6 112 Dreiphasen-Wechselstrom (Drehstrom) Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die Leistung p(t) im Wechselstromnetz pulsiert. Sie schwingt mit der doppelten Frequenz von Strom und Spannung. Nur der zeitliche Mittelwert P ist aber für den Verbraucher relevant. Ist ein Generator mit einer ohmschen Last belastet, ergibt sich ein Verlauf der Leistung wie in Bild 6.1. p u i p, i, u = f (t) p p i ωt u Bild 6.1: Wechselstromgenerator mit ohmscher Last (Zeitverläufe) Wir gehen der Einfachheit halber von einer verlustlosen Energiewandlung aus. Für das Drehmoment an der Welle des Generators heißt das, da die Drehzahl eine Konstante ist m(t ) = p( t ) = M (1 − cos 2ω t ) Ω Das Drehmoment setzt sich zusammen aus einem Gleichanteil und einem Wechselanteil, dessen Amplitude gleich dem Gleichanteil ist. Das Spitzenmoment ist doppelt so groß wie das mittlere Moment. Wenn die Last eine reine Kapazität oder eine reine Induktivität ist, wird im Mittel keine Leistung übertragen. Der Gleichanteil des Drehmomentes an der Welle verschwindet. Der Wechselanteil bleibt aber ! Sein Betrag ist abhängig vom Effektivwert des Blindstroms. Ein belasteter Wechselstromgenerator, der eine Frequenz von 50 Hz liefert, brummt mit 100 Hz! Nun schauen wir uns einmal einen Generator an, der nicht nur eine Wechselspannung erzeugt, sondern drei Wechselspannungen gleichzeitig. Das wird dadurch erreicht, dass man in das Magnetfeld drei räumlich gegeneinander versetzte Spulen bringt. Diese Spulen schließen miteinander jeweils einen Winkel von 60° ein und sind mechanisch gleich aufgebaut. 113 Definiert man für die Spulen noch einen Plus- und einen Minus-Anschluss und mißt man von Plus-Anschluss der einen zum Plus-Anschluss der anderen, ist der räumliche Versatz 120°. Bringt man das System in Rotation, entstehen drei zeitlich gegeneinander versetzte Wechselspannungen. N W1 V2 U1 U2 B V1 W2 S Bild 6.2: Dreiphasiger Drehstrom-Generator (Prinzipbild) Die drei induzierten Spannungen sind u1 (t ) = u! sin ω t u2 (t ) = u! sin(ω t − 120° ) u3 (t ) = u! sin(ω t − 240° ) Die drei Spulen sind zunächst einmal nicht elektrisch miteinander verbunden. Man kann also drei getrennte Stromkreise aufbauen. Wir belasten jetzt alle drei Quellen mit dem gleichen ohmschen Widerstand. Es kommen drei Ströme zustande, die den gleichen Effektivwert haben. Man spricht von einer symmetrischen Belastung. U1 ~ i1(t) u1(t) R U2 W2 ~ u3 (t) ~ V2 u2(t) V1 W1 Bild 6.3: Unverkettetes Drehstromsystem R i2(t) R i3(t) 114 Die Wellenleistung des Generators ist nun p(t ) = p1 (t ) + p2 (t ) + p3 ( t ) = u! 2 (sin 2 ωt + sin 2 (ωt − 120° ) + sin 2 (ωt − 240° )) R u! 2 = (3 − cos 2ω t − cos(2ω t − 240° ) − cos(2ω t − 480° )) 2R 3 u! 2 u! 2 1 3 1 3 − cos 2ω t + cos 2ω t + = − sin 2ω t + cos 2ω t − sin 2ω t 2 R 2 2 2 2 R 3 u! 2 U2 =3 = P = const. p( t ) = 2 R R Die pulsierenden Leistungen in den drei Phasen kompensieren sich zu Null. Übrig bleibt eine konstante Leistung, die gleich der Summe der Mittelwerte der drei Einzelleistungen ist. Der Generator läuft ruhig. Man kann sich relativ leicht klarmachen, dass die Zahl der Phasen mindestens m = 3 sein muß, wenn man bei symmetrischer Belastung keine Momentenwelligkeit haben will. Mit m = 2 ist eine Elimination der 100 Hz-Schwingung unmöglich. Die drei erzeugten Spannungen lassen sich natürlich auch in der komplexen Ebene darstellen. Hier ist U1 der Bezugszeiger. Er ist reell. im U3 U1 U2 Bild 6.4: 6.1 re Spannungszeiger des Drehspannungs-Systems Das verkettete Drehstromsystem Wenn man in dem oben dargestellten unverketteten System zwischen zwei Anschlußklemmen unterschiedlicher Spulen mißt, ist keine Spannung meßbar. Man kann daher, wenn man will, die Spulen auch miteinander verbinden, allerdings ohne sie kurzzuschließen oder unmittelbar parallel zu schalten. Das hat den Vorteil, dass man nun, je nachdem, zwischen welchen beiden Punkten man mißt, zwei unterschiedlich hohe Spannungen messen kann. 115 Wir betrachten zunächst die Sternschaltung des Generators. Die Anschlüsse U2, V2 und W2 werden miteinander verbunden. Jetzt besitzt der Generator nicht mehr sechs, sondern nur noch vier Anschlüsse. Mit diesen vier Anschlüssen kann man das gleiche erreichen, wie mit der unverketteten Schaltung. Man hat aber zwei Leitungen gespart. Der Leiter, der mit dem Sternpunkt verbunden ist, bekommt die Bezeichnung N für Neutralleiter. Die drei anderen erhalten den Namen Außenleiter und werden mit L1, L2 und L3 bezeichnet. L1 ~ N U1 U3 I1 R IN U2 ~ ~ L2 I2 R I3 L3 Bild 6.5: R Generator und Last im Stern geschaltet Es fließen die gleichen Ströme wie in der unverketteten Schaltung, weil in jeder Masche nach wie vor nur eine Quelle und ein Widerstand liegen (wenn man den Maschenumlauf richtig wählt!). Im Neutralleiter fließt die Summe der drei Einzelströme I N = I1 + I2 + I3 = U j0 ( e + e j ( −120°) + e j ( −240°) ) = 0 R Das ist ein erstaunliches Ergebnis ! Bei symmetrischer Last kann man den Neutralleiter auch weglassen, weil in ihm kein Strom fließt. Wenn man genau weiß, dass die Last symmetrisch ist, tut man das auch. Dieses Ergebnis gilt auch für gemischte Lasten und reine Blindlasten. In dem Fall haben die Ströme alle die gleiche Phasenverschiebung gegenüber der verursachenden Spannung und das gleichseitige Dreieck der Ströme wird in der komplexen Ebene nur gedreht. 116 im I3 I2 ϕ I3 U3 U1 I2 Bild 6.6: ϕ re I1 ϕ U 2 Strom im Neutralleiter bei symmetrischer ohmsch-induktiver Last: IN = 0 Kommen wir nun zurück zu den Spannungen: Wenn man zwischen einen Außenleiter und dem Sternpunkt misst, erhält man die in einer Spule des Generators induzierte Spannung (Phasenspannung). Man kann aber auch zwischen zwei Außenleitern messen. Dann misst man eine höhere Spannung. U 12 = U 1 − U 2 = U − U ⋅ e j (120°) = U (1 − (cos( − 120° ) + j sin( − 120° ))) 3 3 = U( + j ) = 3U ⋅ e j 30° 2 2 Die zwischen zwei Außenleitern gemessene verkettete Spannung (Leiterspannung) besitzt einen Effektivwert, der um den Faktor !3 größer ist als der Effektivwert der Phasenspannung. im U31 U23 U3 U1 re U2 U12 Bild 6.7: Zeigerbild aller Spannungen bei Sternschaltung 117 Beispiel: In unserem Niederspannungsnetz ist die Spannung an der Wechselstrom-Steckdose 230V. Ein Pol der Steckdose ist mit dem Neutralleiter verbunden. Dieser ist übrigens geerdet. Der andere Pol ist einer der Außenleiter. Wir messen also eine Phasenspannung. In einer Kraftsteckdose sind alle Außenleiter und der Neutralleiter verfügbar. Hier misst man dreimal eine verkettete Spannung von 400V und dreimal eine Phasenspannung von 230V. An die Kraftsteckdose schließt man Drehstromverbraucher an (z.B. Motoren ab 2 kW). Der wichtigste Leiter in beiden Steckdosen ist übrigens noch nicht erwähnt worden. Er erhält beim Einstecken als erster Kontakt und verliert ihn beim Herausziehen des Steckers als letzter. Es ist der Schutzleiter. Er überträgt keine Leistung, sondern schützt unser Leben. Er ist ebenfalls geerdet und wird mit dem Körper (dem Gehäuse) des Verbrauchers verbunden, falls dieses leitfähig ist. So ist es jederzeit ungefährlich, metallische Oberflächen elektrischer Geräte zu berühren, solange der Schutzleiter intakt ist(!). Vorsicht bei beschädigten Kabeln! Ist der Schutzleiter durchtrennt, was man nicht immer gleich sieht, funktioniert das Gerät möglicherweise immer noch. Einen Schutz gibt es aber nicht mehr! Wenden wir uns nun der Dreieckschaltung von Generator und Last zu. Wie wir schon bei der Stern-Dreieck-Transformation gesehen haben, verschwindet nun ein Knotenpunkt, der Sternpunkt. Aus dem Vierleiter-Drehstromsystem wird ein Dreileiter-Drehstromsystem. L1 U3 Bild 6.8: ~ ~ IStr3 I1 U1 U1 R R ~ L2 U2 L3 I2 IStr1 R I3 Generator und Last im Dreieck geschaltet Jetzt ist der Leiterstrom nicht mehr gleich dem Strangstrom (Spulenstrom) im Generator. Die Strangspannung ist gleich der verketteten Spannung. Für die Last gilt das gleiche. Um den Zusammenhang zwischen Strangstrom und Leiterstrom zu finden, betrachten wir die Last. U1 U U 3 U j120° = = e ; I Str 3 = R R R R U U I 1 = I Str1 − I Str 3 = (1 − e j120° ) = 3 e j ( −30°) R R I Str1 = Der Leiterstrom ist um den Verkettungsfaktor !3 größer als der Strangstrom. 118 im I1 I3 IStr3 IStr1 re IStr2 I2 Bild 6.9: Zeigerbild aller Ströme bei Dreieckschaltung Die Kombination eines im Stern geschalteten Generators mit einer im Dreieck geschalteten Last ist ebenso denkbar wie umgekehrt. Allerdings kann dann nur das Dreileiter-Drehstromsystem verwendet werden. Wenn ein Drehstromsystem verwendet wird, ist die Nennspannung (abzulesen auf dem Typenschild des Generators oder der Last) immer die verkettete Spannung (Leiterspannung).Der Nennstrom ist immer ein Leiterstrom. Zusammenfassung: Strangspannung Leiterspannung Strangstrom Leiterstrom Sternschaltung UN/!3 UN IN = UN/(!3Z) IN Dreieckschaltung UN UN IN/!3 IN = !3UN/Z 6.2 Die Leistung im Drehstromsystem Am einfachsten ist es, zunächst einmal von einem Vierleitersystem und von Sternschaltung auszugehen. Wenn wir den Neutralleiter verdreifachen, können wir aus dem verketteten System wieder ein unverkettetes machen. Dann haben wir es mit drei getrennten Wechselstromkreisen zu tun. Die getrennte Berechnung der Schein-, Wirk- und Blindleistung ist einfach durchzuführen. Bei Symmetrie muss dreimal das gleiche Ergebnis herauskommen. S = P + jQ = 3U Str ⋅ I * ; P = 3U Str ⋅ I ⋅ cosϕ ; Q = 3U Str ⋅ I ⋅ sin ϕ 119 Bei Dreieckschaltung rechnen wir auch zunächst für jeden der drei Einzel-Verbraucher getrennt und addieren die Ergebnisse. S = P + jQ = 3U ⋅ I *Str : P = 3U ⋅ I Str ⋅ cosϕ ; Q = 3U ⋅ I Str ⋅ sin ϕ Was aber tun, wenn man die Struktur der Last gar nicht kennt und nur Klemmenspannung U und Klemmenstrom I bekannt sind? Die Berechnung der Einzelleistungen ist dann nicht möglich. I1 L1 U1 Netz U10 L2 L3 Last N Bild 6.10: Symmetrische Drehstromlast als Black Box Der Betrag der Scheinleistung ist schnell errechnet. Unabhängig von der Schaltungsart gilt: S= 3U ⋅ I Beim Phasenwinkel wird es komplizierter. Schon bei rein ohmscher Last sind U und I gegeneinander phasenverschoben. Der Winkel zwischen diesen beiden darf also nicht als Phasenverschiebungswinkel eingesetzt werden! Der Phasenverschiebungswinkel muß aus Stranggrößen bestimmt werden (z.B. !(U10,I1)). Damit ergibt sich für die allgemeine Berechnung der Leistungen im Drehstromsystem: S = P + jQ = 6.3 3U ⋅ I ⋅ e jϕ ; P = 3U ⋅ I ⋅ cos ϕ ; Q = 3U ⋅ I ⋅ sin ϕ Stern-/Dreieck-Umschaltung Wenn man eine Last hat, die von Stern- auf Dreieckstruktur umschaltbar ist, kann man durch die Umschaltung die aufgenommene Leistung verändern. Die drei Stränge seien symmetrisch. Der Einfachheit halber nehmen wir an, sie seien rein ohmsch. Im Falle der Sternschaltung gilt: UR = UR U U2 U2 = ; I = IR = ; P=3 3R R R 3 120 Im Falle der Dreieckschaltung gilt: U2 U U UR = U ; IR = ; I = 3 ; P = 3 R R R Durch Umschaltung von Stern auf Dreieck verdreifacht sich die aufgenommene Leistung. Der aufgenommene Strom verdreifacht sich ebenfalls. Nimmt man eine gemischte Last an, z.B. ohmsch/induktiv, verdreifacht sich auch die Blindleistung. Das Verfahren der Stern-/Dreieck-Umschaltung wird angewandt zur stufigen Leistungsverstellung oder aber zur Reduktion der Anlaufströme von Asynchronmaschinen. Man fährt die Maschinen im Stern hoch, bis die Leerlaufdrehzahl erreicht ist und der aufgenommene Strom klein ist. Dann schaltet man um auf Dreieck. Jetzt kann man belasten. Ist die Belastung kleiner als ein Drittel der Nennleistung, kann man auch von Dreieck auf Stern zurückschalten. Dadurch wird die Blindleistungsaufnahme auf ein Drittel reduziert. 121 7 Elektrodynamische Ausgleichsvorgänge Bisher haben wir immer eingeschwungene Zustände betrachtet. Wir sind davon ausgegangen, dass Ein- / Aus- oder Umschaltvorgänge weit genug zurückliegen und ihre Auswirkungen nicht mehr messbar sind. Wir werden uns jetzt mit transienten Vorgängen befassen. Dazu definieren wir zunächst, was eine ideale Spannungsquelle und was eine ideale Stromquelle ist: Die ideale Spannungsquelle liefert eine definierte Klemmenspannung, die unabhängig von der Belastung ist. Der Strom stellt sich in Abhängigkeit von der Belastung frei ein und hat keine Rückwirkung auf die Klemmenspannung. Der Leerlauf der idealen Spannungsquelle ist unkritisch. Bei Kurzschluss allerdings muss sie einen unendlich großen Strom liefern. Die ideale Stromquelle liefert einen definierten Strom, der unabhängig von der Belastung ist. Die Spannung stellt sich in Abhängigkeit von der Belastung frei ein und hat keine Rückwirkung auf den Strom. Der Kurzschluss der idealen Stromquelle ist unkritisch. Bei Leerlauf allerdings muss sie eine unendlich hohe Spannung liefern. S U0 = const. Bild 7.1: I0 = const. S Ideale Spannungsquelle und ideale Stromquelle 7.1 Ein- und Ausschaltvorgänge mit idealen Bauteilen 1. Der ohmsche Widerstand Schaltet man eine konstante Spannung zum Zeitpunkt t = 0 auf einen ohmschen Widerstand, so fließt vom ersten Augenblick an der durch das ohmsche Gesetz vorgegebene konstante Strom I = U/R. Der Stromverlauf ist also im Zeitpunkt t = 0 nicht stetig. Er springt von 0 auf den Endwert. Beim Einschalten einer Stromquelle auf einen ohmschen Widerstand geschieht etwas ähnliches. Die Spannung springt im Einschaltaugenblick auf den Endwert. 122 t=0 I0 R U0 U0 R i R t=0 I0 ⋅ R u t t (b) (a) Bild 7.2: 2. Einschalten einer Spannungsquelle (a) bzw. einer Stromquelle (b) auf einen ohmschen Widerstand Der ideale Kondensator Wenn man eine konstante Spannung auf einen ungeladenen Kondensator schaltet, wird der Strom im Einschaltaugenblick unendlich groß. Der Kondensator lädt sich in unendlich kurzer Zeit auf die Klemmenspannung auf, nimmt dann aber keinen Strom mehr auf. Beim Kurzschließen des geladenen Kondensators geschieht das umgekehrte. Er entlädt sich schlagartig. Danach ist der Strom gleich Null. Schaltet man eine Stromquelle auf einen Kondensator, so steigt seine Ladung und damit seine Klemmenspannung linear an. Hier geht die Klemmenspannung im Laufe der Zeit gegen unendlich. t = t0 I0 C U0 uC C t=0 iC uC iC ∆Q duC I0 dt = C ∆t = 0 (a) Bild 7.3: t t t0 (b) Einschalten einer Spannungsquelle (a) bzw. einer Stromquelle (b) auf einen idealen Kondensator 123 Zu Bild 7.3(a) kann man noch folgendes präzisieren: Die Fläche unter dem Stromverlauf ist gleich der aufgenommenen Ladung. Die Ladung wiederum ist durch die Klemmenspannung gegeben. Q = C ⋅U Q = ∫ i( t )dt + Q0 Q0 ist die Anfangsladung. Nur wenn die Anfangsladung zufällig passt, gibt es keinen Stromstoß. 3. Die ideale Spule Schaltet man eine konstante Spannung auf eine Induktivität, so steigt der Strom linear an. Er geht im Laufe der Zeit gegen unendlich. Schaltet man eine Stromquelle auf eine Induktivität, so wird die Spannung im ersten Augenblick unendlich. Danach wird sie wieder zu Null. Wird der Schalter anschließend wieder geschlossen, so fließt der Strom in L unvermindert weiter. t=0 I0 L U0 uL L t = t0 iL uL iL ∆Ψ = L ⋅ ∆I diL U0 dt = L ∆t = 0 t (a) Bild 7.4: t t0 (b) Einschalten einer Spannungsquelle (a) bzw. einer Stromquelle (b) auf eine ideale Spule Anmerkung: Bisher kam ein wenig häufig das Wort „unendlich“ vor. In der Realität gibt es zwar sehr hohe Spannungen und Ströme, aber keine unendlich hohen. Die Ausgleichsvorgänge laufen auch bei realen Bauteilen selten in unendlich kurzer Zeit ab. Dazu wäre nämliche im Falle von Kondensator und Spule eine unendlich hohe Leistung erforderlich. Wir werden uns die Vorgänge unter Verwendung realer Bauteile nun genauer anschauen. 7.2 Reale Schaltvorgänge In realen Schaltungen treten der ohmsche Widerstand, der Kondensator und die Spule in wechselnden Kombinationen auf. Z.B. kann die Ladung eines Kondensators nicht unendlich schnell erfolgen, da seine Zuleitungen einen, wenn auch geringen, ohmschen Widerstand haben. 124 Außerdem gibt es keine idealen Spannungs- und Stromquellen. Sie besitzen, wie wir wissen, einen Innenwiderstand. 1. Gleichspannungsquelle und Kondensator Ein realitätsnahes Schaltbild für das Aufladen eines Kondensators ist das folgende: uR R i(t) uC U0 Bild 7.5: C Einschalten einer Spannung auf ein RC-Glied Durch einen Maschenumlauf erhalten wir eine Bestimmungsgleichung für den Strom: U 0 = u R ( t ) + uC ( t ) = R ⋅ i ( t ) + 1 i (t )dt + uC (0) C∫ uC(0) ist dabei die Anfangsspannung des Kondensators, die er aufweist, wenn er zu Beginn schon eine Ladung hat. Wenn man diese Integralgleichung in die Differentialform überführt, ergibt das R 1 d i (t ) + i (t ) = 0 dt C oder RC d i (t ) + i (t ) = 0 dt Es handelt sich um eine homogene Differentialgleichung erster Ordnung. Für ihre Lösung setzen wir an − t i (t ) = A ⋅ e τ und t d A −τ i (t ) = − e τ dt Eingesetzt ergibt das − RC +1= 0 τ τ = RC 125 Zur Bestimmung von A brauchen wir noch eine Anfangsbedingung: Im Einschaltaugenblick kann der Strom nicht unendlich groß werden. Er ergibt sich aus der Spannung am Widerstand. Diese ist im Einschaltaugenblick: u R ( 0) = U 0 − uC (0) U 0 − uC ( 0) i (0) = A = R Wir haben die Lösung für den Strom gefunden. i (t ) = U 0 − uC (0) − RCt e R Damit ist auch die Spannung an R und C bekannt. uR / t ) = R ⋅ i (t ) = (U 0 − uC ( 0))e uC (t ) = U 0 − uR (t ) = U 0 (1 − e − t RC − t RC ) + uC (0) e − t RC Zu Beginn liegt uC(0) am Kondensator. Nach ausreichender Wartezeit (etwa 5 Zeitkonstanten) liegt U0 am Kondensator. Dann ist der Stromfluß nahezu Null. U0 i(0) uC(t) i(t) ∆Q uC(0) 1 Bild 7.6: 2 3 4 5 Spannung und Strom am Kondensator nach dem Einschalten von U0 t τ 126 2. Gleichspannungsquelle und Spule Als nächstes betrachten wir das Einschalten einer Spannung auf eine Reihenschaltung von R und L. Eine Anfangsladung der Spule wie eben beim Kondensator nehmen wir diesmal nicht an. D.h. anfangs ist der Strom in der Spule Null. uR i(t) R uL U0 Bild 7.7: L Einschalten einer Spannung auf ein RL-Glied Jetzt gilt U 0 = u R (t ) + u L (t ) = R ⋅ i (t ) + L d i (t ) dt U0 L d = i (t ) + i (t ) R R dt Diesmal haben wir es mit einer inhomogenen Differentialgleichung 1. Ordnung für den Strom zu tun. Dazu wählen wir einen anderen Ansatz für die Lösung. −t i (t ) = A ⋅ e τ + B d A −t i (t ) = − ⋅ e τ τ dt Damit gehen wir in die Differentialgleichung für den Strom. U0 L ⋅ A − τt −t = A⋅e τ + B − ⋅e Rτ R Nach ausreichend langer Wartezeit sind die abklingenden e-Funktionen verschwunden. Dann bleibt die Bestimmungsgleichung für B übrig. B= Uo R 127 Zur Bestimmung von τ vergleichen wir die Koeffizienten der e-Funktion. L Rτ L τ = R 1= Im Zeitpunkt t = 0 muß der Strom bei i(0) = 0 beginnen, denn bei begrenzter Spannung kann der Strom in einer Induktivität sich nicht sprunghaft ändern. U0 R U0 A = −B = − R i (0) = 0 = A + Damit ist die Lösung für den Strom und die beiden Spannungen an R und L gefunden. U0 −t 1 − e τ R −t u R (t ) = R ⋅ i (t ) = U 0 1 − e τ i (t ) = u L (t ) = U 0 − u R (t ) = U 0 ⋅ e −t τ U0 R i(t) uL(t) 1 Bild 7.8: 2 3 4 5 t τ Spannung und Strom an der Induktivität nach dem Einschalten von U0 Nach ausreichend langer Wartezeit bestimmt nur noch der Widerstand R den Strom. Die Stromänderung in der Induktivität ist nahezu Null und an ihren Klemmen ist keine Spannung mehr zu messen. Es ist, als sei sie gar nicht da. 128 3. Gleichstromquelle und Kondensator Als nächstes schauen wir uns einmal eine Schaltung mit einer Stromquelle an. Eine reale Stromquelle speist einen Kondensator. iC I0 Bild 7.9: R C Einschalten eines Stromes auf einen Kondensator Es gilt die Knotenpunktgleichung u( t ) du(t ) +C dt R d I 0 R = u(t ) + RC u(t ) dt I0 = Dies ist eine inhomogene Differentialgleichung 1. Ordnung. Ansatz: −t u( t ) = A ⋅ e τ + B d A −t u( t ) = − ⋅ e τ τ dt Eingesetzt in die Differentialgleichung I0 R = A ⋅ e −t τ + B− RCA − τt ⋅e τ Wenn t gegen unendlich geht, bleibt die Bestimmungsgleichung für B übrig: B = I0R Die Zeitkonstante ist τ = RC. A wird wieder aus der Anfangsbedingung gewonnen. t = 0: Der Kondensator ist ungeladen, also u(0) = 0. u(0) = 0 = A + I 0 R A = − I0R −t u(t ) = I 0 R 1 − e τ du(t ) −t = I 0e τ dt u( t ) −t = I 0 1 − e τ i R (t ) = R ic (t ) = C 129 I0⋅ R I0 u(t) iC(t) 1 Bild 7:10: 4. 2 3 4 5 t τ Spannung und Strom am Kondensator nach Einschalten von I0 Gleichstromquelle und Spule Die nächste Schaltung ist etwas komplizierter, weil zwei ohmsche Widerstände und eine Spule enthalten sind. Die ohmschen Widerstände sind der Innenwiderstand der Stromquelle und der Kupferwiderstand der Spule. i1 I0 R2 R1 u(t) i2 uL L Bild 7.11: Einschalten eines Stromes auf eine Induktivität Die von der Stromquelle zu liefernde Spannung ist u(t ) = i1 (t ) R1 = i2 ( t ) R2 + L di2 (t ) dt I 0 = i1 (t ) + i2 (t ) u(t ) = ( I 0 − i1 ) R2 + L d ( I 0 − i1 ) dt di = I 0 R2 − i1 R2 − L 1 dt di1 + i1 ( R1 + R2 ) = I 0 R2 L dt 130 Es handelt sich wieder um eine inhomogene Differentialgleichung 1. Ordnung. Ansatz: i1 (t ) = A ⋅ e −t τ +B t d A −τ i1 (t ) = − e τ dt t t − LA − τ τ − e + ( R1 + R2 )( A ⋅ e + B) = I 0 R2 τ t gegen unendlich liefert B = I0 R2 R1 + R2 τ= L R1 + R2 Die Zeitkonstante ist Zum Zeitpunkt t = 0 fließt in der Spule kein Strom. Die Spannung an den Klemmen der Stromquelle ist dann u(0) = I0R1. Der gesamte Strom I0 muss über R1 fließen. i1 (0) = I 0 = A + I 0 A = I0 R2 R1 + R2 R1 R1 + R2 R1 R2 −t e τ + i1 (t ) = I 0 R1 + R2 R1 + R2 i2 (t ) = I 0 − i1 (t ) = I 0 R1 −t 1 − e τ R1 + R2 −t R12 R1 R2 τ u( t ) = i1 ( t ) R1 = I 0 e + R1 + R2 R1 + R2 t − d τ u L (t ) = L i2 (t ) = I 0 R1e dt Erläuterung des Ergebnisses: Zu Beginn ist i1 = I0 und i2 = 0. Nach ausreichend langer Zeit ist die Spannung an der Spule auf Null abgesunken. Es ist, als sei die Spule gar nicht mehr da. Dann bleibt die Parallelschaltung der beiden Widerstände übrig. Der Strom I0 verteilt sich auf die beiden Zweige nach der Stromteilerregel. 131 Zahlenwerte: R1 = 50Ω; R2 = 20Ω. I0 5 7 I0 i2(t) I0⋅ R1 i1(t) 2 7 I0 uL(t) 1 Bild 7.12: 5. 2 3 4 t τ 5 Spannung und Ströme an der realen Spule nach Einschalten von I0 Wechselspannungsquelle und Kondensator Als Beispiel zum Wechselstrom schalten wir eine Wechselspannungsquelle auf ein RC-Glied. u i(t) ~ Bild 7.13: R uC(t) u(t) C ϕu ωt Einschalten einer Wechselspannung auf ein RC-Glied Anfangsbedingung: uC(0) = 0. u! sin(ω t + ϕ u ) = i (t ) R + uC (t ) duC (t ) + uC (t ) u! sin(ω t + ϕ u ) = RC dt Als erstes lösen wir die homogene Differentialgleichung mit dem bekannten Ansatz uCH (t ) = A ⋅ e −t τ ; τ = RC 132 Die inhomogene Differentialgleichung lösen wir durch Variation der Konstanten. uC ( t ) = A( t ) ⋅ e − τt d dA( t ) −τ A( t ) − τt ⋅e − uC ( t ) = e τ dt dt t Das in die ursprüngliche Differentialgleichung eingesetzt ergibt u! sin(ω t + ϕ u ) = A(t ) e −t τ t +τ t − dA(t ) − τ τ e − A(t ) e dt Diese Gleichung wird nun nach Trennung der Variablen integriert dA(t ) = t u! A(t ) = τ uC (t ) = A( t ) ⋅ e τ −t τ = eτ 2 1 2 +ω = u! + τt e ⋅ sin(ω t + ϕ u )dt τ 1 sin(ω t + ϕ u ) − ω cos(ω t + ϕ u ) + A1 τ u! −t τ 2 (sin(ω t + ϕ u ) − ωτ cos(ω t + ϕ u ) ) + A1 e 1 + (ωτ ) u! −t τ ω ϕ ϕ + + + sin( ) t A e 1 u 2 1 + (ωτ ) mit ϕ = − arctan ωτ Aus der Anfangsbedingung uC(0) = 0 ergibt sich A1 = − uC ( t ) = u! 1 + (ωτ ) 2 sin(ϕ u + ϕ ) u! −t τ ω ϕ ϕ + + − sin( ) sin(ϕ u + ϕ ) t e u 2 1 + (ωτ ) Der Dauerschwingung ist ein Einschaltvorgang überlagert. Wenn man den Anfangswinkel der Spannung günstig wählt (Einschaltaugenblick), verschwindet jedoch der Einschwingvorgang. Im ungünstigsten Fall wird der Spannungsverlauf ϕu + ϕ = uC ( t ) = π 2 π −t τ ω + − sin( ) t e 2 2 1 + (ωτ ) u! 133 Der größte Momentanwert nach dem Einschalten ist im ungünstigsten Fall fast doppelt so groß wie die Maxima im späteren eingeschwungenen Zustand. uC(t) ωt Bild 7.14: 6. Kondensatorspannung beim Einschalten einer Wechselspannung auf ein RCGlied Gleichspannungsquelle und Reihenschwingkreis Als letztes Beispiel wählen wir einen Reihenschwingkreis, den wir durch einen Schaltvorgang anregen. R L U Bild 7.15: i(t) C uC(t) Einschalten einer Gleichspannung auf einen gedämpften Reihenschwingkreis Wir wollen nun den Zeitverlauf der Spannung am Kondensator berechnen. Es gilt d i (t ) + uC (t ) dt d i (t ) = C uC (t ) dt d d2 i (t ) = C uC (t ) dt dt d d2 U = uC (t ) + CR uc (t ) + LC uC (t ) dt dt U = i (t ) R + L Hier handelt es sich zum ersten mal um eine Differentialgleichung 2. Ordnung. Wir lösen zuerst wieder die homogene Differentialgleichung. 0 = uC (t ) + RC d d2 uC ( t ) + LC u (t ) dt dt C 134 Der Lösungsansatz ist uC (t ) = K1 ⋅ e λ1t + K2 ⋅ e λ2t + K3 d uC (t )= K ⋅λ ⋅eλ1t + K ⋅λ ⋅eλ2t 1 1 2 2 dt d2 u (t ) = K1 ⋅ λ12 ⋅ e λ1t + K2 ⋅ λ22 ⋅ e λ2t dt C Eingesetzt in die homogene DGL: 0 = K1 ⋅ e λ1t + RC ⋅ K1 ⋅ λ 1⋅ e + K2 ⋅ e λ2t + RC ⋅ K2 ⋅ λ2 ⋅ e λ2 t λ1t + LC ⋅ K1 ⋅ λ 21 ⋅ e + LC ⋅ K2 ⋅ λ22 ⋅ e λ2 t λ1t + K3 λ1t 0 = K1 ⋅ e (1 + RC ⋅ λ1 + LC ⋅ λ12 ) + K2 ⋅ e λ2t (1 + RC ⋅ λ2 + LC ⋅ λ22 ) + K3 Daraus läßt sich die charakteristische Gleichung ablesen: λ2 + 1 R λ+ =0 L LC 2 λ1,2 = − mit δ = 1 R R + − 2L 2L LC R 2L und ω 0 = 1 : LC λ1,2 = − δ + δ 2 − ω 02 Da im Kreis eine Induktivität enthalten ist, muß im Schaltaugenblick in allen Fällen gelten: i (t = 0) = 0 ; d u (0) = 0 ; K1 λ1 + K2 λ2 = 0 dt C Die Anfangsspannung des Kondensators sei gleich Null. Da der Anfangsstrom auch Null ist, fällt die gesamte Spannung zu Beginn an L ab. 135 uC (0) = 0 ; u L (0) = U = L d i (0) ; K1 + K2 + K3 = 0 dt U d2 = uC (0) = K1λ12 + K2 λ 22 = K1λ1 ( λ1 − λ2 ) LC dt λ1 − λ2 K1λ1 U U U =− = ; K2 = − ; K3 = K1 K 1= λ2 λ2 LCλ1 ( λ1 − λ2 ) LCλ2 ( λ1 − λ2 ) LCλ1λ2 uC (t ) = λ1 U λ2 e λ2t + 1 e λ1t − λ1 − λ2 LCλ1λ2 λ1 − λ2 i (t ) = U (e λ1t − e λ2t ) L( λ1 − λ2 ) Jetzt ist eine Fallunterscheidung erforderlich. Abhängig davon, wie groß R, L und C gewählt werden, kommen unterschiedliche Ergebnisse heraus. Für die Wurzel gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Die Differenz unter der Wurzel wird positiv 2. Die Differenz unter der Wurzel wird negativ 1.Fall: Die Wurzel wird reell. λ1,2 = − δ +κ uC ( t ) = U − δ − κ ( −δ +κ ) t − δ + κ ( −δ −κ ) t − + 1 e e 2 2 2κ LC ⋅ (δ − (δ − ω 0 )) 2κ 2 − δ − κ ( −δ +κ ) t − δ + κ ( −δ −κ ) t = U − + 1 e e 2κ 2κ U −δ t = e (( − δ − κ )eκ t + (δ − κ ) eκ t ) + U κ 2 δ eκ t − e −κ t eκ t + e −κ t = U 1 − e −δt − e −δ t 2 2 κ δ = U 1 − e −δ t sinh κ t + coshκ t κ Der Endwert der Kondensatorspannung ist die Quellenspannung. Der Zeitverlauf der Kondensatorspannung wird durch Hyperbelfunktionen bestimmt, die aber mit der Dämpfungskonstanten δ abklingen. 136 2.Fall: Die Wurzel wird imaginär. λ1,2 = − δ + jω mit ω = ω 02 − δ 2 − δ − jω ( −δ + jω ) t − δ + jω ( −δ − jω ) t − + 1 uC ( t ) = U e e 2 jω 2 jω e jωt − e − jωt δ − δ t = U 1 − e ω 2j − jω t jω t − e −δ t e + e 2 δ = U 1 − e −δ t sin ω t + cos ω t ω Der Endwert der Kondensatorspannung ist auch hier die Quellenspannung. Der Zeitverlauf wird durch eine abklingende Schwingung bestimmt. Ob der erste oder der zweite Fall eintritt, hängt vom Verhältnis δ ab. Wird dieses Verhältnis ω0 größer als 1, handelt es sich um Fall 1, wird es kleiner, ist es Fall 2. Genau in der Mitte liegt der sogenannte aperiodische Grenzfall. Im folgenden Bild sind vier Fälle dargestellt. uC(t) U 1,6 δ ω0 = 0,25 1,4 δ ω0 = 0,5 1,2 1 0,8 δ ω0 = 1 0,6 δ ω0 = 2 0,4 0,2 0 Bild 7.16: 0,5 1 1,5 Spannungsverlauf am Kondensator bei Schwingkreisanregung Aperiodischer Grenzfall: ( ) uc (t )= U 1 − e −ω0t (1 + ω 0 t ) t T0 137 Literatur: [1] Linse, H.; Fischer, R.: Elektrotechnik für Maschinenbauer. B.G. Teubner Stuttgart [2] Flegel, G.; Birnstiel, H.: Elektrotechnik für Maschinenbauer. Carl Hanser Verlag, München [3] Busch, R.: Elektrotechnik und Elektronik. B. G. Teubner Stuttgart [4] Möller, F.; Fricke, H.: Grundlagen der Elektrotechnik. B. G. Teubner Stuttgart