablesbar. Wie sieht es vor diesem Hintergrund des komplexen Werbeverhaltens zur Zeit im Werbemarkt aus? Aufschluss gibt die traditionelle Herbstumfrage des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) bei seinen 41 Mitgliedsorganisationen der werbenden Firmen, Medien, Agenturen, Werbeberufe und Forschung. Vorweg: Bisher reichte ein Lineal für den Strich das Wachstum der Werbung nach oben. Nun aber liegen hinter der Werbebranche in Deutschland drei Jahre Rezession zwischen 2001 und 2003. In diesem Zeitraum schmolzen die Investitionen in Werbung um die gewaltige Menge von 4 Mrd € ab – auf rund 29 Mrd €. Es war die längste Schwächeperiode in der Werbegeschichte seit 1949. Aber immerhin: Das laufende Jahr 2003 wird nur noch mit einem Minus von etwa 1 Prozent abschließen. 2002 hatte der Verlust noch 6 Prozent betragen. Auch die Aussichten werden freundlicher: Die Anzeichen mehren sich für einen zarten Werbefrühling im kommenden Jahr. Der Wert der Werbung als wichtiges betriebswirtschaftliches Mittel bleibt also erhalten. Doch das Instrument könnte trotz konjunktureller Erholung Schaden nehmen. Warum? Einige Firmen greifen im Werbekampf um Aufmerksamkeit beim potenziellen Kunden zum 'Prinzip Provokation'. Der Wert der Werbung Seite 6 Provozieren ist eine fabelhafte Sache. Man kann mit diesem Instrument Kriege anzetteln, seine Ehe beenden, aber auch soziale Betroffenheit auslösen oder ganz einfach Diskussionen mit dem Ziel anregen, schlechte Dinge zum Besseren zu wenden. Die Bandbreite von Provokation reicht von Waffe bis Werkzeug – gleichgültig ob im öffentlichen Leben oder privaten Bereich, in der Diktatur oder in der Demokratie. Da wirbt ein Bestattungsunternehmen in den Vereinigten Staaten mit dem Text: "Warum leben, wenn Sie schon für 10 Dollar beerdigt werden können?" Zarte Seelen klassifizieren solche Werbetexte als "Tabu-Bruch"; robustere Gemüter werden sie allenfalls als "makaber" einstufen. Das Aktionsfeld der Provokation ist variantenreich. Provozieren heißt hervorrufen, herausfordern, aufreizen. Gefühlsaufwallungen sollen zu bestimmten Äußerungen oder Handlungen verleiten. Und deshalb können sie bis hin zu Tabu-Brüchen auch als Werkzeug des Guten dienen, beispielsweise um Spenden für soziale Zwecke zu sammeln. Oder um auf Gefahren aufmerksam zu machen, wie das die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit ihrer nachdenkwürdigen Kondom-Kampagne versucht. In England erregte eine drastische Anzeige für einen guten Zweck die Öffentlichkeit. Auftraggeber war die britische Hilfsorganisation "Help the Aged" ('Hilf den Älteren'). In ihrer Kampagne zeigt sie acht Fußpaare von älteren Menschen in einem Leichenschauhaus. Darunter stand: "Tausende ältere Menschen werden aufhören, die Kälte dieses Winters zu spüren." In die Kritik geraten war auch die Werbekampagne der Katholischen Kirche für Schwangerenberatung. Die ganzseitige Zeitungsanzeige zeigte eine nackte Frau in Embryo-Haltung. Der Protest des Generalsekretariats der evangelischen Frauenarbeit sowie des Sozialdienstes Katholischer Frauen: Jene Darstellung präsentiere Frauen als unmündige, entscheidungsunfähige Wesen; zudem sei das Bild voyeuristisch. Der Wert der Werbung Seite 7 Die Deutsche Bischofskonferenz hatte sich bereits 1996 einen diskussionswürdigen Freifahrtschein ausgestellt: Auf dem Höhepunkt einer öffentlichen Debatte über tatsächliche oder vermeintliche Gotteslästerungen in Redaktion und kommerzieller Werbung teilte sie öffentlich mit: "Wer einen höheren ethischen Wert verfolgt, dem sind Grenzüberschreitungen durch Provokation erlaubt." Bei der Wirtschaftswerbung ginge es dagegen um puren Egoismus und nicht um elementare Rechte des Menschen. In Deutschland soll im März des kommenden Jahres eine Kampagne der Tierschutzorganisation Peta (People for the Ethical Treatment of Animals) starten. In den Vereinigten Staaten läuft die Kampagne unter dem Titel "Der Holocaust auf deinem Teller". Die Kampagne setzt Hühnerfarmen mit Auschwitz gleich. Einer der Texte: 6 Millionen Juden sind in Konzentrationslagern gestorben, aber dieses Jahr werden 6 Milliarden Grillhähnchen in Schlachthäusern sterben. Es ist nicht Sache der Wirtschaft, über andere Sektoren der öffentlichen Kommunikation zu befinden. Die Unternehmen sind für sich verantwortlich, nicht für die Werbung politischer Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften. Wie aber sind die realen Verhältnisse im Kampf um Kunden, um deren Aufmerksamkeit und Sympathie - also: Wie ist es mit der Werbemoral der Wirtschaft bestellt? Ist die kommerzielle Kommunikation der Tabu-Brecher der Gesellschaft, wie manch einheimischer aus der Fraktion der Bedenkenträger meint? Wenn das Stilmittel Provokation in den Kommunikationsstrategien aller Bereiche der Gesellschaft zumindest eine gewisse Rolle spielt, wäre es geradezu absurd, dass sich solche Phänomene nicht auch in der Werbung der Wirtschaft wiederspiegelten. Vor dem Blick auf beispielhafte Fälle von vermeintlichen oder tatsächlichen Tabu-Brüchen bei der Bewerbung von Waren und Dienstleistungen noch drei Informationen vorab: Der Wert der Werbung Seite 8 - 99,9 Prozent der werbenden Firmen und ihrer Werbeagenturen wissen längst, dass ein Teil der Kunden heute ausgesprochen sensibel reagiert: empfindlich, wenn sie selbst in irgendeiner Weise betroffen sind, beispielsweise als Aids-Kranker, als Eltern, als Frau oder als Mann; empfindsam, wenn ihre Zivilcourage herausgefordert wird, die Umworbenen also meinen, sich schützend vor einzelne Menschen oder Menschengruppen stellen zu müssen. Auf diese Mentalität nehmen die meisten werbenden Firmen nicht nur aus moralischer, sondern auch aus betriebswirtschaftlicher Logik Rücksicht. - Kein Bereich der öffentlichen Kommunikation in Deutschland ist rechtlich derart stark normiert, wie die Werbung der Wirtschaft. 15 Spezialgesetze und Verordnungen regulieren mit dem Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG) an der Spitze das Werbegeschehen. Mit der im UWG verankerten Klagebefugnis für Wettbewerber und Verbraucherschützer wird dem Werbegeschehen ständig kritisch auf die Finger geschaut. Unlautere oder irreführende Methoden der Marktkommunikation verschwinden in der Regel wieder rasch vom Markt. Wer wissentlich in seiner Werbung die Unwahrheit sagt, kann sogar für zwei Jahre im Gefängnis landen. (Man stelle sich ein solches Gesetz auch für die politische Werbung vor). - Nimmt die allgemeine Öffentlichkeit Anstoß an einzelnen Werbesujets, handelt es sich meist um rechtlich nicht zu beanstandende Vorgänge; sie sind also nicht justiziabel. Es geht um moralische Prinzipien. Auch dann, wenn die Werbung rechtlich einwandfrei ist, werden die Kritiker nicht allein gelassen. Ihnen steht ein Konfliktregler mit effizientem Management zur Verfügung: Will ein Kunde, ein Bürger Kritik an Werbemaßnahmen kommerzieller Unternehmen üben, kann er sich seit dem Jahr 1972 an den Deutschen Werberat wenden. Gegründet hat den Werberat der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW). Er Der Wert der Werbung Seite 9 wird von den mittlerweile 41 Organisationen der werbenden Firmen, der Medien und der Agenturen getragen. Zugang zum Werberat hat jeder, der will - also Privatpersonen, gesellschaftliche Gruppierungen oder politische Instanzen. Es reicht der Beschwerdegrund und ein Hinweis auf die konkrete Werbemaßnahme aus, um ein Verfahren beim Werberat auszulösen. Der Blick auf die Spruchpraxis des Werberats zeigt, dass es böse Fälle von Grenzüberschreitungen gibt: So kam es zu einer öffentlichen Rüge des Werberats der in Delmenhorst ansässigen "WM Großhandels GmbH" - eine Firma, die unter anderem Freisprechanlagen für Autos offeriert. Ihr Leistungspaket bot sie unter der Überschrift an "Unser Service macht Sie süchtig". Im Vordergrund des Anzeigenmotivs ist eine in der Hocke sitzende junge nackte Frau zu sehen, die sich gerade eine Drogeninjektion setzt. Auch die Ausbeutung von Nacktheit und Sexualität von Menschen ist immer und immer wieder eine beliebte Werbevariante der Provokation. Beispiel die Handwerker-Vermittlungskette unter dem Firmennamen 'Hol Harry'. Sie ließ in Ballungszentren in Deutschland Großflächen mit Plakaten bekleben, auf denen formatfüllend ein nacktes Gesäß zu sehen war, aus dem ein Heizkörper oder eine Waschmaschine herausschaute. Slogan darüber: "Heizung im Arsch – Hol Harry!" Ein anderer Protest-Fall – es übersteigt möglicherweise den Rahmen der Festveranstaltung, gibt aber die moralischen Reflexionen wieder: Ein Hersteller alkoholischer Getränke brachte auf den Markt ein Produkt unter dem Namen "Komm Poppen" und warb dafür. Das Unternehmen verteidigte sich mit dem Hinweis, diese Ware und die Anzeigen dafür bewegten sich im Rahmen des Akzeptablen – auch wenn das Wort "Poppen" im Sinne eines Synonyms für "Vögeln" im Sinne von Geschlechtsverkehr verstanden werden sollte. Der Wert der Werbung Seite 10 Der Werberat dagegen stellte unter Würdigung sämtlicher Elemente der Werbung einen Verstoß gegen die selbstdisziplinären Verhaltensregeln fest. Danach darf Werbung für alkoholische Getränke nicht den Eindruck erwecken, mit dem Getränk könne sexueller Erfolg gefördert werden. Und ein letztes Beispiel: Das Düsseldorfer Textilunternehmen Amtraks instrumentalisierte das Thema Gewalt. Die Firma führt in Deutschland die Geschäfte des italienischen Jeans-Herstellers 'Diesel'. In einer Zeitschriftenanzeige des Unternehmens war ein Mann mit nacktem Oberkörper zu sehen. Er trug eine Hose - natürlich von 'Diesel'. Auf dem Bild ist er gerade dabei, den Unterarm eines Menschen zu zersägen. Die Szene spielt sich in einem dunklen Raum mit offensichtlich blutverschmierten Wandfliesen ab – von der Decke baumeln Körperteile, und aus einer Mülltonne ragen Gliedmaßen heraus. Sind das nun "Werbe-Hooligans"? Oder ist die Kritik daran nur das Klopfzeichen eines neuen Puritanismus? Auf jeden Fall müssen die Vorgänge gerecht gewichtet werden. Die zitierten Einzelfälle aus der Arbeit des Werberats sind kein Trend in der deutschen Werbung. Gemessen an den hunderttausenden von Werbeeinschaltungen pro Jahr spielen sie nur eine Rolle am Rand des Werbemarkts, bei Firmen, die meinen, man müsse dem Konsumenten die Sporen geben, damit der sich überhaupt noch bewegt. Das wäre dann der Grundsatz: Hauptsache, die Katze fängt die Mäuse. Schamloser Realismus, der ohne Rücksicht auf moralische Hemmungen das vor seinen Karren spannt, was den eigenen Zielen nutzt? Dann würde Werbung zur visuellen Droge, die den Bürger als Konsumenten letztlich verachtet. Werbende würden zu integrierten Asozialen, die zwar lauthals ihr negatives Image in der Öffentlichkeit tränenreich beweinten, aber ansonsten die letzten kreativen Ressourcen rücksichtslos ausbeuteten. Warum dann als Nächstes nicht auch Vergewaltigung von Frauen oder den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Werbung. Der Wert der Werbung Seite 11 Benetton beispielsweise ging es mit seinen provozierenden Plakaten nicht um Menschlichkeit, sondern kaufte sich in Menschlichkeit ein, um Verkaufsförderung für seine Pullover zu betreiben und nichts anderes. Da erinnert manches an Pharisäer, die sich als Sozialarbeiter verkleiden. Und wer spezielle Markenwaren - wie die Firma Diesel - als Grundausstattung für Perverse, Sadisten und Schwerkriminelle positioniert, sägt nicht nur an der Leiche, sondern auch an dem Ast, auf dem er sitzt. Immer wieder ist die Meinung von Kreativen in der Werbebranche in diesem Zusammenhang zu hören, die Werbung der Wirtschaft müsse die gleichen Freiheiten haben, wie Politiker und Theatermacher, Kirchen oder Kabarettisten, Gewerkschafter oder bildende Künstler. Werbung müsse aus ihrem "Ghetto" heraus. Nur auf diese Weise könne sie noch Aufmerksamkeit erregen. Wer von "Sackgasse" oder "Ghetto" der Werbung spricht, aus dem wie aus einem Gefängnis auszubrechen ist, müsste konsequenterweise auch das Ende der Verkehrsregeln im Straßenverkehr fordern. Es war ja gerade die Wirtschaft, die das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb Anfang des 20. Jahrhunderts durchsetzte – damit die anarchischen Verhältnisse im Wettbewerb aufhörten. Völlig unstreitig ist, dass auch mit Hilfe provokativer Elemente in der Werbung beim Publikum hohe Aufmerksamkeit zu erzielen ist. Aber: Hohe Aufmerksamkeit ist eben noch keine Werbewirkung. Aufsehen ist noch kein Ansehen. Es macht wenig Sinn, sich als Werbender die Sympathien eines Teils der Umworbenen durch Attacken auf deren seelisches Empfinden zu verscherzen. Zerstört würde der Wert der Werbung, ihr angestrebter Effekt. Diese Erfahrung gilt auch über die kommerzielle Kommunikation hinaus für alle anderen, die um ihr Anliegen werben. Der Wert der Werbung Seite 12 III. Medien - "im Treibhaus der Werbung"? Die zweite der drei angekündigten Fußnoten betrifft die Träger der Kommunikation in der Gesellschaft: die Medien. Ist Werbung die Avantgarde der Medienentwicklung, wie immer wieder zu kören ist. Das Fragezeichen lässt Schlimmes befürchten: Kann es sein, dass sich die Medien im Treibhaus der Werbung befinden, wie das Wochenblatt Die Zeit einmal argwöhnte? Dann handelt es sich um ein gefährliches Abhängigkeitsverhältnis, das die Hörigkeit des Redaktionellen vom Kommerziellen beschreibt. Dann aber wäre auch das demokratische Gemeinwesen gefährdet: ohne freie Redaktionen ist Demokratie nicht lebensfähig. Oder schwingt im fragenden Zeichen 'Werbung als Avantgarde der Medienentwicklung?' die hoffende Unsicherheit mit, dass es so sein möge? dass die Weiterentwicklung der Medien einen Vorkämpfer hat: Die Werbung, die den Weg frei macht für die ständige Metamorphose der Medien, für ihren Anpassungsprozess an den Wandel der Gesellschaft und überhaupt für eine frei debattierende Öffentlichkeit. Werbung als Vorkämpfer für ein sich unablässig modernisierendes Mediensystem – das wäre doch endlich einmal etwas anderes als der Muff unter den Talaren der Hohen Priester der Werbekritik. Ein solcher Paradigmenwechsel täte gut. Gegenwärtig befinden wir uns wieder im Sprühregen des Kulturpessimismus. Die durch Werbung gesteuerte Konsumgesellschaft und die von Werbeeinnahmen abhängigen privaten Medien fördern den Zerfall der Werte. Die Folgen sind zunehmende Gewalt, Kriminalität und soziale Kälte. Nicht die Moral regiert, sondern der Kommerz. Wir sind beeinflusst, erdrückt von unserer Nachfrage. Wir sind Konsumopfer, Markengeiseln, Mediensklaven. Der Mensch ein Konsumidiot. Der Wert der Werbung Seite 13 Kehrt man von der Hingabe an den Antikapitalismus in die reale Welt zurück, dann präsentieren sich die Verhältnisse sanfter. Denn die Talente der Werbung sind in der Summe beeindruckend und sprechen sich im Volk herum. Mit einem Werbevolumen von fast 30 Mrd € trägt die Werbewirtschaft zum Brutto-Inlandsprodukt bei, mehr als Branchen wie die Rundfunk-, Fernseh- und Nachrichtentechnik oder die Bekleidungsindustrie, das Kredit- und Versicherungsgewerbe und der Pharmabereich. Beim Durchsetzen verbesserter oder neuer Produktideen spielt Werbung eine mitentscheidende Rolle. Sie schafft keine Produktinnovation, aber sie hilft, moderne Märkte zu schaffen. Für das einzelne Unternehmen, das sich im Wettbewerb behaupten muss, wenn es überleben will, spielt Werbung in der Kostenstruktur nur eine überaus geringe Rolle: 60 Prozent Kostenaufwand muss eine Firma im Schnitt für das Produktionsmaterial erbringen, 18 Prozent für das Personal - und nur 1 Prozent für Werbung (Mehrwert Werbung Ökonomische und soziale Effekte von Marktkommunikation, edition ZAW, Bonn, 1999). Vor allem profitiert auch der Konsument durch die Effekte des werbenden Wettbewerbs: Marktübersicht, hohes Konsumniveau durch ständig verbesserte und innovative Erzeugnisse, Druck auf die Inflationsrate und dadurch nicht nur weitgehend Preisstabilität, sondern punktuell auch Preisrückgänge wie beispielsweise bei Lebensmitteln - sie sind im europäischen Vergleich in Deutschland am preiswertesten. Und die Medien? Sind sie auch in die profitablen Effekte aufgrund von Werbung eingebunden? Den Bürgern steht in Deutschland eine Medienlandschaft zur Verfügung, die im weltweiten Vergleich das Gütesiegel 'Paradiesisch' verdient: Die viel bejammerte "Medien-Invasion" kommt angesichts der Der Wert der Werbung Seite 14 stark demokratisierten Gesellschaft mit ihren hoch entwickelten individuellen Lebensstilen also gerade recht. Was aber haben die Verlagshäuser und Sender an der Werbung? Die dynamische Entwicklung des Medienangebots weist auf den Zusammenhang von Investitionen der Wirtschaft in Werbung und der Medienlandschaft hin. Diese betriebswirtschaftlich bedingten Ausgaben der Firmen für ihre Werbung wandeln sich auf Seiten der Medien zu Umsätzen. Ablesbar ist das an den Netto-Einnahmen der Werbeträger aus dem Mediengeschäft. Gemessen an sämtlichen Ausgaben für Werbung im Jahr 2003 in Höhe von rund 29 Mrd € werden die Medien mit 20 Mrd Euro beteiligt sein. Oder anders: Von den Werbeausgaben in Deutschland gehen knapp 70 Prozent in die Kassen der Medienbetreiber. Ein Produzent von Hundefutter oder ein Versicherungsunternehmen schalten ihre Werbung nicht, um die Medien zu subventionieren, sondern um eine Dienstleistung zu erhalten - die Dienstleistung der Verbreitung seiner Werbebotschaft. Der Effekt aber davon ist, dass die Medien ihrerseits zweierlei anbieten können: Ein Redaktionsangebot, das Interesse beim Publikum findet und einen daraus erwachsenen interessanten Werbeträger für werbende Produzenten von Waren und Anbietern von Dienstleistungen. Gegenwärtig leben beispielsweise die Tageszeitungen durchschnittlich zu fast zwei Dritteln aus Werbeeinnahmen und zu einem Drittel aus Vertriebserlösen. Ähnlich die Verhältnisse bei den Publikumszeitschriften, während sich die gratis vertriebenen Anzeigenblätter vollständig aus Werbung finanzieren. Auch die Kosten für Produktion und Vertrieb der Adress- und Telefonbücher werden aus Werbeeinnahmen beglichen. Filmtheater wiederum verdienen rund 12 Prozent ihrer Gesamtumsätze aus den Gebühren für die Schaltung von Werbung in den Kinos. Bei den Der Wert der Werbung Seite 15 öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF errechnet sich der Werbeanteil auf 10 Prozent, bei den privaten Fernsehveranstaltern fast 100 Prozent. Aber auch Zulieferbranchen kommen in den Genuss der Anschlusseffekte von Firmen-Werbung auf Medienbetriebe sowie Mediennutzer. So haben zum Beispiel die privaten TV-Sender in Deutschland im Jahr 2000 rund 1,5 Mrd Euro überwiegend in die Auftragsproduktion und in Arbeiten wie Synchronisation investiert. Allein auf dem freien Produktionsmarkt wurden dadurch 15.000 Arbeitsplätze gesichert. Der Arbeitsmarkt 'Medien' profitiert insgesamt ganz erheblich von den Investitionen in Werbung: Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten 2001 insgesamt mehr als 800.000 Personen im Sektor Medien; die Hälfte davon - also rund 400.000 - hängen mit der Werbetätigkeit der Wirtschaft zusammen. Also doch: Die Medien im Treibhaus der Werbung, gefangen in einer kommerziellen Abhängigkeit, die ihnen die Hoheit im redaktionellen Teil streitig macht? Ist die Sorge vor der vollständigen Kommerzialisierung der Medienlandschaft berechtigt? Dann wären die Werbeeinnahmen nicht mehr der Katalysator für eine gesunde Zukunft des Mediensystems in Deutschland. Wie sieht es denn aus mit der redaktionellen Steuerung? Wenn Politiker, Kirchen, Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Institutionen wie Heuschreckenschwärme über die Redaktionen herfallen dürfen, um ihre Ansicht in die Medien zu drücken - bedarf es nicht gerade darüber einer medienpolitischen Debatte? In Sachen Wirtschaft und redaktionellem Teil hat der Staat markante gesetzliche Grenzen gezogen. Sie werden von standesrechtlichen Verpflichtungen flankiert – wie den Internationalen Verhaltensregeln für die Werbepraxis, dem Pressekodex, den Verlegerrichtlinien über Der Wert der Werbung Seite 16 redaktionelle Hinweise in Zeitungen und Zeitschriften sowie den Richtlinien für redaktionell gestaltete Anzeigen des Zentralverbands der deutschen Werbewirtschaft (ZAW). Wenn gegen diese Regelwerke verstoßen wird, gehören dazu immer mehrere: Der Interessent der Wirtschaft, der seine Produktinteressen in den redaktionellen Teil einweben will, der Bakschisch-Journalist, der sich als Handlanger kommerzieller Interessen verdingt und ein Medienbetreiber, dem Umsatz alles und redaktionelle Moral gleichgültig ist. Solchermaßen zustande gekommene Regelverstöße aber finden vor den Augen der Öffentlichkeit statt - eine Öffentlichkeit, die nicht nur mediengeübt, sondern auch werbeerfahren ist. Medien sind von interessierten bis begeisterten Nutzern abhängig. Ihre Betreiber müssen den Rezipienten profitablen Inhalt zu erschwinglichen Preisen liefern - wie Information, Analysen, Unterhaltung. Das redaktionelle Angebot muss sich streng auf die Bedürfnisse des jeweiligen Nutzer-Publikums ausrichten, das dann gegebenenfalls wiederum für die werbende Wirtschaft von Interesse sein kann. Wo Wettbewerb um Medienkunden und Werbeinvestoren fehlt, entwickeln sich die Angebote in diesem Bereich häufig an den Bedürfnissen der Bürger vorbei. Die Presse der früheren sozialistischen Staaten gibt ein deutliches Zeugnis über diesen inneren Zusammenhang. Denn eines war sie ganz sicher nicht: Verursacher von Schlafstörungen. Die Kausalität wird erkennbar: Ohne Investitionen in Werbung keine Werbeeinnahmen der Medien; ohne gesichertes Einkommen der Medien insbesondere durch Werbeerlöse kein sich ständig modernisierendes Mediensystem. Profitieren von diesen Effekten der Werbung tun alle: die Medienbetreiber, weil ihnen Werbeeinnahmen die betriebswirtschaftliche Gegenwart sichern und die Zukunft vorbereiten hilft; die Rezipienten (profitieren), weil sie aus einer auf ihre Lebensbedürfnisse zugeschnittene Der Wert der Werbung Seite 17 Medienstruktur auswählen können; die Wirtschaft, weil ein selbstorganisiertes modernes Mediensystem für sie als modernes Werbeträgersystem zur Verfügung steht; nicht zuletzt die Politiker: Sie brauchen die Medien als Vermittlungsinstanzen ihrer Politik - redaktionell wie werblich. Peter Voß, Intendant des Südwestrundfunks in seiner Eigenschaft als damaliger ARD-Vorsitzender: "Werbung trägt dazu bei, die Rundfunkgebühr auf einem sozialverträglichen Niveau zu halten. Sie hilft den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, ihren Informations-, Bildungs- und Kulturauftrag zu erfüllen. Damit trägt Werbung zum Erhalt einer kulturellen Landschaft bei." Und der ehemalige ZDF-Intendant Dieter Stolte: "Mit dem Wegfall der Werbung würde uns nicht nur Geld, sondern auch ein Stück Modernität verlorengehen." IV. Politische Manipulation an der Markt-Kommunikation Probleme kommen auf die Medien und vor allem auf die werbenden Firmen aus einer ganz anderen Richtung zu. Denn vor den unternehmerischen Erfolg hat Gott die Politiker gesetzt. Eigentlich müsste dort alles in Ordnung sein. Wenn wir uns umblicken – zumindest dort, wo Recht gesprochen wird – denkt man ganz offenkundig nach vorne gerichtet, also modern. Höchste Gerichte anerkennen offensichtlich die wettbewerblich organisierte Marktwirtschaft als ein dem Menschen angemessenes gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Der flüchtige Blick unterstreicht diese Einschätzung: - So bestätigt das deutsche Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 11. März 2003, dass die Meinungsfreiheit im Sinne Artikel 5 des Grundgesetzes auch für Wirtschaftsunternehmen gilt. Selbst die in hohem Der Wert der Werbung Seite 18 Maße moralisch fragwürdige Benetton-Werbung der Vergangenheit stufen die Verfassungsrichter wegen des hohen Rangs der Meinungsfreiheit als zulässig ein. - Auch das Verbraucherleitbild ändert sich in der Judikative. Der Europäische Gerichtshof gibt die Richtung vor: Nicht mehr das Bild vom Menschen als schwankendes Schilfrohr im Wind von Werbung ist entscheidend, sondern der verständige, verantwortlich handelnde Konsument. Er hat den Willen und die Intelligenz, sich mit den angebotenen Waren und ihrer werblichen Vermarktung im Rahmen einer eingehenden Prüfung kritisch und distanziert auseinander zusetzen. Der Konsument, so der Europäische Gerichtshof, verfügt über gewisse Kenntnisse und handelt überlegt. Deshalb nimmt er eigenverantwortlich, mündig und umsichtig am Marktgeschehen teil. Mit anderen Worten: Der europäische Verbraucher besitzt die Eigenschaften eines selbstbewussten, aktiven Marktbürgers und handelt entsprechend. - Auch das deutsche Wettbewerbsrecht entwickelt sich weiter. Sollte früher noch der unmündige Bürger im Markt durch staatliche Wohlfahrt vor Schaden durch unsittliche Kaufleute oder eigene Dummheit bewahrt werden, wollen die Reformer den traditionellen Kontrollreflex des Staates eindämmen. Das ist auch richtig so. Denn die Unabhängigkeitserklärung des unterdessen demokratisierten Konsums manifestiert sich im Werbespruch einer Firma hier in Deutschland: "Ich bin doch nicht blöd! Man braucht dann nur noch aus Politikerreden Begriffe wie 'Deregulierung', 'Lebenskompetenz der Verbraucher' oder 'Subsidiaritätsprinzip‘ hinzuzuaddieren (also von oben nur regeln, wenn es unten nicht funktioniert), dann ist der Blick auf freie Märkte und freie Markt-Kommunikation durch die rosarote Brille komplett. Tatsächlich rauscht der Mantel der Geschichte – aber dialektisch. Wenn in den USA die Fabrikanten von Leitern aus Selbstschutz vor horrenden Der Wert der Werbung Seite 19 Schadensersatzklagen mit dem Aufkleber warnen "Achtung, dies ist die letzte Sprosse, bitte nicht weiter steigen!", dann ist das mehr als Kabarett. Und welche Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen steigt auf, wenn man das Ziel einer EU-"Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über umweltbelastende Geräuschemissionen von zur Verwendung im Freien vorgesehenen Geräten und Maschinen" betrachtet. Diese Richtlinie ist am 6. September 2002 deutschlandweit in Kraft getreten. Ihr Zweck: Verbot der Mülltonnenbefüllung an Sonn- und Feiertagen. Warum ? Das Geräusch des zufallenden Mülltonnendeckels soll die Stille nicht stören. Es ist ja richtig: Der EU-Binnenmarkt ist bei einäugiger Betrachtung eine Erfolgsgeschichte, wie sie in Brüssel anlässlich seines zehnjährigen Bestehens gebührend gefeiert wurde. Aber – unter Assistenz von Shakespeare: Es ist doch etwas faul in Europa, wenn die zehn neuen EU-Mitglieder eine Rechtsmasse von 105.000 Seiten in ihre nationale Rechtsordnung eingliedern müssen. Und man muss schon von tiefer europäischer Religiosität erfüllt sein, wenn man angesichts der kafkaesk anmutenden Vorschriftenproduktion die Ankündigung der EU-Kommission vom 24. Februar des Jahres 2003 glauben soll, sie wolle den Vorschriftendschungel durchforsten, um ihn abzubauen. Für den europäischen Werbemarkt plant die EU-Behörde exakt das Gegenteil. Deutschland braucht aber gar nicht mit dem Finger auf Brüssel zu zeigen. Der normale Bundesbürger hat 2.152 Bundesgesetze und 3.132 Rechtsverordnungen sowie insgesamt 88.076 Einzelvorschriften zu beachten. Allein in der letzten Legislaturperiode wurden 396 neue Bundesgesetze verabschiedet. Und auch die aktuelle Mitteilung der Bundesregierung vom 27. Februar 2003 über ein 'Sofortprogramm zum Abbau der Bürokratie' im Lande hat wohl eher deklaratorischen, als realen Wert. Es irrt also, wer vom "Rückzug des Staates" spricht. Was viele Beobachter – auch in der Wirtschaft – nicht erkennen oder beiseite schieben, ist eine grundsätzliche Trendwende: Dem Aufschwung der Wirtschaftsfreiheit nach dem Zusammenbruch des Sozialismus folgt nun eine Welle versuchter Eingriffe in Der Wert der Werbung Seite 20 das Wirtschaftsgeschehen vor allem durch die Europäische Union. Zielscheibe ist dabei die Kommunikationsfreiheit der Firmen in ihrem Bemühen um Kundschaft. Das klingt wie aus einem Museum über die marxistisch-leninistische Steuerung der Wirtschaft. Was gegenwärtig vor sich geht, ist letztlich ein Rückfall in den Antikapitalismus. Mehrheiten in der Europäischen Kommission und im EU-Ministerrat treiben eine reaktionäre Politik nach dem politischen Credo: Verbraucherschutz ist Schutz der Bürger vor der Werbung der Wirtschaft. In immer mehr Sektoren der Industrie greift die Politik deshalb in die Redefreiheit der privaten Unternehmen regulierend und strangulierend hinein. Werbezensur, so legen Politiker nahe, verhindern Gleichgewichtsstörungen im sozialen Leben und halten individuell den Menschen vor Selbstschädigung aller Art zurück. Es sei deshalb eine humane Tat, die Kommunikationsfreiheit der Unternehmen in ihren Märkten zu beschränken. Offenkundig sollen sich die Bürger der Werbung nur in staatlich gefertigten Schutzanzügen nähern dürfen. Dem Charme der behaupteten Logik – hier die Werbung, dort das Verhalten der Menschen – können sich viele nicht entziehen. Das erinnert an den "Sonnenaufgang", der ja nur eine poetische Illusion des Menschverstandes ist – aber nicht seine Realität. Um das Ausmaß und die Tiefe des Misstrauens gegenüber der kommerziellen Werbung auf politischer Ebene zu verstehen, bedarf es zunächst eines kurzen Blicks auf das Gesamtszenario der Werbezensurpläne. Was geplant, vorbereitet, diskutiert wird hier komplett zu beschreiben, würde den Rahmen des freundlich-geduldigen Zuhörens sprengen. Nur einiges Herausragendes: Der von der EU bereits in Kraft gesetzten Tabakrichtlinie mit ihrem Bannstrahl gegen den Markenwettbewerb per Anzeigen in Pressemedien, Internet sowie Sponsoring kommt demnach eine Schlüsselfunktion zu. Rechtlich regeln darf Brüssel bisher nur dann, wenn dadurch "Verzerrungen im Der Wert der Werbung Seite 21 Binnenmarkt" beseitigt werden. Rechtsakte im Gesundheitswesen dürfen laut EU-Vertrag bisher allein die Mitgliedstaaten erlassen. Nur die deutsche Regierung hat gegen den Brüsseler Rechtsbruch der Tabakwerberichtlinie und die damit verknüpfte Entmündigung der Mitgliedstaaten vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Bereits die erste Attacke gegen die Tabakwerbung hatte Deutschland mit Hilfe der hohen Richter vom Tisch fegen können. Was aber, wenn Berlin in Luxemburg dieses Mal unterliegt? Dann kann Brüssel unter dem Vorwand der Binnenmarktregelung in jegliche Werbung greifen und sie gegebenenfalls abwürgen. Exkommunikation droht gleichfalls der Werbung für alkoholische Getränke. Noch existiert nur eine unverbindliche Empfehlung des Ministerrats vom Juli 2001 an die Mitgliedstaaten zur massiven Einschränkung der Werbung. Verräterisch heißt es dort aber, diese Empfehlung der EU-Gesundheitsminister sei nur "....ein erster Schritt in Richtung auf einen umfassenden gemeinschaftsweiten Ansatz". Exegeten solcher EU-Kryptogramme wissen, was dann blüht: Erschleicht sich die Brüsseler Behörde die Gesetzgebungskompetenz in Sachen Gesundheit mit Hilfe des weit voran getriebenen Tabakwerbeverbots durch die Hintertür der Binnenmarktregelung, folgte als Rechtsakt das Werbeverbot für alkoholische Getränke mit Brausen. Geradezu orwell'sche Ausmaße des totalen Überwachungsstaates aber hat der Plan der EU-Kommission: Die Werbung für Lebensmittel europaweit umfassend zu knebeln und erheblich bürokratisch zu kontrollieren werden. Nachzulesen im 'Verordnungsentwurf für nährwert-, wirkungs- und gesundheitsbezogene Werbeaussagen und Angaben auf Lebensmitteln' der EU-Kommission. Nimmt das Papier die Hürden der europäischen Instanzen, dann ist Schluss mit generellen Werbeaussagen zum körperlichen Wohlbefinden, wie beispielsweise "...hilft, die natürlichen Abwehrkräfte ihres Körpers zu stärken". Der Wert der Werbung Seite 22 Verboten wäre auch zum Beispiel "Obst ist gesund" oder "Fleisch ist ein Stück Lebenskraft". Spezifisch gesundheitsbezogene Werbung wie "Kalzium verbessert die Knochendichte" müsste durch ein Prüfverfahren der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit um anschließend von der EU-Kommission zugelassen zu werden. Dauer des Verfahrens: sechs bis 12 Monate. Es müssten Studien pro Werbeaussage beigebracht werden. Kosten zwischen 250.000 € bis 1 Mio €. Außerdem enthält die geplante Verordnung eine Positivliste mit 21 erlaubten nährwertbezogenen Angaben wie "fettarm" und "hoher Ballastgehalt". Andere werbende Hinweise dieser Art, die sich auf "psychologische Funktion" beziehen, fallen gleichfalls der Werbe-Inquisition zum Opfer wie "Red Bull verleiht Flügel" oder "Haribo macht Kinder froh". V. Voodoo-Glaube von der Werbewirkung Wo liegen die Ursachen, warum Politiker der Werbung noch immer eine immense Macht zuordnen? Da trifft man bei einer großen Anzahl von politischen Entscheidern auf den Voodoo-Glauben von der unheimlichen Wirkung kommerzieller Werbung – auf eine täppische Vulgärpsychologie. Aus ihren Wahlkämpfen allein sollten Politiker es besser wissen. Spiegelbildlich wird von ihnen auch in die andere Richtung gedacht: Mit Werbeverboten, so die weltabgewandte Meinung von Politikern, ließe sich menschliches Verhalten ändern oder gar steuern. Glauben ist gut, Wissen besser. Überall dort, wo Werbung verboten wurde, oder verboten war, hat sich an auftretenden Problemen gesundheitsschädlichen Konsums nichts geändert. In Ländern mit halbwegs liberalen Werberegeln dagegen, wie Deutschland, werden schadstoffärmere Zigaretten geraucht und sinkt der Alkoholkonsum. Der Wert der Werbung Seite 23 Werbeverbote im Ernährungsbereich werden gleichfalls nichts am Problem von Fettleibigkeit ändern. Zensur von Marktkommunikation ist Gesundheitspolitik nach PlaceboArt, also ein Scheinmedikament beim Kampf gegen Probleme in der Gesellschaft. Es bleibt beim Aberglauben, dass Werbung menschliches Fehlverhalten produziert. Die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen immer wieder: Die Entscheidung, ob jemand Missbrauch mit Waren betreibt, unterliegt nicht dem Einfluss der Werbung, sondern ist im Menschen und seiner Mitwelt begründet. Ein Käufer kann und soll durch Werbung zwar bewogen werden, anstelle der einen Marke Weinbrand die andere Marke zu kaufen. Ob der Konsument aber die Flasche an einem einzigen Abend leert oder im Verlauf von acht Wochen - das hängt von anderen Einflüssen und Motiven ab. So verhält es sich auch mit Schokoriegeln, Bonbons oder anderen Lebensmitteln. Der Grund für die fehlende Möglichkeit, Menschen von heute wie Marionetten zu bewegen, ist hinlänglich bekannt: Ihre Psyche ist hochkompliziert. Es gibt bei ihnen keinen geradlinigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Reiz und Reaktion wie bei Tieren. Das spiegelt sich in fast sämtlichen neueren Forschungserkenntnissen der Sozialwissenschaften wider. Alles, was ein Mensch sieht, erlebt und bewertet, ist bereits Interpretation auf dem Hintergrund seiner Persönlichkeit. Das betrifft auch den Ablauf, wie er Informationen verarbeitet - also auch Markenwerbung für Nahrungsgüter. Wozu dann aber die ganze Werbung, so fragen dann Politiker immer wieder – auch solche, die auf den Lippen die Errungenschaften der Marktwirtschaft tragen. Die Antwort: Marktkommunikation ist ein entscheidendes Wettbewerbsmittel für das einzelne Unternehmen, um seine Marktanteile zu halten, auszuweiten oder um sie für neue Produkte zu gewinnen. Konkurrenzwirtschaft lebt durch das Angebot attraktiver Alternativen. Der Wert der Werbung Seite 24 Jede Werbemaßnahme ist eine kommerziell orientierte Botschaft mit dem Versuch, das Kaufverhalten der Umworbenen zu beeinflussen. Entscheidend aber ist nicht das Werbebild, sondern was mit der Botschaft beim Empfänger geschieht. Sieht ein psychisch gesunder Mensch eine Werbung mit erotischen Elementen, dann wird er daraufhin nicht zum Vergewaltiger. Enthält Autowerbung sportive Elemente, macht das niemanden zum Verkehrsrowdy. Und auch die Motivation zu rauchen, Süßigkeiten im Übermaß zu konsumieren und sich auch ansonsten ungesund zu ernähren, resultiert nicht aus Werbebildern. Werbung als Auslöser allen Übels hinzustellen, zeugt von allzu schlichter Denkübung. Menschen haben nicht nur Erbanlagen, unterschiedliche Biographien und individuelle Erlebnisse. Sie werden auch durch zahlreiche andere Absender beeinflusst - wie zum Beispiel redaktionelle Teile der Medien, Bildungssysteme, Pornographie, Kinofilme, politische Parteien, Predigten von der äußeren und inneren Kanzel, von Gewerkschaften oder den Erziehungsmethoden der Eltern. Es gehört zu den latenten Widersprüchen der "Verbraucherschutz"-Politik, dass der Bürger einerseits als "Souverän" in seiner Rolle als Wähler belobigt wird, in Sachen Werbung aber letztlich die Karikatur des Konsumtrottels unterlegt ist. Werbeverbote stellen daher die Frage nach dem rechten Verhältnis von Bürger und Staat. Der legitime Sozialstaat ist freiheitsfunktional und überlässt vieles der Freiheit des Einzelnen. Der illegitime, paternalistische Fürsorgestaat aber entmündigt die Bürger. Eine Rechtsordnung, die Bedürfnisse des Einzelnen bestimmen will – insbesondere in welchem Umfang und aus welchen Gründen der Bürger konsumiert - ist mit der verfassungsrechtlich gesicherten Autonomie des Einzelnen unvereinbar. Wir haben es also mit zwei gegensätzlichen Menschenbildern zu tun. Sie forcieren die Frage: Auf welche Weise soll das Gemeinwohl angestrebt und den Der Wert der Werbung Seite 25 Zeitläufen angepasst werden – durch Lenkung von oben oder durch lebenskompetentes freies Wirken der Bürger von unten? Eine Gemeinschaft der unmündigen Konsumtrottel oder eine offene Gesellschaft der Mündigen? Die Europäische Union wollte einen Binnenmarkt aufbauen, in dem der Wettbewerb wo immer gefördert wird, weil darin der beste Verbraucherschutz, Wirtschaftswachstum und innovative Entwicklungen gesehen wurden. Wenn aber immer mehr Bereiche vom Krankheitserreger der Werbezensur befallen werden, erkranken auch immer mehr Teile der Marktwirtschaft. Um im Bild zu bleiben: Es ist katastrophal, wie wenig Ärzte auf der politischen Ebene sich um diese Epidemie kümmern. Der Schutz der Bürger vor irreführenden Werbeaussagen und unlauteren Geschäftspraktiken ist bereits durch nationale und europäische Gesetzgebung sowie durch selbstdisziplinäre Mechanismen perfektioniert. Zwar muss sich der Staat dort schützend vor Verbraucher stellen, wo deren Selbstverantwortung und Lebenskompetenz nicht hinreicht. Abgelehnt wird aber ein Staats-Konsumerismus, der letztlich beide bevormundet: den Bürger als Konsumenten und Arbeitnehmer sowie die bedarfsorientierte Privatwirtschaft. Mehr Markt ist immer sozialer als weniger Markt. Die Attacke vor allem aus Brüssel auf das Vernunftvermögen und die Verantwortung des Menschen ist eine Ohrfeige für den Bürger. Und wenn es mit der bürokratischen Zensur des Wettbewerbs und der Marktwirtschaft so weiter geht, dann haben wir am Ende quasi staatliche Unternehmen und statt Wirtschaftsprüfer nur noch Rechnungshofprüfer. Dann werden auch die Medien in existenzielles Grübeln kommen, wenn sie die Politik immer stärker von der Werbung entkoppelt – mit allen Folgen für die von ihnen entscheidend getragene politische, kulturelle, gesellschaftliche Kommunikation. Diese Zusammenhänge legen nahe: Der Wert der Werbung erschließt sich spätestens beim Näherrücken an das Thema. Und nicht wahr, meine Damen und Herren: Leben ist werben. Ich danke Ihnen, dass ich für die unter dieser Aussage subsummierten Tatbestände werben durfte. Der Wert der Werbung Seite 26 Ihnen wünsche ich für die Zukunft: Weiterhin viel Erfolg beim Werben im Leben. Rückfragen: Volker Nickel, Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Postadresse: 10873 Berlin, Telefon (030) 59 00 99-715, Telefax (030) 59 00 99-722 E-Mail: [email protected], Online-Service: www.zaw.de