Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis Vorlesung im Herbstsemester 2009 Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich Claude Longchamp, Institutsleiter gfs.bern 30. Okt. 2009: Vorlesung 7 "Wahlen in der Mediengesellschaft" 1 Einleitung Die Provokation Thomas B. Coburn, Arzt, Prediger und Politiker, verlangt, die öffentlichen Forschungsbeiträge für Politikwissenschaften gänzlich zu streichen und wirklichen Wissenschaften zu übergeben. Am heftigsten kritisiert er die geförderte Wahlforschung; da reiche es CNN zu sehen. 2 Einleitung Reaktionen Arthur Lupia, Univ. of Michigan: Die Politikwissenschaft biete Methoden an, mit denen man die Wirkungen staatlicher Institutionen bestimmen könne. 700 Wissenschafter und Tausende von Forschern würde mit den Daten der National Election Studies arbeiten, um zu erfahren, wie Demokratie heute funktioniere. Nicht zuletzt beim Aufbau neuer Demokratien nach dem Fall des Kommunismus sei das ein entscheidender Beitrag gewesen. Joseph Nye, Harvard University: Es besteht die Gefahr, "that political science is moving in the direction of saying more and more about less and less". Kritisch beurteilt er, dass sich die Forschung zu stark von den Möglichkeiten statistischer Techniken leiten lasse. "The motivation to be precise, has overtaken the impulse to be relevant". 3 Einleitung Die "Perestroika-Debatte" Im Hintergrund schwingt mit, dass seit dem Jahre 2000 in der amerikanischen Politikwissenschaft eine Debatte immer wieder Aufflackert: Die "Perestroika-Debatte" in der amerikanischen Politikwissenschaft • Lanciert wurde sie von einem Kollegen, der anonym bleiben wollte und sich Mr. Perestroika nannte. Anhand angenommener und abgelehnter Beiträge im Flagschiff der Forschung, dem American Political Science Review, wies er nach, dass die Mathematisierung die Entwicklung der Forschung beeinflusse, nicht die Suche nach Antworten auf grosse Probleme. • Seither stehen sich Anhänger harter und weicher Methoden, quantitativer und qualitativer Forschung gegenüber - und es herrscht Uneinigkeit, ob man nah oder fern der Politik Politikwissenschaft betreiben solle - und 4 erleichtern Angreifern wie Coburn ihr Spielchen. Übersicht Ziel von heute: Wahlen in der Mediengesellschaft • Grundlagen Kommunikation/Medien • Die Verstärker-These • Kognitive Mobilisierung • Agenda Setting • Mediengesellschaft • Politische Kommunikation • Abschliessende Bemerkungen 5 Grundlagen Kommunikation/Medien Mediengesellschaft Thesen: • Medien dringen ins Herz der Gesellschaft vor; sie konstituieren relevante soziale Realitäten. • Medien wandeln sich vom Vermittler zum Akteur; sie sind der Treiber der politischen Kommunikation. • Logik der Politik wird an die Logik der Medien angepasst; das Medienbild bestimmt den Wahlerfolg. • Analyse der Mediengesellschaft ersetzt heute weitgehend die Analyse sozialer Konflikte. 6 Neue Trends in Wahl- und Abstimmungskämpfen in der Schweiz Eigenheiten von Wahlen und Wahlkämpfen in der Schweiz • Keine Volkswahl des Präsidenten/der Bundesregierung • Nationale Wahlen sind kantonal organisiert • Majorzwahlrecht beim Ständerat, Proporzwahlrecht bei Nationalrat, erweitert • Parteien- und KandidatInnen-getrieben • Bezahlte politische Werbung in TV und Radio nicht erlaubt • Links/Rechts-Dimension zentral • Konkordanzkultur über politische Lagerbildung hinweg • standardisierte Parteienwahlkämpfe in den Kantonen • Bedeutung der persönlichen Kommunikation 7 Neue Trends in Wahl- und Abstimmungskämpfen in der Schweiz Trends bei Wahlen/Wahlkämpfen in der • Nationalisierung des Parteiensystem durch überkantonale Schweiz • • • • • • • • • • • • • • Wahlkämpfe Erosion des politischen Zentrums Bi-Polarisierung links und Rechts Lead-Rolle der SVP im rechten, nicht aber bürgerlichen Lager Fragmentierung der Linken Erhöhte Wechslerkonkurrenz innerhalb der Lager Leicht zunehmende Mobilisierung Feminisierung mitte/links Wahlhilfe durch Parteien/Personenpositionierungen Entstehung von Super-Wahlkämpfen (durch SVP) Angriffswahlkämpfe Crossmediale Inszenierung (strategische Kommunikation, Emotionalisierung Personalisierung, virtuelle Spitzenkandidaturen, Dramatisierung) Lokal ausgerichtete Wahlkämpfe bei kleineren Parteien Skandalisierung, Radikalisierung der Konfrontation 8 Beschränkte internationale Aufmerksamkeit und Einflussnahme Agenda Setting Die neue These (2): Agenda Setting • Zentrale Funktion der Massenmedien, die öffentliche Agenda durch eigene Themensetzungen zu bestimmen. • Grundlegend ist die These von Bernard C. Cohen (1963), wonach die Medien keinen grossen Einfluss auf das haben, was das Publikum zu einzelnen Themen denkt, aber einen erheblichen Einfluss darauf, worüber es sich überhaupt Gedanken macht. 9 Agenda Setting Agenda Setting Modelle: 1. Formen Awareness-Modell / Aufmerksamkeitsmodell: RezipientInnen werden auf Themen aufmerksam, die medial besonders betont werden. Salience-Modell /Hervorhebungsmodell: RezipientInnen billigen Themen die Wichtigkeit zu, die sie den Gewichtungen in den Medien entnehmen. Priorities-Modell /Themenselektionsmodell: RezipientInnen über nehmen die Themenrangfolge der Medien in ihre eigene Rangfolge 10 Agenda Setting Agenda Setting Modelle: 2. Mengen Kumulationsmodell: Eine Intensivierung der Berichterstattung führt direkt zu einer höheren Platzierung des Themas auf der Publikumsagenda. Schwellenmodell: Damit ein Thema auf die Publikumsagenda gelangt, ist ein Mindestmass an Berichterstattung nötig. Beschleunigungsmodell: Die Bevölkerung reagiert überdurchschnittlich schnell und intensiv auf die Medienthematisierung. Trägheitsmodell: Wenn ein Thema eine gewisse Wichtigkeit auf der Publikumsagenda erreicht hat, sind Steigerungen auch durch intensivere Berichterstattung kaum zu erreichen. Echomodell: Ein Thema bleibt länger auf der Publikumsagenda als auf der Medienagenda. 11 Agenda Setting Agenda Setting Modelle: 3. Spezifizierungen Prädispositionen: Bei Themen, die den RezipientInnen eigene Erfahrungen erlauben, sind diese wichtiger als die medialen Einflüsse. Kurz/Mittelfristig: TV bestimmt vor allem kurzfristige Effekte, Medien eher die mittel- und langfristigen. 12 Agenda Setting Agenda Setting im Wahlkampf Parteien versuchen im Medienwahlkampf … die Top-Themen der WählerInnen-Agenda mit eigenen Inhalten zu beeinflussen. … die WählerInnen-Agenda aufgrund ihrer Parteiprogramme zu beeinflussen (Agenda Setting/Cutting). … unerwartete Themen in der Medienagenda mit taktischen Positionsbezügen zu besetzen, um sich abzugrenzen oder zu rechtfertigen. 13 Grundlagen Kommunikation/Medien Entscheidungsebenen Zentrale Neuformulierung der Entscheidung aus der Sicht der Kommunikation Kollektivebene Entscheidung Grundlinie Oszillierungen Individualebene Entscheidung Prädisposition Information 14 Grundlagen Kommunikation/Medien Prädispositionen und Informationen Grundlinien/Prädisposition • • • Strukturelle Grundlinien: Stand, Klasse, Schicht, Siedlungsart Kulturelle Grundlinien: Sprache, Konfession, Ethnie, Milieus Politische Prädisposition: Ideologie, Werte, Parteibindungen, Themenpräferenzen Oszillierungen/Informationen Gespräche in persönlichen Netzwerken – Primärbeziehungen (Partner, Verwandte, Freunde) – Sekundärbeziehungen (Vereinsmitglieder, ArbeitskollegInnen) Berichte/Bilder in Medien – Printmedien – Elektronischen Massenmedien – Internet 15 Die Verstärker-These Verstärkungen durch Medien • Personale Kommunikation ist wichtiger als mediale. • Die Massenmedien wirken nur soweit, als sie in Themen und Sichtweisen aufnehmen, die im zustimmenden Sinne in der personalen Kommunikation aufgenommen werden. • Diese lange gut bewährte Thesen wird seit den 70er Jahren immer kritischer diskutiert. 16 Kognitive Mobilisierung Trends and Constellations in German Voting Behavior 17 Kognitive Mobilisierung Trends and Constellations • Generelle Parteibindungen sind bei neu entstehenden Parteien in der Opposition unverändert wichtig, während diese bei Regierungsparteien abnimmt. • Der Personalisierungstrend bei der SPD war ein Phänomen, das stark von der Person Gerd Schröders abhing. Ähnliches gilt mit Bezug auf die CDU/CSU für Helmut Kohl. • Kaum einen Trend kann man auch bei der Sachfragenorientierung erkennen. Das gilt vor allem für die CDU/CSU. Themenbindungen gehen am ehesten bei linken Parteien zurück, während sie für die FDP meist einen konstanten, wenn auch nicht entscheidenden Stellenwert haben. • Das alles fast die Autorin in der griffigen Formel zusammen: „Less Trends, More Constallations“. 18 Mediengesellschaft Die neue These (3): Wählen in der Mediengesellschaft Stefan Dahlem (2001): Wahlentscheidung in der Mediengesellschaft. Theoretische und empirische Grundlagen einer interdisziplinären Wahlforschung. Freiburg/München. Stephan Dahlems Thesen zur Neuformulierung der Wahlentscheidung in der medialisierten politischen Kommunikation: Wahlentscheidungen haben aus der Wählersicht äussere und innere Bestimmungsgründe. Äussere Faktoren: • Soziale Realitäten werden dargestellt wahrgenommen • Parteirealitäten werden vorgestellt wahrgenommen Innere Faktoren: • Zwischen dargestellter sozialer Realität und vorgestellten Parteirealitäten vermitteln die Befindlichkeiten der Wählenden In Wahlkämpfen geht es darum, ein Meinungsklima aufzubauen, das die Entscheidungen grundiert. 19 Mediengesellschaft Mediengesellschaft: Dahlem, S. (2001) 20 Mediengesellschaft Neues Modell 21 Abschliessende Bemerkungen Meine Beurteilung • Sehr komplexe Modellannahmen auf der Mikro-Ebene; kognitive Mobilisierung als sinnvolle Erweiterung der Parteibindung. • Besonders an Veränderungen des Wahlkampfes durch Medien, aber auch der Meinungsbildung durch Information interessiert. • Weiterentwicklung der Wahlforschung besonders für den Umgang mit Themen. • Weiterentwicklung der Wahlforschung vor allem im Verhältnis von personaler und medialer Information. • Generell ein Ansatz der in Entwicklung begriffen ist. • In der Schweiz verwendbar, wenn auch noch kaum erfolgt. 22 Abschliessende Bemerkungen Vergleich Entscheidungstheorien Vergleich der beiden wichtigsten Entscheidungstheorien in der Wahlforschung auf der Mikro-Ebene Mediengesellschaft Operation Induktiv-deduktiv Grundannahme Medien verändern die Wahlkampfkommunikation Entscheidungskriterien Agenda Setting Prädispositionen/Informationen Vorentscheidung Parteibindung/Präferenzen als wichtigste Vorentscheidungen Konfliktdimension Medien(-un-)abhängigkeit Alltagserfahrung vs. Medienerfahrungen Hauptsächliches Problem Komplexität durch Mediensystem, Grundlinien/Oszilierugnen, Prädispositionen und Informationsdynamiken Mögliche Lösungen Herkunft Soziologie, Medien-/Kommunikationswissenschaft Anwendung Sozialwissenschaften 23 Theorien der Wahlforschung Zeithorizont der Argumentation Langfristig Mittelfristig Kurzfristig (über ein(ig)e Wahl(-en) hinaus) (von Wahl zu Wahl neu) kollektiv Konfliktlinien des Modernisierungs- und Demokratisierungs-prozesses Realignment Dealignment Taktische Allianzen Kritische Wahl Säkularer Trend Systemische Änderung Konjunkturentwicklung akteurbezogen Wertwandel, Milieuanalysen, lokale Netzwerke, Familie Mediensystem Medien als (aktive) Vermittler Doppelte Nutzenerwartung Themen- und KandidatInnen-Angebote Oszillierungen individuell Familie, Netzwerke Schulische/mediale Sozialisation Parteiidentifikation Kognitive Mobilisierung Prädispositionen Rational Choice Themen- und KandidatenOrientierung Meinungsklima 24 Sozialwissenschaftliche Theorie Funktionsmodell empirischer Forschung Theorie Deduktion Konstruktion Begründungstheorie Beweistheorie Prognose Hypothese Bestätigungstheorie Heuristik Induktion Reduktion Information © Empirische Politikforschung, Dreier / gfs.bern / 2008 25 Diskussionspunkte 26