Was ist Psyche? Überlegungen nach Paradigmen der kognitiven Lerntheorie, der Informationsverarbeitung, des symbolischen Interaktionismus und der Evolutionspsychologie Dr. Reinhard Mario Fox, 2014 Oft wird man als Psychologe gefragt, was das denn sei, die Psyche. Oder man erhält auf eine solche Frage die Antwort: Psyche – das sei doch die Seele. Nun, auch wenn umgangssprachlich Psyche mit Seele oder psychisch mit seelisch oder Psychologie mit Seelenkunde gleichgesetzt werden, die Psychologie als die Wissenschaft, die sich um die empirische Beschreibung und Erklärung psychischer Funktionen bemüht, kennt den Begriff Seele gar nicht. Seele ist eher ein umgangssprachlicher als ein wissenschaftlich fundierter Begriff. Warum? Nicht, weil nur Wissenschaftler Erkenntnisse gewinnen können, sondern weil sie es unter bestimmten Voraussetzungen tun. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind empirischer Art, gewonnen aus der empirischen Überprüfung aus prinzipiell falsifizierbaren Hypothesen und Konstrukten. Ein so weiter Begriff wie der der Seele wäre empirisch weder beschreibbar und operationalisierbar noch falsifizierbar zu überprüfen. Daher ist der Begriff Seele auch nicht als ein wissenschaftlicher anzusehen; er ist nicht Objekt einer wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und dadurch auch nicht ein Begriff aus der wissenschaftlichen Psychologie. Eine Beschreibung dessen, was man unter Psyche verstehen kann, sollte wenigstens den Minimalanforderungen einer wissenschaftlichen Argumentation genügen, nämlich neueren (und nicht nur alten, längst überholten und natürlich stets nur vorläufigen!) wissenschaftlichen Erkenntnissen auch aus den benachbarten Lebenswissenschaften nicht widersprechen. Zudem sollten zur Erklärung Begriffe verwendet werden, die zwar nicht alle schon empirisch validiert sein müssen, aber einer empirischen Überprüfung prinzipiell zugänglich sein sollten. Zunächst ist Psyche ein Emergenzphänomen, weil sie aus hirnorganischen Vorgängen hervorgeht. Ihre Funktion dient der Verhaltenssteuerung dort, wo diese sich auf ein Selbstkonzept gründet. Psyche geht aus informationsverarbeitenden Prozessen hervor. Psychische Funktionen wie Wahrnehmen, Erinnern, Bewerten, Deuten, Lernen, Bewusstsein, Denken, Fühlen, Motivation, Sprache, etc. sind Basisfunktionen für die Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung. Lernvorgänge entstehen im Prozess der Informationsverarbeitung dann, wenn Erfahrungen als Resultate von Informationsverarbeitung und Bewertungsprozessen ins Gedächtnis überführt werden. Die Lernerfahrungen führen zu Konstruktionen von internen Modellen der „Welt“, sie führen zu Konzepten oder mentalen Repräsentationen dieser Erfahrungen, wobei das Selbstkonzept ein zentraler Bestandteil der Repräsentationen dessen ausmacht, was unter Psyche zu verstehen ist. Das Selbstkonzept oder die Individualität und Persönlichkeit mit zuschreibbaren Eigenschaften gehen hervor aus informationsverarbeitenden Prozessen während des sozialen Lernens, vor allem aus Bindungserfahrungen. 1 Die im Gedächtnis abgelegten Resultate des sozialen Lernens können unterschiedlich stark bewusst oder -meistens- nichtbewusst sein und werden nach dem Kriterium einer inneren Konsistenz- auch hinsichtlich des übrigen Weltwissens- in einem eher vorbewussten (vorbewusste Informationen sind im Gegensatz zu nichtbewussten prinzipiell bewusstseinsfähig), mentalen „Speicher“ geordnet. Erst wenn Sinneseindrücke, also sinnlich erfahrbare Informationen aus der Umwelt einem Ort wie dem „eigenen“ Organismus (wobei das „Eigene“ als Konzept ja erst allmählich konstruiert wird), der eigenen Körpermitte, regelhaft zugeordnet werden können, kann ein Selbstkonzept entwickelt werden. Das Selbstkonzept beinhaltet neben den vorrangig vorbewussten Anteilen dann auch bewusste Anteile seiner selbst, die sich gemeinsam verdichten zu einer Identität (=raumzeitlich konsistente Erfahrungen, die einer eigenen Urheberschaft zugeordnet werden können und denselben, identischen Organismus betreffen). Das Selbstkonzept ist in seinem bewussten Anteil, in seiner SelbstBewusstheit allerdings stets nur das, was vorbewusste Filter von den nichtbewussten Erregungen und Bewertungen ins Bewusstsein passieren lassen. Unsere bewusste Identität ist immer nur die Deutung und Interpretation, die Übersetzung von nichtsprachlichen und nichtbewussten Prozessen in quasisprachliche und bewusstseinsfähige Konzepte seiner selbst und dadurch per se eine kognitive Konstruktion, eine Wirklichkeit zweiter Ordnung, also eine Repräsentation von Wirklichkeiten erster Ordnung. Man könnte die bewusste Identität als doppelt emergentes Phänomen ansehen, nämlich sowohl hervorgegangen aus prinzipiell nicht bewusstseinsfähigen informationsverarbeitenden Prozessen als auch aus Filterungsprozessen, die aus nicht- und vorbewussten Informationen bewusste Informationen formen. Das so hervorgegangene, also emergente Selbstkonzept wirkt dann vornehmlich als Motivation für die Verhaltenssteuerung sowie als Grundlage für die erlebte Subjektivität und Entscheidungsfähigkeit in mehrdeutigen Situationen. Die Psyche oder das Selbstkonzept dienen letztlich einer nicht lediglich instinktgesteuerten und rigiden, sondern einer variablen, effektiveren Anpassung an sich ständig verändernde Umweltbedingungen, wodurch sich das Überleben in einer chaotischen Welt verbessert. Die Psyche ist nicht eine bereits genetisch mitgegebene Entität, sie entwickelt sich als mentale Repräsentation von Sinneseindrücken in der Beziehung zur Umwelt sowie von Erfahrungen des sozialen Lernens, also von selbstbezüglichen Erfahrungen in der Interaktion und Kommunikation mit anderen. Genetisch mitgegeben sind die neurobiologischen Möglichkeiten zum Aufbau einer Psyche, die dann durch biografische Erfahrungen, die in individuellen Bewertungs- und Informationsverarbeitungsprozessen gewonnen werden, ihre jeweilige Struktur ausbildet und fortwährenden Erfahrungen anpasst. Die Psyche ist in ihrer Struktur einerseits abhängig von den neurobiologischen Trägerprozessen, andererseits auch bestimmt durch die biografischen Erfahrungen, die dann ihrerseits auch wieder einwirken auf die körperlichen Trägerprozesse. Das Gehirn als körperliches Organ der Psyche verarbeitet permanent Informationen, lernt fortwährend und verändert sich dadurch fortlaufend in einem anhaltenden Umstrukturierungsprozess neurobiologischer Aktivitäten sowie interner mentaler Repräsentationen. Psyche ist demnach nicht etwas von vornherein Mitgegebenes, sondern entwickelt sich erst im Prozess der Informationsverarbeitung mit dem Ziel besser angepasster Verhaltenssteuerungen. Psyche hat also Prozesscharakter und ist umso reicher entwickelt, je mehr Lebenserfahrungen als 2 Resultate von Lernvorgängen integriert werden können. Genetisch mitgegeben sind die körperlichen, neurobiologischen Voraussetzungen für den permanenten Aufbau einer Psyche. Auch die Feinabstimmung der neuronalen Verarbeitungsweisen der aufzunehmenden Informationen, das sogenannte „neuronale Tuning“, ist genetisch mitbestimmt, wodurch dann auch die personenspezifische Qualität, das individuelle Leistungsvermögen der Informationsverarbeitung genetisch mitbedingt wird. Die neuronalen Aktivitäten bilden die körperlichen Entstehungsbedingungen für psychische Phänomene, die sich erst durch Interaktion und Kommunikation, durch wechselseitige dialogische Prozesse- also durch Kultur- zu einer mentalen Struktur verdichten können, die man Psyche nennen kann. Psyche ist also ein emergentes Phänomen, das zwar neurobiologischer Voraussetzungen bedarf, aber erst durch informationsverarbeitende Nutzung der neurobiologischen Möglichkeiten entsteht, hervorgeht aus kommunikativen Prozessen. Psyche ist eine in Interaktion und Kommunikation erworbene soziale -und dadurch flexible, aber durchaus auch fragile- Konstruktion und somit letztlich ein Kulturphänomen. Menschen reagieren in gegenwärtigen Situationen aufgrund von kognitiv-emotionalen Bewertungen, die sie in vorausgegangenen ähnlichen Situationen bereits nichtbewusst oder vorbewusst vorgenommen und abgespeichert haben. Die Basis unsers Verhaltens bilden also die emotionalen Konditionierungen, die wir in unseren ersten Lebensjahren entwickelt haben. Emotionen fungieren als das wohl machtvollste Motivationssystem. Unsere Geschichte bestimmt also zunächst einmal die Reaktionen in unserer Gegenwart. Mögliche Neubewertungen gegenwärtiger Situationen ergeben sich dann aufgrund von Anpassungsdruck in unzureichend bewältigten Konfliktsituationen, also wenn bereits erworbene Bewertungen für eine notwendige Verhaltensänderung und Erweiterung des Selbstkonzepts im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung nicht mehr ausreichen. Das, was die Psyche wesentlich ausmacht, nämlich das Konstrukt von Identität, ist letztlich die fortwährend konstruierte Geschichte seiner selbst. Es ist vor allem die komprimierte Geschichte, die man aus der Geschichte, die einem permanent widerfährt, deutend destilliert und dann sich selbst und den anderen repräsentativ für die Gesamtheit der Erfahrungen erzählt. Wird diese erzählte Geschichte von den anderen angenommen und dadurch ratifiziert, wird dieser narrative Anteil der Psyche besonders stabil abgespeichert als ein weiterer Baustein im fortwährenden Prozess der Konstruktion unseres Selbstkonzepts. Dabei bilden die bereits eingebauten Bestandteile zunehmend das Fundament wie auch die Kriterien und Filter für künftige Integrationen neuer Erfahrungen seiner selbst, wodurch sich die Rekonstruktion des Selbstkonzepts zunehmend rigider vollzieht. Der Mensch macht Erfahrungen und verarbeitet mehr oder weniger bewusst fortwährend die Informationen der gemachten Erfahrungen nach dem Kriterium eines adaptiven Nutzens. Erleben wird er seine Erfahrungen nicht unmittelbar, sondern vermittelt über seine Sprache, über Deutungen, Interpretationen, Bewertungen und Erzählungen, über die Erinnerungen seiner Erfahrungen. Erst über das Bewusstwerden der eigenen emotionalen Konditionierungen, über das Sich-Klarwerden der eigenen Emotionen, die man in sozialen Situationen erlebt, werden Affekte und Emotionen zu dann auch steuerbaren Gefühlen und können dann auch zu bewusstem Verhalten führen. 3 Der Mensch erlebt, was er erinnert. Erinnerter und dadurch stabilisierter Bestandteil des Selbstkonzepts sind letztlich die Erzählungen über sich selbst. Unser bewusstes Selbst ist eine Erzählung unseres Gehirns, eine Erzählung für das eigene wie für andere Gehirne. Dieses Selbst ist eine durch Sprache vermittelte, also symbolische Repräsentation einer Vielzahl gemachter sozialer Erfahrungen; auch der Erfahrungen, die andere mit uns machen und von denen sie uns berichtensofern diese Berichte annehmbar sind. Dadurch ist das Selbst sozusagen eine vielfache Repräsentation, eine symbolische Repräsentation von symbolischen Repräsentationen symbolischer Repräsentationen… Der bewusste Anteil der Psyche, also der, mit dem wir uns identifizieren, wäre demnach eine literarische Leistung des eigenen Gehirns in der Kommunikation mit anderen Gehirnen. Aus unserer Geschichte, aus unserer Biografie geht unsere Psyche als kulturelles und damit als emergentes Phänomen hervor. Wir sind das, was wir anderen und damit uns selbst von dem erzählen, was wir deutend aus unserer Geschichte erinnern, wobei die nichtbewussten Anteile unserer Geschichte aus unseren Erzählungen stets ausgeklammert bleiben müssen. Unser bewusstes Selbst ist vornehmlich das, was wir anderen über uns selbst erzählen können. Wir erzählen, was wir erinnern können und wir erinnern, was wir erzählen. Die Psyche ist dann weniger eine erzählte Erinnerung als eine erinnerbare Erzählung… 4