J. Lehmann M. Retz M. Stöckle Blasenkarzinom J. Lehmann M. Retz M. Stöckle Blasenkarzinom Mit 35 Abbildungen und 23 Tabellen 123 Dr. med. Jan Lehmann Dr. med. Margitta Retz Professor Dr. med. Michael Stöckle Universitätskliniken des Saarlandes Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar Dept. of Anatomy University of California Box 0452 San Francisco, CA 94143 USA Universitätskliniken des Saarlandes Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar ISBN 3-540-20504-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Hanna Hensler-Fritton Projektbetreuung: Sabine Pleines Design: deblik, Berlin Titelbild: deblik, Berlin SPIN 10970980 Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg Druck: Saladruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem Papier 18/3160 – 5 4 3 2 1 0 V Vorwort In der Öffentlichkeit existiert das weit verbreitete Vorurteil, der medizinische Fortschritt spare das Thema »Krebs« vollständig aus und während der letzten Jahrzehnte habe es auf diesem Feld keine wesentliche Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten gegeben. Kaum ein Vorurteil geht an den vorhandenen Tatsachen weiter vorbei wie dieses, denn es gibt ihn eben doch, den Fortschritt bei der Behandlung der bösartigen Tumoren und es gibt ihn speziell bei den vier wichtigsten Tumoren des Urogenitaltraktes, nämlich dem Hodentumor, dem Prostatakarzinom, dem Nierentumor und eben auch beim Blasenkarzinom. Den dramatischsten Wandel haben wir sicherlich bei den bösartigen Tumoren des Hodens erlebt, wo die Heilungswahrscheinlichkeit im Laufe der letzten zwei bis drei Jahrzehnte fast an 100% herangebracht werden konnte. Beim Prostatakrebs wurde seit der Jahrtausendwende in vielen Industrieländern ein deutlicher Rückgang der tumorbedingten Sterblichkeit dokumentiert, während sie in den Jahrzehnten zuvor stetig angestiegen war. Auch wenn endgültige Beweise ausstehen, so scheint es nicht unwahrscheinlich, dass diese erfreuliche Entwicklung wesentlich durch die verbesserten Möglichkeiten der Früherkennung und der dadurch weitverbreiteten kurativen Therapie bedingt ist. Beim Nierentumor erlaubt die Früherkennung durch den Ultraschall sogar immer häufiger, die betroffenen Patienten bei ausgezeichneter Heilungswahrscheinlichkeit organerhaltend zu operieren. Demgegenüber hat das Blasenkarzinom während der letzten Jahre deutlich weniger Aufmerksamkeit auf sich gezogen, was aber keineswegs bedeutet, dass es nicht auch hier erhebliche Fortschritte gegeben hat: Gerade beim infiltrierenden Blasenkarzinom, einem hochmalignen Tumor, wurden die Behandlungskonzepte zunehmend besser standardisiert. Heilungsraten und postoperative Lebensqualität konnten substantiell verbessert werden, obwohl dieser Tumor noch bis weit in die 80er-Jahre hinein als schwer behandelbar galt. Es liegt also noch nicht lange zurück, dass es weitgehend dem Zufall überlassen war, ob man einem betroffenen Patienten überhaupt eine kurative Therapie angeboten hat und ggf. in welcher Qualität. Aufgrund der zahlreichen technischen Schwierigkeiten hatte die Behandlung des infiltrierenden Blasenkarzinoms für viele Jahrzehnte und deutlich länger als bei den meisten anderen soliden Tumoren den Beigeschmack des verzweifelten Versuchs. Die damit einhergehenden Komplikationen und die oft erhebliche Einschränkung der Lebensqualität wurden als mehr oder minder unvermeidlich in Kauf genommen. Hier hat sich während der letzten beiden Jahrzehnte erhebliches geändert: Die Operation des invasiven Blasenkarzinoms hat schrittweise den Charakter des experimentellen oder der Verzweiflungstat verloren, was für den Patienten mit einem signifikanten Fortschritt einhergeht: Verbesserte Operationsmethoden und verbesserte intensivmedizinische Nachbehandlung der Patienten hatten zur Folge, dass die Operationssterblichkeit, die noch in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts deutlich über 10% lag, in Zentren mit entsprechender Erfahrung inzwischen klar unterhalb von 5% liegt. Dies trug dazu bei, dass solche Operationen auch bei Patienten in höherem Lebensalter oder bei Patienten mit Begleiterkrankungen durchgeführt werden können. Darüber hinaus wurden seit Mitte der 80er-Jahre die zur Verfügung stehenden Harnableitungstechniken immer weiter modifiziert und verbessert, sodass man heute im Grunde jedem betroffenen Patienten eine Harnableitungstechnik anbieten kann, mit denen er die sozialen, sportlichen, kulturellen und – mit gewissen Einschränkungen und Vorbehalten – auch die sexuellen Aktivitäten wieder ausüben kann, die er vor der Operation gewohnt war. Die Radikaloperation des Blasenkrebses hat damit sehr viel vom früheren Charakter des verzweifelten Versuchs oder des experimentellen und verstümmelnden Eingriffs verloren. Die Fortschritte bei der operativen Technik stellen aber nur die augenfälligste Verbesserung im Abklärungs- und Behandlungskonzept des Blasenkarzinoms dar. So steht auf der therapeutischen Seite auch die Chemotherapie inzwischen im Begriff, einen festen Platz im Behandlungskonzept zu erringen. Auf der diagnostischen Seite werden grundlegende Veränderungen meist VI Vorwort als weniger spektakulär empfunden, sie beeinflussen aber trotzdem maßgeblich die Behandlungskonzepte und die Heilungswahrscheinlichkeiten. Aus diesem Grunde wurde den diagnostischen Aspekten in diesem Buch auch breiter Raum zur Verfügung gestellt: Dazu gehört das Kapitel über die histopathologische Beurteilung, in dem auch schon die aktualisierte TNM-Klassifikation vorgestellt wird, die wieder wesentlich stärker auf den fundamentalen Unterschied zwischen invasiven und nichtinvasiven Tumoren fokussiert. In diesen Kontext gehört auch die bildgebende Diagnostik, die von vielen z. B. in Verbindung mit der systemischen Chemotherapie für einen wesentlichen Motor des Fortschritts gehalten wird: Erst die verfeinerte Diagnostik der modernen Schnittbildverfahren soll eine so frühzeitige Diagnose der Tumorprogression nach Radikaloperation erlauben, dass kurative Maßnahmen auch in diesem Stadium möglich werden. Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang auch der gewaltige Zuwachs in unserem Verständnis der molekularen Veränderungen und der molekularen Signalwege in der Tumorzelle zu nennen: Der Erkenntniszugewinn auf diesem Gebiet hat die Behandlung des individuellen Patienten bislang zwar noch nicht nachhaltig verändert. Dies wird in der nahen Zukunft aber sicher nicht so bleiben. Das vorliegende Buch verfolgt das Ziel, nicht nur dem Urologen, sondern auch dem Nichturologen, vielleicht auch dem interessierten Laien eine Übersicht über wichtige Teilaspekte in Diagnostik und Therapie des Blasenkarzinoms zu bieten. Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ewige Wahrheit. Es stützt sich auf den Kenntnisstand von Herbst 2003 bis Frühjahr 2004. Die Themenauswahl fokussiert vor allem auf die Bereiche, wo die letzten Jahre durch Fortschritte, Veränderungen, aber auch durch Kontroversen geprägt waren. Eine Ausnahme davon ist das Kapitel von T. Kälble über den Zusammenhang zwischen Umweltgiften und Blasenkarzinom. Auch wenn man das Thema aus heutiger Sicht mit dem Satz zusammenfassen könnte, dass derzeit bei der Entstehung von Blasenkrebs kein Umweltgift eine so wichtige Rolle spielt wie der Tabakrauch, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es das Blasenkarzinom war, an dessen Beispiel die Menschheit während des 20. Jahrhunderts schrittweise den Zusammenhang zwischen Umweltnoxen und Krebsentstehung zu begreifen gelernt hat. Die Autoren der einzelnen Kapitel sind Experten auf ihrem jeweiligen Feld und waren eingeladen, auch ihre persönliche Meinung einfließen zu lassen. Der sorgfältige Leser wird daher sicher auch Widersprüche und divergierende Meinungen entdecken können. Es war durchaus eher beabsichtigt, die bestehenden Kontroversen transparent zu machen, als sie durch den Versuch einer Konsensbildung zu unterdrücken. Die Herausgeber danken den Autoren der einzelnen Kapitel für die Kooperationsbereitschaft und den Mitarbeitern des Springer-Verlags für die stets freundliche Zusammenarbeit, die selbst härteste Geduldsproben überstand. Homburg/Saar, im Juli 2004 VII Inhaltsverzeichnis 1 Typing, Grading und Staging beim Harnblasenkarzinom: Pathomorphologische Parameter und deren Bedeutung für die Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 S. Störkel 2 Neue Möglichkeiten der bildgebenden Diagnostik beim Harnblasenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 M. Uder, M. Heinrich, A. Grgic 3 Umweltfaktoren als wesentliche Ursache des Blasenkarzinoms und seiner Epidemiologie – Ein historischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 T. Kälble 4 Molekulare Prognosemarker des Harnblasenkarzinoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 M. Retz und J. Lehmann 5 Der Einsatz von BCG beim oberflächlichen Harnblasenkarzinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 A. Böhle 6 Das kontrovers diskutierte Tumorstadium pT1G3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 M. Stöckle, J. Lehmann 7 Therapie des muskelinvasiven und des lokal fortgeschrittenen Blasenkarzinoms im Jahr 2004 . . . . . . 81 M. Schostak, K. Miller 8 Harnableitung nach Zystektomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 P. Albers 9 Zeitgemäße Pflege von Patienten mit Urostomien, kontinenten und inkontinenten Harnableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 M. Georg 10 Therapie und Prognose des lymphogen metastasierten Urothelkarzinoms – Stellenwert der Lymphknotenchirurgie und der perioperativen systemischen Chemotherapie . . . 109 M. Stöckle, J. Lehmann 11 Systemische Chemotherapie des metastasierten Urothelkarzinoms – eine kritische Analyse . . . . . . . 125 J. Lehmann, M. Retz, M. Stöckle Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 IX Autorenverzeichnis Albers, Peter Miller, Kurt Klinik für Urologie Klinikum Kassel GmbH Mönchebergstr. 41–43 34125 Kassel Klinik für Urologie der Medizinischen Fakultät Berlin Freie Universität Berlin Hindenburgdamm 30 12200 Berlin Böhle, Andreas HELIOS Agnes Karll Krankenhaus Am Hochkamp 21 23611 Bad Schwartau Georg, Marita Universitätskliniken des Saarlandes Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar Grgic, Aleksander Abt. für Radiodiagnostik der Universitätsklinik des Saarlandes Kirrberger Str. 1 66421 Homburg Heinrich, Mark Abt. für Radiodiagnostik der Universitätsklinik des Saarlandes Kirrberger Str. 1 66421 Homburg Kälble, Tilmann Klinik für Urologie und Kinderurologie des Klinikums Fulda Pacelliallee 4 36043 Fulda Retz, Margitta Dept. of Anatomy University of California Box 0452 San Francisco, CA 94143 USA Schostak, Martin Klinik für Urologie der Medizinischen Fakultät Berlin Freie Universität Berlin Hindenburgdamm 30 12200 Berlin Stöckle, Michael Universitätskliniken des Saarlandes Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar Störkel, Stephan Institut für Pathologie der Universität Witten/Herdecke Helios Klinikum Wuppertal Heusnerstr. 40 42283 Wuppertal Uder, Michael Lehmann, Jan Universitätskliniken des Saarlandes Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar Institut für Diagnostische Radiologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Nürnberg Maximiliansplatz 1 91054 Erlangen 1 Typing, Grading und Staging beim Harnblasenkarzinom: Pathomorphologische Parameter und deren Bedeutung für die Klinik S. Störkel Typing, Staging und Grading stellen essentielle Parameter der pathologisch-anatomischen Begutachtung von Urothelkarzinomen dar, die ihrerseits als Grundlage für nachfolgende klinische Entscheidungen und Therapieoptionen dienen. Mit der neuen WHO-Klassifikation der Harnblasenkarzinome (Eble et al. 2004) wurden erstmals nichtinvasive und invasive Urothelkarzinome unterschieden, weiterhin neue Entitäten eingeführt und die Nomenklatur vereinheitlicht. Auch das Grading von Urothelkarzinomen wurde neu gestaltet und auf nichtinvasive Tumoren beschränkt. Beim Staging erbringen Substaging-Vorschläge und neue mikroskopische Analyseansätze mehr Information für den Urologen. Die nachfolgenden Ausführungen sollen deshalb ein kurzgefasstes Update der sich wandelnden pathomorphologischen Befundung von Harnblasenkarzinomen geben. Typing der Tumoren der ableitenden Harnwege Die nachfolgende ⊡ Tabelle 1.1 gibt die WHO-Typisierung der Tumoren der Harnblase in der derzeit gültigen Fassung der 3. Auflage von 2004 wieder (Eble et al. 2004), die nach Zelltyp und Differenzierung unterscheidet. Aus ihr wird ersichtlich, dass die Blasentumoren eine sehr heterogene Gruppe darstellen. Gut 95% der Blasentumoren sind epithelialer Natur, davon sind ca. 80% vom urothelialen Phänotyp, bis 10% vom plattenepithelialen Phänotyp, ca. 2% vom drüsigen Phänotyp und weniger als 1% undifferenzierte Karzinome. Der Begriff Transitionalzellkarzinom statt Urothelkarzinom gilt als obsolet. Während in der WHO-Typisierung der Tumoren der Harnblase von 1999 (Mostofi et al. 1999) noch tumorähnliche – und Präkursorläsionen aufgelistet waren, wurden diese Veränderungen jetzt nicht mehr in die Darstellung aufgenommen. Einige, für die Klinik wichtige Entitäten betreffende Änderungen gegenüber der alten WHO-Klassifikation werden kurz dargestellt. Die papilläre Neoplasie niedrig-malignen Potentials (PUNLMP) stellt eine 1998 neu definierte Gruppe von papillären Urotheltumoren dar, die mittlerweile allgemein anerkannt wird. Diese Tumoren ähneln den urothelialen Papillomen im Aufbau, weisen aber eine vermehrte Proliferation und Dickenzunahme des Urothels auf. Die Prognose ist gut; es werden weniger Rezidive wie bei hochdifferenzierten nichtinvasiven papillären Urothelkarzinomen beobachtet. Diese Tumoren wurden bislang bei den hochdifferenzierten papillären Urothelkarzinomen Grad 1 subsumiert. Das Urachuskarzinom, das überwiegend als ein Adenokarzinom imponiert, aber auch urotheliale, plattenepitheliale und andere Differenzierungsmerkmale aufweist, wird in der tabellarischen WHO-Systematik 2004 nicht erwähnt. Dennoch ist es hier aufzulisten, da es sich u. a. im mittleren Manifestationsalter und in der Lokalisation vom Adenokarzinom der Harnblase unterscheidet. 2 1 Kapitel 1 · Typing, Grading und Staging beim Harnblasenkarzinom ⊡ Tabelle 1.1. Histologische Klassifikation von Tumoren der Harnblase 1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.3.6 1.3.7 1.3.8 1.3.9 1.3.10 1.3.11 1.3.12 1.3.13 Urotheliale Tumoren Noninvasive urotheliale Neoplasien Urotheliales Papillom Urotheliales Papillom, invertierter Typ Nichtinvasive urotheliale Neoplasie mit niedrig malignem Potential Nichtinvasives papilläres Urothelkarzinom »low grade« Nichtinvasives papilläres Urothelkarzinom »high grade« Urotheliales Karzinom in situ Invasive urotheliale Neoplasien Infiltrierendes Urothelkarzinom Infiltrierendes Urothelkarzinom mit plattenepithelialer Differenzierung Infiltrierendes Urothelkarzinom mit glandulärer Differenzierung Infiltrierendes Urothelkarzinom mit throphoblastischer Differenzierung Infiltrierendes Urothelkarzinom nestförmige Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom mikrozystische Varinate Infiltrierendes Urothelkarzinom mikropapilläre Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom Lymphoepitheliom-ähnliche Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom lymphomähnliche Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom plasmazytoide Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom sarkomatoide Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom riesenzellige Variante Infiltrierendes Urothelkarzinom undifferenzierte Variante ICD-O 8120/3 – – – – – 8131/3 8082/3 – – 8122/3 8031/3 8020/3 2 2.1 2.2 2.3 Plattenepitheliale Neoplasien Plattenepitheliales Papillom Plattenepithelkarzinom Verruköses Karzinom 8052/0 8070/3 8051/3 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 Glanduläre Neoplasien Villöses Adenom Adenokarzinom Adenokarzinom mit enteraler Differenzierung Adenokarzinom mit muzinöser Differenzierung Adenokarzinom mit siegelringzelliger Differenzierung Adenokarzinom mit klarzelliger Differenzierung 8261/0 8140/3 – 8480/3 8490/3 8310/3 4 4.1 4.2 4.3 Neuroendokrine Tumoren Kleinzellige Karzinom Karzinoid Paragangliom 8041/3 8240/3 8680/1 5 5.1 5.2 Melanozytäre Tumoren Malignes Melanom Nävus 8720/3 – 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 Mesenchymale Tumoren Rhabdomyosarkom Leiomyosarkom Angiosarkom Osteosarkom Malignes fibröses Histiozytom Leiomyom Hämangiom Andere 8900/3 8890/3 9120/3 9180/3 8830/3 8890/0 9120/0 – 7 7.1 7.2 Hämopoetische und lymphatische Tumoren Malignes Lymphom Plasmozytom – 9731/3 8 8.1 8.2 Verschiedene Tumoren Karzinom der Skenischen-, Cowper- und Littre-Drüsen Metastatische Tumoren und Tumorübergriff von anderen Organen – – 8120/0 8121/0 8130/1 8130/2 8130/3 8120/2 3 Grading der Tumoren der ableitenden Harnwege Das spindelzellige Karzinom der Harnblase wird jetzt als Urothelkarzinom, sarkomatoide Variante, bezeichnet. Hierzu zählt auch das Karzinosarkom der Harnblase, das eine Neubildung kennzeichnet, die eine maligne epitheliale Komponente (urothelial, plattenepithelial oder drüsig differenziert) und eine eigenständige heterologe mesenchymale Komponente enthält (meist chondro- oder osteosarkomatös), was den alten Streit, ob Kombinationstumor, Kollisionstumor oder Kompositionstumor, ad acta legt. Das unklassifizierte Karzinom der Harnblase entfällt, da die aktuelle Klassifikation/Systematik der WHO das gesamte Spektrum der möglichen Phänotypien und Genotypien von Harnblasenneoplasien beschreibt. Auch die Atypie unklarer Signifikanz des Urothels wurde in der aktuellen Klassifikation gestrichen, was eine klare Festlegung auf reaktive oder neoplastische Veränderungen des Urothels verlangt und damit dem Urologen eindeutige Aussagen liefert. Grading der Tumoren der ableitenden Harnwege Das Grading urothelialer Tumoren ist seit Jahrzehnten einem kontinuierlichen Wandel unterworfen und wird wahrscheinlich auch nach dem neuen WHO-Vorschlag weiter lebhaft diskutiert werden. Die auszugsweise Gegenüberstellung der bisherigen verschiedenen Grading-Systeme in ⊡ Tabelle 1.2 dient dem Verständnis und der Transposition der alten Befunde in die aktuelle, international verbindlich festgelegte Systematik. Die Gegenüberstellung zeigt den schnellen Wandel, was Folge der mangelnden Akzeptanz des ISUP/WHO-Grading von 1998 bei Urologen und Pathologen war. Das modifizierte Bergqvist Grading von Malmström et al. (1987) stell- te die Basis für die Grading-Einteilungen von 1998 und 1999 dar. Vorteilhaft in der WHO-Klassifikation von 2004 ist zwar die terminologische Beschränkung des Gradings auf Urothelkarzinome »low grade« und »high grade«. Es bleibt aber der Zukunft überlassen, ob sich die Auffassung von Cheng u. Bostwick (2000) durchsetzt, dass die Schaffung einer neuen Kategorie in Form des »papillären Tumors mit niedrig malignem Potential« (»low malignant potential«, LMP) für einen tumorbiologisch nicht klar definierten Tumor, der zudem nur schwer vom nichtinvasiven papillären Urothelkarzinom Grad 1 abgrenzbar ist, sich als nicht sinnvoll erweist und im klinischen Gebrauch nicht einführbar sein wird. Prinzipiell müssen beim Grading von Urotheltumoren folgende Voraussetzungen beachtet werden: 1. Das Grading gilt nur für papilläre nichtinvasive Tumoren. 2. Es sollten nur orthograd getroffene Tumorabschnitte zum Grading verwendet werden. 3. Wesentlich ist die in der Übersichtsvergrößerung zutreffende Entscheidung, in wieweit die Textur in den papillären Formationen erhalten ist oder nicht. 4. Das urotheliale Carcinoma in situ ist immer ein niederdifferenziertes Karzinom. Unter diesen Prämissen lässt sich das in ⊡ Abb. 1.1 gezeigte Flussdiagramm aufstellen. Ein unabhängiger prognostischer Wert eines Gradings nach zytologischen oder nukleären Kriterien für invasive Urotheltumoren ist umstritten bzw. fehlt, da mehr als 80% aller muskelinvasiven Urothelkarzinome zytologisch ohnehin hochmaligne Tumoren sind. Ob das Wachstumsmuster der invasiven Komponente (z. B. nodulär, trabekulär oder netzförmig infiltrierend) prognostische Relevanz hat (analog dem GleasonGrading beim Prostatakarzinom) kann bislang noch ⊡ Tabelle 1.2. Gegenüberstellung verschiedener Grading-Systeme (Busch u. Algaba 2002) WHO 1973 Malmström 1987 ISUP/WHO 1998 WHO 2004 Papillom Grad 1 Papillom Papillom Grad 2A PUNLMP Low-grade-Karzinom PUNLMP Low-grade-Karzinom Grad 2 Grad 2B High-grade-Karzinom High-grade-Karzinom Grad 3 Grad 3–4 High-grade-Karzinom High-grade-Karzinom Grad 1 1 4 Kapitel 1 · Typing, Grading und Staging beim Harnblasenkarzinom Urothelkarzinom Grad ? 1 Textur vorwiegend erhalten Ja Nein Urothekarzinom PUN LMP oder Urothelkarzinom WHO I° WHO II° oder III° Textur fokal erhalten? Ja Nein Texturabweichung leicht erkennbar? Nein Nein Ja PUN LMP Urothelkarzinom WHO I° PUN LMP Urothekarzinom Low grade Urothelkarzinom WHO II° Urothelkarzinom WHO III° Urothelkarzinom High grade ⊡ Abb. 1.1. Flussdiagramm zum Grading des nichtinvasiven Harnblasenkarzinoms. (Mod. nach Busch u. Algaba 2002) Staging der Tumoren der ableitenden Harnwege pM: Mikroskopischer (histologischer oder zytologischer) Nachweis von Fernmetastasen ▬ Fakultativ kann eine Angabe zum Vorliegen oder Fehlen einer Lymphangiosis carcinomatosa (pL0 vs. pL1) oder Haemangiosis carcinomatosa (pV0 vs. pV1) gemacht werden. ▬ Bei multiplen Tumoren ist der am weitesten fortgeschrittene Tumor zu klassifizieren. ▬ Der Zusatz »(m)« soll bei der entsprechenden pT-Kategorie verwendet werden, um das Vorliegen von multiplen Tumoren anzuzeigen. ▬ Der Zusatz »(is)« kann bei jeder pT-Kategorie verwendet werden, um das Vorliegen eines assoziierten Carcinoma in situ anzuzeigen. Das Staging der Harnblasenkarzinome erfolgt nach der pTNM-Klassifikation der Harnblasenkarzinome der UICC von 2002. Für das Staging gelten die nachfolgend in ⊡ Abb. 1.2 und in ⊡ Tabelle 1.4 aufgeführten Regeln bzw. Erfordernisse. Für das Staging von Harnblasenkarzinomen gelten die nachfolgenden Prämissen: pN: Histologische Untersuchung von t8 regionären Lymphknoten In der TNM-Klassifikation von 2002 sind für die Tumoren des Nierenbeckens, des Ureters und der Urethra sowie für die Urothelkarzinome der Prostata bzw. der prostatischen Urethra keine Änderungen gegenüber 1997 vorgenommen worden (⊡ Tabelle 1.5). Neben den Beckenlymphknoten zählen auch die inguinalen Lymphknoten zu den regionären Lymphknoten der Urethra, wobei die Seitenlokalisation für die pN-Klassifikation ohne Belang ist. nicht abschließend beurteilt werden. Jiminez et al. (2000) fanden in einer der wenigen Studien zu dieser Problematik eine fast signifikante Tendenz für eine höhere Überlebensrate bei den Urothelkarzinomen, die kein infiltratives Pattern in der invasiven Komponente aufwiesen. Das Spektrum der papillären Urotheltumoren mit ihren für das Grading und das Typing (Klassifikation) wesentlichen mikroskopisch zu erhebenden Veränderungen beschreibt ⊡ Tabelle 1.3. 1 5 Staging der Tumoren der ableitenden Harnwege ⊡ Tabelle 1.3. Grading-Kriterien für papilläre Urotheltumoren (WHO 2004) Kriterium Papillom Tumor mit LMP Low grade High grade Urothelbreite Ausreifung - Superfiziale Zellschicht – ( ) – () – - Basale Zellpalisade ++ ++ - Kern-Crowding Architektur – ( ) - Polarität – - Kohäsivität – ( )- Mitosen – () basal – () basales Drittel - Kernplasma Relation - Kerngröße – () - Kernpolymorphie – - Nukleolengröße – () - Riesenzellkerne - Chromatingehalt () - Chromatinmuster vergröbert Vergröbert – stark vergröbert LMP Low-malignant-Potential; = nicht vorhanden/fehlt; = normal. pTis perivesik. Fettgew. pTa pT1 M. propria M. propria (außen) (innen) pT2a L. propria pT2b Urothel ⊡ Abb. 1.2. Schematische Abbildung der Stadien beim Harnblasenkarzinom pT3a/b pT4a/b perivesikale Organe 6 1 Kapitel 1 · Typing, Grading und Staging beim Harnblasenkarzinom ⊡ Tabelle 1.4. pTNM-Klassifikation der Harnblasenkarzinome ⊡ Tabelle 1.5. pTNM-Klassifikation der Urothelkarzinome der Prostata/prostatischen Urethra pT pTX pT0 pTa pTis pT1 pT2 pT2a pT2b pT3 pT3a pT3b pT4 pT4a pT4b pT pTX pT0 pTis pu Primärtumor nicht beurteilbar Kein Anhalt für ein Karzinom Nichtinvasives papilläres Karzinom Carcinoma in situ Invasion der L. propria Invasion der Detrusormuskulatur Innere Muskelhälfte Äußere Muskelhälfte Invasion von perivesikalem Gewebe Mikroskopische Invasion Makroskopische Invasion Invasion angrenzender Organe Prostata, Uterus, Vagina, Rektum Becken- oder Bauchwand pTis pd pT1 pT2 pT3 pT4 pN pNX pN3 Regionäre Lymphknotenmetastasen nicht beurteilbar Keine regionären Lymphknotenmetastasen Solitäre Lymphknotenmetastase d2 cm Solitäre oder multiple LK-Metastasen; >2 cm und d5 cm LK-Metastasen >5 cm pM pMX pM0 pM1 Fernmetastasen nicht beurteilbar Keine Fernmetastasen Fernmetastasen pN0 pN1 pN2 Multizentrizität Das primäre pTis ist selten; meist tritt es multifokal und mit einem invasivem Urothelkarzinom assoziiert auf. 80% der pTis-Tumoren gehen in invasive Karzinome über (Adsay et al. 1997). Die Multizentrizität von Urothelkarzinomen geht im Vergleich zu unizentrischen Tumoren mit einer erhöhten Rezidiv- und Progressrate einher (Rezidive bei pT1-Tumoren: 73% vs 46%; Progress zu muskelinvasiven Tumoren: 44% vs. 24% (Lutzeyer et al. 1982). Lymph- und Blutgefäßinvasion Eine Lymph- und/oder Hämangioinvasion lässt sich bei sorgfältiger Suche unter Anlegung strenger Kriterien (⊡ Tabelle 1.6) in 10–12% von papillären pT1-Karzinomen nachweisen (Lopez u. Angulo 1995; Marchetti et al. 1996). Angioinvasive pT1-Karzinome verhalten sich prognostisch schlechter als solche pN pNX pN0 pN1 pN2 pM pMX pM0 pM1 Primärtumor nicht beurteilbar Kein Anhalt für ein Karzinom Carcinoma in situ in der prostatischen Urethra Carcinoma in situ in prostatischen Gängen (»ducts«) Invasion des subepithelialen Bindegewebes Invasion des prostatischen Stromas, des Corpus spongiosum oder periurethralem Muskel Invasion des Corpus cavernosum, jenseits der Prostatakapsel oder in den Blasenhals Invasion anderer angrenzender Organe Regionäre Lymphknotenmetastasen nicht beurteilbar Keine regionären Lymphknotenmetastasen Solitäre Lymphknotenmetastase d2 cm Solitäre LK-Metastase >2 cm oder multiple LK-Metastasen Fernmetastasen nicht beurteilbar Keine Fernmetastasen Fernmetastasen ohne Gefäßinvasion (44% Fünfjahresüberlebensrate vs. 81% bei L0/V0). Im Gegensatz zu muskelinvasiven Karzinomen erwies sich der Status der Angioinvasion bei pT1-Tumoren als unabhängiger prognostischer Marker (Lopez u. Angulo 1995). Die Diagnose einer Angioinvasion ist am konventionellen Schnittpräparat durch den Pathologen oft nur schwer zu stellen und mit einer nicht unerheblichen Rate falsch-positiver Diagnosen verknüpft. Mit Antikörpern gegen Gefäßendothelien ließen sich lediglich 14% bzw. 40% der in der Routinefärbung diagnostizierten Angioinvasionen bestätigen (Larsen et al. 1990; Ramani et al. 1991). Zu bedenken ist, dass bislang nur Endothelien von Blutgefäßen sicher darstellbar sind, ein Antikörper gegen Lymphgefäßendothelien steht derzeit kurz vor der Kommerzialisierung. Im blutkapillarreichen Bindegewebsstock von papillären invasiven pT1Urothelkarzinomen sowie im angrenzenden Bindegewebe der Lamina propria oberhalb der diskontinuierlichen M. mucosae lassen sich keine Lymphgefäße nachweisen (Marchetti et al. 1996).