Man sollte alles versuchen, um zu helfen

Werbung
Suizid - "Man sollte alles versuchen, um zu helfen" -- sueddeutsche.de
Seite 1 von 3
Panorama
Suizid
"Man sollte alles versuchen, um
zu helfen"
08.09.2008, 09:51
Interview: Titus Arnu
Erschreckende Zahlen: In Deutschland gibt es doppelt so viele Tote
durch Suizid wie durch Verkehrsunfälle.
Die Zahl der Selbstmorde in Deutschland ist im vergangenen Jahr weiter
zurückgegangen. So erfreulich die Tendenz ist, die Statistik bleibt
erschreckend: 2007 nahmen sich bundesweit 9400 Menschen das Leben - die
Zahl der Suizidfälle ist doppelt so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten im
selben Zeitraum. Über die Ursachen dieser Entwicklung sprach die SZ mit
Georg Fiedler, Diplompsychologe beim Therapiezentrum für Suizidgefährdete
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Als Sekretär des Nationalen
Suizid-Präventionsprogramms leistet Fiedler außerdem Aufklärungsarbeit.
2007 nahmen sich bundesweit 9400 Menschen das Leben. (© Foto:)
SZ: Laut Statistischem Bundesamt hat sich die Zahl der Suizide in
Deutschland seit 1980 halbiert. Woran liegt das?
Fiedler: Zunächst muss man dazu sagen, dass dies keine kontinuierliche
Entwicklung ist. Bis Mitte der 90er Jahre gingen die Zahlen zurück, dann
blieben sie etwa zehn Jahre lang gleich auf einem Level von 10000 bis 12000
Fällen. Seit 2004 sinkt die Suizidrate wieder.
SZ: Worauf ist das zurückzuführen?
Fiedler: Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen gibt es in unserer
heutigen Gesellschaft einen anderen Umgang mit Risikogruppen, also
Menschen mit psychischen Krankheiten, Suchterkrankungen und
Persönlichkeitsstörungen. Zum anderen gibt es mittlerweile bessere
Behandlungsmöglichkeiten für gefährdete Menschen. Im Laufe der 80er Jahre
sind neue Antidepressiva und Antipsychotika auf den Markt gekommen, die
von den Patienten besser angenommen wurden. Außerdem sind
psychiatrische Einrichtungen heute präsenter in den Städten und nicht mehr
http://www.sueddeutsche.de/panorama/2.220/suizid-man-sollte-alles-versuchen-um-zu-helfen-1.708866
21.05.2012
Suizid - "Man sollte alles versuchen, um zu helfen" -- sueddeutsche.de
Seite 2 von 3
so stigmatisiert. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der Notfallmedizin
besser geworden - das heißt, Menschen, die einen Suizidversuch
unternommen haben, werden häufiger gerettet.
SZ: Ist auch die Zahl der Suizidversuche zurückgegangen in Deutschland?
Fiedler: Darüber gibt es nur Schätzungen. Eine Faustregel sagt, dass auf
jeden Suizid zehn Versuche kommen. Das heißt, dass sich 100000 Deutsche
pro Jahr das Leben nehmen wollen - das ist eine ganze Großstadt. Nach
Schätzung der WHO sind von jedem Suizid sechs nahestehende Menschen
betroffen - da sind sie schnell bei 600000 Menschen pro Jahr, die mit dem
Thema konfrontiert werden. Es geht wirklich jeden etwas an.
SZ: An diesem Mittwoch ist der "Welt-Suizid-Präventionstag", der auf das
Thema aufmerksam machen will. Warum wird sonst so wenig über Suizide
geredet?
Auf der nächsten Seite: Was können Angehörige tun?
"Man sollte alles versuchen, um zu helfen"
Fiedler: Es ist paradox: Die Anzahl der Suizide ist tatsächlich größer als die
der Toten durch Verkehrsunfälle, Drogenmissbrauch, Aids, Mord und
Totschlag zusammen, und doch ist die gefühlte Gefährdung bei allen anderen
Themen größer als bei der Selbsttötung.
SZ: Woran könnte das liegen?
Fiedler: Es gibt nach wie vor eine Tabuisierung des Suizids, die sicher
kulturgeschichtliche Wurzeln hat. Das hat mit der Ächtung durch die
christliche Kirche zu tun - in Deutschland war es ja früher üblich, dass
Menschen, die sich das Leben genommen hatten, nicht auf dem Friedhof
bestattet wurden. Dazu kommt, dass persönliche Erfahrungen mit Suizidfällen
in der Familie häufig mit Ohnmacht und Schuldgefühlen belastet sind.
Deshalb wird in vielen Familien der Suizid lieber verschwiegen.
SZ: Wie sollte man sich als Angehöriger verhalten, wenn man von
Suizidabsichten eines Familienmitglieds erfährt?
Fiedler: Es gibt viele Möglichkeiten, zu helfen, durch Gespräche, durch die
Einbindung von Fachkräften. Wichtig ist es deshalb auch, schon rechtzeitig
Warnsignale zu beachten und darauf einzugehen. Suizidgedanken kommen ja
meistens nicht aus heiterem Himmel.
SZ: Auf welche Warnsignale sollten Angehörige von Betroffenen achten?
Fiedler: Wenn sich jemand sozial zurückzieht, den Alkohol- und
Drogenkonsum steigert, dann sollte man aufmerksam werden und den
Betroffenen auch darauf ansprechen - die meisten reagieren dann erleichtert
und wollen reden.
SZ: Welche Therapie-Möglichkeiten gibt es für Gefährdete?
http://www.sueddeutsche.de/panorama/2.220/suizid-man-sollte-alles-versuchen-um-zu-helfen-1.708866
21.05.2012
Suizid - "Man sollte alles versuchen, um zu helfen" -- sueddeutsche.de
Seite 3 von 3
Fiedler: Das hängt auch von den Betroffenen ab. Generell gilt, dass das
professionelle Gespräch über die suizidale Befindlichkeit und die zugrunde
liegenden Konflikte von Bedeutung sein sollte, ob ambulant oder stationär. In
vielen Regionen gibt es Einrichtungen für suizidgefährdete Menschen.
Darüber hinaus stehen auch in Notfällen die Psychiatrischen Kliniken und
Abteilungen rund um die Uhr zur Verfügung. Es wird auch hilfreich sein, den
Hausarzt anzusprechen oder eine andere Person des Vertrauens, wie einen
Pastor oder einen Pfleger.
SZ: Gibt es Fälle, in denen Angehörige nicht mehr helfen können?
Fiedler: Häufig überfordert es nahestehende Personen, demjenigen zu
helfen. Sich das Leben zu nehmen, ist letztendlich immer eine autonome
Entscheidung. Trotzdem würde ich sagen, dass man immer alles versuchen
sollte, zu helfen, so schwierig es auch ist. Denn für die meisten Menschen mit
Suizidgedanken geht es nicht darum, sich das Leben zu nehmen, sondern
darum, dass sie nicht wissen, wie sie weiterleben können. Das ist ein
Riesenunterschied. Und wenn es den nicht gäbe, würde unsere
Präventionsarbeit in vielen Fällen nichts nutzen.
Hilfe und Tipps zum Thema: www.suizidpraevention-deutschland.de;
www.welttag-suizidpraevention.de
URL:
http://www.sueddeutsche.de/panorama/suizid-man-sollte-alles-versuchen-um-zu
-helfen-1.708866
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Copyright:
Quelle:
(SZ vom 08.09.2008)
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche
Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an [email protected].
http://www.sueddeutsche.de/panorama/2.220/suizid-man-sollte-alles-versuchen-um-zu-helfen-1.708866
21.05.2012
Herunterladen