Das Konzept der Lebenslage

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Das Konzept der Lebenslage - Neue
Hoffnung für die Sozialarbeit?
Mechthild Veil
in: Nickolai, W./G. Kawamura, /W. Krell, / R.
Reindl, (Hrsg.): Straffällig. Lebenslagen und
Lebenshilfen. Freiburg 1996, Lambertus Verlag
Sozialarbeit braucht neue Impulse, in der Ausbildung
und in der beruflichen Praxis. Denn das Berufsbild der
Sozialarbeit ist diffus und orientierungslos geworden.
Auch wenn Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen als
einzelne hervorragende Arbeit leisten, bleibt es
schwierig zu erklären, was Sozialarbeit eigentlich ist.
Insbesondere in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs
richten
sich
neue
Hoffnungen
auf
die
Sozialwissenschaften, wird doch gerade von dieser
Disziplin
erwartet,
daß
sie
gesellschaftliche
Zusammenhänge und Veränderungen wissenschaftlich
fundiert darstellt. Inwieweit können diese Erwartungen
erfüllt werden? Welchen Beitrag können die
Sozialwissenschaften für Sozialarbeit leisten? Wie kann
eine Wissenschaft praktisch werden, die von inhaltlicher
Unbestimmtheit und einem unterstellten Praxisbezug
geprägt ist, wie Bonß es zutreffend nannte (Bonß 1994,
88)?
___________________________________________
Auf der Seite der Sozialarbeit gibt es unterschiedliche
Haltungen gegenüber der beruflichen Verwertung
wissenschaftlicher Erkenntnisse, die eine Klärung des
Theorie- und Praxisverhältnisses nicht gerade
erleichtern. Während Optimisten von einer Identität von
Theorie und Praxis ausgehen und annehmen, daß
vernünftig denkende Menschen auch vernünftig
handeln, so daß wissenschaftliche Erkenntnisse ohne
weiteres praktisch werden könnten, entwickelt der Typ
des verbohrten Praktikers hingegen erst gar kein
Erkenntnisinteresse und ersetzt Erkenntnis durch
Erfahrungen, die zumeist noch auf Tatsachenerfahrungen reduziert werden.
In den Sozialwissenschaften ist das Theorie- und
Praxisverständnis ebenfalls umstritten. Gehen doch
nicht
wenige
Sozialwissenschaftler
von
der
Überlegenheit
des
wissenschaftlichen
Wissens
gegenüber
der
als
chaotisch
empfundenen
gesellschaftlichen Praxis aus und versuchen, diese auf
das Rationalitätsniveau der Wissenschaften zu heben.
Mißlingt der Versuch, die Praxis als Fortsetzung der
Wissenschaft mit anderen Mitteln zu sehen, wird von
„falscher" Praxis gesprochen. (a.a.O., 94) Falsch in
dem Sinne, daß sie der Wissenschaft keine neuen
Erkenntnisse vermitteln könne.
Wenn
nun
neue
sozialwissenschaftliche
Forschungsrichtungen,
wie
zum
Beispiel
die
Lebenslagenforschung, auf ihre Relevanz für
Sozialarbeit „abgeklopft" werden soll, dann müssen
Unsicherheiten im Theorie und Praxis-Verhältnis, wie
sie gerade beschrieben wurden, berücksichtigt werden.
Da sozialwissenschaftliche Theorie- und Wissensproduktion und sozialarbeiterische Praxis und
Wissensproduktion zwei Prozesse sind, die nach
unterschiedlichen
Rationalitätskriterien
verlaufen,
können theoretische Erkenntnisse nicht gradlinig in die
Praxis übertragen werden.
Ich
werde
die
Möglichkeiten,
die
das
sozialwissenschaftliche Konzept der Lebenslagen für
Sozialarbeit bieten könnte, unter dem Aspekt der
Professionalisierung der Sozialarbeit diskutieren und
fragen, welche Rolle die Sozialwissenschaften und
speziell der Lebenslagenansatz im Prozeß der
Professionalisierung der Sozialarbeit spielen könnten.
AUSGANGSLAGE I: DAS BERUFSBILD DER SOZIALARBEIT
Was und wie berichten SozialarbeiterInnen über ihre
Arbeit, wenn sie gefragt werden? „Fragen Sie einmal
einen Sozialarbeiter, was er tut, da wird er Ihnen also
Fälle aufzählen und Probleme, aber wirklich sagen, was
er tut, das kann er nicht". Um ihre Tätigkeit zu
charakterisieren, ziehen SozialabeiterInnen Vergleiche
zu anderen Berufen oder benutzen Bilder, die mit ihrer
Berufsausbildung in keinem Zusammenhang stehen.
Sie sehen sich als Feuerwehr, als Manager und
Moderatoren, als Wegbegleiter und ungewollt in der
Rolle der Macher, oder weniger schmeichelhaft, als
seelische Mülleimer, als Klinkenputzer. Dieses Bild
ergibt sich aus Umfragen und qualitativen Interviews,
die Rita Sahle 1988 mit Studenten und Studentinnen
durchgeführt hat (Sahle 1988, 29).
Auch wenn diese Untersuchung bereits einige Jahre
zurück liegt - so viel ich weiß, gibt es leider keine neuen
qualitativen Studien zum Selbstbild von Sozialarbeitern
und Sozialarbeiterinnen - so ist ihre Aussagekraft doch
immer noch aktuell. Aus den Interviews schlußfolgert
Rita Sahle, daß es Sozialarbeitern nur schwer möglich
sei, ein begrenztes Feld fachlicher Kompetenz und
Problemlösung rational zu vermitteln oder ein
elementares gesellschaftliches Handlungsproblem zu
bestimmen, auf das sich ihre Tätigkeit bezieht. Daß
dieser Mangel weniger an den Studenten als an einem
diffusen Berufsbild und einer wenig zielgerichteten
Ausbildung liegt, wissen wir inzwischen. Viele
wurschteln sich im Beruf durch, einige erstaunlich gut.
Vielleicht würde sich ein klareres Berufsbild ergeben,
wenn Studenten danach befragt werden, was
Sozialarbeit nicht ist, wofür Sozialarbeiter nicht
zuständig sind.
13
Die genannten Defizite können als Ausdruck einer
Umbruchsituation gesehen werden, in der Sozialarbeit
sich heute befindet: von der alten Fürsorge zur
modernen Sozialarbeit, ein Bedeutungswandel, wie er
bereits in der Begrifflichkeit zum Ausdruck kommt: Die
Betonung liegt nicht mehr auf einer beruflichen, auch
als Bevormundung verstandenen fürsorgerischen
Haltung, sondern auf dem Aspekt der Arbeit, einer ganz
gewöhnlichen Lohnarbeit. In der aus dem Englischen
übernommenen Bezeichnung des Streetworker entfällt
der Aspekt des sozialen - zumindest sprachlich - sogar
vollständig.
Sozialarbeit breitet sich aus. Wie ein Netz, das immer
enger
gespannt
wird,
durchzieht
Sozialarbeit
gesellschaftliche
Beziehungen,
wird
zum
problemorientierten gesellschaftlichen Bindeglied.
Eine rein quantitative Zunahme sozialer Tätigkeitsfelder
hat in den letzten 20 Jahren stattgefunden.
Rauschenbach spricht von einer „qualitativen
Erfolgsbilanz der sozialen Berufe" (Rauschenbach
1993) und führt folgende Zahlen an: heute sind ca.
550.000 Menschen in sozialen Berufen tätig. Vor gut 20
Jahren, 1970, waren es lediglich 150.000. Das heißt,
daß 75 % der heute Beschäftigten erst nach 1970 in
den Beruf eingestiegen sind.
Diese
Berufsstatistik
spiegelt
dramatische
gesellschaftliche Entwicklungen wider. Ein Drittel der
Bevölkerung ist an den Rand der Gesellschaft gedrängt
worden, sei es dadurch, daß Menschen durch die
Maschen des sozialen Netzes fallen und zu
Sozialhilfeempfängern werden, oder einfach dadurch,
daß sie ihren Alltag nicht mehr ohne Hilfe bewältigen
können. Das wird von den Sozialwissenschaften
konstatiert. Ulrich Beck spricht von einer Zwei-Drittel
Gesellschaft. Mit der Zunahme der Berufsfelder einher
geht eine qualitative Veränderung. Heute arbeiten
SozialarbeiterInnen als Therapeuten, ausgebildet in
Beratung
und
Gesprächsführung,
als
Verwaltungsfachkräfte, die wissen, wie sie ihre Klienten
an Ressourcen heranführen, als Moderatoren, die z. B.
in der offenen Jugendarbeit beschwichtigend eingreifen, um ein gewaltsames Austragen von Konflikten zu
vermeiden, u.s.w. ... Die Probleme, mit denen sie es zu
tun haben, werden vielschichtiger, da die Beziehungen
der Menschen zu ihrem Umfeld und zu sich selber
komplizierter werden. Klienten der Sozialarbeit sind
nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft anzutreffen,
sondern mitten drin.
Auf diese Entwicklung muß Sozialarbeit reagieren: auf
eine Gesellschaft, die nicht nur zu
einer
Individualisierung der Biographien führt, sondern auch
zu einer Individualisierung der Risiken.
14
AUSGANGSLAGE II:
ETAPPEN DER PROFESSIONALISIERUNG DER SOZIALARBEIT
Sozialarbeit hat auf gesellschaftliche Umbrüche
reagiert. In den 70er Jahren mit einer Politisierung
sozialer Arbeit, in den 80er Jahren mit einer
Spezialisierung v. a. in Gesprächstherapien wie zum
Beispiel
die
Verhaltenstherapie
(Skinner),
Kommunikationstheorie (Watzlawick), Gestalttherapie
(Pearls) oder die klientenzentrierte Gesprächstherapie
nach Carl Rogers (von Tausch für Deutschland
„entdeckt"). Ein Teil der Sozialarbeit konzentriert sich
auf das Individuum im therapeutischen Raum.
Erschöpft sich sozialarbeiterisches Handeln ausschließlich hierin, dann besteht die Gefahr, daß das Scheitern
der Menschen in ihren Beziehungen oder zum sozialen
Umfeld nicht mehr als soziale Probleme sondern nur
noch als individuelle Probleme erscheinen, die in
unzählige Einzelfälle aufgelöst therapiert werden. Das
würde Sozialarbeit überfordern. Meiner Meinung nach
ist bereits die zunehmende Nachfrage nach
Supervision seitens der SozialarbeiterInnen Ausdruck
einer tiefsitzenden Hilflosigkeit, neben dem Bemühen,
durch Supervision das eigene berufliche Handeln
reflektieren und korrigieren zu können.
Der
boomartige
Ausbau
therapeutischer
und
beratender Interventionsmethoden in den 80er Jahren
hat zu einer einseitigen Schwerpunktsetzung in der
Sozialarbeit geführt. Demgegenüber widmen sich
fachpolitische Debatten seit einigen Jahren zunehmend
der Frage der Profes-sionalisierung der sozialen Arbeit
und setzen neue Schwerpunkte und Standards.
Ich kann und will hier nicht auf die vielfältigen und
teilweise
kontrovers
geführten
Debatten
zur
Professionalisierung eingehen. Ich möchte nur ihre
positive Funktion hervorheben: es geht um
grundsätzliche Fragen der Sozialarbeit als Profession,
wie sie schon lange nicht mehr geführt wurden. Im
Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird unter
anderem
mit
falschen
Vorbildern
für
die
Professionalisierung der Sozialarbeit aufgeräumt. Denn
fälschlicherweise wird Sozialarbeit häufig mit dem
Arztberuf oder dem des Psychologen verglichen. Dieser
Vergleich ist deshalb falsch, weil sich Sozialarbeit nicht
gleichermaßen professionalisieren und spezialisieren
kann wie diese beiden Disziplinen. Denn im
Unterschied zu den oben genannten Disziplinen gehört
zum Wesen der Sozialarbeit, daß sie es oft mit
Problemen zu tun hat, die sich die Gesellschaft vom
Halse zu schaffen versucht: zum Beispiel die Pflege
alter Menschen, die Sorge um Obdachlose, Versorgung
Drogenabhängiger, Opfer struktureller und familialer
Gewalt, die Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen,
Straffällige u.s.w. Häufig
15
muß Sozialarbeit für versäumte oder unterlassene
Sozialpolitik einspringen.
Sozialarbeit unterscheidet sich von den beiden
genannten Berufen auch durch ein viel breiter
gestreutes Problemspektrum und Ursachenbündel und
- das ist wesentlicher - durch eine unterschiedliche
Sichtweise auf die Problematik und deren Bearbeitung.
Für eine Sozialarbeit, die sich mit Problemen, die vor
allem durch die spannungsreichen Beziehungen
zwischen Individuen oder Gruppen zu gesellschaftlichen Entwicklungen entstehen, beschäftigt, steht das
soziale Umfeld (Environment) und die Lebenslage der
Klienten im Vordergrund. Und genau darin liegt das
sozialarbeiterische der Sozialarbeit, die besondere
Sichtweise dieser Profession: sie kann sich nicht allein
auf den therapeutischen Raum konzentrieren, sondern
muß die Alltagsbezüge der Menschen berücksichtigen
und hierauf ihre Ziele orientieren.
Die Art der Intervention ist deshalb meist auch eine
handelnde, entsprechend der Handlungstheorien. Das
besondere sozialarbeiterische sehe ich auch in einer
beruflichen Haltung gegenüber den Klienten, die ich
weniger mit Empathie als mit solidarischer
Grundhaltung beschreiben würde.
In den teilweise turbulenten Bemühungen zur
Professionalisierung
der
Sozialarbeit,
in
der
Herausbildung eines identitätsstiftenden Berufsbildes
spielen
nun
auch
Erkenntnisse
der
Sozialwissenschaften und hier wiederum das
Lebenslagenkonzept eine Rolle. Die Sozialwissenschaften, die Wissenschaft von der Entwicklung der
Gesellschaft und Gesellschaften ist für die Sozialarbeit
die Disziplin, die ihr am nächsten steht und deren
Erkenntnisse noch immer viel zu wenig in die soziale
Arbeit einfließen.
Umgekehrt: Methoden, Erkenntnisse und Fortschritte in
der Sozialarbeit werden zu wenig von den
Gesellschaftswissenschaften aufgenommen. Der Grund
für die gegenseitigen Blockaden liegt in der künstlichen
Trennung beider Disziplinen, die sich auf Forschung
und Lehre erstreckt. Es gibt wenig gemeinsame
Forscherteams. Die Ausbildungsstätten sind getrennt,
mit geringen Kontakten und Austauschmöglichkeiten.
Wer an einer Fachhochschule lehren will, muß den
Umweg über die Universitäten machen, sozusagen
berufsfremd werden, sich in einer anderen Disziplin
qualifizieren, um dann als Lehrende wieder an die
Fachhochschule zurückkommen zu können.
DAS LEBENSLAGENKONZEPT IN DEN
SOZIALWISSENSCHAFTEN
Der Begriff Lebenslagenkonzept weckt falsche
Hoffnungen. Handelt es sich doch nicht um ein
geschlossenes System, das kurz und bündig
16
vorgestellt werden könnte, sondern um ein
Analyseinstrument,
das
auf
die
Vielfalt
gesellschaftlicher Erscheinungen einzugehen versucht
und von seiner Methode und Fragestellung her offen
ist. Um der Versuchung zu widerstehen, diese neue
Forschungsrichtung als das endgültige Allheilmittel für
Theorie- und Praxisprobleme darzustellen, werde ich
versuchen, mich dem Begriff prozeßhaft zu nähern.
Was ist das Neue an der Lebenslagenforschung und
warum gibt es sie gerade heute? Das eigentlich Neue
zeigt sich dann am eindringlichsten, wenn seine
Entstehungsgeschichte aufgezeigt wird: der Lebenslagenansatz ist in der kritischen Auseinandersetzung
mit den Klassen-und Schichtungstheorien entstanden,
mit denen die Lebensbedingungen und die soziale
Lage von Menschen und Gruppen untersucht wurden.
Heute können die komplexen Strukturen der
bundesdeutschen
Gesellschaft
mit
schichtungssoziologischen Ansätzen nicht mehr
zufriedenstellend beschrieben werden. Denn die
klassische Triade der Schichtungsforschung, berufliche
Stellung, Bildung und Einkommen erklären immer
weniger die gesellschaftliche Position der Menschen
(Schwenk
1995,
404).
Suggeriert
die
Schichtungstheorie doch, daß eine gradlinige
Verbindung zwischen Bildungsabschluß und beruflicher
Position bestehe.
Schichtungstheorien schaffen die Illusion „klarer
Verhältnisse". (a.a.O.) Das führt empirisch dazu, weite
Bevölkerungskreise, wie z. B. Frauen, aus der
Betrachtung auszuschließen. Haben doch Bildungsabschlüsse
für
Frauen
und
Männer
unterschiedliche Auswirkungen. Sie führen bei Männern
eher zu adäquaten Arbeitsplätzen als bei Frauen.
Welche
Bedeutung
hat
zum
Beispiel
ein
Hochschulabschluß für die ökonomische und soziale
Stellung alleinerziehender Frauen, wenn diese wegen
fehlender Kinderbetreuungseinrichtungen keinen ihrer
Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz finden und auf
schlecht bezahlte Teilzeitarbeit oder auf Sozialhilfe
verwiesen werden? Determinieren neben Bildung und
Herkunft nicht vielmehr familiale Verpflichtungen den
beruflichen Werdegang von Frauen?
Diese Differenzierungen konnten die Klassen- und
Schichttheorien, mit denen lange Zeit in den
Sozialwissenschaften gearbeitet wurde, nicht erfassen.
Aus diesen Theorien hat sich kein geschlechtsspezifischer Blick auf die jeweils unterschiedlichen Realitäten
entwickelt, da die Klassen- bzw. Schichtzugehörigkeit
mit Kriterien definiert wurde, die typischerweise für
männliche Biographien zutreffen. Mit dem Konzept der
Lebenslage reagieren die Sozialwissenschaften auf die
komplexer gewordenen Realitäten und versuchen,
diese in feineren Abstufungen zu erfassen.
(Glatzer/Hübinger 1989, 34). Hatten die Klassen- und
Schichtungstheorien es noch nahegelegt, aus einer
17
einheitlichen ökonomischen Situation auf eine
einheitliche Lebenslage zu schließen - die Illusion klarer
Verhältnisse -, so versucht der Lebenslagenansatz zu
differenzieren: zur Beschreibung der Lebenslage
werden neben den materiellen Grundlagen, wie dem
Einkommen, noch andere Faktoren wie persönliche
Netzwerke, gesellschaftliche Integration, Zugang zu
anderen (im)materiellen Ressourcen, persönliches
Wohlempfinden u.s.w. herangezogen. Das Ergebnis ist
dann häufig, daß sich Menschen bei gleichem
Einkommen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen
befinden und dies auch subjektiv so wahrnehmen. Die
subjektive Einschätzung der eigenen Lebenslage ist
auch
davon
abhängig,
welche
Entscheidungsspielräume der einzelne für sich sieht
und eventuell aktivieren kann. Unter Lebenslagen wird
dabei ganz allgemein der Spielraum verstanden, „den
der einzelne für die Befriedigung der Gesamtheit seiner
materiellen und immateriellen Interessen nachhaltig
besitzt.
Die Lebenslagen von Individuen und Gruppen, die
ähnlichen
strukturellen
Bedingungen
in
ihrer
Lebenssituation unterliegen, setzen sich aus einer
Vielzahl von Merkmalen zusammen. Sie umfassen die
Verfügbarkeit von und den Zugang zu materiellen
Gütern ebenso wie immaterielle Werte, positive und
negative Interessenerfüllung. Hervorgehoben wird der
Aspekt der jeweils individuellen Ausfüllung des
Spielraums oder Rahmens, den die durch das Individuum oder die relevante Gruppe nicht beeinflußbaren
äußeren Bedingungen der Existenz bestimmen." (Dieck
1984, 20)
Charakteristisch für den Begriff sind demnach die
möglichen Handlungsspielräume von Individuen oder
von Gruppen und ihre durch die Jeweilige Lebenslage
gesetzten Grenzen. „Zentral ist dabei, daß vorgegebene soziale Strukturen die Handlungsspielräume
der Individuen bestimmen und daß diese Strukturen
sozialpolitisch beeinflußt werden. Lebenslagen müßten
also im Rahmen einer Theorie gesellschaftlichen
Strukturwandels und wohlfahrtsstaatlicher Steuerung
erklärt werden" (Glatzer/Hübinger 1989, 36). Oder wie
es
Schwenk
formuliert:
„Die
vielfältigen
Lebensbedingungen der Menschen in der vereinten
Bundesrepublik und die mit ihnen einhergehenden
komplexen Erscheinungen sozialer Ungleichheit lassen
sich nur darstellen, wenn die materiellen Bedingungen
in Zusammenhang mit den jeweiligen Wahrnehmungsund Umsetzungsformen betrachtet werden." (Schwenk
1995,407)
Der Mensch bleibt in dieser Theorie handelndes
Subjekt. Anders als in schichtungstheoretischen
Ansätzen wird soziale und materielle Ungleichheit nicht
nur nach dem Schema oben - unten behandelt, sondern
zunehmend der horizontale Aspekt des Umgangs und
der Bewertung durch die Betroffenen berücksichtigt.
Durch das Zusammenspiel von objektiven Ressourcen
und subjektiver Betroffenheit bzw. subjek18
tiven Verarbeitungsformen sozialer Ungleichheit wird es
möglich, den Handlungsspielraum des einzelnen
aufzuzeigen. Der Lebenslagenansatz geht von einer
positiven Grundhaltung aus; er ist weniger deterministisch als die Klassen- und Schichtungstheorien.
Der Begriff der Lebenslage erfreut sich großer
Beliebtheit und Ungenauigkeit. Hradil spricht von einem
Modewort, das wie ein „Passepartout" auf alles zu
passen scheint. Schwenk versucht dennoch einen
Minimalkonsens
festzuhalten:
„Soziale
Lagen
repräsentieren ein Variablensyndrom also das
Zusammenwirken
mehrerer
Eigenschaften
und
Merkmalsausprägungen. Dabei gehen weit mehr als
nur ökonomische oder gar berufsspezifische Positionen
in die Analyse ein. Untersuchungseinheit sind dabei
Personen
und/oder
Haushalte"
(a.a.O.,
406).
Anknüpfungspunkt für die Forschung sind Individuen
und ihre Biographien, auf dem Hintergrund der
jeweiligen Sozialstruktur. Auch wenn das Konzept der
Lebenslagen
keine
Erfindung
moderner
Sozialwissenschaften ist, man denke nur an die
klassische marxistische Untersuchung von Friedrich
Engels „Die Lage der arbeitenden Klassen in England"
von 1845, so konnte sich der Lebenslagenansatz als
theoretisches Konzept und als Forschungsrichtung
doch
erst
im
Zusammenhang
mit
einem
gesellschaftlichen Wandel entwickeln, der theoretisch
als Individualisierung gefaßt wird.
Das
analytische
Instrumentarium
der
Lebenslagenforschung paßt besser auf die Ausdifferenzierung der Lebensformen, die neben Familie,
Herkunft und Arbeitsmarkt noch von anderen Werten
geprägt werden als Klassen- und Schichttheorien; diese
Forschungsrichtung entspricht den dynamischen
Entwicklungsprozessen
in
Zeiten,
in
denen
Selbstverständlichkeiten und klare Verhältnisse rar
werden.
Wenn sich die Sozialstruktur einer Gesellschaft
verändert und zum Beispiel die Arbeiterbewegung ihre
sozial bindende Kraft verloren hat, da die
identitätsstiftende einheitliche ökonomische Lage nicht
mehr gegeben ist und neue soziale Bewegungen auf
anderer Grundlage entstehen, dann müssen sich auch
die analytischen Instrumentarien zur Beobachtung
dieser Prozesse ändern. Der Perspektivwechsel auf die
Gesellschaft, wie er mit dem Übergang von
Schichttheorien zum Lebenslagenansatz erfolgt, zeigt,
daß Forschungsrichtungen und Fragestellungen in den
Sozialwissenschaften stark von dem gesellschaftlichen
Umfeld, von sozialen Bewegungen und dem politischen
Klima
abhängen.
Es
gibt
nicht
nur
Themenkonjunkturen, sondern auch Konjunkturen des
analytischen Herangehens.
Die Verknüpfung der Analyse der Lebenslage mit der
Lebenslaufforschung ermöglicht eine individuelle und
eine kollektive Sicht auf die Gesellschaft.
19
DER LEBENSLAUF ALS FORSCHUNGSOBJEKT
Die Lebenslagenforschung, die von einer prozeßhaften
Betrachtung der Gesellschaft ausgeht und zum Beispiel
die Veränderbarkeit von Lebenslagen sowie die
jeweiligen Gründe für den Wechsel von einem Zustand
in den anderen untersucht, basiert häufig auf
Verlaufsuntersuchungen,
auf
Lebensläufen
und
Längsschnittstudien, die mit der Analyse der
Lebenslage verknüpft werden. Mit diesem Vorgehen
eröffnet sich eine individuelle und eine kollektive Sicht
auf gesellschaftliche Prozesse. Gerade hierin liegt der
Vorteil des Lebenslagenkonzeptes: er kann zur Analyse
der Sozialstruktur ebenso herangezogen werden kann
wie zur Darstellung der Lebensschicksale einzelner
oder von Gruppen.
Die Schwäche des Lebenslagenansatzes liegt in der
empirischen Aufbereitung, in der notwendigen
Datenlage und den praktischen Konsequenzen. So
kann Ulrich Becks populäre Charakterisierung der
westlichen bundesdeutschen Gesellschaft als eine
Zwei-Drittel Gesellschaft, in der ein Drittel der
Bevölkerung an den Rand gedrängt sei und zum
Verlierer der gesellschaftlichen Entwicklung werde,
empirisch nicht nachgewiesen werden. Bzw. Versuche
dieser Art widerlegen seine Thesen (Mayer 1990,667).
Und doch ist diese, auf empirisch wackligen Füßen
stehende Theorie nicht einfach zu verwerfen, sondern
eine qualitative Aussage über die Entwicklungsrichtung
dieser Gesellschaft, die mehr den Charakter einer
Leitidee denn der empirischen Genauigkeit hat.
Debatten zum Wandel der Lebensformen und der
Individualisierung, wie sie Ulrich Beck weit über den
Kreis der Soziologen hinaus popularisiert hat, sind zwar
nicht unbestritten, vor allem nicht seine Darstellung
einer strukturlosen Gesellschaft, die sich angeblich in
einzelne Lebensläufe ausdifferenziert habe, diese
Debatten haben jedoch etwas neues geschaffen: sie
haben den Lebenslauf als einen historisch neuen
Forschungsgegenstand institutionalisiert (Kohli 1985).
Der Lebenslauf ersetzt die Sozialkategorien von Klasse
und Schicht. Das Forschungsinteresse richtet sich auf
einzelne charakteristische Lebensphasen und den
Familienzyklus. Zugespitzt könnte man sagen, es geht
nicht um Klassenpolitik, sondern um eine Politik für
Gruppen in besonderen Lebenslagen. (Mayer 1990,
668)
Auf der Ebene langfristiger Trends von Sozialstrukturen
wird davon ausgegangen, daß sich die Lebensläufe
institutionalisieren und standardisieren, das heißt, daß
sie sich durch den Zwang institutioneller Regelungen
(Sozialpolitik) angleichen. Auf der Ebene der Kulturentwicklung
wird
von
einer
zunehmenden
Individualisierung der Lebens20
läufe ausgegangen (Mayer a.a.O.), deren Entwicklung
weniger als bisher von Institutionen, Familie, Stand,
Geschlecht, vorherbestimmt und geprägt sei.
Trendtheorien, wie sie v. a. Beck formuliert, zeigen die
Bewegungsgesetze gesellschaftlicher Entwicklungen
auf. Darin liegt ihre Stärke und Popularität. Schwach
sind Trendtheorien dann, wenn es um Realanalysen
geht.
Am Beispiel der Armutsforschung soll nun aufgezeigt
werden, welche neuen Sichtweisen sich aus dem
Lebenslagenansatz für die soziale Arbeit ergeben
können.
Beispiel Armutsforschung
Einen Überblick über die Armutsforschung in der
Bundesrepublik (Hauser/Neumann 1992) zeigen
folgende Etappen: Wurde in den 50er Jahren von
kollektiver Armut gesprochen, so wurden in den 70er
Jahren die Randgruppen wiederentdeckt und unter dem
Aspekt der Mar-ginalisierung und abweichendem
Verhalten diskutiert. 1976 rückten dann mit Heiner
Geißler's „Neuer Armut" materielle Armutskonzepte in
den Vordergrund. In den 80er Jahren ging es um Armut
in Verbindung mit Arbeitslosigkeit und der Ausgrenzung
aus den Sozialversicherungen. Gegenwärtig gilt das
Lebenslagenkonzept
als
Leitbild
empirischer
Untersuchungen. Beschreibende Längsschnittuntersuchungen stehen im Mittelpunkt, mit denen der
dynamische Aspekt der Armut analysiert wird. Mit dem
Lebenslagenkonzept wird der Spielraum untersucht, der
dem Menschen zur Befriedigung seiner Interessen
durch äußere Umstände verbleibt, sowie die individuelle
Ausfüllung dieses Spielraums.
Dieser Ansatz wird empirisch umgesetzt in dem
sogenannten Bremer Modell von Stephan Leibfried,
Petra Buhr, Monika Ludwig, Lutz Leisering und anderen
(Leibfried/Leisering 1995). Sie untersuchen Armut nicht
anhand statischer Situationen mit Querschnittsdaten,
sondern Armutsepisoden innerhalb eines Lebenslaufs
im Rahmen der Lebenslauf- und Biographieforschung.
Ihr Interesse richtet sich auf Armutskarrieren, das heißt
auf die Entwicklungsrichtung, die Armut unter dem
zeitlichen Aspekt nehmen kann. Sie fragen nicht nur,
wie Menschen in die Armut rutschen, sondern auch,
welche Wege aus der Armut wieder herausführen. Denn
in der komplexen sozialen Wirklichkeit bedeutet Armut
typischerweise ein doppeltes: Deklassierung und
Übergang in eine andere Lebensphase.
21
Beispiel Frauenforschung
Der Lebenslagenansatz hat die Frauenforschung
beflügelt und umgekehrt hat die Frauenforschung vor
allem Lebenslaufstudien positiv aufgegriffen und
weiterentwickelt. (Born/Krüger 1993) Untersucht wird,
inwieweit Individualbiographien durch die Institutionen
geprägt und in ihren Abläufen standardisiert werden,
so daß eigentlich weniger von einer Individualisierung
als von Angleichung der einzelnen an die
Rahmenbedingungen gesprochen werden müßte.
Untersucht werden aber auch die sozialen Risiken, die
für Frauen an den Übergängen von einem
Lebensabschnitt in einen anderen (Statuspassagen)
entstehen können, wie z. B. nach einer Scheidung
oder der Geburt eines Kindes.
Es ist ja bereits darauf hingewiesen worden, daß
Frauen unabhängig von ihrer schulischen und
beruflichen Qualifikation allein dadurch verarmen
können, daß sie alleinerziehend sind oder werden,
keine vernünftigen Kinderbetreuungseinrichtungen zur
Verfügung stehen und das Angebot an
Teilzeitarbeitsplätzen weder die Existenz noch die
erworbenen Qualifikationen sichern kann. Untersucht
werden auch die Schnittstellen zwischen subjektivem
Handeln und der sozialen Verfaßtheit einer
Gesellschaft. Eine dieser Schnittstellen ist die
Entwicklung des Arbeitsmarktes einerseits, die seit
den 70er Jahren durch eine zunehmende
Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist und - andererseits
- das ungebrochene Streben von Frauen,
insbesondere von Müttern, in die Erwerbstätigkeit. In
der Literatur ist diese Erscheinung als „widerständiges
Verhalten" von Frauen eingegangen. Das
Erwerbsverhalten von Frauen ist sozusagen
antizyklisch geworden, es entspricht nicht mehr der
traditionellen Rolle einer Reservearmee.
Die Lebenslaufforschung, die von den Individuen
ausgeht, kann auf Gestaltungsprinzipien der
Gesellschaft eingehen, die in den Klassen- und
Schichttheorien als private Angelegenheiten
vernachlässigt oder gar nicht wahrgenommen wurden.
Mit ihr kann ein geschlechtsspezifischer Blick auf
gesellschaftliche Realitäten erst entwickelt und
geschärft werden. Daß es trotzdem noch blinde
Flecken gibt, darauf weist die Frauenforschung immer
wieder hin. Kritisiert wird zum Beispiel, daß sich der
mainstream der Lebenslaufforschung noch immer auf
die Gestaltungsprinzipien im männlichen Lebenslauf
konzentriert: so wird die Erwerbsarbeit mit ihren
Auswirkungen auf die Lebensgestaltung überbetont
und die Bedeutung der Familie ausgeblendet. Der
männlich strukturierte Lebenslauf wird dann mehr
oder weniger unausgesprochen als das Allgemeine
gesetzt. Oder es kommt zu falschen Annahmen, wie
z. B. der, daß die Lebens22
läufe von Männern ausschließlich über Erwerbsarbeit
geprägt werden und die von Frauen ausschließlich über
Familienbezüge. Übersehen wird dabei, daß sowohl
Familie als auch Erwerbsarbeit das Leben von Männern
und Frauen prägt, jedoch in unterschiedlicher Art und
Weise, je nachdem, wie die Institutionen (zum Beispiel
Schule und Betrieb) aufeinander bezogen werden. Das
für Frauen Diskriminierende liegt darin, daß die
Lebenswelten Arbeitsmarkt und Familie nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen. Ihr hierarchisches
Verhältnis
gibt
den
Lebensläufen
ihre
geschlechtsspezifisch standardisierte Gestalt. Vereinfacht ausgedrückt könnte der männliche Lebenslauf
als marktvermittelt und familienbezogen charakterisiert
werden. (Krüger 1995, 206) Für Frauen stellt sich das
Problem, daß sich die Institution Familie gegenüber
dem Arbeitsmarkt nicht durchsetzen kann, man denke
nur an die familienfeindlichen Arbeitszeiten, und im
allgemeinen Frauen die Konsequenzen zu tragen
haben. Sie können weniger als Männer Ressourcen zur
individuellen Existenzsicherung nutzen.
NUTZEN Für
die SOZIALARBEIT
Trotz
der
Erweiterung
des
weiblichen
Kompetenzspektrums in den letzten 30 Jahren hat sich
auch in der Sozialarbeit die Bewertung von männlichen
und weiblichen Praxisfeldern nicht verschoben. Das
Wertesystem ist weiterhin auf Arbeitsmarkt und Beruf
ausgerichtet. Die Doppelorientierung von Frauen auf
Beruf und Familie, mit ihren jeweils unterschiedlichen
Anforderungen, wird noch nicht entsprechend
anerkannt.
In der Sozialarbeit müßte stärker berücksichtigt werden,
daß im weiblichen Individualisierungsprozeß Familie
und
Beruf
zum
integralen
Bestandteil
der
Lebensentwürfe von Frauen geworden ist. Das führt
nicht nur zu mehr Autonomie, sondern produziert auch
neue Probleme, denen sich Sozialarbeit stellen muß.
Dies könnte dadurch geschehen, daß in der Ausbildung
Kenntnisse über geschlechtsspezifische Sozialisation
und Lebenslagen, sowie Forschungsergebnisse aus Lebenslagenstudien bearbeitet und auf ihre Praxisrelevanz
(geschlechtsspezifische
Beratungen?)
abgeklopft
werden. Somit könnte eine stärkere Sensibilität
gegenüber
Normalitätsunterstellungen
geschaffen
werden, mit denen Sozialarbeit häufig konfrontiert wird,
sei es durch das gesellschaftliche Umfeld oder durch
professionelle Einseitigkeiten.
Der Lebenslagenansatz entschärft theoretisch das
Verhältnis von Norm und Abweichung, das grundlegend
für die soziale Arbeit ist. So
23
wie die Gesellschaft selber, unterliegen auch ihre Werte
und Normen dynamischen Veränderungsprozessen.
Sie werden diffuser und unverbindlicher. Wenn alles
möglich wird, stellt sich gerade für Sozialarbeiter und
Sozialarbeiterinnen die Frage, wohin sie zukünftig
sozialisieren sollen. Die Sozialwissenschaften reagieren
innerhalb ihres Berufs-verbandes (der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie) auf die Erosion von Werten,
Maßstäben und Moral mit der Diskussion um einen
Ethikkodex als verbindliche Richtlinie für berufliches
Handeln.
Der Lebenslagenansatz bringt der sozialen Arbeit keine
neuen Werte und Normen, auf die hin die Arbeit
ausgerichtet werden könnte. Dieses Konzept ermöglicht
es stattdessen, die Fragestellungen zu erweitern, unter
denen
die
Gesellschaft
beziehungsweise
gesellschaftliche Probleme untersucht werden. Durch
die Konzentrierung auf Biographien und die (Gründe
für) die Veränderbarkeit von Lebenslagen» die auch im
privaten Bereich und im Alltag gesucht werden,
erscheinen Probleme, mit denen es Sozialarbeit zu tun
hat, in einem anderen Licht. - Gibt es im
Lebenslagenkonzept emanzipatorische Ansätze? Worin
liegt das kritische Potential, auf das Sozialarbeit nicht
verzichten will? In der kritischen Auseinandersetzung
mit Institutionen, Strukturen und Normen der
Gesellschaft, die daraufhin untersucht werden könnten,
inwieweit sie modernen, das heißt ausdifferenzierten
Lebensformen von Männern und Frauen entsprechen
und gerecht werden.
Das analytische Instrumentarium, das sich die
Sozialwissenschaften mit dem Lebenslagenkonzept
geschaffen haben, ist Ausdruck einer neuen,
zeitgemäßen Form und Sichtweise auf alte Wahrheiten,
die für Sozialarbeit genutzt werden kann. Damit dies
möglich wird, müßte die Trennung von Forschung und
Lehre, wie sie an den Fachhochschulen verlangt wird,
aufgehoben werden. Erst eine mögliche Verbindung
von Forschung und Lehre führt dazu, daß
sozialwissenschaftliche
theoretische
Erkenntnisse
stärker praxisrelevant werden können und umgekehrt
aus der Praxis der Sozialarbeit einige hehre Theorien
mit der verunreinigenden vielschichtigen Realität
konfrontiert und korrigiert werden. Vielleicht entstehen
dann
mehr
konkrete
und
realistische
Gesellschaftsanalysen und Handlungsstrategien, die
das vorhandene Widerspruchssystem berücksichtigen.
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