-e 1 Mechanik III Vorlesungs-Skript Prof. Dr. Christoph Glocker Mitschrift Adrian Nievergelt HS 2008 Committed: 10. Dezember 2011 14:53:04 Revision 2084 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 0.1 Zu dieser Mitschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Grundlegende Konzepte 1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kinematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Impuls und Drall . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Berechnung von Massenträgheitsmomenten . 1.5 Impuls– und Drallsatz (Axiome der Dynamik) 1.5.1 Der Impulssatz (Newton/Euler 1750) . 1.5.2 Drallsatz nach Euler (1775) . . . . . . . 1.6 Kraftgesetze äusserer Kräfte . . . . . . . . . . . 1.7 Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8 Nützliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.9 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2 3 4 5 7 7 8 10 11 13 13 2 Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad 2.1 Grundproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten . . . . . . . 2.2.1 Darstellungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung 2.2.3 Diskussion der homogenen Differentialgleichung . . . . . . 2.2.4 Lösung der inhomogenen Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 15 16 17 18 18 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden 35 3.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Struktur linearer Differentialgleichungen der Dynamik . . . . . . . . 36 i Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 38 42 42 44 Die Wellengleichung 4.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Bewegungsgleichungen spezieller 1-D Kontinua . . . . . . . . . 4.3 Die Allgemeine Lösung der Wellengleichung . . . . . . . . . . . 4.4 Bedeutung der Charakteristiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Einfache Ortsrandbedingungen beim halbunendlichen Körper . 4.5.1 Reflexion am eingespannten Ende . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Reflexion am freien Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Stehende Wellen (Schwingungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Randbedingungen bei stehenden Wellen . . . . . . . . . . . . . 4.8 Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 46 47 50 53 58 59 60 62 64 66 . . . . . . . . . . . 67 67 68 69 71 73 74 76 77 78 78 78 3.3 3.4 3.5 3.6 4 5 Theorie zweiter und erster Ordnung . . . . . . . . . . Sonderfall: Das M-K-System . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Modale Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . Sonderfall: M-K mit Dämpfung nach Bequemlichkeit Stabilität des MDGKN-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinematik 5.1 Vektorraum und Koordinatensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Vektoren und Koordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Drehgeschwindigkeit zwischen zwei Koordinatensystemen . . . . 5.4.1 Transformation von Drehgeschwindigkeiten . . . . . . . . . 5.5 Ableitung von Vektoren in bewegten Systemen . . . . . . . . . . . . 5.6 Kinematische Grössen von Starrkörpern . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Berechnung von Geschwindigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Berechnung von Beschleunigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Drehbeschleunigung aus Körperdrehgeschwindigkeit . . . 5.8.2 Punktbeschleunigung aus Systemdrehgeschwindigkeit . . . 5.8.3 Punktbeschleunigung aus Drehbeschleunigung und Drehgeschwindigkeit eines Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Allgemeine Kinetik 6.1 Innere und äussere Kräfte . . . . . . . . 6.1.1 Mechanische Subsysteme . . . . 6.2 Das erweiterte Wechselwirkungsprinzip 6.3 Das dynamische Gleichgewicht . . . . . 6.4 Resultierende Kräfte/Trägheitsterme . . 6.5 Bezugspunktwechsel . . . . . . . . . . . 7 Kinetik des starren Körpers ii . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 . . . . . . 81 81 82 83 84 85 86 88 Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nomenklatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kinetische Energie des Starrkörpers . . . . . . . . . . Transformationsregeln für den Trägheitstensor . . . . Eigenschaften von Trägheitstensor und Massenmatrix 7.5.1 Massenmatrix des Starrkörpers . . . . . . . . . 7.6 Auswertung des Impulses . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Auswertung der Impulsänderung . . . . . . . . . . . 7.8 Auswertung des Dralls . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8.1 Auswertung der Dralländerung . . . . . . . . 7.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.10 Vorgehen bei der Rechnung von Hand . . . . . . . . . 7.10.1 Bezugspunktwahl beim Drall . . . . . . . . . . 7.11 Impuls- und Drallerhaltung am Starrkörper . . . . . 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 8 Der Kreisel 8.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Bewegungen des momentenfreien Kreisels 8.3 Erzwungene Bewegung eines Kreisels . . . 8.4 Weitere Kreiselphänomene / Kreiselgeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 89 90 92 93 96 97 98 98 99 99 100 100 103 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 105 106 110 114 Literaturverzeichnis 116 Index 117 iii 17. September 2008 0.1 0.1. Zu dieser Mitschrift Zu dieser Mitschrift Dieses Dokument entsteht auf Basis der Vorlesung Mechanik III von Herrn Professor Glocker an der ETH Zürich. Zusätzlich sind oft Ergänzungen und kommentare angefügt, die darauf abzielen das Verständniss des Stoffes zu fördern und mit dem Vorwissen aus früheren Vorlesungen, vor allem der Linearen Algebra zu verbinden. Die Mitschrift wird ständig ausgebaut und korrigiert, aber es finden sich mit Sicherheit eine Unzahl an Fehlern, sowohl ortographischer als auch fachlicher Natur. Dem Leser werde angeraten, bei der Lektüre mitzudenken. Bei allfälligen Fehlern wäre ich verbunden um eine Mitteilung an [email protected] wobei zu beachten ist, dass stets die Revisionsnummer auf der Titelseite mit angegeben werden sollte, damit ich einen Bezug habe, in welchen Versionen sich der Fehler befindet. Mehrere Personen haben sich durch signifikantes einreichen von Korrekturen ausgezeichnet. Deren sind Sven Hubacher Andreas Rübel Andrea Weber 1 Kapitel 1 Grundlegende Konzepte Die Vorlesung ist aus zuerst einem Theorieblock aufgebaut, der dann durch Beispiele ergänzt wird. Ziel der Vorlesung: Aufstellungen der Bewegungsgleichungen für ebene Systeme starrer Körper mit diskreter Kräften und Momenten. Dies soll möglichst zügig geschehen, d.h es werden nur Formeln ohne Herleitung behandelt, damit schnell mit Rechnen angefangen werden kann. 1.1 Vorbemerkungen Notation 1 (Vektoren und Matrizen): Die Mitschrift unterscheidet stets nach den verschiedenen Typen einer Variablen und kennzeichnet diese auch entsprechend. Die verwendete Notation ist in Tabelle 1.1 ersichtlich. Ebenfalls wird öfters einzeilige Notation für aus Vektoren zusammengesetzte Matrizen verwendet. " # a = ( aT , bT )T b Diese Notation kommt vor allem in Tabellen aus Darstellungsgründen zum Einsatz. • Ebene Systeme werden gekennzeichnet als zweidimensionale Vektoren a ∈ R2 , a = ( a x , a y )T 2 17. September 2008 1.2. Kinematik Darstellung Typ Stil Beispiel Skalare Grösse kursiv a, B, λ Ortsvektor/Punkt kursiv kapital P, S Vektor fett, kursiv und klein a, b Matrix fett, kursiv und kapital A, B Tabelle 1.1: Verwendte Variabelnotation • Zeitableitungen sind die ersten Ableitungen des Ortsvektors nach der Zeit t [s]. Wir schreiben d ȧ := a(t) dt Definition 1.1.1 (Kreuzprodukt in der Ebene): Das Kreuzprodukt im ebenen Raum R2 existiert im streng mathematischen Sinne eigentlich nicht. Eir definieren daher die Operation /R ∈ R2 × R2 ∈ : ( a, b) / a b := a x by − ay bx die uns als Ersatz dienen wird. 1.2 Kinematik • Ein Intertialsystem (e xI , eyI ) ist ein raumfestes System mit unbewegtem Ursprung O. • Ein weiterer viel verwendeter Begriff ist der Massenmittelpunkt S • Der Ortsvektor ist " rOS (t) = x (t) y(t) # [m] • Unter der Orientierung verstehen wir die Absolute Winkelauslenkung ϕ(t) [rad]. 3 1. Grundlegende Konzepte Starrkörper ϕ S eyI rOS y e xI x O Abbildung 1.1: Illustration zum Intertialsystem • Wir kennen aus den oben definierten Begriffen zwei Geschwindigkeiten. Einerseits die Absolutgeschwindigkeit " # ẋ (t) ṙ (t) = ẏ(t) h m · s−1 i sowie andererseits die Winkelgeschwindigkeit h i ϕ̇(t) rad·s−1 • In Analogie zu den Gewschwindigkeiten definieren wir auch die Beschleunigungen: Die Beschleunigung des Massenmittelpunktes ist # " ẍ (t) m · s−2 r̈OS (t) = ÿ(t) und die Winkelbeschleunigung ist gegeben als ϕ̈(t) rad·s−2 1.3 Impuls und Drall Definition 1.3.1 (Impuls): Wir definieren den Impuls p ∈ R2 eines Körpers als das Produkt der Masse und der Massenmittelpunktsgeschwindigkeit des 4 17. September 2008 1.4. Berechnung von Massenträgheitsmomenten Starrkörper ϕ ϕ̇ ṙOS S rOS O Abbildung 1.2: Illustration zu Winkel– und Schwerpunktgeschwindigkeit Körpers. Es gilt h p := mṙOS = m ( ẋ, ẏ)T i kg·m·s−1 = [N·s] (1.1) Definition 1.3.2 (Drall): Der Drall ist die analoge Grösse der Dynamik zum Moment in der der Kräftestatik. Wir bezeichnen das Impulsmoment eines Körpers bezüglich eines Ruhenden Punktes O plus den Spin des Objekts als den Drall LO ∈ R des Körpers. LO := m · rOS ṙOS + θS ϕ̇ = m( x ẏ − y ẋ ) + θS ϕ̇ [N·s·m] (1.2) wobei θS [kg·m2 ] das Massenträgheitsmoment des Körpers bezüglich des Punktes S ist. 1.4 Berechnung von Massenträgheitsmomenten Um das Massenträgheitsmoment eines Starrkörpers zu berechnen wenden wie das folgende Vorgehen an: 1. Den Körper B auf ein Blatt zeichnen. 2. Ein Koordinatensystem mit dem Ursprung P einzeichnen. 3. Das Trägheitsmoment θ P als das folgende Volumenintegral θP = Z B ( x2 + y2 ) dm = ZZZ B ( x2 + y2 )ρ( x, y) dx dy dz berechnen, wobei das berechnete Massenträgheitsmoment bezüglich des Punktes P gilt. 5 1. Grundlegende Konzepte y x̃ ỹ x P S Abbildung 1.3: Skizze zur Berechnung von Trägheitsmomenten Anderenfalls können wir ein alternatives Vorgehen folgendermassen anwenden: 1. Statt dass wir das Koordinatensystem im Punkt P eintragen, tun wir dies im Massenmittelpunkt S. 2. Wir berechnen das gleiche Integral θS = Z B ( x̃2 + ỹ2 ) dm das hier aber andere Integrationsgrenzen besitzt! Es gilt also θ P 6= θS . 3. Es gilt jedoch der Satz von Steiner. Satz 1.4.1 (Steiner): Ist ein Körper oder Teilkörper mit Masse m und Trägheitsmoment θS um seinen Schwepunkt S bezüglich der betrachteten Achse P um a verschoben, so berechnet sich das Trägheitsmoment als θ P = θ S + m · a2 wobei a der Abstand zwischen P und S ist. Bemerkung 1.4.1: Der Satz von Steiner gilt für das Trägheitsmoments bezüglich des Massenschwerpunktes, niemals aber für zwei beliebige Punkte, die nicht im Massenmittelpunkt liegen. Siehe hierzu auch die Tabelle für homogene Körper (mit ρ =const). In den Übungen wird oft verlangt, dass nicht das Integral berechnet wird, sondern dass das gegebene Problem auf die Tabelle angepasst wird und die gefundenen Werte direkt eingesetzt werden. In einem Arbeitsumfeld werden die Trägheitsmomente direkt im CAD automatisch berechnet. Massenträgheitsmomente sind aus Mechanik II bekannt als das polare Flächenträgheitsmoment. 6 17. September 2008 1.5. Impuls– und Drallsatz (Axiome der Dynamik) Additivität von Trägheitsmomenten: Sind mehrere Trägheitsmomente bezüglich einem Punkt bekannt, so verhalten sich diese additiv. Das heisst das Trägheitsmoment des zusammengesetzten Körpers ist die Summe der einzelnen Massenträgheitsmomente. ϕ = Q Q + 3× Q Abbildung 1.4: Zur Additivität von Trägheitsmomenten Ring Mercedes θQ = θQ Stab + 3 · θQ 1 = m1 R2 + 3 · m2 R2 3 = ( m1 + m2 ) · R2 1.5 Impuls– und Drallsatz (Axiome der Dynamik) 1.5.1 Der Impulssatz (Newton/Euler 1750) Für den Impulssatz benötigen wir diejenigen Grössen, die für die Trägheit des Körpers verantwortlich sind. Namentlich sind dies die Masse m und das Trägheitsmoment θS bezüglich des Schwerpunktes. Satz 1.5.1 (Impuls): Der Impulssatz sagt, dass ṗ = ∑ FP i kg·m·s−2 = [N] (1.3) i wobei FPi ∈ R2 eine äussere Kraft ist, die im Punkt P angreift. 7 1. Grundlegende Konzepte Starrkörper ϕ m, θs M FP S r PS P rOS rOP O Abbildung 1.5: Kräfte und Momente auf einen Starrkörper 1.5.2 Drallsatz nach Euler (1775) Der Drallsatz setzt den Drall eines Körpers in Verbindung mit den angreifenden Kräften und Momenten. Die Dralländerung eines Körpers berechnet sich als Satz 1.5.2 (Drall): L̇O = ∑ rOP i i FPi + ∑ M j kg·m2 ·s−2 = [N·m] (1.4) j wobei M ∈ R ein äusseres freies Moment ist, dass am Körper angreift und rOP FP ∈ R die durch die Kräfte bezüglich O induzierten Momente sind. Der Impulssatz zusammen mit dem Drallsatz enthält die gesammte Newtonsche Mechanik. Mit dem im Folgenden beschriebenen Vorgehen lässt sich aus dem Impuls respektive dem Drall die auf einen Starrkörper wirkende Gesammtkraft und das Einzelmoment berechnen. 1. Impuls p und Drall L nach den Gleichungen (1.1) bzw. (1.2) berechnen. 2. Die beiden gefundenen Grössen nach der Zeit ableiten. 3. Damit den Impulssatz nach (1.3) beziehungsweise den Drallsatz nach (1.4) auswerten. Satz 1.5.3 (Impuls- und Drallsatz): Greifen keine äusseren Kräfte und/oder Momente an einem Starrkörper an, bleiben Impuls und Drall konstant. 8 23. September 2008 Beweis 1: 1.5. Impuls– und Drallsatz (Axiome der Dynamik) Der Beweis ist trivial. Man setzt FP = 0, M=0 ṗ = 0, L̇ = 0 woraus folgt, oder in Worten ausgedrückt: die Impuls- und Dralländerung verschwindet wenn keine äusseren Kräfte und Momente wirken. Dies ist die Grundannahme bei statischen Systemen. Das Ausführen des Verfahrens für den Impulssatz (1.3) und den Drallsatz (1.4) mit den allgemeinen Definitionen für Impuls (1.1) und Drall (1.2) führt auf neue Zusammenhänge. Mittels des Impulssatzes erhält man p = m · ṙOS =⇒ ṗ = m · r̈OS (1.5) Daraus folgt die Grundgleichung der Newtonschen Mechanik ṗ = m · r̈OS = FP Analog kann man den Drallsatz vereinfachen zu =⇒ (1.4) ==⇒ LO = θs ϕ̇ + m · rOS ṙOS ((( m( · ṙ( ˙ L˙O = θs ϕ̈ + m · rOS r̈OS + ( OS rOS L˙O = θs ϕ̈ + m · rOS r̈OS = rOP FP + M (1.6) Mittels der Erkentnisse aus (1.5) lässt sich dieser Term weiter vereinfachen zu θs ϕ̈ + rOS FP = rOP FP + M θs ϕ̈ = (rOP − rOS ) FP + M =⇒ θs ϕ̈ = rSP FP + M (1.7) Dies nennt man den Spinsatz. Dieser wird in der Literatur oft als “Drallsatz für Schwerpunkt” bezeichnet, obwohl θS ϕ̈ die Ableitung des Spins (θS ϕ̇) ist, und nicht des Dralls. Ebenfalls wird in der Literatur oft θs ϕ̇ mit Ls abgekürzt und als “Drall für den Schwerpunkt” bezeichnet, was unsauber und falsch ist! S ist im allgemeinen bewegt und somit kann LS kein Drall sein. Wir verwenden bei Berechnungen immer die beiden Gleichungspaare (1.5) und (1.6) oder (1.5) und (1.7). m · r̈OS = FP θS ϕ̈ = rSP FP + M 9 1. Grundlegende Konzepte Dies ermöglicht uns zwei Arten von Berechnungen. Man kann entweder die Beschleunigung aus den Kräften bestimmen oder die Kräfte aus der Beschleunigung, da die Beziehung eine direkte Proportionalität zwischen dem resultierenden Kraftvektor und der Beschleunigung angibt. Die Abbildung ist somit — im Gegensatz zu beispielsweise dem Differential — vollständig invertierbar. Satz 1.5.4: Wenn keine äusseren Kräfte und/oder Momente an einem Starrkörper angreifen, bleiben die Massenmittelpunksgeschwindigkeit ṙOS und die Winkelgeschwindigkeit ϕ̇ konstant. Dies gilt allgemein nicht für räumliche Dynamik. 1.6 Kraftgesetze äusserer Kräfte Dislokative Grössen Element translatorisch rotatorisch Lineare Feder Federlänge z Auslenkungswinkel ϕ Art: konservativ Entspannte Federlänge z0 Federkonstante c [N ·m−1 ] Entspannter Auslenkungswinkel ϕ0 Federkonstante c [N·m·rad−1 ] Federkraft F Federmoment M F = c · ( z − z0 ) M = c · ( ϕ − ϕ0 ) Linearer Dämpfer Länge z(t) Winkel ϕ(t) Art: dissipativ Dämpfungskonst. d [N·s·m−1 ] Dämpfungskonst. d [N·m·s·rad·1 ] Dämpferkraft F Dämpfermoment M F = d · ż M = d · ϕ̇ Ideale Bindung Länge z, konstant Winkel ϕ, konstant Art: starr Reaktionskraft F beliebig Reaktionsmoment M beliebig Typ: Stange ż = z̈ = 0 ϕ̇ = ϕ̈ = 0 Tabelle 1.2: Standardkraftelemente, siehe hierzu Abbildungen 1.6 und 1.7 Die Kraftgesetze bei starren Mehrkörpersystemen entsprechen den bereits aus Mechanik II bekannten Soffgesetze der Kontinuumsmechanik. Weiterhin verbinden Kräfte und kinematische Grössen. Für Feder-Dämpfer-Systeme sind die Kräfte in Abhängigkeit von Lagen und Ge10 23. September 2008 1.7. Energie c F F d F F F F z0 z z (a) Feder z (b) Dämpfer (c) Ideale Bindung Abbildung 1.6: Translatorische Kraftelemente M ϕ d ϕ0 ϕ M M c M M (a) Feder (b) Dämpfer ϕ M (c) Ideale Bindung Abbildung 1.7: Rotatorische Kraftelemente schwindigkeiten bestimmbar. Stangen führen auf überzählige Koordinaten im Impuls- und Drallsatz. Unbekannte Stangenkräfte können eliminiert werden. Eine weitere wichtige Kraft in dynamischen Systemen ist die Gewichtskraft, induziert durch die Erdbeschleunigung g ≈ 9.81 m·s−2 . Weiterhin werden zur Modellierung von dynamischen Systemen häufig zeitlich vorgegebene Kraft- und Momenteverläufe F (t), M(t) verwendet. 1.7 Energie Die kinetische Energie eines Starrkörpers im ebenen Fall ist gegeben als T= 1 1 m · hṙOS , ṙOS i + θS ϕ̇2 2 2 [N·m] = [J] Rotationsanteil z }| { 1 1 = m · ( ẋ2 + ẏ2 ) + θS ϕ̇2 |2 {z } 2 Translationsanteil 11 1. Grundlegende Konzepte Die potentielle Energie einer Feder berechnet sich als V= 1 c · ( z − z0 )2 2 V= 1 c · ( ϕ − ϕ0 )2 2 (1.8) Wobei sich z − z0 und ϕ − ϕ0 die jeweiligen Auslenkungen aus der entspannten Lage sind. Weiterhin definieren wir das Lagepotential oder potentielle Energie eines Körpers im Gravitationsfeld als V = mgz (1.9) m g S z zS G = m·g Abbildung 1.8: Körper im Gravitationsfeld Bemerkung 1.7.1 (Additivität von Energien): tentiale sind additiv. Es gilt Kinetische Energien und Po- n Tges = ∑ Ti bei n Körpern ∑ Vi bei n Einzelpotentialen i =1 m Vges = i =1 Dies gilt auch für Energien, die nicht den gleichen Typ haben. Die Gesammtenergie eines Systems errechnet sich wie allgemein bekannt aus der Summe der Teilenergien des Systems. Definition 1.7.1 (Konservative Kraftsysteme): Ein autonomes (nicht explizit zeitabhängiges) System aus Starrkörpern heisst konservativ, falls alle an den einzelnen Starrkörpern angreifenden äusseren Kräfte Potentialkräfte sind. Eine Kraft ist konservativ, wenn ein Potential Φ existiert, so dass gilt F = −∇Φ Eine weitere Konsequenz ist, dass die Energie eines konservativen Systems konstant sein muss. 12 23. September 2008 1.8. Nützliches Anmerkung 1.7.1: Kräfte aus idealen Bindungen (Typ Stange) sind konservativ und es lässt sich ein zugehöriges Potential angeben. Dies wird aber in dieser Vorlesung nicht behandelt, sondern ist einer späteren Vorlesung vorbehalten. Satz 1.7.1: Für konservative Systeme gilt Energieerhaltung in der Form Tges + Vges = const. (1.10) oder anders formuliert: Seien t1 , t2 beliebige Zeitpunkte des betrachteten Systems, so gilt ( Tges + Vges )t = ( Tges + Vges )t 2 1 Bemerkung 1.7.2: In konservativen Systemen dürfen keine dissipativen Elemente wie Dämpfer und keine externe Kraftanregungen F (t), M(t) vorkommen. Dissipative Elemente führen mechanische Energie aus dem System in thermische Energie um, die im Sinne der Dynamik verloren ist. Analog bringen externe Kräfte und Momente zusätzliche Energie in das System ein. 1.8 Nützliches Für Haftreibung muss eine Bindung vom Typ Stange angenommen werden, d.h eine Sperrung der Koordinaten. Gleitreibung hingegen ist dissipativ, verhält sich also ähnlich wie ein Dämpfer. Rollen ohne Schlupf (Gleiten) ist vom Typ Stange, da die Rotation die komplette Translation bewirkt und keine Oberflächenreibungseffekte auftreten. Speziell anzumerken ist hier die sogenannte Rollbedingung ẏ = R ϕ̇ was über einmalige Integration auf y = Rϕ + C =⇒ z := y − Rϕ = const führt. Daran sieht man, dass Rollen konservativ ist. 1.9 Anmerkungen Man stellt fest, dass das Aufstellen der Bewegungsgleichungen nach diesem Kapitel 13 1. Grundlegende Konzepte ϕ y R Abbildung 1.9: Koordinaten beim Rollen eines Zylinders • langweilig • fehleranfällig • unsystematisch, da Strukturen kaputtgehen können • aber richtig ist. Man findet über Vereinfachungen elegantere Verfahren wie das Prinzip der virtuellen Arbeit, das in der technischen Dynamik und vor allem in Fächern des Masterstudiums verwendet wird. 14 Kapitel 2 Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad Als Begleitliteratur zu diesem Kapitel wird einerseits das relativ einfach gehaltene Werk zur Dynamik von Hagedorn [2] oder das sehr fundierte Werk über Schwingungslehre von Jens Wittenburg [3] empfohlen. Es werden in diesem Kapitel keine Beispiele vorgerechnet, da dieses Thema in diversen Vorlesungen ausführlich behandelt wird. 2.1 Grundproblem e(t) c d y(t) c d m y(t) m F (a) Krafterregung (b) Wegerregung Abbildung 2.1: Gedämpftes Federsystem im Gravitationsfeld 15 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad Stellt man die Bewegungsgleichung für ein einfaches Feder-Dämpfer-System in einem Potentialfeld — wie es in Abbildung 2.1 zu sehen ist — auf, erhält man die lineare Differentialgleichung mÿ + dẏ + cy = F (t) (2.1) für den Fall, dass eine Kraftanregung F (t) herrscht und mÿ + dẏ + cy = −më(t) falls eine Weganregung herrscht. Diese beiden Gleichungen lassen sich über die Substitution F := −më ineinander überführen. 2.2 Lineare gewöhnliche Differentialgleichungen 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten Wir führen hier die sogennante Zustandsform ein. Wir substituieren in der Bewegungsgleichung z(t) := ẏ(t) und betrachten diese als unabhängige Variable. Setzen wir dies in die ursprüngliche Differentialgleichung (2.1) ein erhalten wir die Differentialgleichung mż + dz + cy = F (t) welche in Matrixform geschrieben " # ẏ ż " = 0 1 − mc − md #" # y " + z 0 # F (t) m oder als Symbolische Matrixgleichung ẋ = A · x + b ∈ R2 lautet. Dies beschreibt den mechanischen Zustand des Systems als Vektor (y, z)T , eine Darstellung der Auslenkung und der Geschwindigkeit in Abhängigkeit der Zeit. Es ist selbstverständlich, dass dies nur bei eindimensionalen Auslenkungen gut graphisch darstellbar ist. 16 1. Oktober 2008 2.2.1 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten Darstellungsformen Es sind in der Praxis verschiedene Formen der gefundenen Differentialgleichung gebräuchlich, welche im Folgenden hergeleitet werden. Durch Teilen mit m erhalten wir aus der ursprünglichen Gleichung (2.1) ÿ + und substituieren F (t) dẏ cy + = m m m d δ := 2m r und ω0 = c m Hierbei bezeichnen wir δ [s−1 ] als den Dämpfungswert und ω0 [s−1 ] als die Eigenfrequenz oder Eigenkreisfrequenz des ungedämpften Systems. Damit erhalten wir die neue Form ÿ + 2δẏ + ω02 y = F (t) m Um diese Differentialgleichung dimensionslos zu machen, führen wir einen alternativen Zeitraum ein, in dem τ ( t ) = ω0 t und finden durch einsetzen die neue Differentialgleichung 1 τ 2 00 0 2 ω0 y + 2δω0 y + ω0 y = F m ω0 welche sich weiter vereinfachen lässt. Dafür teilen wir durch ω02 und führen die sogenannte Lehr’sche Dämpfung D [−], gegeben durch r δ 1 1 D := = d ω0 2 mc sowie die normierte Erregerfunktion f (τ ) [−], definiert als 1 τ f (τ ) := F 2 ω0 mω0 ein. Wenden wir dies alles auf die Gleichung an, erhalten wir die Form y00 + 2Dy0 + y = f (τ ) 17 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad 2.2.2 Allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung Um die allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung (2.1) zu finden, genügt es, die allgemeine Lösung yh (t) der homogenen Gleichung mÿ + dẏ + cy = 0 (2.2) zu finden, sowie auch eine spezielle Lösung ys (t) der inhomogenen Gleichung. Die Lösung der inhomogenen Differentialgleichung ist dann gegeben als y(t) = y H (t) + ys (t) Diese gefundene Lösung kann dann weiter spezifiziert werden, zum Beispiel unter Kentniss der Anfangsbedingungen für einen Zustand. Es genügt beispielsweise, den Ort und die Geschwindigkeit zu einem gegebenen Punkt zu kennen. 2.2.3 Diskussion der homogenen Differentialgleichung Wir betrachten im Weiteren die Bewegungsgleichung eines freien gedämpften Schwingsystems mÿ H + dẏ H + cy H = 0 welche wir mittels Exponentialansatzes y H (t) = eλt ẏ H (t) = λeλt ÿ H (t) = λ2 eλt lösen. Über Einsetzen in die Differentialgleichung (2.2) erhalten wir die Gleichung mλ2 + dλ + c = 0 Daraus lassen sich die Eigenwerte — desweiteren als EW abgekürtzt — λi berechnen. p 1 λ1,2 = −d ± d2 − 4mc 2m Die Lösung der Homogenen erhält man dann durch Superposition oder genauer durch Linearkombination der gefundenen Fundamentallösungen. y H = A 1 eλ1 t + A 2 eλ2 t wobei A1 , A2 noch zu bestimmende Konstanten sind. Diese werden im Normalfall über die Randbedingungen festgelegt. 18 1. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten Es werden im Folgenden die Eigenwerte etwas genauer diskutiert. Die in Abschnitt 2.2.1 eingeführten Formen haben eigene Eigenwerte. Diese sind p 1 λ1,2 = −d ± d2 − 4mc 2m s d 2 m d − =− ± 2m 2m c q λ1,2 = −δ ± δ2 − ω02 s 2 δ δ = ω0 − − 1 ± ω0 ω0 p λ1,2 = ω0 − D ± D2 − 1 Wir können im folgenden vier Fälle unterscheiden. Die ungedämpfte Schwingung Man erhält die ungedämfte Schwingung falls D = 0, dem Fall, dass absolut keine Dämpfungseffekte auf das System wirken und die komplette Energie erhalten bleibt. Die rein komplexen Eigenwerte folgen dann als λ1,2 = ±iω0 welche strukturinstabil bezüglich D sind. Einsetzen dieser Eigenwerte in den Ansatz ergibt die komplexe Lösung y H = A1 eiω0 t + A2 e−iω0 t was mit der Substitution A1 = 12 ( B1 − iB2 ) und A2 = 21 ( B1 + iB2 ) i 1 = B1 eiω0 t + e−iω0 t − B2 eiω0 t − e−iω0 t 2 2 = B1 cos(ω0 t) + B2 sin(ω0 t) eine strikt reelle Lösung ergibt. Elementare trigonometrische Umformungen erlauben uns weiterhin diese Funktion zu y H = A sin(ω0 t + ϕ) ẏ H = ω0 A cos(ω0 t + ϕ) zusammenzufassen. Dies verdeutlicht eine physikalischere Form der Lösung. Erkennbar in diesem Ergebnis ist, dass die Schwingung eine periodische Funktion 19 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad y_H !0 yH A yH t T0 Abbildung 2.2: Phasenraumdarstellung der ungedämpften Schwingung mit strikt konstanter Amplitude ist, die ausserdem um eine konstante Phasenverschiebung ϕ ausgelenkt sein kann. Es werden im folgenden einige Abkürzungen und Begriffe eingeführt. Man definiert die Frequenz ω0 f 0 := [s−1 ] = [Hz] 2π und die Periode 2π 1 = [s] T0 := f0 ω0 und es gilt, wie man leicht zeigen kann, Periodizität y H (t + T0 ) = y H (t) (2.3) Die unterkritisch gedämpfte Schwingung Notation 2: Seien a, b ∈ R, dann gilt die sogenannte Intervallnotation. Man definiert darauf das offene Intervall x ∈ ( a, b) ≡ a<x<b ≡ a≤x≤b sowie das abgeschlossene Intervall x ∈ [ a, b] Herrscht in einem System die Lehr’sche Dämpfung D ∈ (0, 1), so verliert das System abhängig von der noch vorhandenen Bewegung Energie. Man erhält in diesem Fall die konjugiert komplexen Eigenwerte λ1,2 = −δ ± iω 20 1. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten wobei zu beachten ist, dass ω 6= ω0 . Dieses neue ω wird Pseudokreisfrequenz genannt und es gilt ω 2 := ω02 − δ2 = ω02 (1 − D2 ) ω ∈ (0, ω0 ) Analog zu diesen Grössen lässt sich die Pseudofrequenz f := ω 2π sowie die Pseudoperiode T := 1 2π = f ω T ∈ ( T0 , +∞) definieren. Einsetzen der gefundenen Eigenwerte ergibt y H (t) = A1 e(−δ+iω )t + A2 e(−δ−iω )t = e−δt A1 eiωt + A2 e−iωt y H (t) = Ae−δt cos(ωt + ϕ) y_H !0 yH Ae{±t yk+1 yk T t yH Abbildung 2.3: Phasenraumdarstellung der unterkritisch gedämpften Schwingung Bemerkung 2.2.1: Die Bezeichnung Pseudoperiode kommt daher, dass die Beziehung (2.3) in diesem Fall nicht gilt, will heissen y H (t) ist nicht periodisch. 21 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad Man findet aber y H (t) e−δt Ae−δt cos(ωt + ϕ) = = = eδT = const. y H (t + T ) e−δt e−δT Ae−δ(t+T ) cos(ω (t + T ) + ϕ) was uns auf das sogenannte Logarithmische Dekrement Λ führt. Definition 2.2.1 (Logarthmisches Dekrement): Man definiert δ y H (t) 2π = 2π Λ := ln = δT = δ y H (t + T ) ω ω r r ω0 2 1 − 1 = 2π −1 = 2π ω 1 − D2 s D2 Λ = 2π 1 − D2 Das logarithmische Dekrement erlaubt es uns einfach, die Lehr’sche Dämpfung D zu bestimmen, indem man in einem Ausschwingversuch zwei aufeinanderfolgende Maxima sucht, den Quotient aus diesen bildet und logarithmiert. Die Konstante D berechnet sich dann als s Λ2 D= 2 Λ + 4π 2 Die kritische Dämpfung oder der aperiodische Grenzfall Falls D = 1, ergibt sich ein Sonderfall, der, wie sich herausstellen wird, gar eine Schwingung ist und daher als aperiodisch bezeichnet wird. Wenn man die Eigenwerte für D = 1 berechnet, stellt man fest, dass sich der doppelte Eigenwert λ1,2 = −δ (2.4) ergibt. Eine erste Lösung lässt sich daraus direkt als e−δt ablesen, benötigt für die allgemeine Lösung aber noch eine weitere Lösung. Aus den Hauptvektoren, die später noch genauer behandelt werden, erhalten wir den Ansatz y H = teλt 22 ẏ H = λteλt + eλt ÿ H = λ2 teλt + 2λeλt 1. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten Beweis 2: Um zu zeigen, dass wir den Ansatz verwenden dürfen, sei e−bx/2 eine Lösung der homogenen Differentialgleichung y00 + by0 + cy = 0 wonach dann nach Gleichung (2.4) b2 − 4c = 0 (2.5) gelten muss. Wir wollen die allgemeine Lösung der Differentialgleichung finden, was durch den Fakt, dass wir bereits eine spezielle Lösung kennen, massiv vereinfacht wird. Wir setzen bx y ( t ) = e− 2 · u ( t ) in die Gleichung ein. Dies bedeutet: wir suchen eine Funktion u( x ), die multipliziert mit unserem Ansatz die Differentialgleichung löst. Man rechnet 1 b y00 + by0 + cy = − e− 2 x −4u00 (t) − 4cu(t) + b2 u(t) = 0 4 wobei u(t) die zu bestimmende Funktion der neuen Differentialgleichung ist. Da die Beziehung (2.5) gilt, vereinfacht sich die gefundene Differentialgleichung zu −4u00 (b2 − 4c) · u = 0 =⇒ u00 = 0 was durch zweimalige integration zu u(t) = C1 t + C2 wird. Daher ist gezeigt dass bx (C1 t + C2 )e− 2 die allgemeine Lösung ist. Durch Superposition erhält man hier y H (t) = A1 e−δt + A2 te−δt ẏ H (t) −δ A2 −δt δ = A1 e−δt + e − A2 te−δt ω0 ω0 ω0 ω0 was sich vektoriell schreibt als " # "" # " # # yH 0 1 = A2 + ( A1 + tA2 ) e−δt ẏ H 1 δ − ω0 w0 ω0 23 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad ẏ(t)/ω0 y(t) y(t) t A2 = 0 (a) Zeitverlauf (b) Phasenraum Abbildung 2.4: Darstellungen des aperiodischen Grenzfalls woran man erkennt, dass hier keine Schwingungen herrscht, sondern die Funktionswerte asymptotisch gegen 0 konvergieren. Die Phasenraumdarstellung 2.4b illustiert das Verhalten des aperiodischen Grenzfalls für eine Auswahl an Anfangsbedingungen besser. Die dick eingezeichnete Phasenkurve gehört zum Zeitverlauf 2.4a. Klar erkennbar ist, dass die Kurve sich am Anfang schnell gegen die Ruhelage hinbewegt, aber so stark gedämpft wird, dass sie mit zunehmender Annäherung an die Nulllage immer langsamer wird. Theoretisch erreicht sie die Ruhelage nie, für die technische Anwendung ist sie aber näherungsweise sehr schnell erreicht und kann ab einer bestimmten Zeit als ruhig angesehen werden. Einen Fall von Interesse verdeutlicht die dünn gepunktete Linie. Diese veranschaulicht eine Schwingung, bei der die Masse bei einer kleinen Auslenkung mit einer vergleichsweise hohen Geschwindigkeit gegen die Nulllage losgelassen wird. Dabei reicht die Energie der Masse aus, diese über die Ruhelage hinaus zu bewegen, bevor sie sich anschliessend asymptotisch der Nullauslenkung annähert. Es ist also durchaus möglich, dass die Masse bei geeigneten Anfangsbedingungen die Ruhelage einmal überschreitet. Die überkritische Dämpfung Dieser Fall tritt ein, wenn D > 1 und ähnelt sehr der unterkritischen Dämpfung, nur dass die Eigenwerte hier strikt reell sind. Es findet sich λ1,2 = −δ ± ψ wobei ψ2 := δ2 − ω02 = ω02 ( D2 − 1) 24 0<ψ<δ 7. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten In der Standardform aufgeschrieben ist die Lösung λ Man spricht von starker Dämpfung sobald D > 0.3 und von überkritischer Dämpfung bei D > 1. Für D = 1 erhält man genau die kritische Dämpfung. λ z }|1 { z }|2 { y H (t) = A1 e(−δ + ψ) ·t + A2 e(−δ − ψ) ·t = e−δt A1 eψt + A2 e−ψt was sich über die Substitutionen A1 = 12 ( B1 + B2 ) und A2 = 21 ( B1 − B2 ) vereinfacht zu = e−δt 1 1 B1 eψt + e−ψt + B2 eψt − e−ψt 2 2 y H (t) = e−δt ( B1 cosh ψt + B2 sinh ψt) y_H !0 yH yH t Abbildung 2.5: Phasenraumdarstellung der stark gedämpften Schwingung (D=0.5). Die Phasenkurven erhält man aus " yH # " = ẏ H " =⇒ yH ẏ H ω0 1 # " A 1 eλ1 t + λ1 # " = | # A 2 eλ2 t λ2 # 1 − ωδ0 1 + ψ ω0 {z " A1 e(−δ+ψ)t + geht langsamer gegen Null } − ωδ0 | # 1 − ψ ω0 {z A2 e(−δ−ψ)t geht schneller gegen Null } 25 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad A1=0 y_H !0 yH A2=0 1 yH t {± !0 à !0 à !0 Abbildung 2.6: Phasenraumdarstellung der überkritisch gedämpften Schwingung Grenzfall Wir betrachten hier einen Spezialfall der überkritischen gedämpften Schwingung bei der D → +∞ geht. Wie schon in den vorherigen Abschnitten gesehen, gilt für Schwinungen p δ ψ D →∞ =0 = D2 − 1 ψ −−−→ δ ω0 ω0 und die aufgestellte Phasenkurve wird zu " # " # " # yH 1 1 ≈ A1 e−εt + A2 e−2δt ẏ H 0 −2D ω0 wobei D→∞ δ→∞ ε&0 Bemerkung 2.2.2: Kurven, von denen man die Eigenwerte eines Schwingungssystems in Abhängigkeit eines beliebigen Parameters ablesen kann, nennt man in der Regelungstechnik Wurzelortskurven. Dieses Thema wird weiterhin in Kapitel 11 (Verlauf der Eigenwerte) und Kapitel 12 (Vergleich der Einschwingverhalten) behandelt. 2.2.4 Lösung der inhomogenen Gleichung Zur Lösung der inhomogenen Differentialgleichung unter Kentnis der homogenen Lösung existiert eine Vielfalt von Lösungsverfahren wie 26 7. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten y_H !0 A1=0 yH A2=0 t yH extrem langsame Kriechbewegung extrem schnelle Bewegung (Sprung in Geschwindigkeit) 2 Zeitskalen! Abbildung 2.7: Phasenraumdarstellung Grenzfalls von unendlicher Lehr’scher Dämpfung =λ D=0 D→∞ D→∞ <λ D=1 ω ω0 δ D = 0 grenzstabil (<λ = 0) D > 0 asymptotisch stabil (<λ < 0) D=0 Abbildung 2.8: Die Eigenwerte des Schwingsystems als Funktion der Dämpfung. yH D!1 D>1 D=1 0<D<1 t D=0 Abbildung 2.9: Ausgewählte Zeitkurven für verschiedene Dämpfungen nach Abbildung 2.8. 27 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad • Ansatz vom Typ der rechten Seite • Variation der Konstanten • Integrating Factor Methode wovon in dieser Vorlesung nur die erste Variante diskutiert wird. Für die in 2.1 auf Seite 16 eingeführte Anregungsfunktion existieren in der Technik auch verschiedene gebräuchliche Varianten wie • Impulsfunktion oder Sprungfunktion in der Regelungstechnik • oder die harmonische oder periodische Anregung, die hier im Folgenden behandelt werden wird. Satz 2.2.1 (Superposition): Funktionen Fi (t) Sei die Störfunktion F (t) eine Summe von i F (t) = ∑ αi · Fi (t) i und sei y pi eine partikuläre Lösung zur Differentialgleichung mit Erregerfunktion Fi (t), dann ist die Überlagerung aller dieser Partikulärlösungen y p (t) = ∑ αi · y p ( t ) i i die partikuläre Lösung zur Differentialgleichung mit Störfunktion F (t). Harmonische Anregung (Erzwungene Schwingung) Vorbemerkungen: Seien α, β ∈ R und z, v ∈ C, so gilt Linearität <(αz + βv) = α · <z + β · <v Sei a, b ∈ R und z = a + bi = r · eiψ dann herschen die Beziehungen r= p a2 + b2 , tan ψ = b a Die Problemstellung der harmonischen Anregung ist für eine gegebene, konstante Erregeramplitude F̂ und Erregerfrequenz Ω eine Funktion y p (t) zu finden, so dass gilt mÿ p + dẏ p + cy p = F̂ cos Ωt ∀t (2.6) 28 7. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten was äquivalent ist zu y00p + 2Dy0p + y p = F̂ Ω cos τ 2 ω0 mω0 y00p + 2Dy0p + y p = fˆ cos ητ, η= F̂ Ω ˆ , f = ω0 mω02 (2.7) Aus diesen Überlegungen findet man den Ansatz y p (τ ) := ŷ · cos(ητ − ϕ) = ŷ · <ei(nτ − ϕ) = < ŷ · ei(ητ − ϕ) (2.8) bei dem die Parameter ŷ und ϕ noch zu bestimmen sind. Bemerkung 2.2.3: Dieser Ansatz funktioniert nicht im Resonanzfall, wenn d = 0 und Ω = ω0 , da dann sogenannte zeitbeschwerte Terme auftreten. Siehe hierzu später. Wenn man den Ansatz (2.8) in die Differentialgleichung (2.7) einsetzt, ergibt sich h i h i < ŷ −η 2 + 2Diη + 1 ei(ητ − ϕ) = < fˆeiητ # ! " ŷ 1 − η 2 + 2Diη e−iϕ − 1 fˆeiητ = 0 =⇒ < fˆ was zu reiψ wird mit r = " =⇒ < q (1 − η 2 )2 + 4D2 η 2 und tan ψ = ŷ i·(ψ− ϕ) re −1 fˆ ! 2Dη 1− η 2 # fˆ · eiητ = 0 ∀τ fˆ Wobei wir ϕ = ψ und ŷ = r wählen. So erhalten wir als Ergebnis die Vergrösserungsfunktion ŷ 1 =: V (η, D ) =p 2 ˆf (1 − η )2 + 4D2 η 2 und den Phasengang arctan 2Dη 1 − η2 = ϕ(η, D ) Damit lautet die partikuläre Lösung mit den Abkürzungen τ = ω0 t η= Ω ω0 fˆ = F̂ mω02 29 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad eingesetzt in den ursprünglichen Ansatz y p (t) = ŷ cos(Ωt − ϕ) y p (t) = Bemerkung 2.2.4: F̂ V (η, D ) · cos (Ωt − ϕ(η, D )) mω02 (2.9) Man beachte dass V (η = 0, D ) = 1 V (η → ∞, D ) = 0 ϕ(η = 0, D ) = 0 ϕ(η → ∞, D ) = π π ϕ(η = 1, D 6= 0) = 2 Ausserdem gilt V (η → 1, D = 0) → ∞ und es entsteht ein Phasensprung bei ϕ(η = 1, D = 0). Man stellt auch fest, dass im Resonanzfall die Amplitude unendlich gross wird. Daran sieht man auch, dass der Ansatz für diesen Fall nicht gültig ist. Anmerkungen: In der Regelungstechnik ist normalerweise das Ausgangsverhalten in Abhängigkeit des Eingangsverhaltens gesucht. Dafür legt man am besten zuerst die Eingänge und Ausgänge fest, modifiziert gegebenenfalls den Amplitudengang. Eingang Ausgang Krafterregung F (t) y(t) Wegerregung e(t) y(t) oder y(t) + e(t) Tabelle 2.1: Übliche Wahl für Systemein- und Ausgänge in der Regelungstechnik Für ein normal gedämpftes System mit D > 0 ist das System asymptotisch stabil, was bedeutet, dass < λi < 0 gilt. Dabei klingt für grosse Zeiten t der homogene Teil der Schwingung ab und es bleibt nur die inhomogene Teillösung: y(t) ≈ y p (t) ∀t 1 Für das ungedämpfte System klingt der homogene Teil nicht ab und die Schwingung ist für alle t die Überlagerung der Teilschwingungen. 30 8. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten V D=0 3 0.15 0.2 2 0.3 0.5 p 0.5 1 1 2 ´ 1 ' D=0 ¼ 0.2 0.3 0.15 0.5 ¼/2 1 p 0.5 1 2 ´ Abbildung 2.10: V (η, D ) und ϕ(η, D )-Kurven, welche Amplitude und Phase in Funktion der Schwingsystemparameter illustrieren. 31 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad y(t) t Abbildung 2.11: Abklingen des homogenen Teils der Bewegungskurve Wir betrachten den Fall, dass kei- Beispiel 2.2.1 (Harmonische Anregung): ne kritische Erregung herrscht, somit η= Ω 6= 1 ω0 gilt und berechnen die Gleichung (2.9) für dem Spezialfall der harmonischen Schwingung, beschrieben durch die Differentialgleichung (2.6): y(t) = y H (t) + y P (t) Ω Ω F̂ , 0 · cos Ωt − ϕ ,0 ·V = B1 cos(ω0 t) + B2 sin(ω0 t) + ω0 ω0 mω02 2 B1 cos(ω0 t) + B2 sin(ω0 t) + F̂ 2 · 2ω0 2 · cos (Ωt) ωΩ < 1 0 m ω0 | ω0 − Ω | = 2 ω B1 cos(ω0 t) + B2 sin(ω0 t) − F̂ 2 · ω2 −0Ω2 · cos (Ωt) ωΩ0 > 1 m ω0 | 0 | y(t) = B1 cos(ω0 t) + B2 sin(ω0 t) + F̂/m ω02 − Ω2 · cos(Ωt) und verwenden als Anfangsbedingungen zu y ( t = 0) = 0 ⇒ B1 = − ẏ(t = 0) = 0 ⇒ B2 = 0 F̂/m ω02 − Ω2 und die Schwingung resultiert zu y(t) = − F̂/m ω02 − Ω2 (cos(ω0 t) − cos(Ωt)) beziehungsweise, unter Verwendung der Additionstheoreme für trigonometrische Funktionen y(t) = 32 2F̂/m · sin − Ω2 ω02 1 2 ( ω0 − Ω) · t sin 1 2 ( ω0 + Ω) · t 8. Oktober 2008 2.2. Lineare DGL 2. Ordnung mit konstanten Koeffizienten y(t) t Abbildung 2.12: Schwebung als Folge der Überlagerung zweier sehr ähnlicher Schwingungen Ist jetzt ω0 ≈ Ω, herrscht also Resonanznähe, dann überlagert sich die Schwingung zu einer sogennanten Schwebung. Dieses Phänomen ist vor allem aus der Musik bekannt. Wenn sich zwei Töne mit sehr ähnlicher Frequenz überlagern, ist ein pulsierendes An- und Abschwellen der Tonlautstärke hörbar. Die Schwebungsperiode Tz berechnet sich dann als Tz = 2π | Ω − ω0 | Wir betrachten im folgenden den Grenzfall, dass Ω → ω0 Tz → ∞ und nähern das Verhalten der Kurve im Urpsrung durch eine Taylorreihe an. Die Betrachtungen gelten also nur für kleine t. Linearisieren der Sinusterme ergibt 1 ( ω0 − Ω ) · t 2 sin( 21 (ω0 + Ω) · t) → sin(ω0 t) sin( 12 (ω0 − Ω) · t) → womit die Gleichung geschrieben wird als y(t) = Ω→ω 1 · (ω0 − Ω) · t sin(ω0 t) 2 · t · sin(ω0 t) ω0 + Ω F̂ y(t) = · t · sin(ω0 t) 2mω0 = 0 ====⇒ 2F̂/m 2 ω0 − Ω 2 F̂/m und sehen daran dass in der Nähe des Nullpunktes die Amplitude linear ansteigt. 33 2. Lineare Schwingungen mit einem Freiheitsgrad y(t) t Abbildung 2.13: Grenzeinschwingverhalten in der Nähe des Ursprungs 34 Kapitel 3 Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden Literatur: Detaillierte weiterführende Literatur zu mehrdimensionalen Schwingungen ist in Wittenburg [3] zu finden. 3.1 Vorbemerkungen Da Schwingungen in mehreren Freiheitsgraden immer auch mehrdimensionale Schwingungen sind, benötigt dieses Kapitel Methoden und Ergebnise aus der Linearen Algebra. Vor allem werden immer wieder die in Tabelle 3.1 aufgeführten Speziellen Matrizen verwendet, die viele Berechnungen vereinfachen. Eigenschaft Mathematische Bedingung Eigenwerte symmetrisch A = AT Immer reell schiefsymmetrisch A = − AT Rein imaginär postiv definit xT Ax positiv semidefinit xT Ax ≥ 0 >0 ∀ x 6= 0 Immer positiv ∀x Positiv oder Null Tabelle 3.1: Häufig verwendete Matrixeigenschaften 35 3. Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden 3.2 Struktur linearer Differentialgleichungen der Dynamik Aus der Linearisierung eines Systems mit f Freiheitsgraden um einen Gleichgewichtspunkt erhält man ein System linearer Differentialgleichungen zweiter Ordnung der Form M ÿ + Bẏ + Cy = f (t) wobei M, B und C oft konstant sind, wovon im Weiteren immer ausgegangen wird. In diesem System bezeichnet y(t) ∈ R f den gesuchten Zeitverlauf der Auslenkung y aus der Gleichgewichtslage, f (t) ∈ R f die gegebene zeitliche Erregerfunktion und M, B, F ∈ R f × f reelle konstante Matrizen. Genauer ist M = M T die positiv definite, nicht singuläre, also invertierbare Massenmatrix. Weiterhin definieren wir die Dämpfungsmatrix D = DT := 1 ( B + BT ) 2 wie auch die Gyro-Matrix G = − GT := 1 ( B − BT ) 2 die die Coriolisterme enthält, die Steifigkeitsmatrix für Federn oder zentrifugale Systeme 1 K = K T := (C + C T ) 2 und schliesslich die Matrix der zirkulierenden Kräfte N = − N T := 1 (C − C T ) 2 Diese Anordnung führt uns auf das in der Technik verbreitete M-D-G-K-N-System, dass sich Symbolisch schreibt als M ÿ + ( D + G )ẏ + (K + N )y = f (t) und man findet die Zustandsraumdarstellung " # " # " # " # d y 0 I y 0 = · + dt ẏ − M −1 ( K + N ) − M −1 ( D + G ) ẏ M −1 f ( t ) 36 14. Oktober 2008 3.3 3.3. Theorie zweiter und erster Ordnung Theorie zweiter und erster Ordnung Es werden hier nur Systeme behandelt, die ohne Hauptvektoren höher als erste Stufe auskommen. System 2. Ordnung System 1. Ordnung Zusammenhang/Anmerkungen Ausgangspunkt M ÿ + Bẏ + Cy = f (t) y∈ x = (yT , ẏT )T ẋ = Ax + b(t) Rf x∈ R2 f b(t) = (0, M −1 f (t) Homogene Lösung Ansatz: y = ueλt Ansatz: x = veλt ( Mλ2 + Bλ + C ) · u · eλt = 0 ( A − λI) · v · eλt = 0 x = (yT , ẏT )T = (uT , λuT )T eλt Eigenvektor v Eigenwert λ Pseudoeigenvektor u n Eigenwerte und charakteristisches Polynom det( Mλ2 + Bλ + C ) = 0 det( A − λI) = 0 Gleiche Eigenwerte Pn (λ) = λn + an−1 · λn−1 + · · · + c0 Pn (λ) = λn + an−1 · λn−1 + · · · + c0 Gleiches char. Polynom Eigenvektoren zu bekanntem λi ( Mλ2i + Bλi + C )uk = 0 ( A − λi I) · vk = 0 uk nicht zwingend lin. unabhängig vk immer lin. unabhängig T T vk = (uT k , λk · u ) Lösungsbasis yk = uk · eλk t xk = vk · eλk t Homogene Lösung yh (t) = c1 y1 + · · · + cn yn x h ( t ) = c1 x 1 + · · · + c n x n nach d. Superpositionsprinzip Partikuläre Lösung y p (t) x p (t) = y p (t)T , ẏ p (t)T x p (t) T Allgemeine Lösung und Anfangswertprobleme n ẏ = n ∑ ci ẏi (t) + ẏp (t) ẋ = i =1 ∑ ci ẋi (t) + ẋ p (t) T ẋ0 = (y0T , zT 0) i =1 ci bestimmt durch y0 und z0 ci bestimmt durch x0 Tabelle 3.2: Übersichtstabelle zu mechanischen Systemen Anmerkung 3.3.1 (zu Tabelle 3.2): vektoren vi der Matrizen A in Es ist Vorsicht geboten, da die Eigen- ẋ = Ax + b 37 3. Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden für gewöhnlich senkrecht aufeinander stehen, d.h vi · vj = 0 ∀ j 6= i solange die Matrix A symmetrisch ist. Jedoch ist A für mechanische Systeme in der Regel nicht symmetrisch. Definition 3.3.1 (Hauptvektor): Sei λk ein m-facher Eigenwert des charakteristischen Polynoms der Gleichung. Wir benötigen für die Raumtransformation m linear unabhängige Vektoren. Können dazu nur k linear unabhängige Eigenvektoren gefunden werden, müssen wir die Basis mit m − k Hauptvektoren ergänzen. Ein Vektor h heisst Hauptvektor zum Eigenwert λ der Matrix A wenn ( A − λI)k · h = 0 und ( A − λI)k−1 · h 6= 0 und lässt sich analog zu den Eigenvektoren einfach berechnen als h = Kern ( A − λI)k Wie man einfach sehen kann, sind die Eigenvektoren gerade die Hauptvektoren erster Stufe, da ( A − λI)0 · h = Ih = h Definition 3.3.2 (Hauptraum): Der Hauptraum ist eine Verallgemeinerung des Eigenraums und dient uns zum bestimmen fehlender Vektoren für den Lösungsraum. Der Hauptraum zu einer Matrix A ist der Raum, der durch alle Hauptvektoren der Matrix A aufgespannt wird. Es gilt hierbei jedoch zu beachten, dass der Hauptraum die Abbildungsmatrix nicht vollständig diagonalisiert, da die Matrix in diesem Fall nicht n unabhängige Eigenvektoren hat. 3.4 Sonderfall: Das M-K-System Wir betrachten das System für den Fall dass D=G=N=0 wobei man die neue Bewegungsgleichung findet als M ÿ + Ky = f (t) 38 (3.1) 14. Oktober 2008 3.4. Sonderfall: Das M-K-System in der die symmetrische Matrix M positiv definit ist. Ausserden treffen wir die Annahme, dass die Matrix K positiv semidefinit ist. Genauer heisst dies, dass man annimmt, dass der Einfluss der Federsteifigkeiten den destabilisierenden Einfluss der Zentrifugalkräfte überwiegt. Herrschen keine Zentrifugalkräfte, ist die Matrix K immer positiv semidefinit. Wir verwenden den bereits bekannten Exponentialansatz yH = u · eλt ẏH = λ · u · eλt ÿH = λ2 · u · eλt (3.2) Eingesetzt in die Gleichung (3.1) ergibt ( Mλ2 + K ) · u = 0 Satz 3.4.1: Die Eigenwerte eines M-K-Systems mit semipositiv definiter Matrix K sind • entweder paarweise konjugiert und imaginär (Schwingungen) • oder von gerader Vielfachheit Null, was einer Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit, also einem ungefesselten System entspricht. Beweis 3: so gilt Sei λ ein Eigenwert und w ein zugehöriger Pseudoeigenvektor 0 = wT Mwλ2 + wT Kw wobei w = u + iv und w = u − iv, ergibt = (u − iv)T M (u + iv)λ2 + (u − iv)T K (u + iv) T Mu + vT Mv)λ2 + (uT Ku + vT Kv) = (u | {z } | {z } =: c2 ≥0 =: c1 >0 = c1 λ2 + c2 Wobei c1 positiv ist, weil die Matrix M immer positiv definit ist und analog dazu ist c2 ≥ 0 weil die Matrix K positiv semidefinit ist. Die Eigenwerte berechnen sich daher nun als λ2 = − c2 =: −ω02 c1 =⇒ λ1,2 = ±iω0 39 3. Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden Satz 3.4.2: Sei λ1,2 = ±iω0 und sei ω0 > 0. Die zu diesen Eigenwerten zugehörigen Pseudoeigenvektoren können so gewählt werden, dass gilt u1 = u2 Beweis 4: u 1 , u 2 ∈ Rn Bei Betrachtung der Gleichungen ( Mλ21 + K )u1 = 0 ( Mλ22 + K )u2 = 0 für den Fall, dass λ21 = λ22 lässt sich unschwer erkennen dass die Gleichungen zusammenfallen. Daraus lässt sich sofort schliessen, dass u1 = u2 sein muss. Da weiterhin λ2 , M, K reell sind, folgt, dass auch u1 und u2 reell sein müssen. Die zugehörigen Basisfunktionen sind y2 = u2 e−iω0 t y1 = u1 eiω0 t Ist nun λ1,2 = 0 eine doppelte Nullstelle des charakteristischen Polynoms, folgt die zugehörige Basisfunktion eλt = 1 =⇒ y1 = u1 , y2 = (1 + t)u2 direkt aus y2 = w + t · u und w = u für λ = 0. Damit wird die homogene Lösung zu: yH (t) = u1 A1 sin(ω01 t + ϕ1 ) + u3 A3 sin(ω03 t + ϕ3 ) + . . . +uK · ( BK + tCK ) + uK+2 ( BK+2 + tCK+2 ) + . . . mit ( Ai , ϕi ) und ( Bi , Ci ) noch zu bestimmenden Konstanten. Satz 3.4.3: Die Matrizen M und K werden durch die Matrix der Pseudoeigenvektoren U := u1 , u3 , . . . , u2 f −1 , U ∈ Rf×f diagonalisiert. Das bedeutet, dass U T MU =: diag{µi } U T KU = diag{κi } Beweis 5: Gegeben sei der Eigenwert λ2i mit zugehörigem Pseudoeigenvektor ui und der Eigenwert λ j mit Pseudoeigenvektor u j für i, j ∈ {1, 3, . . . } Dann berechnet sich uTj Mui λ2i + u j T Kui = 0 2 T uT i Mu j λ j + ui Ku j = 0 =⇒ uTj Mui (λ2i − λ2j ) = 0 Es müssen im Folgenden zwei Fälle unterschieden werden 40 14. Oktober 2008 Fall 1: 3.4. Sonderfall: Das M-K-System Sei i 6= j und λ2i 6= λ2j so folgt uTj Mui = 0 uTj Kui = 0 =⇒ Fall 2: Ist nun i 6= j und λ2i = λ2j . Wir erhalten in diesem Fall eine zweiparametrige Lösungsschar. Es sind folgende Schritte durchzuführen: • Bestimme uT i und u j . Damit ist αui + βu j =: uej ebenfalls ein Pseudoeigenvektor. • Erfülle β T uT i Mui = − ui Mu j α durch eine geeignete Wahl der konstanten α und β. uT ej = 0 i Mu ⇐⇒ • Ersetzen vom u j mit dem neuen Vektor uej , womit ueT i Mui = 0 Fall 3: ueTj Kui = 0 =⇒ Falls i = j folgt, dass uT i Mui = µi > 0 uT i Kui = κi ≥ 0 und woraus wir sehen, dass die Eigenwerte κi λ2i = − = −ω02 µi sind. Satz 3.4.4: Die f Pseudoeigenvektoren u1 , u3 , . . . , u f sind linear unabhängig und die Transformationsmatrix U somit invertierbar. Beweis 6: Zu zeigen ist, dass α1 u1 + α2 u2 + · · · + α f u f = 0 =⇒ α1 = α2 = · · · = α f = 0 In Matrixform geschrieben ist das Problem α1 u1 + α2 u2 + · · · + α f u f = 0 =⇒ Uα = 0 ⇐= U T MUα = 0 was die Matrix diagonalisiert und zeigt, dass diag{µi } · α = 0 =⇒ α1 µ1 = 0, α3 µ3 = 0, . . . , α f µ f = 0 wobei die µi strikt grösser Null sind. Dies folgt aus der Eigenschaft, dass die Eigenwerte einer positiv definiten Matrix immer grösser Null sind. Daher müssen die αi gleich Null sein. 41 3. Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden 3.4.1 Modale Koordinaten Wir führen ein neues Koordinatensystem ein, und setzen ξ ( t ) = U −1 y ( t ), ÿ = U ξ̈ = ∑ ui ξ̈ i (t) Damit wird das M-K-System (3.1) zum neuen System U T MU ξ̈ + U T KUξ = U T f (t) was, wie einfach zu sehen ist, das gleiche ist, wie diag{µi } · ξ̈ + diag{κi } · ξ = β(t) Dies führt uns darauf, dass wir neu f entkoppelte Gleichungen der Form µi ξ̈ i + κi ξ i = β i (t) haben, die einander nicht mehr beeinflussen. Mit den Eigenwerten 2 λ2i = −ω0,i =− κi µi ergibt das Gleichungen der Form 2 ξ̈ i + ω0,i ξi = 3.5 β i (t) µi Sonderfall: M-K mit Dämpfung nach Bequemlichkeit Wir gehen wieder von M positiv definit, K semipositiv definit und dem Schwingsystem M ÿ + D ẏ + Ky = f (t) aus. Man nimmt hier die sogenannte Bequemlichkeitshypothese an. Dämpfungen sind in der Praxis extrem schlecht bestimmbar. Daher ersetzt man D mit D := αM + βK α, β ∈ R (oft α = 0) Satz 3.5.1: Die Matrix U der Pseudoeigenvektoren des zugehörigen M-KSystems ohne Dämpfung diagonalisiert auch das M-D-K-System, wenn D gemäss der Bequemlichkeit gewählt wird. 42 21. Oktober 2008 3.5. Sonderfall: M-K mit Dämpfung nach Bequemlichkeit Beweis 7: Substituiere y = Uξ, wobei die Matrix U aus den Pseudoeigenvektoren des ungedämpften Systems besteht. So ergibt sich U T MU ξ̈ + U T (αM + βK )U ξ̇ + U T KUξ = U T f (t) wobei natürlich weiterhin U T MU = diag{µi } U T KU = diag{κi } gilt. Über die Linearität der Matrixmultiplikation ergibt sich diag{µi }ξ̈ + (α diag{µi } + β diag{κi }) ξ̇ + diag{κi }ξ = β(t) was erneut auf f entkoppelte Gleichungen führt µi ξ̈ i + (αµi + βκi )ξ̇ i + κi ξ i = β i (t) 2 ξ̈ i + 2δi ξ̇ i + ω0,i ξi = β i (t) µi mit 2 = ω0,i κi 2 , δi = 21 (α + βω0,i ) µi und man somit die Lehr’schen Dämpfungen für die verschiedenen Gleichungen berechnen kann. Man erhält 1 α δi = + β · ω0,i Di = ω0,i 2 ω0,i was einem darauf führt, dass die entkoppelten Gleichungen unterschiedlich stark gedämpft sind. Es werden im folgenden einige Begriffe eingeführt, die ab jetzt verwendet werden. (i) Vektoren ui , u j für die uT i Mu j = 0 gilt, heissen M-orthogonal oder massenorthogonal. (ii) Die Transformationsmatrix U der Pseudoeigenvektoren beim M-K-System heisst Modalmatrix. (iii) Die neu eingeführen Koordinaten ξ = U −1 y heissen Hauptkoordinaten oder modale Koordinaten. (iv) Die geometrische Schwingungsform, die über den i-ten Pseudoeigenvektor ui beschrieben wird, heisst die i-te Eigenform. Dieser Vektor gibt an, in welchem Koordinatenverhältnis sich das System in der i-ten Basislösung yi = ui · eλi t bewegt. (v) Aufgrund von (iv) wird die Modalmatrix auch die Matrix der Moden oder die Matrix der Eigenformen genannt. 43 3. Lineare Schwingungen mit f Freiheitsgraden 3.6 Stabilität des MDGKN-Systems Es wird hier nur die Stabilität von linearen Differentialgleichungssystemen beschrieben. Die hier eingeführen Stabilitätssätze gelten nicht für nichtlineare Systeme. Das System ẋ = A · x + b(t) heisst asymptotisch stabil, wenn lim k x H (t)k → 0 t→∞ ∀ Anfangsbedingungen x H (t0 ) = x0 was Augfrund von 3.2 gleichbedeutend ist mit der Bedingung < λi < 0 ∀i Da die Lösung des Systems — ersichtlich an den Erkenntnissen aus Abschnitt 3.4 über das homogene System — eine Linearkombination von Exponentialfunktionen ist, wird schnell klar, dass für das Zeitverhalten der einzelnen Basislösungen drei Möglichkeiten existieren. 1. Ist der Eigenwert positiv, wird die Lösung unlimitiert wachsen. 2. Falls der Eigenwert genau gleich Null ist, bleibt die betrachtete Basislösung aufgrund von eλx = e0 = 1 über den ganzen Zeitbereich konstant. 3. Im Fall dass der Eigenwert neagtiv ist, wird die Lösung asymptotisch gegen Null konvergieren und verschwindet im Grenzverhalten. Die Lösung ist instabil, wenn lim k x H (t)k → ∞ t→∞ für nur eine Anfangsbedingung x H (t0 ) = x0 was wieder in Analogie zum ersten Fall gleichbedeutend ist mit der Bedingung, dass ∃<λi > 0 oder bei zeitbeschwerten Termen und < λi = 0 44 22. Oktober 2008 3.6. Stabilität des MDGKN-Systems wie in Abschnitt 4. Betrachtet man eine Teillösung mit Eigenwert grösser als Null, so stellt man fest, dass diese für fortschreitende Zeit immer weiter wächst. Da dieser Term aufgrund der linearen Unabhängigkeit der Pseudoeigenvektoren nicht durch eine entgegengesetzte Funktion kompensiert werden kann, wird die homogene Lösungsfunktion unbeschränkt wachsen und das System entgleist. In allen anderen Fällen, wenn das System weder konvergiert noch divergiert, sondern statisch auf einer beschränkten Bahn bleibt, d.h a < lim k x H (t)k < b t→∞ a, b ∈ R nennt man das System grenzstabil. 45 Kapitel 4 Die Wellengleichung Empfohlen zur ergänzenden und weiterführenden Lektüre ist für dieses Kapitel das bereits bekannte Buch von Wittenburg [3] oder das Werk über Technische Schwingungsgleichungen [1] von Peter Hagedorn. 4.1 Vorbemerkungen Wellen werden mathematisch als partielle Differentialgleichungen beschrieben. Diese bringen sehr viele Möglichkeiten zur Beschreibung von Systemen mit mehreren, voneinander abhängigen Variabeln. Das Problem an partiellen Differentialgleichungen ist, dass sie im Vergleich zu gewöhnlichen Differentialgleichungen sehr schwierig zu lösen sind, da sie ein riesiges Gebiet umspannen. Die mathematische Grundlage für das Lösen von partiellen Differentialgleichungen bildet die Funktionalanalysis, welche allerdings sehr abstrakt und nicht intuitiv ist. Man stellt auch fest, dass analytische Lösungen fast nicht mehr erreichbar sind. Man muss daher auf Näherungslösungen zurückgreifen. Sehr verbreitet sind die numerische Berechnung mittels Computer, indem man die Körper diskretisiert. Verfahren, die auf dieser Methode basieren, sind z.B die Finite Element Method (FEM) oder die Boundary Element Method (BEM), beide von grosser Bedeutung in der Praxis. Notation 3 (Partielle Ableitungen): 46 Da die Differentialnotation über Par- 22. Oktober 2008 4.2. Bewegungsgleichungen spezieller 1-D Kontinua tialbrüche relativ viel zu schreiben gibt, führen wir hier eine abgekürzte Schreibweise ein. Sei u = u( x, t) und ϕ = ϕ(ξ, η ) differenzierbare Funktionen in den abhängigen Variabeln, so definieren wir ∂u ∂x ∂ϕ ϕη := ∂η ∂u ∂t ∂ϕ ϕξ := ∂ξ u x := ut := Beispiel 4.1.1: Die allgemeine Lösung der partiellen Differentialgleichung ϕξη = 0 lässt sich über Integration rechnen als ϕξ = h(ξ ) =⇒ ϕ= Z | h(ξ ) dξ + g(η ) {z } f (ξ ) und man stellt fest, dass die Differentialgleichung durch ϕ(ξ, η ) = f (ξ ) + g(η ) erfüllt wird, wobei f , g beliebige Funktionen sind. Dies ist sehr allgemein und man stellt fest, dass die spezielle Wahl von f und g von den jeweiligen Randbedingungen abhängen wird. Partielle Differentialgleichungen leben vor allem von ihren Randbedingungen! 4.2 Bewegungsgleichungen spezieller 1-D Kontinua Beispiel 4.2.1 (Vorgespannte Saite): Man betrachte die Dynamik einer vorgespannten Saite. Da wir hier ein Kontinuum betrachten, sind wir gezwungen, den Impulssatz am differentiellen Element aufzustellen. Wir werden im Weiteren einen Ausdruck für das differentielle Massenelement dm benötigen. Es ist klar, dass dieser von der x-Koordinate abhängen muss. Über die Dichtebeziehung m = ρV = ρAx 47 4. Die Wellengleichung F F · ux ezI F · ux F u( x + dx, t) u( x, t) I edm x x x x + dx Abbildung 4.1: Differentielles Massenelement an einer vorgespannten Saite berechnet sich dass differentielle Massenelement dm = ρA dx solange die Dichte ρ und der Querschnitt A über die x-Richtung konstant ist. Für den Impuls in z-Richtung erhalten wir dm · utt ( x, t) = F · (u x ( x + dx, t) − u x ( x, t)) F u x ( x + dx, t) − u x ( x, t) · ρA dx F c2 = [ m2 · s − 2 ] utt ( x, t) = c2 · u xx ( x, t) ρA utt ( x, t) = =⇒ x x x + dx u( x, t) σ( x, t) u( x + dx, t) σ( x + dx, t) dm Abbildung 4.2: Zug-Druckbelastung am differentiellen Element Beispiel 4.2.2 (Längsdynamik eines dünnen Stabs): Wie in Beispiel 4.2.1 stellen wir wieder den Impulssatz am differentiellen Element auf. Die Summe der Kräfte muss hier aber erst über die inneren Spannungen des Körpers bestimmt werden. Mit der Definition der Spannung σ= 48 F A F = EAu x mit u x = ε, σ = εE 22. Oktober 2008 4.2. Bewegungsgleichungen spezieller 1-D Kontinua erhalten wir die Kräfte, die an einem Element des Stabes wirken. Die Differentialgleichung stellen wir analog zum vorherigen Beispiel mit dem gleichen Massenelement auf. Es folgt, dass dm · utt ( x, t) = A · (σ( x + dx, t) − σ( x, t)) ρA dxutt = AE(u x ( x + dx ) − u x ( x, t)) E [ m2 · s − 2 ] utt ( x, t) = c2 u xx ( x, t) c2 = ρ Dynamik: Torsion kreiszylindrischer Stäbe Wir benötigen für die Beschreibung der Torsion des Zylinders das polare Flächenträgheitsmoment Ip = Z A = y2 + z2 dA = Z A r2 dA und leiten daraus einen Ausdruck für das differentielle Massenträgheitsmoment dθS = Z A (y2 + z2 )ρ dA dx = ρI p dx her. Das interne Moment berechet sich wie aus der Deformationslehre bekannt als M = GI p ϕ x z y ϕ( x + dx, t) ϕ( x, t) M( x + dx, t) x x x + dx M( x, t) Abbildung 4.3: Torsion am differentiellen Element eines Kreisstabes Im Gegensatz zu den beiden vorhergegangenen Beispielen stellen wir hier nicht den Impulssatz, sondern den differentiellen Spinsatz an einer Kreisscheibe auf. dθS · ϕtt ( x, t) = M ( x + dx, t) − M( x, t) ρ Ip dxϕtt ( x, t) = G Ip · ( ϕ x ( x + dx, t) − ϕ x ( x, t)) G =⇒ ϕtt = c2 ϕ xx ( x, t) c2 = [ m2 · s − 2 ] ρ Die lineare partielle Differentialgleichung 2. Ordnung utt ( x, t) = c2 u xx ( x, t) 49 4. Die Wellengleichung heisst Wellengleichung. Die Konstante c [m·s−1 ] heisst Wellengeschwindigkeit. Für eine genaue Erklärung des Begriffs der Wellengeschwindigkeit siehe Abschnitt 4.4 auf Seite 53, für dessen Verständnis aber die Lösung der Wellengleichung vorausgesetzt wird. Beispiel 4.2.3 (Randbedingungen am Beispiel Längsdynamik): ten die Ortsrandbedingungen aus der Physik des Systems. u 1 − → u 2 − → xB q − → m Wir erhal- u 3 − → x xD xC xA Abbildung 4.4: Querschnitt des inhomogenen Teils aus dem Beispiel Man teilt die Verschiebung des Systems in die Einzelverschiebungen der gleich dicken Abschnitte und die Verschiebung der Punktmasse auf und schneidet dann das System frei. NA− NA+ NB− NB+ NC− F2 F3 NC+ − ND Abbildung 4.5: Freischnitt der Einzelteile von Abbildung 4.4 Am freigeschnittenen System kann man folgende Randbedingungen aufstellen. Die Zeitrandbedingungen oder Anfangsbedingungen für u( x, 0) und ut ( x, 0) sind hier als vorgegeben anzuschauen. 4.3 Die Allgemeine Lösung der Wellengleichung Das Wissen, das hier vermittelt wird, ist von rein theoretischem Interesse. Die Lösung wird durch eine kanonische Transformation der Gleichung hergeleitet 50 28. Oktober 2008 4.3. Die Allgemeine Lösung der Wellengleichung Randbedingung Kinematik Kinetik Feste Einspannung bei x A u1 ( x A , t ) ≡ 0 + keine für u1x ( x A , t) ∼ NA Stabkopplung bei x B u1 ( x A , t ) = u2 ( x B , t ) NB− = NB+ ⇒ E1 A1 u1x ( x B , t) = E2 A2 u2x ( x B , t) Punktmasse bei xc u2 ( x C , t ) = q ( t ) = u3 ( x C , t ) Impulssatz für m mit NC− = F2 , F3 = NC+ mq̈ = F3 − F2 = NC+ − NC− mq̈ = E3 A3 u3x ( xC , t) − E2 A2 u2x ( xC , t) Freies Ende bei x D keine für u3 ( x D , t) − ND = 0 ⇒ E3 A3 u3x ( x D , t) = 0 ⇒ u3x ( x D , t) = 0 Tabelle 4.1: Randbedingungen für das Freigeschnittene System (Abb. 4.5) werden. Die allgemeine Wellengleichung utt ( x, t) − c2 u xx ( x, t) = 0 (4.1) ist in dieser Form nicht brauchbar. Um sie lösen zu können, benützen wir eine Koordinatentransformation, indem wir die Substitution ξ = ξ ( x, t) η = η ( x, t) auf die Gleichung (4.1) anwenden. So wird die Auslenkung u( x, t) eine Funktion u( x, t) = ϕ(ξ ( x, t), η ( x, t)) (4.2) in Abhängigkeit zweier Funktionen, die ihrerseits beide von den ursprünglichen zwei Raumvariabeln abhängen. Für das Einsetzen in die Differentialgleichung wird massiv die Kettenregel verwendet. Man rechnet die partiellen Ableitungen des neu gewonnen Ansatzes (4.2) u t = ϕ ξ ξ t + ϕ η ηt utt = ϕξ ξ tt + ϕξξ ξ t2 + ϕξη ξ t ηt + ϕη ηtt + ϕηη ηt2 + ϕηξ ξ t ηt u x = ϕξ ξ x + ϕη ηx u xx = ϕξ ξ xx + ϕξξ ξ 2x + ϕξη ξ x ηx + ϕη ηxx + ϕηη ηx2 + ϕηξ ξ x ηx welche wir in die Differentialgleichung einsetzen und sortieren: ϕξξ (ξ t2 − c2 ξ 2x ) + 2ϕξη (ξ t ηt − c2 ξ x ηx ) + ϕηη (ηt2 − c2 ηx2 ) = − ϕξ (ξ tt − c2 ξ xx ) − ϕη (ηtt − c2 ηxx ) (4.3) 51 4. Die Wellengleichung wobei sich sehr schnell die Frage aufdrängt, ob man damit etwas erreicht hat, da auf den ersten Blick die Gleichung eher komplizierter als einfacher geworden ist. Um einen Nutzen aus der neuen Differentialgleichung zu ziehen, gilt es eine beliebige Transformation auf ξ und η zu finden, so dass die Gleichung (4.3) möglichst einfach wird. Genauer heisst das, eine Transformation so zu wählen, dass die Klammerausdrücke ξ t2 − c2 ξ 2x und ηt2 − cηx2 verschwinden. Daraus lautet die präzise Aufgabenstellung, eine Funktion z( x, t) so zu finden, dass z2t − c2 z2x = 0 Definition 4.3.1: Die Lösungen zu z( x, t) = const heissen Charakteristikenscharen. x x = s(t) ∇z ṡ 1 t Abbildung 4.6: Charakteristik mit Gradient Dabei gilt: 1. z( x, t) = const sind Niveaulinien x = s(t) der Funktion ( x, t) → z( x, t) 2. Der Gradient der Funktion steht senkrecht auf den Niveaulinien. Dies drücken wir aus als " # " # zt zt 1 · = 0 =⇒ ṡ = − zx ṡ zx 3. Im nächsten Schritt stellen wir die Differentialgleichung auf als 2 c = 52 zt zx 2 = ṡ2 mit ṡ = ±c 28. Oktober 2008 4.4. Bedeutung der Charakteristiken ergibt die Gleichung der Niveaulinien s(t) = x = ±c · t + const 4. Mit diesem Ergebnis erhalten wir die Charakteristikenscharen z1 ( x, t) = x − ct = const z2 ( x, t) = x + ct = const und die gesuchte Koordinatentransformation ξ = x − ct ξ t = −c ξx = 1 ξ tt = ξ xx = ξ tx = 0 η = x + ct ηt = c ηx = 1 ηtt = ηxx = ηtx = 0 Setzen wir die gefundene Koordinatentransformation in die transformierte Wellengleichung (4.3) bekommen wir ξ t2 − c2 ξ 2x = ηt2 − c2 ηx2 = 0 2 2 −4c2 · ϕξη = 0 ξ tt − c ξ xx = ηtt − c ηxx {z } | Normalform der Wellengleichung ξ t ηt − c2 ξ x ηx = −2c2 Damit lässt sich die Lösung herleiten als ϕξη (ξ, η ) = 0 =⇒ ϕ(ξ, η ) = f (ξ ) + g(η ) u( x, t) = ϕ(ξ ( x, t), η ( x, t)) und die allgemeine Lösung ist somit u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) und wird auch d’Alembert’sche Lösung der Wellengleichung genannt. 4.4 Bedeutung der Charakteristiken Wie im letzen Abschnitt hergeleitet, wird die allgemeine Lösung der Wellengleichung im Folgenden als u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) | {z } | {z } :=u f ( x,t) :=u g ( x,t) 53 4. Die Wellengleichung u ct ct u f ( x, t0 ) u g ( x, t0 ) x Abbildung 4.7: Entgegenlaufende Pulse zu einem festen Zeitpunkt. Die Überlagerung der Pulse ist als gestrichelte Linie dargestellt. angenommen. Lässt man in u f ( x, t) die Zeit anwachsen, stellt man für eine beliebige Funktion eine Rechtsverschiebung der gesamten Funktion fest. Analog findet man für die Funktion u g ( x, t) eine Linksverschiebung mit fortschreitender Zeit. Die allgemeine Lösung der Wellengleichung ist also eine Überlagerung zweier entgegenlaufender Wellen. Dabei wird u f als Rechtswelle und u g als Linkswelle bezeichnet. Bemerkung 4.4.1: Die tatsächliche Gestalt von f ung g wird erst über Anfangs- und Randbedingungen festgelegt und kann nicht allgemein bestimmt werden. Um sich Wellenbewegungn besser vorstellen zu können, verwenden wir oftmals Pulse, da diese die einfachsten und für uns am besten nachvollziehbaren Wellen sind. u u ct x x (a) Einzelner Sinuspuls (b) Harmonische Welle als Reihenschaltung von einzelnen, alternierenden Sinuspulsen Abbildung 4.8: Spezielle Laborwellen Alternativ lassen sich viele Wellenphänomene an harmonischen Wellen sehen. Da Superposition gilt, kann ein harmonische Welle als Überlagerung von alternierenden, aneinandergereihten, sinoiden Pulsen betrachtet werden. 54 28. Oktober 2008 4.4. Bedeutung der Charakteristiken Die beiden Scharen ξ = x − ct = const η = x + ct = const heissen Charakteristikenscharen und sind Scharen von Geraden im x, t, u-Raum, die parallel zur x, t-Ebene sind. Auf diesen Geraden haben die Wellenfunktionen f und g immer den selben Wert. uf ) rt0 (x sx ( 0 t) x »=x-ct=const Charakteristiken t Abbildung 4.9: Diskrete dreidimensionalle Darstellung der Rechtswellen im u, x, t-Raum. In der Abbildung gilt wie gehabt u f ( x, t) = f ( x − ct) wobei zwei Ebenen ersichtlich sind. Einerseits ergibt sich für t0 = const die zeitfeste Ebene A u f ( x, t0 ) = rt0 ( x ) = f ( x − ct0 ) und die ortsfeste Ebene B mit x0 = const und wir setzen u f ( x0 , t) = s x0 (t) = f ( x0 − ct) Gesucht ist dazu ein Zusammenhang zwischen den Grössen rt0 ( x ) und s x0 (t), der einem unter Kenntnis einer der Funktionen direkt die Berechnung der Kurve in 55 4. Die Wellengleichung der anderen Fixebene ermöglicht. Man findet rt0 ( x ) = f ( x − ct0 ) s x0 (t) = f ( x0 − ct) rt0 (y) = f ( x − x0 + ct − ct0 ) s x0 (z) = f ( x − x0 + ct − ct0 ) mit den Substitutionen x x = y x − x0 + ct t −ct = z x + ct − ct0 y = x − x0 + ct z = − xc − t + t0 und erhält die Gleichung rt0 ( x − x0 + ct) = s− x0 − t − t0 + x c Daraus lässt sich eine Umrechnung von Spannungen und Geschwindigkeiten finden: u f ( x, t) = f (ξ ( x, t)) mit ξ = x − ct u f ,x = f 0 (ξ ) · ξ x = f 0 (ξ ) ) u f ,t = f 0 (ξ ) · (−c) u f ,t = −cu f ,x was auch analog für Linkswellen gilt mit u g,t = c · u g,x Ausbreitung von Störungen, die zur Zeit t0 in [ x0 , x1 ] auftreten. Beispiel 4.4.1 (Wellenausbreitung bei der Saite): Es wird hier das Beispiel 4.2.1 auf Seite 47 fortgesetzt. Siehe hierzu die Aufgabe 4.1 in den Übungen. Um das Problem zu vereinfachen, betrachten wir die Saite als unendlich lang. Dies hat den Vorteil, dass wir jegliche Randbedingungen vernachlässigen können. Gesucht ist also die Wellenfunktion u( x, t) für die Anfangsbedingungen u( x, t = 0) := r0 ( x ) nach Abbildung 4.11 ut ( x, t = 0) = 0 Da das Anfangswertproblem symmetrisch ist, dürfen wir den initialen Puls aufteilen und f (ξ ) = g(η ) setzen. 56 28. Oktober 2008 x 4.4. Bedeutung der Charakteristiken f t{ x1 f+g x c » = x { ct = const. ´ = x + ct = const. g x0 t+ xc t0 t Abbildung 4.10: Progression von Links- und Rechtswellen. t t2 u(x,t2) t1 u(x,t1) 0 r0(x)=u(x,0) x Abbildung 4.11: Anfangsbedingung und Wellenausbreitung der Saite. 57 4. Die Wellengleichung Anmerkung 4.4.1: Die gezeichnete Lösung u( x, t) erfüllt tatsächlich die Anfangsbedingung ut ( x, t = 0) = 0 wie man leicht zeigen kann. ut ( x, 0) = u f ,t ( x, 0) + u g,t ( x, 0) = −c · u f ,x ( x, 0) + c · u g,x ( x, 0) =0 was wir nur machen dürfen, weil wir den Initialpuls gleichmässig aufgeteilt haben in Links- und Rechtswelle. 4.5 Einfache Ortsrandbedingungen beim halbunendlichen Körper Der Einfachheit halber wird ein halbunendlicher Körper betrachtet. Dies bringt den Vorteil, dass wir nur einen Rand betrachten müssen. Der allgemeine Fall lässt sich aber aus dem einfachen Fall ohne weitere Probleme folgern. Wir werden im Folgenden zwei Fälle unterscheiden. Einerseits muss die Reflexion am freien, andererseits diejenige am eingespannten Ende betrachtet werden. Der allgemeine Fall ist eine Randbedingung bei x B . Koppeln wir mehrere Körper, treten weitere Phänomene auf, genauer sind diese • Reflexion und Transmission von Wellen • und die Brechungsgesetze von Wellen an Oberflächen. Reflexion und Transmission werden hier behandelt, aber die Brechungsgesetze werden aus Zeitgründen nicht angeschaut. Wir benötigen die Lösung der Wellengleichung u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) | {z } | {z } ξ η sowie ihre ersten partiellen Ableitungen u x ( x, t) = f 0 (ξ ) · ξ x + g0 (η ) · ηx u x ( x, t) = f 0 ( x − ct) + g0 ( x + ct) 58 (4.4) 29. Oktober 2008 4.5.1 4.5. Einfache Ortsrandbedingungen beim halbunendlichen Körper Reflexion am eingespannten Ende u u x − → u N x x ux ∼ M ux ∼ N (a) Saite M u x (b) Längsdynamik (c) Torsionsschwingung Abbildung 4.12: Differentielles Massenelement an einer vorgespannten Saite Wie bereits erwähnt, wird der Einfachheit halber ein halbunendlicher Körper betrachtet. Um diese Bedingung mathematisch fassbar machen zu können, legen wir fest, dass wir nur das Intervall x ∈ (−∞, 0] betrachten. Man nimmt weiterhin — ebenfalls der Einfachheit halber — keine Randbedingungen in u x an, sowie eine Raumfeste Einspannung beim Ursprung ∀t ∈ R u( x = 0, t) ≡ 0 Die gestellte Aufgabe ist, für eine gegebene Rechtswelle f ( x − ct) die Linkswelle g( x + ct) = Γ( f ( x + ct)) zu bestimmen, so dass für die Wellenfunktion (4.4) die Funktionen u( x, t) und u x ( x, t) die gegebenen Randbedingungen erfüllen. x x u(0,t)=0 0 t ux(0,t) 0 t »(0,t)=-´(0,t) einfallende Druckwelle (Stab) a f (» (a,t)) -f (-´ (a,t)) u(a,t) a f 0(» (a,t)) reflektierte Druckwelle (Stab) ux(a,t) f 0(-´ (a,t)) Abbildung 4.13: Reflexion von Wellen am eingespannten Ende. 59 4. Die Wellengleichung Als Randbedingung wählen wir u(0, t) = 0 = f (−ct) + g(ct) was einer ortsfesten Einspannung im Ursprung entspricht, bei der, wie sofort klar sein muss, die Verschiebung immer gleich Null ist. Es folgt direkt, dass g(κ ) = − f (−κ ) g0 (κ ) = + f 0 (−κ ) mit beliebigem Argument κ und können daher direkt die Wellenfunktion berechnen als u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) = f ( x − ct) − f (− x − ct) Das Ergebnis lässt sich verifizieren indem u(0, t) = f (−ct) − f (−ct) = 0 Gleichermassen müssen wir auch die erste Ortsableitung der Wellenfunktion betrachten: u x ( x, t) = f 0 ( x − ct) + g0 ( x + ct) = f 0 ( x − ct) + f 0 (− x − ct) wobei sich die Randspannung berechnet als u x (0, t) = f 0 (−ct) + f 0 (−ct) = 2 f 0 (−ct) 4.5.2 Reflexion am freien Ende Hat eine Saite ein freies Ende, bekommen wir zwei Freiheitsgrade, da das Ende in x-Richtung nicht fixiert wird. Dies beheben wir, indem wir einen Ring um eine Stange bei x = 0 annehmnen, an dem das Ende der Saite befestigt ist. • Der Körper befindet sich wieder auf −∞ < x ≤ 0 • und analog zum vorhergegangenen Fall für eingespanntes Ende haben wir keine Randbedingungen an u und u x ( x = 0, t) ≡ 0 60 29. Oktober 2008 4.5. Einfache Ortsrandbedingungen beim halbunendlichen Körper x x u(0,t) 0 t ux(0,t)=0 0 t »(0,t)=-´(0,t) einfallende Druckwelle (Stab) a f (» (a,t)) u(a,t) a f (-´ (a,t)) f 0(» (a,t)) reflektierte Zugwelle (Stab) ux(a,t) 0 -f (-´ (a,t)) Abbildung 4.14: Reflexion von Wellen am eingespannten Ende. Auch für diesen Fall ist die Aufgabe für ein gegebenes f ( x − ct) die Funktion g( x + ct) zu finden. Man findet die Randbedingung u x (0, t) = 0 = f 0 (−ct) + g0 (ct) und folgert, dass g0 (κ ) = − f 0 (−κ ), g(κ ) = + f (−κ ) eine Lösung ist. u x ( x, t) = f 0 ( x − ct) + g0 ( x + ct) = f 0 ( x − ct) − f 0 (− x − ct) was leicht nachprüfbar ist: u x (0, t) = f 0 (−ct) − f 0 (−ct) = 0 Weiter ist u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) = f ( x − ct) + f (− x + ct) woraus man die Randauslenkungen bestimmt als u(0, t) = f (−ct) + f (−ct) = 2 f (−ct) 61 4. Die Wellengleichung 4.6 Stehende Wellen (Schwingungen) Definition 4.6.1: Man spricht von einer stehenden Welle, wenn die Lösung der Wellengleichung die Form u( x, t) = f ( x − ct) + g( x + ct) = w( x ) · q(t) (4.5) hat. Es bezeichnet dabei die Ortsfunktion w( x ) die Form der stehenden Welle, auch Amplitudenfunktion genannt. Die Zeitfunktion q(t) ist das zeitliche Pulsieren der stehenden Welle. u w( x ) q(t) Abbildung 4.15: Stehende Welle als Kombination einer Orts- und einer Zeitfunktion Gesucht sind die Funktionen f (ξ ) und g(η ), die die Bedingung (4.5) — zunächst ohne Randbedingungen — erfüllen. Direkt aus der Definition 4.6.1 folgt der sogenannte Separationsansatz oder BernoulliAnsatz u( x, t) = w( x ) · q(t) utt = w( x ) · q̈(t) u xx = w00 ( x ) · q(t) was eingesetzt in die Wellengleichung utt = c2 u xx zu w( x ) · q̈(t) = c2 w00 ( x ) · q(t) q̈(t) w00 ( x ) = c2 = −ω 2 q(t) w( x ) | {z } |{z} (a) (4.6) (b) wird, wobei ω eine unbestimmte Konstante ist. Das Negativzeichen vor ω ist ansich nicht wichtig, vereinfacht aber die Rechnung später. 62 4. November 2008 4.6. Stehende Wellen (Schwingungen) Man sieht hier, dass sich die Differentialgleichung für stehende Wellen in eine Zeitfunktion (a) und eine Ortsfunktion (b) zerlegen lässt. Lemma 4.6.1: Seien ϕ( x ), ψ(t) ∈ R Funktionen und x, t ∈ R die Parameter, dann gilt dass ϕ( x ) = ψ(t) ∀ x, t =⇒ ϕ( x ) = ψ(t) = const Lösen der separierten Gleichung (4.6) ergibt q̈(t) + ω 2 q(t) = 0 ω 2 w00 ( x ) + ω(x) = 0 c =⇒ =⇒ q(t) = Aeiωt + Be−iωt ω ω w( x ) = Cei c x + De−i c x u( x, t) = w( x ) · q(t) ω ω = Cei c x + De−i c x · Aeiωt + Be−iωt ω ω = CAei c (x+ct) + DBe−i c (x+ct) ω ω + CBei c (x−ct) + DAe−i c (x−ct) mit ξ = x − ct η = x + ct ω ω ω ω = CBei c ξ + DAe−i c ξ + CAei c η + DBe−i c η e sin( ω ξ + ϕ) + B e sin( ω η + ψ) u( x, t) = A c c {z } | {z } | f (ξ ) g(η ) Genauer gilt, da wir — wie man später sehen wird — unendlich viele Eigenwerte ω erhalten, dass die allgemeine Lösung der Gleichung die Superposition u( x, t) = ∑ |Aej sin( {zc ξ + ϕ j}) + |Bej sin( {z c η + ψj ) } j ωj ωj f j (ξ ) g j (η ) e B, e ϕ, ψ und ω beliebige Konstanten sind, die durch Anfangs- und ist, wobei A, Randbedingungen bestimmt werden. Für den weiteren Verlauf definieren wir die Wellenzahl k := ω c λ := 2π k und die Wellenlänge 63 4. Die Wellengleichung 4.7 Randbedingungen bei stehenden Wellen Wie in Abschnitt 3 ersichtlich, sind verschiedenste Einspannbedinungen denkbar. bei x = 0 bei x = l frei frei frei fest fest fest Tabelle 4.2: Wichtigste Einspannbedingungen Wir behandeln hier als Beispiel den Fall “fest-frei”. Für jede andere Einspannung ist die folgende Rechnung analog durchführbar. In einem ersten Schritt wird ein mechanisches Modell der Situation erstellt. Wir verwenden hier die Aufgabe 4.11 mit dem Ansatz u( x, t) = w( x ) · q(t) für stehende Wellen mit den Randbedingungen u x (0, t) ≡ 0 = w0 (0) · q(t) u(l, t) ≡ 0 = w(l ) · q(t) =⇒ =⇒ w 0 (0) = 0 w(l ) = 0 wobei man bewusst die variablen Terme wegstreicht. q(t) = Aeiωt + Be−iωt w( x ) = Cei c x + De−i c x ω ω ω ω w0 ( x ) = Ci ei c x − Di e−i c x c c ω ω ω ω ω ω 0 = w(l ) = Cei c l + De−i c l = D ei c l + e−i c l = 2D cos ω ω ω 0 = w0 (0) = Ci − Di = (C − D )i =⇒ C = D c c c ω cl Man stellt wie vorgängig versprochen fest, dass man nicht eine, sondern viele Eigenfrequenzen ω erhält. Aus ωl cos =0 c 64 4. November 2008 4.7. Randbedingungen bei stehenden Wellen folgen die unendlich vielen Eigenfrequenzen ω 1 3 5 · l = π, π, π, . . . c 2 2 2 woraus wir geschlossene Ausdrücke für Eigenfrequenzen, Wellenzahlen und Wellenlängen herleiten können: ωj = cπ (2j − 1) 2l kj = ωj π = (2j − 1) c 2l λj = 2π 4l = kj 2j − 1 Da für j ∈ N+ beliebig viele Werte gewählt werden können, existieren unendlich viele Eigenfrequenzen. Die zu einem Eigenwert ω j gehörende Ortsfunktion w j ( x ) erhält man aus (0) mit der Bedingung C = D, so ist ω ω w j ( x ) = D j ei c jx + e−i c jx w j ( x ) = 2D j · cos(k j x ) Dabei heisst cos(k j x ) die j-te Eigenform der Saite unter der Einspannung frei-fest. Diese entspricht im weitesten Sinne einem unendlichdimensionalen Eigenvektor. Die Unendlichkeit dieser Eigenform erklärt sich daraus, dass man einen Freiheitsgrad für jede Stelle x benötigt. Da die x-Achse eine kontinuierliche überabzählbar unendliche Skala ist, folgt auch eine unendlichdimensionale Eigenform. Daraus können wir die Gesammtlösung des Problems durch Superposition errechnen. Es gilt ∞ u( x, t) = ∑ w j ( x ) · q j (t) j =1 ∞ = ∑ 2Dj · cos k j x · A j eiω j t + Bj e−iω j t j =1 ∞ u( x, t) = ∑  j · cos k j x · sin(ω j t + ϑj ) j =1 wobei  j und ϑ j noch unbekannte Konstanten sind, die durch die Anfangsbedingungen bestimmt werden. Ausformuliert ist die homogene Lösung des Problems die Überlagerung unendlich vieler Eigenschwingungen mit den Frequenzen ω j und den Eigenformen cos k j x. 65 4. Die Wellengleichung 4.8 Bemerkungen Kontinuierliche Schwingungen haben, wie gesehen, unendlich viele Eigenfrequenzen und daher auch unendlich viele Eigenformen. Das Problem daran ist, dass auch unendlich viele Resonanzstellen auftreten können. In der Technik von Bedeutung sind insbesondere die Biegeschwingungen von Körpern, diese sind mathematisch gesehen partielle Differentialgleichungen vierter Ordnung. Als Fortsetzung dieses Themas werden in der späteren Vorlesung “Wellenausbreitung in Festkörpern” die Probleme der zwei- und dreidimensionalen Wellenausbreitung behandelt. 66 Kapitel 5 Kinematik Da die Kinematik in einem ständigen Konflikt zwischen Über- und Unterformalisierung steht, wird hier ein Mittelweg versucht. In den endgültigen Formeln wird versucht, die Indizes der Herleitungen verschwinden zu lassen. Die Notationen dieses Themas sind von Werk zu Werk sehr verschieden. Es wird daher sehr davon abgeraten, während dem Lernen dieses Kapitels Zusatzliteratur zum Thema zu konsultieren, da die mit grosser Wahrscheinlichkeit entstehende Verwirrung dem Lernprozess nur hinderlich ist. 5.1 Vektorraum und Koordinatensysteme Für die Darstellung der Kinematik und der Kinetik verwenden wir Vektorräume und Koordinatensysteme. Vektorräume sind abstrakte Mathematische Formalismen, um beliebige Räume darzustellen. Beispiele für Vektorräume sind der euklidische Raum oder die in der Physik verwendeten Hilberträume. Man beachte, dass auch ein Polynomring oder viel einfacher eine Gruppe von Polynomen eines fixen maximalen Grades ein Vektorraum sein kann. Koordiatensysteme, in der Mathematik auch Basen genannt, sind auf einem Vektorraum definierte Zahlenrepräsentationen des Vektorraums. Wir betrachten diese im ruhenden — also im unbeschleunigten — normierten Raum mit Nullelement und gewöhnlichem Winkelbegriff. Dieser entspricht dem dreidimensionalen euklidischen Vektorraum V. Die Elemente c ∈ V stellt man sich bildlich dar als Pfeile, wobei c(t) von der Zeit 67 5. Kinematik abhängig sein kann. Definition 5.1.1 (Kronecker Delta): Seien i, j ∈ N diskrete Konstanten, dann ist die Kronecker Deltafunktion definiert als 1 i = j δij = 0 i 6= j Das Kronecker Delta wird häufig bei orthogonalen Systemen verwendet, da bei diesen das Skalarprodukt aus den zwei beliebigen Elementarvektoren genau dem Kronecker Delta entspricht. Es werden weiterhin mehrere Koordinatensysteme in V verwendet, bezeichnet mit I, B, C, D und K, deren Bedeutung und genaue Definition im Folgenden genauer erklärt werden. Alle betrachteten Systeme sind sogenannte rechtshändige Othogonalsysteme oder Rechtsorthogonalsysteme, das heisst für das System (0B , e xB , eyB , ezB ) mit eiB ∈ V gelten die Beziehungen eiB · e Bj = δij und ezB = e xB × eyB Diese Systeme dürfen beliebig translatorisch und rotatorisch bewegt sein. Fast immer werden aber spezielle Koordinatensysteme verwendet. Unter diesen findet man • Inertialsysteme, bezeichnet mit I, welche strikt unbeschleunigt sind oder • Körperfeste Koordinatensysteme K, die man erhält, indem man die Koordinatenachsen an einen Starrkörper festbindet. Alle Koordinatensysteme B, C und K entstehen durch Drehung aus I. Die Koordinatensysteme B, C und D sind nicht genauer spezifizierte Koordinatensysteme, die wir dann verwenden wenn wir ein allgemeines System brauchen. 5.2 Vektoren und Koordinaten Da wir hier immer mit Basen rechnen, können wir den Vektor c als Linearkombination aus den Basisvektoren schreiben. So ist c xB B c = c xB e xB + cyB eyB + czB ezB B c := cy czB 68 5. November 2008 5.3. Koordinatentransformationen eyB c cyB e xB 0B c xB Abbildung 5.1: Pfeilrepresentation eines Vektors im Raum. Man muss hier strikt unterscheiden zwischen dem “Pfeil” c ∈ V — der ein Koordinatenfreies Objekt darstellt — und der Koordinatenbehafteten Darstellung 3 Bc ∈ R . Man definiert die lineare Koordinatenabbildung V / R3 ∈ ∈ KB : c / Bc die nebenbei invertierbar ist, also Bc = K B (c) c = K B−1 ( B c) Bemerkung 5.2.1: Man beachte, dass aus Bequemlichkeit die kanonische Basis h iT h iT h iT B B B B ex = 1 0 0 B ey = 0 1 0 B ez = 0 0 1 verwendet wird. 5.3 Koordinatentransformationen Im Folgenden werden oft lineare Koordinatentransformationen verwendet. Im generischen Fall, dass man Koordinatendarstellungen von Vektoren gegeben hat, sind die Koordinatentransformationen als Matrizen darstellbar. Für die Transformation eines Vektors im System B in ein anderes System D gilt Dc = KD KB−1 B c Dc = A DB · B c wobei A DB ∈ R3×3 eine Matrix ist. Diese bildet jede Koordinatendarstellung eines Vektors aus einem System in die zugehörige Koordinatendarstellung in einem anderen System ab, in diesem Fall vom System B ins System D. 69 5. Kinematik eyB eyD c cyB e xD cyD c xD e xB γ 0B c xB Abbildung 5.2: Koordinatentransformation durch Drehung der Basisvektoren um den Winkel γ. Der Vektor c ist dabei absolut gesehen invariant, da sich nur die Koordinatenrepräsentation ändert. Die Transformationsmatrix findet man, indem man die Komponentendarstellung B B B B B B D c = c x · D e x + cy · D ey + cz · D ez = h B D ex B D ey B D ez iT i h · c xB cyB czB betrachtet. Daher findet man, dass die Spalten der Transformationsmatrix A DB aus den transformierten Einheitsvektoren des alten Systems h i B B B c = D D e x D ey D ez · B c | {z } A DB gebildet werden. Im Weiteren werden die Eigenschaften der Transformationsmatrix genauer betrachtet. Durch Berechnen von T B e i 1 0 0 D x T h T B B B B A DB · A DB = D ey · D e x D ey D ez = 0 1 0 = I BT 0 0 1 D ez sieht man, dass −1 AT DB = A DB = A BD was daraus folgt, dass die Spalten von A DB ein Orthonormalsystem bilden. Die Matrix A DB ist also ein Element der speziellen Orthogonalgruppe SO(3), auch Drehgruppe genannt. Bemerkung 5.3.1: Die Drehgruppe heisst deshalb speziell, weil Matrizen mit Determinante −1, also Spiegelungen, ausgeschlossen werden. 70 5. November 2008 5.4. Drehgeschwindigkeit zwischen zwei Koordinatensystemen Die Transformationsmatrizen für Elementardrehungen werden dann angewandt, wenn das Zielsystem D gegenüber dem Startsystem B im mathematisch positiven Sinn um eine der drei Achsen gedreht ist. Die Matrizen sind explizit 1 0 0 A DB = 0 cos α sin α 0 − sin α cos α cos β 0 − sin β A DB = 1 0 sin β 0 cos γ sin γ 0 0 (5.1) cos β A DB = − sin γ cos γ 0 0 0 1 wobei α der Drehwinkel um die x-Achse, β den Drehwinkel um die y-Achse und γ denjenigen um die z-Achse bezeichnet. Für den Fall, dass man eine kompliziertere Drehung des Koordinatensystems erreichen will, lässt sich eine beliebige Drehung in einzelne Drehungen um die jeweiligen Achsen aufspalten und als Hintereinanderschaltungen der jeweiligen Transformationsmatrizen A14 = A12 · A23 · A34 Aij ∈ SO(3) (5.2) schreiben. 5.4 Drehgeschwindigkeit zwischen zwei Koordinatensystemen Seien a, b ∈ R3 Vektoren, für die gilt a 1 a= a2 a3 0 e := a A 3 − a2 − a3 0 a1 a2 − a1 0 b 1 b= b2 b3 dann gilt der Zusammenhang e a × b ≡ Ab e schiefsymmetrisch ist. wobei zu beachten ist, dass die Matrix A T ˙ A ist schiefsymmetrisch. Der Term A BD BD 71 5. Kinematik Beweis 8: Aus der Orthogonalität A BD · AT BD = I folgt über einmaliges Ableiten, dass T 0 = İ = Ȧ BD AT BD + A BD Ȧ BD und daher ist T T T Ȧ BD AT BD = − A BD Ȧ BD = −( Ȧ BD A BD ) was genau der Definition für schiefsymmetrische Matrizen entspricht. eyD eyB h i K B−1 ( B e xD )· e xD i h · K B−1 ( B eyD ) γ(t) e xB Abbildung 5.3: Pfeilrepresentation der Änderung des x-Vektors eines Systems, das mit γ(t) gegenüber einem anderen System gedreht wird. Definition 5.4.1 (Winkelgeschwindigkeit): e BD ist die WinkelgeschwinBω digkeit von D gegenüber B, bezüglich dem System B e BD Bω = Ȧ BD · ATBD Die Winkelgeschwindigkeit B ω e BD ist eine Matrix. Dies bedeutet konkret, dass eine Multiplikation eines beliebigen Vektors mit B ω e BD die Geschwindigkeit an diesem Punkt ergibt. Notation 4: Es wird hier von der Konvention, Matrizen mit Grossbuchstaben zu schreiben, abgewichen und stattdessen ein kleines ω e verwendet. Es gilt zu beachten, dass ω e DB = −ω e BD 72 11. November 2008 5.4. Drehgeschwindigkeit zwischen zwei Koordinatensystemen Dies lässt sich folgendermassen interpretieren: ˙ AT = A BD BD Ȧ BD = B ω e BD A BD i h D = ω D e · e B BD B z B ex e BD Bω ⇐⇒ h d ⇐⇒ eD eD dt B x B y ( e D )· = B ωBD × B e xD B x ⇐⇒ ( B eyD )· = B ωBD × B eyD D· ( B ez ) = B ωBD × B ezD D B ez D B ey i Die Elementargeschwindigkeit berechnet sich aus den Drehmatrizen von (5.1) und der Definition 5.4.1 der Winkelgeschwindigkeit zu 0 0 0 0 0 β̇ 0 −γ̇ 0 e BD = e BD = e BD = Bω Bω Bω 0 0 −α̇ 0 0 0 γ̇ 0 0 0 α̇ h B ωBD 5.4.1 = α̇ 0 0 0 iT − β̇ 0 0 iT = 0 β̇ 0 0 h B ωBD 0 h B ωBD = 0 0 γ̇ 0 iT Transformation von Drehgeschwindigkeiten Drehgeschwindigkeiten sind koordinatenbehaftet und gelten daher nur bezüglich ihrem jeweiligen System. Sie können aber als lineare Abbildungen nach den normalen Regeln der Linearen Algebra transformiert werden. Mit ) Ȧ BD = B ω e BD · A BD und ȦT BD = Ȧ DB Ȧ DB = D ω e DB · A DB erhalten wir den Zusammenhang, dass AT eT e DB · A DB BD · B ω BD = D ω e DB Dω T = ATBD · B ω eT BD · A DB = − A DB · B ω e BD · AT DB was auf die bereits bekannte Koordinatentransformation für Matrizen und Vektoren führt. Man erhält als Ergebis, dass e BD Dω = A DB · B ω e BD · AT DB und D ωBD = A DB · B ωBD 73 5. Kinematik Was für das praktische Rechnen mit Winkelgeschwindigkeiten noch fehlt, ist die Hintereinanderschaltung. Wir betrachten eine Kombination von Drehungen nach Gleichung (5.2). Durch Einsetzen erhält man e 14 1ω = Ȧ14 · AT 14 d T T · A · A = ( A12 · A23 · A34 ) · AT 23 34 12 dt T T T T T = Ȧ12 · AT + A · Ȧ · A · A + A · A · Ȧ · A 23 23 12 12 34 23 12 12 34 · A23 · A12 = 1ω e 12 + A12 · 2 ω e 23 · AT e 34 · AT 12 + A13 · 3 ω 13 was genau den Koordinatentransformierten Winkelgeschwindigkeitsmatrizen entspricht, inklusive deren Rücktransformation. Das führt darauf, dass e 14 1ω = 1ω e 12 + 1 ω e 23 + 1 ω e 34 1 ω14 = 1 ω12 + 1 ω23 + 1 ω34 Durch lineare Rücktransformation mit K1−1 sieht man, dass Relativwinkelgeschwindigkeiten additiv sind. Anders gesagt erhält man die Gesamtwinkelgeschwindigkeit ω14 = ω12 + ω23 + ω34 durch Addition der einzelnen Geschwindigkeitskomponenten. 5.5 Ableitung von Vektoren in bewegten Systemen Notation 5: Wir werden nun, da wir in Vektorräumen und nicht mehr mit nur einem Freiheitsgrad arbeiten, neue Notationen einführen müssen. Wie bereits bekannt, ist ein Vektor c∈V ein Pfeil in einem ruhenden Vektorraum. Die absolute zeitliche Änderung von c schreiben wir als ċ ∈ V In Analogie zu den Koordinatensystemen sind B ( ċ ) ∈ R3 die Koordinaten von ċ in der (bewegten) Basis B. Häufig wird die zeitliche Ableitung der Koordinate B c verwendet. Per Konvention gilt · = ċ ∈ R3 B B (c) 74 12. November 2008 5.5. Ableitung von Vektoren in bewegten Systemen eyI eyK ΩR eKx P rOP ϕ e xI O R ΩR sin ϕ v = I P ΩR cos ϕ 0 0 K vP = ΩR 0 Ω Abbildung 5.4: Geschwindigkeitsableitung an einer rotierenden Kreisscheibe, inklusive Koordinatenrepräsentationen der Geschwindigkeit des Punktes P im Intertialsystem I und im Körperfesten System K. Suchen wir die zeitliche Ableitung im Inertialsystem, findet man schnell I ( ċ ) = ċ xI · I e xI + ċyI · I eyI + ċzI · I ezI womit direkt gilt I ( ċ ) = I ċ = ( I c)· Sei nun B ein Koordinatensystem auf V, wobei sich B gegenüber I mit der Winkelgeschwindigkeit ω IB dreht. Gesucht ist nun die zeitliche Änderung von c in der Basis B. Dafür rechnen wir B ( ċ ) = = = = = A BI · I (ċ) = A BI · I (c)· = A BI · ( A IB · B c)· A BI · ( A IB · B ċ + Ȧ IB · B c) = B ċ + A BI · Ȧ IB · B c + A BI Ȧ IB · A BI · A IB · B c e IB · A IB · B c B ċ + A BI · I ω e IB · B c B ċ + B ω B ċ Dieses Resultat führt auf die Eulersche Differentiationsregel. Sie lautet B ( ċ ) = B ċ + B ω IB × B c (5.3) wobei B ω IB die Drehgeschwindigkeit des Systems B relativ zu I, dargestellt in B ist. 75 5. Kinematik 5.6 Kinematische Grössen von Starrkörpern Im Weiteren werden in der bereits bekannten Vektornotation einzelne betrachtete Grössen durch die Wahl von speziellen Buchstaben weiter spezifiziert. Ψ Ω Körper vQ B aQ Q vP a P aA vA r PQ K I P r AP A Abbildung 5.5: Die wichtigsten kinematischen Grössen und Systeme bildlich an einem Körper dargestellt. Formelzeichen Geometrische Bedeutung r AB ∈ V Ortsvektor vom Punkt A zum Punkt B vB ∈ V (absolute) Geschwindigkeit des Punktes B aB ∈ V (absolute) Beschleunigung des Punktes B Ω ∈ V (absolute) Drehgeschwindigkeit des betrachteten Körpers Ψ ∈ V (absolute) Drehbeschleunigung des betrachteten Körpers Tabelle 5.1: Bezeichnungen der verwendeten Grössen Es gilt die Beziehung r̈ AB = v̇B − v̇A = a B − a A sowie Ω̇ = Ψ Notation 6: Es wird hier wieder eine Ausnahme von der Konvention gemacht. Obwohl Ω und Ψ Vektoren sind, werden sie gross geschrieben. Dies bezeichnet die Körperzugehörigkeit der Grössen. 76 12. November 2008 5.7 5.7. Berechnung von Geschwindigkeiten Berechnung von Geschwindigkeiten Die Basis für diesen Abschnitt bildet die vorgängig hergeleitete Ableitungsregel von Euler nach Gleichung 5.3 auf Seite 75. Für eine gegebene Geschwindigkeit vA , Punktedifferenz B r IB in der Basis B ist die Geschwindigkeit des Punktes P gesucht. Das Koordinatensystem B ist wieder gegen I mit ω IB in Bewegung. Man findet über die Änderung ṙ AP des Ortsvektors r AP , dass vP = vA + ṙ AP B vP = B vA + B (ṙ AP ) = B vA + B ṙ AP + B ω IB × B r AP (5.4) über Transformation in das System B und durch Anwenden der Eulerableitung. Diese Formel gilt für beliebige Basen B. Ein Sonderfall der Beziehung (5.4) ist, wenn A relativ in Ruhe ist und B ein Inertialsystem ist, dann gilt I vP = I ṙ AP da I vA = 0 und B ω IB = 0 da das System unbeschleunigt ist. Ein zweiter Fall ist, für gegebenes vP , r PQ , Ω die Geschwindigkeit vQ zu finden, unter der Bedingung, dass sich P und Q auf demselben Starrkörper befinden. Um das Problem zu lösen, ersetzt man P durch Q und A durch P. Man berechnet B vQ = B vP + B ṙ PQ + B ω IB × B r PQ wählt das Koordinatensystem B ≡ K körperfest, um K vQ = K vP + K ṙ PQ + K ω IK × K r PQ zu erhalten, was man mit der Bedingung für einen Starrkörper K ṙ PQ ≡ 0 und der Substitution K ω IK ≡ K Ω vereinfacht zu K vQ = K vP + K Ω × K r PQ und schliesslich über Rücktransformation mit KK−1 zu vQ = vP + Ω × r PQ wird. Wir nennen dies die Starrkörperformel für Geschwindigkeiten oder Starrkörpergeschwindigkeitsformel, kurz SkGF. Diese ist in dieser Form bereits aus Mechanik I bekannt. 77 5. Kinematik 5.8 Berechnung von Beschleunigungen In ähnlicher Weise wie die SkGF sucht man Beziehungen für die Beschleunigungsterme. 5.8.1 Drehbeschleunigung aus Körperdrehgeschwindigkeit Für gegebenes Ω und ebenfalls gegebene Basis B, die sich mit ω IB gegenüber I dreht, ist die Drehbeschleunigung Ψ gesucht. Mittels der Eulerableitung und Transformation mit K B findet man schnell aus Ψ = Ω̇ die Beziehung, dass BΨ = B Ω̇ + B ω IB × B Ω oder · = c̈ + ω × ċ B B IB B B ( ċ ) wobei es zu beachten gilt, dass die Drehgeschwindigkeit des Körpers Ω eine strikt andere Grösse ist als die relative Koordinatensystemdrehung ω IB . Unter Betrachtung spezieller Koordinatensysteme vereinfachen sich die gefundenen Formeln. Für Intertialsysteme gilt =0 I ωI I und daher ist IΨ = I Ω̇ Für körperfeste Koordinatensysteme gilt K ω IK = KΩ und daher vereinfacht sich der Ausdruck zu KΨ 5.8.2 = K Ω̇ + K Ω × K Ω = K Ω̇ Punktbeschleunigung aus Systemdrehgeschwindigkeit Neben Körperrotationsbeschleunigungen benötigt man auch eine Formel für die Beschleunigung einzelner Punkte. Es ist also für gegebene a A , r AP in der gegeben 78 12. November 2008 5.8. Berechnung von Beschleunigungen Basis B mit ω IB Rotationsgeschwindigkeit gegenüber I die Beschleunigung eines bestimmten Punktes a P gesucht. Die Beziehung für Beschleunigungen a P = a A + r̈ AP wird mit K B in den B-Raum transformiert B aP = B a A + B (r̈ AP ) h i = B a A + B (ṙ AP )· h i = B a A + B (ṙ AP )· + B ω IB × B (ṙ AP ) und B (ṙ AP ) eingesetzt um = B a A + [ B ṙ AP + B ω IB × B r AP ]· + B ω IB × [ B ṙ AP + B ω IB × B r AP ] B a P = B a A + B r̈ AP + B ω̇ IB × B r AP + 2 B ω IB × B ṙ AP + B ω IB × ( B ω IB × B r AP ) {z } | | {z } B aP Coriolisterm Zentrifugalterm zu erhalten. Diese Formel ist aber viel zu kompliziert und sollte niemals bei der Handrechnung verwendet werden! 5.8.3 Punktbeschleunigung aus Drehbeschleunigung und Drehgeschwindigkeit eines Körpers Der letzte Fall ist, für gegebene a P , r PQ , Ω und Ψ die Punktbeschleunigung aQ zu suchen. Es ist also für zwei Punkte, von denen nur die Beschleunigung eines einzelnen Punktes bekannt ist, die Beschleunigung des zweiten Punktes zu finden. Lösbar ist die Gleichung, indem man 1. die Punkte P durch Q und A durch P ersetzt, 2. ein Körperfestes Koordinatensystem K gesucht und B ≡ K gesetzt 3. und berücksichtigt, dass K r PQ konstant ist, dass also K ṙ PQ = K r̈ PQ = 0 sowie K ω IK = KΩ und K Ω̇ = KΨ was in Abschnitt 5.8.1 hergeleitet wurde. 79 5. Kinematik Mit diesem Vorgehen rechnet man K aQ = K a P + K Ψ × K r PQ + K Ω × (K Ω × K r PQ ) und transformieren mit KK−1 zurück, um aQ = a P + Ψ × r PQ + Ω × (Ω × r PQ ) zu erhalten. Dieses Resultat ist die Starrkörperformel für Beschleunigungen. 80 Kapitel 6 Allgemeine Kinetik Das Ziel dieses Kapitels ist eine sehr kurze Einführung in die allgemeinen Sätze der Dynamik, jedoch unter Vernachlässigung von Massenzu- und abgfluss und noch ohne starre Körper. 6.1 Innere und äussere Kräfte Definition 6.1.1 (Mechanisches System): Mann nennt ein Mechanisches System S die Menge aller Punkte x ∈ R3 , die mit der Umgebung von S über Kräfte und/oder Momente wechselwirken. Notation 7: Man bezeichnet dF ( x ) als Kraftverteilung und analog ξ × dF ( x ) + dM ( x ) als Momenteverteilung. Sowohl die Kräfteverteilung wie auch die Momenteverteilung sind definiert auf S. Dabei ist dM die freie Momenteverteilung und ξ × dF die durch dF induzierte Momenteverteilung. Kurz sagt man, (dF, dM ) ist die Kraft auf S. 81 6. Allgemeine Kinetik S H H K Abbildung 6.1: Die Subsysteme H und H bilden zusammen das mechanische Subsystem K von S 6.1.1 Mechanische Subsysteme Sei S ein mechanisches System, und sei H⊂K⊂S dann heisst K Subsystem von S und H Subsystem von K. Selbstverständlich ist H auch Subsystem von S. Ist H = K\H dann heisst H, H ein Paar komplementärer Subsysteme von K. Notation 8: Die Menge aller Subsysteme von S, einschliesslich S selber bezeichnet man mit einem kalligraphischen Buchstaben S . Definition 6.1.2: Kraft (dF, dM ) Sei K ∈ S und (dF, dM ) die Kraft auf K, dann heisst die (i) äussere Kraft auf K, wenn sie von der Umgebung von K auf K wirkt. Man bezeichnet dies mit (dF a , dM a ), (ii) oder innere Kraft von K, wenn es ein Paar komplementärer Subsysteme von K gibt, so dass die Kraft von H auf H wirkt. Man notiert innere Kräfte mit (dF i , dM i ) Anmerkung 6.1.1: Untersystems H. 82 Die innere Kraft ist damit äussere Kraft des 19. November 2008 6.2 6.2. Das erweiterte Wechselwirkungsprinzip Das erweiterte Wechselwirkungsprinzip Axiom 1: Innere Kräfte treten paarweise auf und erfüllen das Wechselwirkungsgesetz: Für jedes K ∈ S und jedes Paar komplementärer Subsysteme H, H von K gilt Z i H Z dF = − ξ × dF i + dMi = H Z Z H dF i (6.1) i ξ × dF + dM i (6.2) H oder ausformuliert: die Kräfte (dF, dM ), die H auf H ausübt, sind gegengleich den Kräften (dF, dM ), die H auf H ausübt. Das dritte Newtonsche Axiom, dass actio=reactio ist vollständig in der Gleichung (6.1) enthalten. Newton kennt aber nur Punktmassen und keine freien Momente. Man wählt nun H = { x1 } H = { x2 } K = { x1 , x2 } i dM i = dM ≡ 0 Aus (6.1) folgt ) F1 = − F2 ξ 1 × F1 = −ξ 2 × F2 (ξ 1 − ξ 2 ) × F1 = 0 (ξ 1 − ξ 2 ) k F1 das heisst, innere Kräfte treten paarweise auf, mit gegengleicher Grösse und gemeinsamer Wirkungslinie. Das dritte Newtonsche Axiom ist folglich ein Spezialfall der obigen Beziehungen. F1 x1 ξ1 ξ1 − ξ2 ξ2 x2 F2 Abbildung 6.2: Kraft und Gegenkraft auf eine Wirklinie. 83 6. Allgemeine Kinetik 6.3 Das dynamische Gleichgewicht Definition 6.3.1: Wir sagen, dass ein Subsystem K ∈ S die Newton-EulerGleichungen erfüllt, wenn Z ξ̈ dm − dF a = 0 (6.3) ξ × (ξ̈ dm − dF a ) − dM a = 0 (6.4) K Z K gilt. Dabei ist (6.3) der Impulssatz und (6.4) der Drallsatz. a a Es sind weiterhin (dF , dM ) die äusseren Kräfte von K, dm die Massenverteilung auf K, ξ̈ die (absolute) Beschleunigung von x ∈ K und ξ der Ortsvektor vom ruhenden Punkt O auf x. Der Impulssatz und der Drallsatz sind voneinander komplett unabhängige Axiome der Dynamik und können nicht ineinander übergeführt werden. Definition 6.3.2 (Dynamisches Gleichgewicht): Ein Subsystem K heisst im dynamischen Gleichgewicht, wenn K und jedes Subsystem von K die NewtonEuler-Gleichungen erfüllt. Das dynamische Gleichgewicht ist dem statischen Gleichgewicht implizit. Ist ein System im statischen Gleichgewicht, so ist es automatisch auch im dynamischen Gleichgewicht. Das dynamische Gleichgewicht wiederum impliziert relativistisches Gleichgewicht, welches aber für Systeme mit v c vernachlässigt werden kann. Relativistisches Gleichgewicht Statisches Gleichgewicht Dynamisches Gleichgewicht Statisches Gleichgewicht Abbildung 6.3: Vererbungsheuristik der verschiedenen Gleichgewichtstypen. 84 19. November 2008 6.4 6.4. Resultierende Kräfte/Trägheitsterme Resultierende Kräfte/Trägheitsterme K dF a dm ξ̇ dm dM ξ O Abbildung 6.4: Skizze zu den verwendeten Vektoren und differentiellen Elementen auf dem betrachteten Körper. Die resultierende äussere Kraft F a auf einen Körper K berechnet sich als F a := Z K dF a und es folgen mehrere Effekte, wie das bezüglich dem Punkt O resultierende äussere Moment Z a ξ × dF a + dM a MO := K Ausserdem definiert man den Impuls des Systems als p := Z K ξ̇ dm sowie den Drall eines Systems K bezüglich eines ruhenden Punktes O, also das Impulsmoment bezüglich O LO := Z K ξ × ξ̇ dm und man muss beachten, dass die Definition des Dralls L immer einen ruhenden Bezugspunkt erfordert! Die absolute zeitliche Änderung des Impulses lässt sich berechnen als Z Z ṗ = ξ̇ dm · = ξ̈ dm K K 85 6. Allgemeine Kinetik unter der Annahme einer zeitlich konstanten Masse in K. Ähnlich lässt sich die absolute zeitliche Dralländerung als Z Z · · ξ × ξ̇ dm = L̇0 = ξ × ξ̇ dm K = Z K K ξ̇ × ξ̇ + ξ × ξ̈ ) dm = ( Z K ξ × ξ̈ dm berechnen und es folgen Impuls- und Drallsatz in der Form ṗ = F a L̇O = MOa Satz 6.4.1: Greifen an einem System K keine äusseren Kräfte und Momente an, das heisst Fa ≡ 0 MOa ≡ 0 so ist sein Impuls und Drall konstant. p = const LO = const Definition 6.4.1 (Kinetische Energie): Die kinetische Energie eines Systems K ist definiert als Z 1 ξ̇ T dmξ̇ T= 2 K 6.5 Bezugspunktwechsel ζ = rCO + ξ ζ̇ = ṙCO + ξ̇ = ξ̇ Das Moment bezüglich dem Bezugspunkt O ist gegeben und man will das Moment bezüglich einem Punkt C. MCa = = Z ZK K ζ × dF a + dM a (rCO + ξ ) × dF a + dM a = rCO × Z a K dF + Z K ξ × dF a + dM a a MCa = rCO × F a + MO Dasselbe kann man für den Drall machen und findet LC = = Z ZK K ζ × ζ̇ dm = K (rCO + ξ ) × (rCO + ξ )· dm (rCO + ξ ) × ξ̇ dm = rCO × LC = rCO × p + LO 86 Z Z K ξ̇ dm + Z K ξ × ξ̇ dm (6.5) 25. November 2008 6.5. Bezugspunktwechsel K x ξ O rCO ζ C Abbildung 6.5: Der Wechsel des Bezugspunktes und die jeweiligen Vektoren auf einen fixen Ort auf dem Körper. Um den Bezugspunkt der Dralländerung zu wechseln, leitet man den gefundenen Zusammenhang (6.5) ab, um L̇C = rCO × ṗ + L̇O zu erhalten. Dies ist möglich, weil der Vektor rCO nicht von der Zeit abhängig, also starr ist. 87 Kapitel 7 Kinetik des starren Körpers Das Ziel dieses Kapitels wird es sein, die bereits im ebenen System bekannten Beziehungen wie die kinetische Energie und den Impuls- und Drallsatz für das Subsystem Starrkörper aufzustellen beziehungsweise zu erweitern. 7.1 Vorbemerkung Sei a ∈ R3 mit a 1 a= a2 a3 und 0 a e= a3 − a2 − a3 0 a1 a2 − a1 0 wobei a e = −a eT schiefsymmetrisch ist. Es ist weiter 0 a3 − a2 0 − a3 a2 · −a e2 = − a ea e=a ea eT = 0 a1 0 − a1 − a3 a3 a2 − a1 0 − a2 a1 0 a2 + a22 − a1 a2 − a1 a3 3 2 + a2 = − a a a − a a 2 2 3 1 3 1 − a1 a3 88 − a2 a3 a31 + a22 25. November 2008 7.2. Nomenklatur Diese neue Matrix − a e hat mehrere verwendbare Eigenschaften. Einerseits ist sie symmetrisch, denn es gilt T a ea eT =a ea eT und ausserdem positiv semidefinit. Um dies zu zeigen rechnet man xT (− a e) x = x T a e a eT x y=a eT x mit dann folgt yT · y = k y k ≥ 0 7.2 ∀x Nomenklatur Starrkörper Ψ dF Ω dm ρ ξ aP P O vP rOP Abbildung 7.1: Starrkörpermodell mit den verwendeten Grössen. In der Abbildung 7.1 ist der Ursprung O inertial fest mit vO = aO = 0 und es ist P ein beliebiger fester Starrkörperpunkt mit den Zustandsgrössen vP und a P . Weiterhin sei x ∈ K eine Laufvariable innerhalb des Körpers, dann ist ξ̇ die Geschwindigkeit des Punktes x und ξ̈ ∈ K die Beschleunigung von x. 89 7. Kinetik des starren Körpers Unter der Annahme von starrem Körper erhält man die Starrkörperformeln ξ = rOP + ρ ξ̇ = vP + Ω × ρ ξ̈ = a P + Ψ × ρ + Ω × (Ω × ρ) Es werden im Folgenden einige Integrale des Öfteren auftreten. Darunter die Masse des Körpers K Z K dm = m und der Ortsvektor r PS , den Ortsvektor vom Punkt P zum Massenmittelpunkt S Z K ρ dm = m · r PS Das Integral Z K ρe · ρeT dm = Θ P ergibt den sogenannten Trägheitstensor Θ P bezüglich dem Punkt P. Streng genommen ist dies nicht der Trägheitstensor sondern der Trägheitsoperator, wird aber auch in der Literatur oft als Trägheitstensor bezeichnet. 7.3 Kinetische Energie des Starrkörpers dm Starrkörper ξ ρ O rOP P Abbildung 7.2: Illustration zur kinetischen Energie. 90 25. November 2008 7.3. Kinetische Energie des Starrkörpers Man schreibt die Starrkörpergeschwindigkeit um in Matrixform zu " # i v ξ̇ = I −ρe · P Ω h was transponiert zu i h T ξ̇ = vPT ΩT · " # I ρe wird. Die kinetische Energie ist dann nach Definition 6.4.1 auf Seite 86 T= 1 2 Z K ξ̇ T dmξ̇ " # I " # i v dm I −ρe · P vPT ΩT · K ρe Ω " # " # i Z I dm T dm 1h T ρ e v = · P v ΩT · T 2 P K ρ e dm ρe · ρe dm Ω 1 = 2 Z h i h " # " # i T 1h T m · I m · e r PS · vP = v ΩT · 2 P m ·e r PS Ω ΘP {z } | Massenmatrix des Einzelkörpers oder ausgeschrieben T= 1 1 m · vPT vP + m · vP (Ω × r PS ) + ΩT · Θ P · Ω |2 {z } | {z } |2 {z } Translationsterm Koppelterm (7.1) Rotationsterm und man beachte, dass hier fünf mal derselbe Bezugspunkt P auftritt. Jeder der drei auftretenden Summanden ist ein Skalar, wie einfach durch Betrachten der einzelnen Terme gesehen werden kann. Skalare sind aus Prinzip nicht koordinatenbehaftet und es dürfen deshalb die einzelnen Summanden in (7.1) in einem beliebigen Koordinatensystem ausgewertet werden. Damit dürfen wie die Gleichung neu schreiben als T= 1 1 m · B vPT B vP + m · C vP (C Ω × C r PS ) + D ΩT · D Θ P · D Ω 2 2 und so mehrere Sonderfälle betrachten. 91 7. Kinetik des starren Körpers Im Fall P = S, dass der betrachtete Punkt im Schwerpunkt liegt, ist r PS ≡ 0 und die kinetische Energie ergibt sich zu T= 1 1 · m · vST · vS + ΩT ΘS Ω 2 2 Der zweite Fall ist, dass P ruhend ist. Dann ist mit vP = 0 und die kinetische Energie 1 T = ΩT Θ S Ω 2 Die kinetische Energie ist eine invariante Grösse. Sie ist komplett unabhängig von der Wahl des Koordinatensystems und des betrachteten Bezugspunktes. 7.4 Transformationsregeln für den Trägheitstensor Man betrachtet einen Wechsel des Koordinatensystems. Gegeben ist der Träheitstensor zu einem Punkt B Θ P und man versucht einen Ausdruck für C Θ P zu finden. Über die Energie rechnet man 2Trot = B ΩT · B Θ P · B Ω mit BΩ = A BC · C Ω = C ΩT · ATBC · B Θ P · A BC · C Ω = C ΩT · ACB · B Θ P · AT CB ·C Ω | {z } C ΘP das führt auf die Transformationsregel C ΘP = ACB · B Θ P AT CB Neben dem Wechsel des Koordinatensystems ist man auch hier interessiert am Bezugspunktwechsel für den Trägheitstensor. Gesucht ist eine Umrechnung zwischen Θ P und ΘS . Aus dem Kapitel 1 über grundlegende Konzepte wissen wir, dass wir dabei idealerweise über den Massenmittelpunkt gehen, da sich dadurch die Rechnung massiv vereinfacht. Es ist S der Massenmittelpunkt des Körpers K und es gilt ρ = r PS + ν Notation 9: Man beachte, dass der Vektor griechisch ν ein Längenvektor ist und keinesfalls mit dem Geschwindigkeitsvektor v verwechselt werden sollte. 92 26. November 2008 7.5. Eigenschaften von Trägheitstensor und Massenmatrix Man setzt wieder, wie bei der Herleitung der kinetischen Energie, die Starrkörperrelationen ein, um ΘP = = Z T K Z K ρe · ρe dm = Z K e r PS · e rT PS dm + = er PS · er T PS Z (er PS + νe) · (er PS + νe)T dm Z K e r PS · ν eT dm + Z Z Z K ν e·e rT PS dm + Z K ν e·ν eT dm T e dm + ν e dme rT dm + e r PS ν PS + ΘS K K K zu erhalten, was auf die einfache Formel Θ P = ΘS + m · e r PS · e rT | {z PS} Steiner-Anteil führt. Bemerkung 7.4.1: Es gilt zu beachten, dass man bei Umrechnungen immer über den Massenmittelpunkt gehen sollte. Beispiel 7.4.1: Für gegebenes Θ P wird der Trägheitstensor ΘQ in einem Punkt Q gesucht, der nicht im Ursprung liegt. Man rechnet erst den Trägheitstensor für den Schwerpunkt ΘS = Θ P − m · e r PS · e rT PS und damit dann den Term für den gesuchten Punkt T Θ Q = ΘS + m · e rQS · e rQS T = Θ P + m · erQS · erQS − er PS · er T PS 7.5 Eigenschaften von Trägheitstensor und Massenmatrix Es sind bis jetzt nur Formeln für den Trägheitstensor hergeleitet worden. In diesem Abschnitt sollen die Form und Eigenschaften etwas genauer betrachtet werden. Man wählt ein Körperfestes Koordinatensystem R mit h iT ρ = R x y z und man rechnet den Trägheitstensor zu R R R 2 + z2 ) dm ( y − xy dm − xz dm Z K R R 2K 2 RK e2 dm = RΘP = − Rρ − xy dm ( x + z ) dm − yz dm K K K K R R R 2 2 − K xz dm − K yz dm ( x + y ) dm K 93 7. Kinetik des starren Körpers Körper dm ρ K R Abbildung 7.3: Schleifendes Koordinatensystem K im Vergleich zum Körperfesten System R. was aber umständlich ist, weil man sechs Integrale berechnen muss. Deshalb kürzt man ab zu A −F −E R Θ P := − F B −D −E −D C Es sind in dieser Matrix die konstanten A, B und C die Massenträgheitsmomente und D, E und F die Massendeviationsmomente bezüglich dem Körperfesten System R. Bemerkung 7.5.1: Da das Bezugssystem R körperfest gewählt ist, sieht man, dass sämtliche Elemente des Trägheitstensors zeitlich konstant bleiben. Es sind also alle Momente A bis F für ein System konstante Zahlen. Die Deviationsmomente des Trägheitstensors werden stets ein Problem darstellen. Ein Weg, diese zu umgehen, besteht darin, den Trägheitstensor zu diagonalisieren. Man stellt fest, dass der Trägheitstensor eine symmetrische reelle Matrix ist, was nach den Erkenntnissen aus der Linearen Algebra dazu führt, dass die Eigenwerte reell und die Eigenvektoren zueinander orthogonal sein werden. Weil die Eigenwerte ein Orthogonalsystem bilden, sind sie auch orthonormierbar und als Rechtsorthogonalsystem anordenbar und es existiert ein körperfestes Koordinatensystem, in dem der Trägheitstensor Diagonalform hat . Es gibt also ein h iT K ρ = ξ, η, ζ so dass sich der Trägheitstensor zu R 2 + ζ 2 ) dm ( η 0 0 K R 2 := K ΘP = 0 (ξ + ζ 2 ) dm 0 K R 2 2 0 0 (ξ + η ) dm K 94 A0 0 0 0 0 B0 0 0 C0 26. November 2008 7.5. Eigenschaften von Trägheitstensor und Massenmatrix ergibt. Man nennt A0 , B0 und C0 die Hauptträgheitsmomente des Punktes. Man findet, dass A0 ≥ 0, B0 ≥ 0, C0 ≥ 0 und somit ΩT · Θ P · Ω ≥ 0 ∀Ω das heisst der Trägheitstensor ist mindestens positiv semidefinit. Für vernünftige dreidimensionale Körper ist er sogar positiv definit. Ein Beispiel für einen “unvernünftigen” Körper wäre ein sehr dünner Stab, da dieser um die Richtung des Stabes praktisch ohne Moment beschleunigt werden kann. Eine weitere Eigenschaft der Hauptträgheitsmomente ist, dass A0 + B0 ≥ C0 B0 + C0 ≥ A0 und A0 + C0 ≥ B0 was aus der Dreiecksungleichung folgt. Um die Diagonalisierung in der Praxis durchführen zu können, muss man ein körperfestes Koordinatensystem K suchen, so dass RΘP = A RK · K Θ P · ATRK mit K ΘP = diag( A0 , B0 , C0 ) was man mit der Umbenennung A0 = λ1 , B0 = λ2 und C0 = λ3 und einsetzen der Einheitsvektoren zu ⇐⇒ R Θ P A RK = A RK · K Θ P ⇐⇒ RΘP · h K R e1 K R e2 K R e3 i = h λ1 K R e1 K R e2 K R e3 i · 0 0 0 0 λ2 0 0 λ3 expandiert. Damit kann man das Eigenwertproblem für R Θ P als RΘP · R eiK = λi · R eiK formulieren. Dabei sind die Eigenwerte λi die Hauptträgheitsmomente und die Eigenvekoren R eiK die Vektoren die — richtig angeordnet — das orthonormierte rechtshändige Koordinatensystem bilden. Für gegebenes R Θ P sucht man K Θ P . Das Vorgehen ist dabei wie folgt: 1. Man rechnet den Trägheitstensor des Schwerpunktes R ΘS aus R Θ P 2. und diagonalisiert dann R ΘS zu K ΘS . 95 7. Kinetik des starren Körpers Wichtig dabei ist vor allem, dass die Reihenfolge eingehalten wird, da sonst die Diagonalisierung nicht funktioniert. Es werden im Folgenden schleifende Koordinatensysteme und rotationssymmetrische Körper etwas genauer betrachtet. Es ist ein körperfestes Koordinatensystem A 0 0 K ΘS = 0 A 0 0 0 C sowie ein sogenanntes schleifendes Koordinatensystem gegeben. Ein schleifendes Koordinatensystem stimmt mit einer Achse mit dem Körperfesten System überein, “schleift” aber mit den anderen beiden Achsen am Körper. Das Referenzsystem ist gegeben durch A RK cos γ sin γ 0 = − sin γ cos γ 0 0 0 1 Gesucht ist nun das R ΘS . Dafür rechnet man R ΘS = A RK · K ΘS · ATRK cos γ − sin γ 0 A 0 0 cos γ sin γ 0 = − sin γ cos γ 0 · 0 A 0 · sin γ cos γ 0 0 0 1 0 0 C 0 0 1 A 0 0 = · · · = 0 A 0 0 0 C und es folgt sofort R ΘS 7.5.1 = K ΘS Massenmatrix des Starrkörpers Wie bereits in Abschnitt 7.3 gesehen, ist die Massenmatrix des Körpers definiert als " # m ·I m ·e rT PS M= m ·e r PS ΘP und hat folgende Eigenschaften: 96 2. Dezember 2008 7.6. Auswertung des Impulses i) M = M T ist symmetrisch. ii) M ist mindestens positiv semidefinit. Das lässt sich sehen wenn man die kinetische Energie betrachtet. " 2T = vP #T " · Ω " = vS #T " Ω =m · vST · m·I m ·e rT PS m ·e r PS ΘP # " m·I 0 0 · ΘP # " · vP # Ω vS # Ω T · vS + Ω · ΘS · Ω ≥ 0 ∀(vS , Ω) also auch ∀(vP , Ω) Intuitiverweise gibt es keine negative kinetische Energie. 7.6 Auswertung des Impulses Es folgt im Weiteren die Auswertung von Impuls- und Drallsatz für den starren Körper. Hier wird zuerst der Impulssatz ausformuliert. In seiner allgemeinster Form ist der Impuls p= = = Z ZK ZK K = vP ξ̇ dm (vP + Ω × ρ) dm vP dm + Z K Z K Ω × ρ dm dm + Ω × Z K ρ dm was durch das Einsetzen der häufig auftretenden Integrale zu p = m · vP + Ω × m · r PS wird. Das führt uns auf die Formel p = m · (vP + Ω × r PS ) | {z } vS mit der wir den Impuls eines Körpers berechnen können. Dies ist wie bereits bekannt die Masse mal die Schwerpunktsgeschwindigkeit des Körpers. 97 7. Kinetik des starren Körpers 7.7 Auswertung der Impulsänderung Mit dem Ergebnis aus der Auswertung des Impulses wird hier auch der Impulssatz genauer betrachtet. Der Impulssatz sagt, dass ṗ = F a Berechnet man also die Ableitung des Impulses, erhält man ṗ = (m · vS )0 = mv̇S = m · aS = m · ( a P + Ψ × r PS + Ω × (Ω × r PS )) | {z } aS 7.8 Auswertung des Dralls In Analogie zur Auswertung des Impulses, soll hier auch der Drall für den Starrkörper berechnet werden. Man rechnet LO = = = Z ZK ZK K ξ × ξ̇ dm (rOP + ρ) × ξ̇ dm rOP × ξ̇ dm + Z K ρ × ξ̇ dm und betrachtet separat die auftretenden Integrale. Das erste Integral wird zu Z K rOP × ξ̇ dm = rOP × Z K ξ̇ dm = rOP × p und das zweite wird Z K ρ × ξ̇ = = = Z ZK ZK K ρ × (vP + Ω × ρ) dm ρ × vP dm − ρ dm × vP + Z ZK K ρ × (ρ × Ω) dm ρeρeT dm · Ω = m · r PS × vP + Θ P · Ω was auf die Formel LO = rOP × p + Θ P Ω + m · r PS × vP führt. 98 (7.2) 3. Dezember 2008 7.8.1 7.9. Zusammenfassung Auswertung der Dralländerung Was noch fehlt, ist das explizite Ausrechnen der gefundenen Dralländerung für den Starrkörper. Der Drallsatz sagt, dass L̇O = M0a Berechnen der Dralländerung ergibt L̇O = ṙOP × p + rOP × ṗ + (Θ P · Ω)0 + m · ṙ PS × vP + m · r PS × v̇P ( 0 (( =( m( · v( m( · (( vS(−(vP ) × vP + m · r PS × a P P × vS + rOP × ṗ + (Θ P · Ω ) + ( ( ( = rOP × ṗ + (Θ P · Ω)0 + m · r PS × a P Der Term (Θ P · Ω)0 kann noch vereinfacht werden. Der Ausdruck (Θ P · Ω)0 = Θ P Ψ + Θ̇ P · Ω ist sehr unschön, da man einen Trägheitstensor ableiten muss. Man transformiert das System in ein Körperfestes System K und berechnet die Eulerableitung 0 0 K (Θ P · Ω ) = (K Θ P · K Ω ) + K ω IK × (K Θ P · K Ω ) = K Θ P · K Ω̇ + K Θ̇ P · K Ω + K Ω × (K Θ · K Ω) und der Trägheitstensor fällt weg, weil er, wie vorgängig hergeleitet, im Körperfesten Koordinatensystem konstant ist. Rücktransformation ergibt (Θ P · Ω)0 = Θ P Ψ + Ω × Θ P · Ω Damit lässt sich der Drallsatz schreiben als L̇O = rOP × ṗ + Θ P Ψ + Ω × Θ P · Ω + m · r PS × a P Ein oft auftretender Spezialfall ist, dass der betrachtete Punkt genau auf dem Schwerpunkt gewählt wird. Der Drallsatz vereinfacht sich dann zu L̇O = rOP × ṗ + Θ P Ψ + Ω × Θ P · Ω 7.9 Zusammenfassung Es sollen hier nochmal alle gefundenen Beziehungen des Überblicks wegen zusammen aufgeschrieben werden. 99 7. Kinetik des starren Körpers Man hat Impuls und Drall gefunden als p = m · (vP + Ω × r PS ) LO = rOP × p + Θ P Ω + m · r PS × vP (7.3) (7.4) sowie daraus hergeleitet den Impuls- und Drallsatz ṗ = m · a P + m · Ψ × r PS + m · Ω × (Ω × r PS )) = F a L̇O = rOP × ṗ + Θ P Ψ + Ω × Θ P · Ω + m · r PS × a P = MOa (7.5) (7.6) Eliminieren wir aus dem Drallsatz (7.6) noch die Impulsableitung ṗ mit (7.5) erhält man L̇O + r PO × ṗ = Θ P Ψ + Ω × Θ P · Ω + m · r PS × a P = MOa + r PO × ṗ = MPa Der Vollständigkeit halber werden hier die Matrixformen der gefundenen Gleichungen angegeben. Man verwendet diese nicht zum Rechnen, aber in der Programmierung haben sie ihre Berechtigung. Es sind Impuls und Drall # " # " #" # " I 0 p m ·I m ·e rT PS · vP = ΘP Ω e r PO I LO m ·e r PS sowie die zugehörigen Impuls- und Drallsätze # " # " # " " #" # " # e ·Ω e · r PS aP m·Ω Fa I 0 ṗ m ·I m ·e rT PS · + = = e · ΘP Ω Ψ Ω MPa e r PO I L̇O m ·e r PS ΘP 7.10 Vorgehen bei der Rechnung von Hand Die gefundenen Formeln sind zur Berechnung von Hand möglich, aber sehr unpraktisch. Daher sind hier bessere Vorgehensweisen aufgelistet. 7.10.1 Bezugspunktwahl beim Drall Allgemeiner Fall Der allgemeine Drall ist LO = rOP × ṗ + Θ p Ω + m · r PS × vP 100 3. Dezember 2008 7.10. Vorgehen bei der Rechnung von Hand was aber in der Praxis nie verwendet werden sollte. Sowohl die Punkte O als auch P sind beliebig, wobei O raumfest und P Starrkörperfest ist. Der Punkt S ist der Massenmittelpunkt des betrachteten Starrkörpers. S S=P=O r PS P O rOP (a) Allgemeiner Fall. P=0 (b) Alle betrachteten Punkte im Schwerpunkt. P=S S O (c) Betrachteter Punkt im Ursprung. (d) Betrachteter Punkt im Schwerpunkt gewählt. Abbildung 7.4: Fälle für die Handrechnung. Schwerpunkt ruhend Im einfachsten Fall, dass S ruhend ist, wählt man optimalerweise O und P auf dem Punkt S. Dadurch ist rOP = r PS = 0 und der Drall vereinfacht sich zu LS = ΘS · Ω 101 7. Kinetik des starren Körpers Körper mit Fixpunkt Falls der betrachtete Körper einen Fixpunkt P besitzt, legt man den Ursprung in diesen Punkt. Daher gilt P≡O rOP = 0, vP = 0 und der Drall wird LO = Θ P · Ω Vereinfachung im allgemeinen Fall Sollte man den allgemeinen Fall betrachten müssen — kann man den Drall also nicht nach den beiden eben behandelten Spezialfällen berechnen — wählt man P so, dass er auf dem Schwerpunkt S liegt und r PS = 0 gilt. Dann muss man LO = rOS × p + ΘS Ω berechnen. Man berechnet dann Bp = m B vS nach Gleichung (7.3) und den Drall C LO wie eben behandelt. Dann berechnet man aus dem letzten Schritt die Eulerableitungen B ( ṗ ) = B ṗ + B ω IB × B p C L̇O = C L̇O + C ω IC × C LO und wertet schliesslich den Impuls- und Drallsatz aus zu a a B ( ṗ ) = B F C L̇O = C MO Anmerkung 7.10.1: Im Fall der Abbildung 7.4d ist eine weitere Vereinfachung möglich, wenn man den Spinsatz verwendet. Aus (7.6) wird mit P ≡ S Θ P · Ψ + Ω × Θ P · Ω = MSa | {z } (ΘS Ω)0 Unter der Definition des Spins NS := ΘS · Ω erhält man, was in der Literatur oft als “Drallsatz für den Schwerpunkt” angegeben ist, aber korrekterweise Spinsatz heissen würde. Der Spinsatz sagt, dass ṄS = MSa was mittels KC in das System C konvertiert wird und a C ṄS = C MS 102 3. Dezember 2008 7.11 7.11. Impuls- und Drallerhaltung am Starrkörper Impuls- und Drallerhaltung am Starrkörper Die bereits früher durchgeführte Betrachtung, welche Aussagen getroffen werden können, wenn an einem Körper keine äusseren Kräfte und Momente angreifen, muss hier im allgemeinen Fall noch einmal angeschaut werden. Zu betrachten sind Impulssatz ṗ = F a mit p = mvS sowie Drall- und Spinsatz L̇0 = MOa , Satz 7.11.1: te an ṄS = MSa mit NS = ΘS · Ω Greifen an einem Körper keine äusseren Kräfte und Momen- ( F a = 0, M a = 0) dann ist der Impuls p und der Drall L0 wie auch der Spin NS des Körpers konstant. Beweis 9: Aus der Kräftefreiheit folgt Fa = 0 =⇒ ṗ = 0 p = const =⇒ sowie der Momentefreiheit Fa = 0 Ma = 0 wonach auch alle induzierten Momente verschwinden, folgt MOa = 0 MSa =0 =⇒ =⇒ L̇O = 0 ṄS = 0 =⇒ =⇒ L0 = const NS = const Folgerungen: i) Wegen p = mvS = const und m = const gilt vS = const, das heisst der Massenmittelpunkt bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit, ist also in jedem Fall geradlinig. ii) Dass NS = ΘS · Ω = const bedeutet im allgemeinen nicht, dass Ω = const gilt, da 0 = ṄS = (ΘS · Ω)0 = ΘS Ψ + Ω × ΘS · Ω ⇐⇒ ΘS Ψ = −Ω × ΘS · Ω somit ist Ω nicht zwingend konstant! 103 7. Kinetik des starren Körpers iii) Es gilt abzuklären, ob es Sonderfälle gibt, in denen Ω trozdem konstant ist. Es muss also Ω = const =⇒ Ψ = Ω̇ = 0 =⇒ Ω × ΘS · Ω = 0 gelten und somit Ω und ΘS · Ω (anti)parallel sein. Somit muss ∃λ so dass ΘS · Ω = λ · Ω was genau dem Eigenwertproblem (Θs − λI)Ω = 0 Die Lösung ist also, dass ein Koordinatensystem so existiert, dass ΘS diagonal ist. Die Eigenwerte λi sind die Hauptträgheitsmomente und die Eigenvektoren die Hauptträgheitsachsen. Zeigt nun Ω in Richtung der Hauptträgheitsachsen, dann ist Ω = const eine Lösung des Eigenwertproblems. Bemerkung 7.11.1: Sei A0 < B0 < C0 Haupttägheitsmomente, dann ist die Drehung “um A0 oder C0 ” (grenz-) stabil und die Drehung “um B0 ” instabil. 104 Kapitel 8 Der Kreisel In diesem Kapitel werden keine neue Theorien entwickelt, sondern nur Bekanntes angewandt. 8.1 Einführung Definition 8.1.1 (Kreisel): Ein Kreisel ist ein starrer Körper mit Fixpunkt P (es gilt also: vp = a p = 0) und ungehinderter Drehung. Die Eigenschaften des Kreisels hat Konsequenzen an Drall: Allgemein lautet der Drall bekanntlich: LO = rOP × p + Θ̄P Ω + mr PS + vP Für den Kreisel wählen wir O so, dass dieser auf P liegt (P = 0, rOP = 0, vP = 0). Daraus ergibt sich der Drall für den Kreisel: L P = Θ̄P Ω (8.1) L̇ P = Θ̄P Ω̇ + Ω × Θ̄P Ω = MPa (8.2) Ebenso den Drallsatz: Die Kinetische Energie im Kreisel ist: T= 1 T 1 Ω Θ̄P Ω = Ω T L P 2 2 (8.3) Zur Auswertung wählen wir ein körperfestes Hauptachsensystem K im Punkt P. 105 8. Der Kreisel Bezeichnungen Wir führen folgende Bezeichnungen ein: L x K L P =: Ly Lz a K MP Mx =: My Mz ωx K Ω = : ωy ωz ω̇x Kψ =K (Ω̇) =K Ω̇ = ω̇y ω̇z A 0 0 K Θ̄P : = 0 B 0 0 0 C Setzen wir dies in (8.2) ein, ergiben sich die Euler’sche Kreiselgleichungen: Aω̇x − ( B − C )ωy ωz = Mx Bω̇y − (C − A)ωx ωz = My C ω̇z − ( A − B)ωx ωy = Mz 8.2 Bewegungen des momentenfreien Kreisels Sei MP a = 0 ( M x = My = Mz = 0 ) Aus (8.2) ergibt sich somit L̇ P = 0 106 ⇒ L P = const. (8.4) 10. Dezember 2008 8.2. Bewegungen des momentenfreien Kreisels Aus (8.3) ergibt sich: 2Ṫ = (Ω T L P )0 = Ω̇T L P + ΩT L̇ P = Ω̇T θ̄P Ω + ΩT θ̄P Ω̇ + 2 ΩT (Ω × θ̄P Ω {z } | ≡0 T T = 2Ω (θ̄P Ω̇ + Ω × θ̄P Ω) = 2ΩT L̇ P ≡ 0 Daraus ergibt sich: 2T = const. = Ω T L P Damit gilt für den Kreisel: a) L P = const. (L P raumfest) b) Ω T L P = const. Als nächstes analysieren wir die Stabilität der Drehungen um die Hauptachsen. Dazu betrachten wir die Drehung um die 3. Hauptachse: K ΩO 0 := 0 , Ωz Ωz = const. ist eine Lösung von (8.4) Wir wissen, dass ΩO = const. = Ωz ezK gilt. Daraus folgt: ezK = const. Des weitern wissen wir: L P = const. = CΩz ezK Betrachte kleine Störungen dieser Bewegung, also ωx (t) K Ω : = K ΩO + K ω = ω y ( t ) Ωz 107 8. Der Kreisel wobei ωx und ωy klein sind. Wird dies in die Euler-Gleichungen eingesetzt ergiben sich die folgenden Gleichungen: Aω̇x − ( B − C )ωy Ωz = 0 Bω̇y − (C − A)Ωz ωx = 0 C Ω̇z − ( A − B) ωx ωy = 0 |{z} | {z } =0 2. Ord. Die erste Gleichung nochmals abgeleitet ergibt Aω̈x − ( B − C )ω̇y Ωz = 0 Zusammen mit der zweiten Gleichung kriegt man ABω̈x + (C − B)(C − A)Ω2z ωx = 0 was sich vereinfacht schreiben lässt als ω̈x + µ2 ωx = 0 mit µ2 = Ω2z (C − B)(C − A) AB Dabei kann µ2 sowohl kleiner als auch grösser 0 sein: Fall A: µ2 > 0. In diesem Fall ist ωx (t) eine stabile Schwingung Fall B: µ2 < 0. In diesem Fall ist ωx (t) instabil mit exponentiellem Aufklingen Nutation beim symmetrischen Kreisel (A=B) Für den Fall, dass A = B lauten die Euler-Gleichungen wie folgt: Aω̇x − ( A − C )ωy ωz Aω̇y − (C − A)ωz ωx =0 =0 C ω̇z = 0 Aus der dritten Gleichung folgt, dass ωz = const und wir setzen Ω := ωz . Fasst man die ersten 2 Gleichungen zusammen ergibt sich: Aω̇x − ( A − C )Ωωy = 0 Aω̇y − (C − A)Ωωx = 0 108 10. Dezember 2008 8.2. Bewegungen des momentenfreien Kreisels Wenn wir nun noch die erste Gleichung des obigen Gleichungssystems ableiten, ergibt sich folgendes neues Differentialgleichungssystem: Aω̈x − ( A − C )Ωω̇y = 0 Aω̇y − (C − A)Ωωx = 0 Daraus erhält man eine einfach Differentialgleichung in ωx : ẅx + µ2 ωx = 0 mit µ2 = Ω2z ( A − C )2 A2 Dies führt zu folgenden Lösungen: ωx (t) = ω̂ sin(µt + ϕ) ωy (t) = ω̂ cos(µt + ϕ) Diese Lösung als Vektor dargestellt umläuft einen Kreis mit Radius ω̂ in der eKx eyK -Ebene. Dies führt zu Aωx (t) L = K P Aωy (t) CΩ ω (t) x K Ω = ωy ( t ) Ω 0 K K e z = 0 1 K LP , K Ω und K ezK sind linear abhängig und somit in einer Ebene. K LP = AK Ω + Ω(C − A)K ezK Beachte: L P = const. Ω T L P = const. Ω T ezK = const. 109 8. Der Kreisel Ausserdem ist L P , ezK und Ω komplanar und es gilt p kΩk = Ω2 + ω̂ 2 = const. Es gilt: Ω = ΩN + ΩF Dabei ist Ω F Anteil von Ω, mit der sich der Kreisel um Figurenachse dreht. Ω N Nutations-Winkelgeschwindigkeit, mit der sich die Figurenachse um die raumfeste Drallachse dreht. Körperfester Polkegel mit Figurenachse ezK als Achse rollt auf raumfesten Spurkegel mit Drallvektor als Achse ab. Auf Berührungslinie beider Kegel liegt Ω. Die Figurenachse ezK beschreibt Bewegung auf Nutationskegel. Der Betrag der Nutationsgeschwindigkeit lässt sich wie folgt berechnen: kΩ N k = = = q 1 A T T K ΩN K ΩN q q = 1 A q T K LP K LP A2 ωx2 (t) + A2 ωy2 (t) + C2 Ω2 ω̂ 2 + ( CA Ω)2 Für kleiner ω̂ ergibt sich somit C Ω∼Ω A Anmerkung 8.2.1: Für unsymmetrische Kreisel (A 6= B) liegen L P , ezK und Ω nicht mehr in einer Ebene und werden Kreiskegel zu elliptischen Kegeln. 8.3 Erzwungene Bewegung eines Kreisels Es werden hier nur einige allgemeine qualitative Aussagen über Kreisel mit äusseren Momenten gemacht. Satz 8.3.1 (Gleichsinniger Parallelismus): allelismus” L̇ P (t) = MPa (t) 110 =⇒ Der Satz des “gleichsinnigen Par- L P (t + ∆t) ≈ L P (t) + MPa (t) · ∆t 16. Dezember 2008 8.3. Erzwungene Bewegung eines Kreisels der ansich nur der Drallsatz etwas umformuliert ist, besagt, dass der Drallvektor eines sich drehenden Körpers die Tendenz hat, sich gleichsinnig in Richtung des äusseren Moments einzustellen. L P (t + ∆t) MPa (t) MPa (t) · ∆t P L P (t) Abbildung 8.1: Wirkung eines angreifenden Moments auf den Drall. Ein raumfestes Moment Beispiel 8.3.1: MPa = const wirkt auf einen Körper. Der Satz sagt, dass L P (t) = L P (t = 0) + MPa · t MPa L P (t) L P ( t = 0) Abbildung 8.2: Inkrementelle Dralländerung eines Kreisels. Wie man an der Abbildung sehen kann, wird sich mit fortschreitender Zeit der Drallvektor immer mehr gegen das wirkende Moment hinbewegen, dieses aber nie ganz erreichen. Ausserdem wird der Drallvektor des Körpers schnell sehr gross. Man betrachtet hier den Fall, dass das Moment nicht raumfest ist, sondern bewegt — beispielsweise konstant in einem mitschleifenden Referenzsystem — ist. Wie bereits festgestellt, wird der Drallvektor permanent versuchen, sich dem wegdrehenden Momentenvektor einzuholen. Man nennt die entstehenden Bewegungen Präzessionsbewegungen. 111 8. Der Kreisel Beispiel 8.3.2: Es wird die Kreiselbewegung eines symmetrischen Kreisels — wie dargestellt in Abbildung 8.3 auf der nächsten Seite — betrachtet, bei dem das Moment MPa ⊥ L P senkrecht auf den Drallvektor steht. Der Trägheitstensor des Kreisels in Abbildung ergibt gleiche Trägheitsmomente in x und in y-Richtung. Der Trägheitstensor wird die Form A 0 0 ΘP = 0 0 A 0 0 C haben. Die Drehgeschwindigkeit und angreifendes Moment setzt man h iT Ω = R ωpr 0 Ω h iT a M = R P 0 M 0 und die Drehung des Körperfesten Systems h iT ω = R IR ωpr 0 0 Der Drall des Systems ist R LP h i = R Θ P · R Ω = Aωpr 0 C · Ω mit welchem man den Drallsatz auswertet: R L̇ P = R L̇ P + R ω IR × R L P 0 Aωpr ωpr Aωpr = 0 + 0 × 0 CΩ 0 CΩ Aω̇pr 0 a = −C · Ω · ωpr = M = R MP C · Ω̇ 0 1. ω̇pr = 0 2. Ω̇ = 0 112 =⇒ =⇒ ωpr = const Ω = const 16. Dezember 2008 8.3. Erzwungene Bewegung eines Kreisels 3. Man bezeichnet ωpr = − M CΩ als Präzessionsfrequenz. Es gilt folgende Punkte zu beachten, die aus der Rechnung folgen: (i) Je grösser die Masse M, desto schneller ist die Präzession. (ii) Je kleiner die Körperdrehung Ω, desto schneller ist die Präzession. (iii) Der Drallvektor L P liegt in der x-z-Ebene, hat also einen Anteil in xRichtung. Weitere Präzessionserscheinungen sind zum Beispiel der symmetrische schwere Kreisel. Die untere Gleichgewichtslage ist selbstverständlich stabil, wie man am Pendelpotential sehen kann. Überraschender ist, dass der obere instabile Gleichgewichtspunkt über eine Körperdrehung bedingt stabilisierbar ist. Die stabilisierenden Kreiselkräfte können sogar grössere Auslenkungen aus der Gleichgewichtslage aufrecht erhalten, es treten aber Präzessionsbewegungen auf. Der untere Gleichgewichtspunkt ist statisch und dynamisch Stabil, der obere nur dynamisch. Eine unsaubere, aber hilfreiche Merkregel zum Satz des gleichsinigen Parallelismus bei e xR ωpr ezR Ω eyR Abbildung 8.3: Präzessionskreisel. Ω S mg Abbildung 8.4: Symmetrischer schwerer Kreisel 113 8. Der Kreisel symmetrischen Kreiseln ist an der Abbildung zu sehen. Man dreht das Kräftepaar F, das das Moment erzeugt, um 90◦ weiter zu F ∗ . Das neue Kräftepaar zeigt die Ausweichrichtung ωpr an. Diese Regel ist sehr unpräzise und nicht sauber, funktioniert aber um sich die Bewegung im Kopf zu überlegen. Beispiel 8.3.3: Ein Mensch mit einem drehenden Rad senkrecht zum Körper steht auf einer Drehscheibe. Es sellt sich die Frage, in welche Richtung Mensch und Rad sich drehen, wenn der Mensch das Rad über den Kopf hält. Eine Lösungsmöglichkeit ist über Drallerhaltung, die andere ist über die Merkregel. Man sieht die resultierende Drehung in der Skizze. 8.4 Weitere Kreiselphänomene / Kreiselgeräte Kurskreisel Im Fahrzeugbau werden sogenannte Kurskreisel oder Richtungshalter eingesetzt, mit denen man bis hin zu einer Genauigkeit von 0.002 grad·min−1 die Richtung messen kann. Gegenüber dem Magnetkompass hat ein Kurskreisel kein Einschwingen. Diskus Eine andere, viel ältere Anwendung von Kreiseln ist der Diskus. Die Diskusscheibe hat einen grossen Drall, aber es wirken relativ kleine Luftkräfte, daher ist die Präzession klein und es resultiert eine stabile Flugbahn. Ein Diskus segelt auf der Luft. Bierdeckel Bierfilze haben einen kleinen Drall und werden stark von den Luftkräften beeinflusst, haben daher eine hohe Präzession. Der Bierdeckel dreht sich weg und hat keine stabile Flugbahn. 114 17. Dezember 2008 8.4. Weitere Kreiselphänomene / Kreiselgeräte Kreiselkompass ωE = ωhoch + ωlängs + ωquer | {z } Zwangsdrehung Wenn sich der Kreisel nach Norden ausrichtet, verschwindet die Zwangsdrehung. Da sich der Kreisel gegen die Drehung wehrt, richtet er sich so aus, dass der Widerstand möglichst klein wird. 115 Literaturverzeichnis [1] Hagedorn, Peter: Technische Schwingungslehre. Bd. II: Lineare Schwingungen kontinuierlicher mechanischer Systeme. Berlin : Springer-Verlag GmbH, 1989. – ISBN 978–3540508694 [2] Hagedorn, Peter: Technische Mechanik. Bd. 3: Technische Mechanik 3: Dynamik. 3. Deutsch (Harri), 2006. – ISBN 978–3817117796 [3] Wittenburg, Jens: Schwingungslehre: Lineare Schwingungen, Theorie und Anwendungen. 1. Berlin : Springer, 1996. – ISBN 978–3540610045 116 Index B K Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Beweungsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Konservatives Kraftsystem . . . . . . . . 12 Koordinatensystem . . . . . . . . . . . . . . . 67 Kraftelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Kreuzprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Kronecker Delta . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 C Charakteristiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 D M Drall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Matrix Dreh- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 E N Energieerhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Niveaulinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 F O Frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Ortsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 H P Haupt -koordinaten. . . . . . . . . . . . . . . . . .43 Hauptvektor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Präzessionsbewegungen . . . . . . . . . 111 Präzessionsfrequenz . . . . . . . . . . . . . 113 Pseudo frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 I Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Intertialsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 117 Index R Rollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 S Satz Drall- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Impuls- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Spin- . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 von Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Schwebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Separationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Spin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Starrkörper -beschleunigung . . . . . . . . . . . . . . 78 -formeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 -geschwindigkeit . . . . . . . . . . . . . 77 V Vektorräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 W Welle -stehende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Wellen -länge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 -zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Wellengeschwindigkeit . . . . . . . . . . . 50 Wellengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Winkelgeschwindigkeit . . . . . . . . . . . 72 Z Zeitfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Zustandsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 118