Teil 2 - Refugio Stuttgart

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Traumafolgestörungen
2. Die Symptomatik, die so „verrückt“
erscheint, ist in Wirklichkeit eine normale Reaktion auf eine schreckliche und unmenschliche Situation, die niemals hätte
passieren dürfen.
3. Die von anderen Menschen ausgeübte
physische, sexuelle, strukturelle oder
psychische Gewalt hat politische und/
oder gesellschaftliche Hintergründe. Ich
lehne als Therapeut/in diese Gewalt ab.
Es bedarf einer therapeutischen Beziehung, die ganz besonders von Vertrauen und Sicherheit geprägt ist. Sicherheit
bedeutet aus der Sicht eines Gewaltopfers zuallererst äußere Sicherheit. Das
meint die Abwesenheit der Täter, also
auch das Vertrauen in die Therapeut/in
und die dahinter stehende Organisation,
die den Rahmen für die Beratung oder
Therapie bietet. Dieses Vertrauen kann
nur geschöpft werden, indem die Therapeut/in eindeutig gegen diese Gewalt
Position bezieht und sich auf die Seite
der Betroffenen stellt – UND gleichzeitig die Klient/in nicht auf das „Opfer“
reduziert, sondern auch Ressourcen und
Stärken der Klient/in sieht und benennt.
Äußere Sicherheit als notwendige Bedingung für die weitere, innere Stabilisierung ist jedoch in unserem Kontext,
wie zuvor beschrieben, schon allein
durch den unsicheren Aufenthaltsstatus und die oft als bedrohlich erlebten
Unterbringungen meist nicht gegeben.
Psychotherapie gerät vor diesen Hintergründen oft zu einem Balanceakt namens „Stabilisierung unter extrem instabilen Bedingungen“.
Wie kann man eine sinnvolle stabilisierende Arbeit vor dem Hintergrund
dieser permanenten äußeren Destabilisierung überhaupt anbieten, ohne
selbst gewissermaßen unglaubwürdig
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zu werden? Als erstes, indem wir zuhören, die Gewalt nicht leugnen oder
nichts davon wissen wollen. Indem wir
dies gemeinsam versuchen zu ertragen,
vielleicht auch nur gemeinsam wahrzunehmen, diese Unerträglichkeit äußerer
Bedingungen in der Vergangenheit und
in der Gegenwart. Wesentlich daran ist,
dass es ein gemeinsamer Versuch ist,
der Unmenschlichkeit etwas entgegen
zu setzen: Indem wir uns in Beziehung
begeben und zuhören, mitfühlen und
nach Hilfen suchen, stärken wir das Vertrauen auf das Positive, die Hoffnung.
Wir ermutigen dazu, trotz allem nicht
aufzugeben und trotz allem weiter nach
vorhandenen Ressourcen zu suchen und
neue zu aktivieren. Auf den ersten Blick
scheint das wenig zu sein, aber es ist
nicht wenig. Das melden uns die Betroffenen oft zurück: „Als ich heute morgen
auf dem Kalender gesehen habe, dass
ich bei Ihnen heute wieder Termin habe,
war ich so froh! Wissen Sie, es tut mir
so gut, wenn ich mit Ihnen reden kann,
dann ist mir wieder etwas leichter. Denn
bei Ihnen, da kann ich über diese Dinge
sprechen, die mir so schwer sind.“
Dipl. Psych. Ulrike Schneck
Psychologische Leitung der
Regionalstelle Tübingen
Bekanntlich konzentriert sich die öffentliche Wahrnehmung von Traumafolgestörungen auf die sogenannte PTBS,
die Postraumatische Belastungsstörung,
deren Nachweis auch bei Gerichten immer wieder als Voraussetzung für die
Zuerkennung einer Aufenthaltsberechtigung vorausgesetzt wird.
Wir wissen jedoch inzwischen, dass es
mehrere Verlaufsformen von Traumafolgestörungen gibt, die von unterschiedlichen Untersuchern unterschiedlich bewertet werden, und auch in den
diagnostischen Manualen (ICD, DSM)
sind keine adäquaten Darstellungen zu
finden. Im Wesentlichen wird hier eine
Komorbidität unterstellt, so als hätte die
betroffene Person zwei Krankheiten.
Tatsächlich ist es so, dass es unterschiedliche Verlaufsformen in der Verarbeitung
von Traumafolgestörungen gibt.
Eine häufige Möglichkeit ist die depressive Verarbeitung, die einher geht mit einer allgemeinen Antriebsminderung und
generellen Freudlosigkeit.
Häufig ist auch die angstbetonte Verarbeitung, oft verbunden mit sozialen
Phobien oder auch einer generalisierten
Angststörung.
Weiterhin ist die dissoziative Bewältigungsform von großer Wichtigkeit, bei
der es zur Spaltung verschiedener Bewusstseinszustände kommt, wobei das
hierfür entscheidende Kriterium ist, dass
der Betroffene in einem BewusstseinsZustand nichts vom anderen Bewusstseins- Zustand weiß.
Eine weitere Möglichkeit ist die paranoide und psychotische Abwehr des traumatischen Geschehens. (Bei Interesse
findet sich hierüber eine ausführliche
Darstellung im Band 1/2015 der Zeitschrift „Trauma“.)
Sowohl für die Diagnostik als auch für
die Therapie ist es wichtig, mögliche
traumatische Hintergründe von Angsterkrankungen, depressiven oder paranoiden Störungen zu erwägen, da man anderenfalls Gefahr liefe, am eigentlichen
Problem vorbei zu therapieren.
Zur Zeit meines Medizin-Studiums galt
es weithin als unsinnig, Menschen mit
schweren psychischen Störungen psychotherapeutisch behandeln zu wollen,
obwohl dies selbstverständlich schon
sehr viel früher (z.B. Freud 1911) bedacht worden war (auch TraumafolgeStörungen wurden noch kaum thematisiert).
Insbesondere Frieda Fromm-Reichmann
(z.B. Fromm-Reichmann 1950) hat dann
zu schweren Störungen des seelischen
Erlebens vielfältiges Material dargestellt, und auch ihre späteren Mitarbeiter
haben dazu beigetragen, biographische
Zusammenhänge psychotischer Zustände zu beschreiben. Im Vordergrund standen damals, wie auch heute, im Rahmen
der biologischen Psychiatrie, die Abweichungen und Auffälligkeiten im Verhalten, Überlegungen zur Genetik und
Nachdenken über eventuelle Transmitterkonstellationen, wobei hier selbstverständlich das Verhältnis zwischen Phänomen und Epiphänomen unreflektiert
blieb. Dass psychische Einflüsse, z. B. im
Rahmen von Traumatisierungen, zu einer
Veränderung der Transmitterkonzentration führen, dürfte selbstverständlich
sein; ebenso erscheint es aus psychosomatischer Sicht unausweichlich, dass
körperliche Dispositionen sich auf die
seelische Verarbeitung auswirken. Die
jetzt aktuellen Forschungen zur Epigenetik (d.h., der lebensgeschichtlichen re-
aktiven Aktivierung oder Deaktivierung
von Genomabschnitten, teilweise auch
über Generationen hinweg) existierten
damals noch nicht. Es geht also nicht
darum, die messbaren biochemischen
Korrelate von schwerwiegenden psychischen Störungen zu übersehen, sondern
die Entstehungsbedingungen derartiger
Veränderungen ins Auge zu fassen. Dies
hat weitreichende theoretische und praktische Folgen. So würde man aufgrund
der jetzt bestehenden diagnostischen
Kriterien davon ausgehen müssen, dass
nicht wenige historisch bedeutende
Menschen unter einer schweren Persönlichkeitsstörung, teilweise unter einer wahnhaften Störung gelitten haben
(mit oft traumatischer Ätiologie, z.B. A.
Hitler), was selbstverständlich immense
Auswirkungen auf ihr gesellschaftliches
Umfeld gehabt hat. Aber auch in der
Gegenwart ist deutlich, dass wahnhafte
Störungen zu Fehlhandlungen führen,
die für die Gemeinschaft in hohem
Maße bedrohlich sind. Auf der anderen
Seite besteht ein Problem darin, dass
hierarchisch und autoritär strukturierte
Gemeinschaften dazu tendieren, Abweichungen von ihrer Wirklichkeitssicht als
krankhaft, gegebenenfalls psychotisch
zu definieren, um die gegebenen Strukturen und die bestehende Wirklichkeitsinterpretation nicht in Frage stellen zu
müssen (als Beispiel mag das Problem
des Galilei dienen, oder Solschenizyn).
Die Definition, was psychotisch und was
normal ist, was realitätsgerecht ist und
was nicht, unterliegt immer den jeweiligen sozialen Bedingungen. Dies gilt
selbstverständlich auch für die vermuteten Auslöser, ob sie nun genetisch, dämonisch, toxisch oder posttraumatisch
vermutet werden. Es ist in vielem eine
Glaubensfrage.
Ein sinnvoller therapeutischer Umgang
mit schweren, gegebenenfalls psychotisch anmutenden Störungen muss
selbstverständlich alle diese Faktoren
mit berücksichtigen. Zentral geht es jedoch darum, das Erleben des jeweiligen
Betroffenen zu verstehen, und einen
Weg aus der individuellen Angst und –
inneren oder äußeren - Bedrohtheit zu
finden.
Zur Krankheitsentstehung
Es dürfte inzwischen klar sein, dass ein
Zusammenhang zwischen der Entstehung schwerer psychischer Krankheitsbilder, einschließlich schizophrener Psychosen, und schweren traumatischen
Lebenserfahrungen besteht (Schatz
2009). Dabei kann es sich sowohl um
frühkindliche Traumatisierungen als
auch um nicht verarbeitbare Traumata
im Erwachsenenalter handeln.
Nun könnte man denken, dass die ätiologische Zuordnung solange bedeutungslos ist, wie eine angemessene
Behandlung erfolgt („Diagnosen sind
Schall und Rauch“). Dies wäre akzeptabel, wenn nicht die entsprechenden Diagnosen immense therapeutische und
soziale Folgen hätten. Noch immer ist
es so, dass die Diagnose einer schweren
psychischen Störung in aller Regel zu
einer ausschließlichen oder zumindest
vorrangigen psychopharmakologischen
Behandlung führt, wohingegen eine
psychotherapeutische,
insbesondere
psychodynamische Behandlung eher
bei weniger „schweren“ Erkrankungen
erwogen wird.
09
Zur Abwehr
Dass es einen Zusammenhang zwischen
Trauma-Verarbeitung und psychotischer
Symptombildung gibt, dürfte als belegt
gelten (Schatz berichtete über 25 – 40%
Koinzidenz in der Literatur, in unserer
Auswertung der Befunde von schwer
traumatisierten Menschen fanden sich
26% paranoide kürzere oder andauernde
psychotische Episoden (Soeder 2009)).
Wieweit nun primär eine durch Schmerz
bzw. Affektsturm ausgelöste Bedrohung
der Ich-Funktionen besteht, oder ob es
unerträgliche Erfahrungsinhalte sind, die
durch Spaltungsabwehr bewältigt werden sollen, d.h., was die Ich-Kohärenz in
erster Linie bedroht, kann oft nicht entschieden werden – zumeist wohl beides.
Hinsichtlich des überwältigenden Affektes dürfte es zumeist Angst sein, oft
gepaart mit Schmerz. Soweit es lebensgeschichtlich bereits zu einem hinreichend sicheren Objekt kommen konnte,
wird dessen Verlust befürchtet; wenn es
noch kein sicheres Objekt gab, droht der
Verlust des sicheren Ortes, an den das
gefährdete Ich sich zurückziehen könnte
(Steiner 1993).
Gemeinsam ist jedenfalls allen Situationen, die zur Gefährdung der Ich-Kohärenz führen, dass es sich um intrusive
Ereignisse handelt, also Ereignisse, denen gegenüber es nicht die Wahl zwischen „Flüchten oder Standhalten“ gibt
(Richter 1976), also nicht einem letztlich
„neurotischen“ Konflikt, sondern um
eine existentiell hoffnungslose Situation, die den betroffenen Menschen in
ausweglose Hilflosigkeit bringt. Dies
kann sowohl durch krankheitsbedingte
Auslieferungssituationen (z. B. ein Kind
mit einem konnatalen Anfallsleiden) als
auch sozial bedingte Ereignisse bedingt
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sein. Damit ist, denke ich, der entscheidende Punkt gegeben, nämlich dass
diese Ereignisse die üblichen Abwehrmöglichkeiten des Ichs überwältigen. So
entspricht es auch in vielem der frühen
Darstellung durch Freud.
Bei der Beobachtung der einsetzenden
Abwehr fallen nun verschiedene Dinge
auf. Die primäre Abwehr scheint fast
grundsätzlich in einer Spaltung zu bestehen. Diese kann jedoch, abhängig
vom jeweiligen Menschen, unterschiedliche Formen annehmen. Wo der eine
vielleicht wie ein Automat zu funktionieren beginnt, tritt bei einem anderen
eine Schockstarre ein; ein Dritter verfällt
in ein für den Außenstehenden nicht
oder kaum nachvollziehbares Agieren
oder Fantasieren. Bei den meisten wird
jedoch der Affekt abgespalten, er ist
nicht mehr integriert. In dem einen Falle verschwindet der Affekt aus dem Bewusstsein, im anderen Falle überwältigt
der Affekt das Bewusstsein, so dass die
Seite des potentiell handlungsfähigen
Ichs nicht mehr bewusst ist; im Dritten
kommt es zur Fragmentierung mit teils
wechselnden, teils auch unvereinbaren
Bewusstseinsbruchstücken.
Unter den (potentiell) restitutiven Abwehrvorgängen findet sich in erster Linie die Identifikation; damit ist gemeint,
dass das Individuum sich mit dem vermuteten Sinn des Ereignisses identifiziert (Strafe Gottes, gerechte Strafe für
eigene Schuld, schicksalhafte Prüfung
etc.). Je nach Umständen führt diese Art
von Abwehr auch zu einer Identifikation mit dem Aggressor, was gerade bei
Kindern häufig der Fall ist (Papa hatte
ganz recht, mich zu verprügeln, ich bin
ja ein so schlechtes Kind). In diesem Fall
wird der prügelnde Vater (oder auch der
sexuell missbrauchende Vater) letztlich
in die ÜberIch-Struktur integriert, und
bestimmt von daher das weitere Leben.
Hier führt der Weg in die depressive Verarbeitung.
Aus dieser Konstellation kann dann eine
weitere Entwicklung erfolgen, die sich
als Idealisierung der Angst beschreiben
ließe. Diese Idealisierung kann in unterschiedlicher Weise erfolgen. Kriegserfahrung oder ähnliche Katastrophen
wurden mit dem Wort „Per aspera ad
astra“ (Durch das Harte zu den Sternen) idealisiert. Ein Persönlichkeitsideal besteht im Heldenmythos, der alle
Schwierigkeiten überwindet, heute häufig in Form von Kriminalromanen oder
Comics. Diese Idealisierung dient dazu,
die traumatische Situation nicht nur zur
Normalität, sondern eben zu einem Idealzustand zu machen, d.h., mit dem IchIdeal zu fusionieren; im Gegensatz zur
depressiven Verarbeitung, die den Opfer-Modus zur vorherrschenden inneren
Situation macht, wird hier die Identifikation mit dem Täter zur vorherrschenden
Thematik in der Angstbewältigung.
Auch auf diesem Weg kann eine Integration traumatischen Erlebens geschehen,
wenn dabei auch zumeist wichtige und
für die Beziehungsgestaltung unverzichtbare Erfahrungsbereiche, insbesondere das Affekterleben, dauerhaft
abgespalten bzw. eingefroren werden
müssen. Das andere Extrem wäre die
unmittelbare Umsetzung der eigenen
destruierenden Lebenserfahrung in Destruktion der Welt; auch hierfür haben
wir hinreichend historische Beispiele.
Selbstverständlich gibt es auch hier
Übergangsformen. Manchmal spielen
bei diesen Übergangsformen dissoziative Phänomene eine hervorragende
Rolle, so dass ein Teil einer Persönlichkeit
eine künstlerische (im Sinne der Externalisierung) oder karitative (im Sinne der altruistischen Abtretung) Bewältigung der
Traumatisierung anstrebt, während ein
anderer Teil die eigene traumatische Erfahrung mehr oder minder unverarbeitet
weiterreicht.
Zur therapeutischen Beziehung
Das therapeutische Ziel kommt meines
Erachtens im Titel eines Buches von Ruth
Riesenberg-Malcom (2003) überzeugend
zum Ausdruck: „Unerträgliche seelische
Zustände erträglich machen“. Tatsächlich geht es nicht darum, primär Einstellungen oder Verarbeitungswege des Patienten zu verändern; soweit dies möglich
werden kann, wird es sich zu einem späteren Zeitpunkt ergeben. Vielmehr geht
es zunächst darum, den unerträglichen
Hass, sowohl Fremdhass wie Selbsthass,
die unerträgliche Einsamkeit und den unerträglichen seelischen Schmerz schrittweise zu akzeptieren, bewusst werden zu
lassen und, soweit möglich, zu entgiften.
Um dies zu ermöglichen, ist im Rahmen
einer psychodynamischen Therapie die
Ermöglichung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung unerlässlich. In
manchen, ebenfalls psychodynamisch
begründeten Verfahren wird nahegelegt, hier mit eher suggestiven Verfahren („Sicherer Ort“, „Tresor“ usw.) zu
arbeiten. Diese Vorgehensweise hat
meines Erachtens zwei Nachteile: Zum
ersten wirkt sie intrusiv, was von Menschen, die nahe der Ich-Auflösung sind,
schwer toleriert wird, und zum anderen
verlagern sie die Notwendigkeit der frühen personalen Bindung als Substitut
für die missglückte primäre Bindung in
einen entleerten, menschenlosen Raum.
Der „sichere Ort“ kann für den schwerst
gestörten Menschen oft nur in einer tragenden Beziehung liegen, nicht in einer
selbst entwickelten Phantasie; dies würde seine Isolation und Einsamkeit nur
noch vergrößern.
Voraussetzung für eine solche tragfähige
Beziehung ist meines Erachtens ein seitens des Behandlers begehrensfreies Beziehungsangebot im Sinne von Bion. Bei
Menschen, deren psychische Grenzen,
sei es aus Gründen genetischer Disposition, sei es aus Gründen biografischer
Erfahrung, extrem verletzlich sind, kann
das erste Gesetz für den Therapeuten
nur darin bestehen, die Grenzen, soweit
er sie überhaupt wahrnehmen kann, zu
respektieren. Bereits der Wunsch an den
Patienten, er möge anders sein, bedeutet eine Überforderung für beide. Noch
schlimmer ist es selbstverständlich, wenn
das Begehren des Behandlers auf die
Beziehung Einfluss nimmt. Grundsatz
müsste eine durchgehend abstinente,
dabei von der Grundhaltung her empathische Beziehung sein, die aber auf Deutungen im traditionellen Sinn zumeist
verzichtet. Insofern erscheint mir hier der
Ansatz von Benedetti, den er als „Positivierung“ im Rahmen der Psychosenpsychotherapie bezeichnet, naheliegend
und sinnvoll; es bedeutet nichts anderes
als die Wertschätzung und Würdigung
der Anstrengungen des Patienten, mit
den ihn quälenden inneren und äußeren
Ereignissen zurecht zu kommen. Hier
geht es zum einen um die „lebensgeschichtliche Identitätsforschung“, zum
anderen um die Phantasien und Assoziationen des Therapeuten, die, als Externalisierungen bzw. projektive Identifizierungen verstanden, dem Therapeuten
die Verdauung des ihm anvertrauten
Materials erleichtern können, und, in
vorsichtiger Form, dem Patienten eine
eventuell neue, alternative Sicht seiner
inneren Problematik vermitteln können.
Diese Interventionstechnik verzichtet insbesondere auf alle in irgendeiner Weise
vorwurfsvoll oder fordernd zu verstehenden Formulierungen, im Bewusstsein,
dass der betroffene Mensch von dieser
Art Interaktion in seinem Leben mit Sicherheit schon mehr als erträglich erfahren musste.
Zu diesem Artikel schicken wir auf Anfrage unter info@
refugio-stuttgart.de gern eine vollständige Literaturliste zu.
Dr. Thomas Soeder
2. stellvertretender Vorstandsvorsitzender, refugio stuttgart e.v.
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Die medizinische Versorgung von Migranten in Deutschland: Erfordernisse aus ärztlicher Perspektive
Was wissen wir über die Gesundheitssituation von Migranten in Deutschland?
Mit der wachsenden Zuwanderung in
den letzten Jahren wird Fragen der Gesundheit und der medizinischen Versorgung von Migranten in verschiedenen
Fachdisziplinen zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Dies zeigt sich in
entsprechenden Spezialisierungen, etwa
in der Geburtshilfe, Psychiatrie und in
den Pflegewissenschaften, sowie in der
steigenden Zahl an epidemiologischen,
kultur- und sozialwissenschaftlichen Studien, die sich dem Thema `Migration
und Gesundheit´ in den letzten 15 Jahren gewidmet haben. Die Ergebnisse
dieser Forschungsvorhaben wurden auf
Grundlage von Migrationsdaten in Publikationen im Auftrag des Bundes (Razum
2008; Kohls/BAMF 2011) und politischer
Stiftungen (Knipper, Bilgin 2009) zusammengefasst und ausführlich erörtert.
Hierbei wurde auch auf zahlreiche methodische Limitationen bisheriger Erhebungen hingewiesen, bei denen unzureichend Berücksichtigung fand, dass es
sich bei `den Migranten´ um eine äußerst
inhomogene Bevölkerungsgruppe handelt, die sich nicht leicht definieren lässt.
Aus diesem Grunde sind generalisierende Aussagen stets kritisch zu sehen,
was auch für einige Studienergebnisse
zu Erkrankungsrisiken von Migranten im
Vergleich zur deutschen Bevölkerung zutrifft:
Bei Kindern von Migranten fanden sich in
bundesweiten Erhebungen vergleichsweise
häufiger Gesundheitsprobleme wie Übergewicht, Anämien (Blutarmut), Zahnkaries sowie
psychosomatische Störungen, während allergische Erkrankungen, Asthma sowie Mittelohrentzündungen und Bronchitiden seltener
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nachzuweisen waren. Unter türkischstämmigen Erwachsenen wurden im Vergleich zur
sonstigen Bevölkerung in Deutschland häufiger Herz-Kreislauferkrankungen - mit einem
im Durchschnitt um 10 Jahre früheren Auftreten von Herzinfarkten bei Männern – nachgewiesen. Ähnliches gilt für vergleichsweise
höhere Raten an Diabetes mellitus, Krebserkrankungen der Lunge und des Magen-Darmtrakts sowie für das häufigere Vorkommen von
Arbeitsunfällen. Auch werden bei Migranten
durchschnittlich häufiger psychische und psychosomatische Erkrankungen beschrieben.
Daneben ist in diesen Personengruppen auch
das Auftreten von Infektionserkrankungen wie
Tuberkulose, HIV sowie Hepatitis B und Hepa-
Probleme der medizinischen Versorgung und der Nutzung von Gesundheitsdiensten
titis C überproportional hoch.
pietreue) und häufigeren Arztwechseln. Auch
Zu Fragen des Verhaltens von Migranten
im Krankheitsfall und zur Inanspruchnahme deutscher Gesundheitsdienste wurden aus den Studien der letzten Jahre
folgende Schlussfolgerungen gezogen:
Hiernach bestehe im Vergleich zur sonstigen
Bevölkerung eine im Durchschnitt größere
Medikamentengläubigkeit,
einhergehend
mit einer mangelnden Compliance (Therawürden Angebote der Vorsorge, wie z. B. Imp-
Bei den genannten Gesundheitsproblemen und den zugrunde liegenden Risikofaktoren dürfen aber die Gesundheitssituation der Menschen im Herkunftsland,
deren soziale und ökonomische Lebensverhältnisse und ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung in Deutschland nicht
außer Acht gelassen werden. Daneben
sind auch solche Faktoren zu berücksichtigen, die sich günstig auf die Gesundheitssituation von Migranten auswirken
können. So werden das vergleichsweise
seltenere Auftreten bestimmter Erkrankungen und durchschnittlich niedrigere
Sterberaten von Zuwanderern meist
auf den sogenannten Healthy-MigrantEffect zurückgeführt, bei dem es sich
möglicherweise um ein rein statistisches
Phänomen handelt (Zuwanderung vorwiegend junger gesunder Menschen,
Rückkehr im Alter etc.). Diskutiert werden hierbei auch günstige Auswirkungen
einer relativ gesunden traditionellen Ernährungsweise, die auch in Deutschland
über lange Zeit beibehalten wird, sowie
schützende Effekte enger Familienverbände und sozialer Netzwerke.
fungen bei Kindern, und der Früherkennung
von Krankheiten im Durchschnitt seltener,
dagegen medizinische Notfall-, Nacht- und
Wochenenddienste vergleichsweise häufig in
Anspruch genommen.
Daneben werden sogenannte „Patientenkarrieren“ mit gleichzeitiger Endlosdiagnostik
sowie die Verordnung von Beruhigungsmitteln
mit größerer Häufigkeit beschrieben.
Diese Problemstellungen werden zumeist auf Unterschiede in den Gesundheits- und Krankheitsverständnissen
zurückgeführt, während sprachliche,
finanzielle und rechtliche Gründe sowie
ein unzureichender Kenntnisstand der
Migranten oft ausgeklammert werden.
Letztendlich sind viele der genannten
Versorgungsdefizite auch bei Menschen
ohne Migrationshintergrund unter vergleichbar schwierigen sozio-ökonomischen Lebensbedingungen anzutreffen.
So bestehen auf vielen Gebieten wenig
belastbare Daten und eine Vielzahl an
offenen Fragen, was in der Folge nicht
ohne Auswirkungen bleibt auf die Ge-
sundheit und medizinische Versorgung
von Flüchtlingen und hierbei vornehmlich auf die Situation besonders vulnerabler Personengruppen, zu denen
Flüchtlinge mit Traumatisierungen gehören. Bei diesen Personengruppen lassen
sich die mittel- und langfristigen Auswirkungen einer restriktiven medizinischen
Versorgung durch das Asylbewerberleistungsgesetz auf die Betroffenen und
ihre Angehörigen nur erahnen. Auch
fehlt es an genaueren Informationen
über die gesundheitliche Situation von
Menschen, die in Deutschland ohne legalen Aufenthaltsstatus leben. In den
letzten Jahren haben die psychosozialen
Zentren für traumatisierte Flüchtlinge
zwei Veröffentlichungen zum Thema
„Good Practice in the Care of Victims of
Torture“ vorgelegt, die auf Erfahrungen
in mehreren europäischen Ländern zurückgreifen (Bittenberger 2010, 2012).
Studienergebnisse zur ärztlichen Betreuung von Migranten in Deutschland
wie z.B. Freude und Betroffenheit ausgedrückt wurden. Daneben wurde bei diesen
Patienten seltener eine offene Frage gestellt,
auf deren Äußerungen reagiert und sozialen
Aspekten Aufmerksamkeit geschenkt. Auch
hatten die Ärzte diese Patienten seltener in
Entscheidungen eingebunden und verordnete Medikationen weniger genau erklärt.
In Deutschland gibt es nach meinem
Kenntnisstand aktuell keine repräsentativen Informationen zu den Erfahrungen
von Ärzten und den von ihnen wahrgenommenen Problemstellungen bei der
medizinischen Betreuung von Migranten.
Deshalb möchte ich mich im folgenden
Abschnitt auf Ergebnisse einer Umfrage
bei der niedergelassenen Ärzteschaft im
Raum Tübingen beziehen, die während
meiner Tätigkeit in der Tübinger Tropenklinik vor acht Jahren mittels Fragebogen durchgeführt wurde.
Bei dieser Umfrage war aus den 71 Rückmeldungen zu ersehen, dass von der großen
Mehrheit der befragten Ärztinnen und Ärzte
In der medizinischen Versorgung von Migranten besitzt die Beziehung des medizinischen Personals zu den Patienten
zweifellos eine besondere Bedeutung.
Zur spezifischen Rolle von Ärzten wurden vorwiegend in den USA, in Australien und den Niederlanden Studien
durchgeführt, in denen deutliche Unterschiede in der ärztlichen Kommunikation und der Interaktion mit Migranten
im Vergleich zu Patienten ohne Migrationshintergrund aufgezeigt wurden
(Schouten, Meeuwesen 2006):
die medizinische Versorgung von Migranten
als ein wichtiges Aufgabengebiet angesehen
und auch als bereichernd erfahren wurde.
Gleichzeitig wurden von mehr als Dreiviertel
der Befragten erhebliche Problemstellungen
in der Betreuung dieser Patienten angegeben, auf die ich im nachfolgenden Teil des
Beitrags eingehen werde:
●
●
●
Die Studien zeigten, dass bei der Betreuung
von Patienten mit Migrationshintergrund von
Seiten der Ärzte deutlich seltener Emotionen
Im Zusammenhang mit diesen Problemstellungen möchte ich im nachfolgenden
Teil einige praktische Aspekte erörtern,
die vor allem die Arzt-Patienten-Beziehung betreffen:
●
Sprach- und Kommunikationsprobleme
hoher zeitlicher Aufwand
unzureichende Kenntnisse im psychosozialen Bereich
mangelnde interkulturelle Kompetenz
Defizite in der Compliance der Patienten
Probleme der sprachlichen Verständigung
„…oft muss ich mit Händen und Füßen
Behandlungen anordnen“ (Zitat eines
Tübinger niedergelassenen Arztes).
Während die Bedeutung der „Sprechenden Medizin“ in der ärztlichen Praxis
unbestritten ist, wurde sie im Vergleich
zur sog. Apparatemedizin hinsichtlich
der Vergütung ärztlicher Leistungen jedoch bisher deutlich unterbewertet. Bei
der Betreuung von Migranten kommt die
Rolle einer adäquaten Kommunikation
besonders deutlich zum Ausdruck. Sie
ist Grundvoraussetzung, um eine Krankenvorgeschichte sorgfältig zu erheben
und die Patienten über medizinische
Sachverhalte aufzuklären. Zugleich ist
sie essentieller Teil einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung und
trägt als Ausdruck menschlicher Zuwendung nicht zuletzt zur Gesundung bei.
Im Falle von sprachlichen Verständigungsproblemen werden im Praxisalltag
leider allzu oft Bekannte oder Familienangehörige, manchmal sogar Kinder
gebeten, als Übersetzer auszuhelfen.
Dies ist insbesondere dann höchst fragwürdig, wenn es sich um komplexe,
teilweise intime Sachverhalte oder
–z.B. bei traumatisierten Flüchtlingen
–um lebensbedrohliche Erlebnisse und
Gewalterfahrungen handelt. Hier erscheint es dringend erforderlich, muttersprachliche Dolmetscher hinzuzuziehen. Diese Personen sollten möglichst
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