Acrobat Distiller, Job 23

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Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
Diagnostik und Beratung bei Netzhautdystrophien im Kindes und
Erwachsenenalter
Birgit Lorenz
Abteilung für Pädiatrische Ophthal
mologie, Strabismologie und
Ophthalmogenetik
Klinikum der Universität Regensburg
Zusammenfassung
Die große klinische und genetische
Heterogenität von Netzhautdystro
phien im Kindes und Erwachsenenal
ter erfordert sowohl für die Diagnose
stellung als auch die Beratung mög
lichst umfassende GenotypPhänotyp
Korrelationen. Die Erstellung von na
tionalen und internationalen Daten
banken ist ein wichtiges Anliegen, da
so die Voraussetzungen geschaffen
werden für (1) eine immer präzisere
Beratung der Betroffenen und ihrer
Familien und (2) für in Zukunft mög
lich werdende Therapiestudien an
ausreichend großen Patientenkollek
tiven mit definierten Genotypen.
Exemplarisch aufgezeigt werden der
zeitige Möglichkeiten und Grenzen
der klinischen und genetischen Dia
gnostik.
Schlüsselwörter
Genotypisierung, Phänotypisierung,
GenotypPhänotypKorrelation, Pro
gnose, genetische Beratung
180
medgen 15 (2003)
Summary
Diagnosis and counselling of retinal
dystrophies with childhood or adult
onset.
Retinal dystrophies with childhood or
adult onset are a clinically and ge
netically heterogeneous group of di
seases. Genotypephenotype correla
tions are a prerequisite for effective
diagnosis and counselling of patients
and their families. Establishment of
national and international databases is
essential for (1) an increasingly precise
counselling of the patients and their
families and (2) future therapeutic
trials in sufficiently large patient num
bers. Examples demonstrate actual
possibilities and limitations of diag
nosis and counselling.
Key words
Genotype, phenotype, genotypephe
notypecorrelation, prognosis, genetic
counselling
Einleitung
Netzhautdystrophien des Kindes und
Erwachsenenalters sind durch einen
bereits bei Geburt sich manifestieren
den oder erst im Lauf des Lebens
auftretenden Sehverlust gekennzeich
net, der entweder zunächst vor allem
das zentrale Sehen betrifft (bei primä
rer Einbeziehung der Makula, d.h. der
Stelle des schärfsten Sehens) oder
das periphere Sehen. Symptome sind
die Herabsetzung der Sehschärfe
bzw. eine progrediente Gesichtsfeld
einschränkung. Da die Netzhaut ei
nerseits Sinneszellen für das Sehen
im Hellen (Zapfen) und andererseits
für das Sehen im Dunkeln (Stäbchen)
besitzt, können je nach Erkrankung
entweder beide Systeme gleichzeitig
oder in zeitlicher Abfolge oder auch
(überwiegend) nur ein System betrof
fen sein. Darüber hinaus sind in der
Netzhaut außer den Zapfen und Stäb
chen weitere neuronale Zellen lokali
siert (Bipolare, Ganglienzellen, Hori
zontalzellen, Amakrinzellen, Müller
sche Zellen), die die visuelle Informa
tion weiterleiten bzw. verarbeiten und
die ebenfalls primär oder sekundär
betroffen sein können. Daraus ergibt
sich, dass Netzhautdystrophien eine
extrem heterogene Erkrankungsgrup
pe darstellen, und zwar sowohl auf
genetischer als auch klinischer Ebe
ne. Die Aufdeckung der molekularen
Ursachen erlaubt einerseits eine zu
nehmend differenziertere Diagnose,
stellt aber andererseits neue Ansprü
che an die klinische Phänotypisie
rung. Da die Mehrzahl der Erkrankun
gen progredient ist und nicht nur in
ter, sondern auch intraindividuelle
Variabilität ein häufiges Phänomen ist,
Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
Abb 1 Komplexe Phänotypisierung bei Xchromosomaler RP mit be
kanntem Genotyp
16jähriger Patient mit nachgewiesener Mutation im RPGR Gen (RP3)
(Bader2003). Gezeigt sind die Daten des rechten Auges. Der Visus be
trägt 0,9. Das GoldmannGesichtsfeld zeigt keine groben Veränderun
gen. Im GanzfeldERG nach ISCEVStandard sind weder Zapfen noch
Stäbchenantworten ableitbar. Das GanzfeldERG ist daher bei diesem
Patienten nicht mehr zur Verlaufsdokumentation geeignet.
A
B
A. Augenhintergrund Am hinteren Augenpol sind nur diskrete Verände
rungen erkennbar. Der Makulawallreflex ist abgeschwächt, die Umge
bung der Makula erscheint etwas heller.
B. Autofluoreszenz Im retinalen Pigmentepithel RPE ist als Abbaupro
dukt Lipofuszin enthalten, das eine Auofluoreszenz AF hat, wenn der Au
genhintergrund mit grünem Licht (z.B. Argonlaser 488 nm) beleuchtet
wird. Die Untersuchung ist z.B. an einem Heidelberg Retinographen
möglich (HRA, Heidelberg Instruments). Bei Pathologien im Photorezep
torRPEKomplex kann es zu einer Zunahme der AF kommen als Zeichen
einer vermehrten LipofuszinBildung. Im Atrophiestadium des RPE
kommt es dann zu einer Abnahme der AF. Bei dem Patienten ist es um
die physiologisch dunkle Fovea herum zu einer ringförmigen vermehrten
AF gekommen.
C–D. Zweifarbenperimetrie an einem modifizierten statischen Peri
meter (HFA, Humphrey Instruments) Untersucht ist das 30° Gesichts
feld. Mit dieser Methode kann die Stäbchen und Zapfenfunktion orts
aufgelöst untersucht und analysiert werden. Bei dem Patienten zeigen
sich für beide Photorezeptorsysteme eindeutige Störungen, die aber
nicht kongruent sind.
C. zeigt den tatsächlichen Empfindlichkeitsverlust für Stäbchen im
dunkeladaptierten Zustand (blau) und für Zapfen im helladaptierten
Zustand (rot). Der Empfindlichkeitsverlust ist in dB angegeben.
C
D. zeigt das Verhältnis der Empfindlichkeitsverluste für Stäbchen und
Zapfen.
Jährliche Kontrollen erlauben die Dokumentation des Verlaufes als Vor
aussetzung für in Zukunft möglich werdende kausale Therapieansätze.
Legende
Empfindlichkeitsverlust
Stäbchen > Zapfen
Stäbchen = Zapfen
Zapfen > Stäbchen
Blinder Fleck
D
keine Antwort
sind für die Beratung aussagekräftige
Longitudinaluntersuchungen essen
tiell. Diese gewinnen auch im Hinblick
auf in Zukunft möglich werdende The
rapieansätze zunehmend an Bedeu
tung (siehe Beiträge von SchmidtEr
furth, Wolf und Schnurrbusch, Kirch
hof, Zrenner, Bartsch et al. und Rei
chel et al. in dieser Ausgabe).
I. Diagnostik bei Netzhaut
dystrophien im Kindes und
Erwachsenenalter
1. Diagnostische Möglichkeiten
und Notwendigkeiten
Prinzipiell ist der Begriff Dystrophie
progredienten Erkrankungen vorbe
halten. Dennoch ist es erforderlich,
klinisch progrediente Erkrankungen
von stationären Funktionsstörungen
abzugrenzen, da dies für die Ein
schätzung der Prognose bedeutend
ist und gerade im Kindesalter nicht
immer sofort erkannt werden kann,
um welche Störung es sich handelt.
Tabelle 1 gibt eine Aufstellung von
primär stationären Netzhautdysfunk
tionen in Abgrenzung zu progredien
ten Netzhautdystrophien. In Tabelle 2
sind derzeit mögliche diagnostische
Schritte aufgelistet. Dabei sind spe
zielle Untersuchungsmethoden zur
qualitativen und quantitativen ortsauf
gelösten Phänotypisierung einzelnen
Zentren vorbehalten, die sich schwer
punktmäßig mit Netzhautdystrophien
befassen. Ein Beispiel ist in Abb.1 ge
geben. GenotypPhänotypKorrelatio
nen gewinnen im Hinblick auf in Zu
kunft möglich werdende Therapiean
sätze zunehmend an Bedeutung. Ver
wandte müssen gegebenenfalls auch
bei leerer Familienanamnese unter
sucht werden, wenn es sich um Er
krankungen mit variabler Expressivität
und/oder reduzierter Penetranz han
delt oder um Xchromosomale Er
krankungen, bei denen die Kondukto
rinnen (asymptomatische oder symp
tomatische) Veränderungen aufweisen
können. Gerade Frühstadien von
Netzhauterkrankungen können noch
einen relativ unauffälligen Augenhin
tergrund haben, so dass erst elektro
physiologische Untersuchungen die
richtige Einordnung der Erkrankung
ermöglichen. Ein Beispiel ist in Abb.1
gezeigt. Stationäre Erkrankungen
können ophthalmoskopisch lebens
lang unauffällig sein. Einem frühkind
lichen Nystagmus kann eine stationä
re oder progrediente Zapfendysfunk
tion zugrundeliegen (Lorenz and
Gampe 2001a (Tabelle 1). Um auf
grund inter und intrafamiliärer Varia
bilität die Individualprognose korrekt
einschätzen zu können und um den
Effekt (von in Zukunft möglich wer
dender) Therapien beurteilen zu kön
nen, sind Longitudinalstudien mit
Kontrolluntersuchungen z.B. in jähr
lichen Abständen erforderlich (z.B.
Birch et al. 1999). Tabelle 3 zeigt am
Beispiel der Atrophia gyrata die inter
medgen 15 (2003)
181
Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
Tab 1a Stationäre Netzhaut
dysfunktionen
Tab 2 Diagnostik
bei Netzhautdystrophien
Achromatopsie autosomal rezessiv
(ACHM1,2,3)*
Klinische Untersuchung von
Betroffenen
Verwandten
Blauzapfenmonochromasie
Xchromosomal
Makulahypoplasie*
– Albinismus (a.r., Xchromosomal)
– Aniridie
– Isolierte Foveahypoplasie
Kongenitale stationäre Nachtblindheit
– Xchromosomal (CSNB1‡, CSNB2‡)
– a.d. (Rho, PDEB, Transducin)
– a.r. Oguchi Disease (Arrestin,
Rhodopsinkinase)
– a.r. Fundus albipunctatus (RDH5)
Tabelle 1b Netzhautdystrophien
Leber’sche kongenitale Amaurose LCA* /
Early Onset Severe Retinal Dystrophy
EOSRD‡ meist a.r., selten a.d.
Xchromosomale Retinoschisis ‡
ZapfenStäbchendystrophien
(ConeRodDystrophies CRD)
a.d., a.r., simplex, (Xchromosomal)
– generalisiert
– lokalisiert
StäbchenZapfendystrophien (Retinitis
pigmentosa, RodConeDystrophies)
– ADRP
– ARRP
– XLRP
– simplex RP
– Chorioideremie
Syndromale und metabolische Netzhaut
dystrophien
– UsherSyndrome USH1, USH2, USH3
– BardetBiedlSyndrom BBS16
– RefsumSyndrom
– Atrophia gyrata
– Ceroidlipofuszinose
– Abetalipoproteinämie
– Mitochondriopathien
Legende
* mit kongenitalem /frühkindlichem Nystag
mus (sensorischem Defektnystagmus
(SDN)) assoziiert;
‡ SDN ±
individuelle und sogar interokuläre
Variabilität des Phänotyps im Longi
tudinalverlauf.
2. Grenzen der Phänotypisierung
Histologische Untersuchungen der
Netzhaut sind in der Regel erst post
mortem möglich. Die in vivo Phänoty
pisierung stützt sich daher auf funk
tionelle Messungen sowie auf diverse
bildgebende Verfahren. Die Reprodu
zierfähigkeit psychophysischer Unter
suchungen ist begrenzt. Dafür gibt es
folgende Gründe: Psychophysische
Schwellen sind nicht scharf definiert,
da sie z.B. tageszeitlichen Schwan
kungen unterliegen, von der aktuellen
Verfassung des Untersuchten (Auf
merksamkeit, Ermüdung, Koopera
tionsfähigkeit, Kooperationsbereit
182
medgen 15 (2003)
Elektrodiagnostik
GanzfeldERG (ISCEV Standard)
Spezielle Elektrophysiologie*
Multifokales ERG / MusterERG*
FarbERG*
ERG mit langen Stimuli (Analyse
OnOffGanglienzellen)*
MikrovoltERG*
VEP, multifokales VEP*
Psychophysik
Visusprüfung
Gesichtsfeld
dynamisch
statisch
2FarbenPerimetrie skotopisch
und photopisch*
Farbensehen
Dunkeladaptation*
Spektrale Empfindlichkeit*
Bildgebende Verfahren
Fundusphotographie (standardisiert,
z.B. 9 Aufnahmen)
Autofluoreszenz*
Fluoreszenzangiographie
Optical Coherence Tomographie OCT*
Untersuchung durch andere Fachdiszipli
nen bei Verdacht auf syndromale Formen
Molekulargenetik
Kopplungsuntersuchungen
Kandidatengenanalyse
*) Diese Methoden sind nur in speziellen
Zentren verfügbar, die sich schwerpunkt
mäßig mit Netzhautdystrophien befassen.
schaft), Veränderung der optischen
Verhältnisse der Augen (z.B. altersbe
dingte Änderung der Linsentransmis
sion) und von den Untersuchungsbe
dingungen abhängen (z.B. tatsächli
che Helligkeit des Umfeldes und des
Stimulus, Teststrategien). Eine zuneh
mende Automatisierung der Teststrate
gien kann die nicht patientenbezoge
nen Störfaktoren minimieren. Das Auf
lösungsvermögen und die exakte Lo
kalisation bildgebender Verfahren sind
nach wie vor zu begrenzt, um z.B. zel
luläre Vorgänge in vivo zu verfolgen
bzw. um reproduzierbar identische
Areale zu untersuchen. Entwicklungen
wie funduskontrollierte Funktions
messungen oder Dokumentation der
in vivo Morphologie mit optischen
Verfahren mit Auflösung im µmBe
reich (Gloesmann et al. 2003) werden
hier zunehmende Möglichkeiten bie
ten, die aber ihre Grenzen finden
durch die begrenzten Kooperations
möglichkeiten. Dies betrifft zum einen
Kinder. Zum anderen weisen Patien
ten mit frühkindlicher Manifestation
einer Netzhautdystrophie unter Einbe
ziehung der Makula typischerweise
einen Nystagmus auf, der ortsaufge
löste Messungen je nach Ausprägung
stark erschwert oder sogar unmöglich
macht. Ein dritter Faktor ist die in Ab
hängigkeit von der Erkrankungsart
und dem Erkrankungsstadium vor
handene Blendungsempfindlichkeit,
die den Einsatz bildgebender Verfah
ren aufgrund der oft benötigten hohen
Lichtintensität limitiert.
3. Das Problem der genetischen
und klinischen Heterogenität
Netzhautdystrophien im engeren Sinn
sind StäbchenZapfen und Zapfen
StäbchenDystrophien. Sie wurden in
der Vergangenheit als Retinitis pig
mentosa (RP) zusammengefasst, wenn
sie im Jugend bzw. Erwachsenenalter
manifest wurden und als Leber’sche
kongenitale Amaurose (LCA), wenn
sie bereits im Säuglings bzw. Klein
kindesalter symptomatisch waren.
Zusätzlich erscheint es sinnvoll, noch
eine Erkrankungsgruppe als frühkind
liche schwere Netzhautdystrophien
(Early Onset Severe Retinal Dystro
phy, EOSRD) zu definieren, die sich
von der LCA durch eine messbare
Sehschärfe und ein messbares Ge
sichtsfeld zumindest in der ersten Le
bensdekade unterscheiden (Lorenz et
al. 2000). Derzeit sind 25 Gene iden
tifiziert, die mit RP assoziiert sind, 7
Gene, deren Mutationen zur LCA bzw.
EOSRD führen, 7 Gene, deren Muta
tionen mit verschiedenen Formen des
UsherSyndroms assoziiert sind, und
5 Gene, deren Mutationen mit dem
BardetBiedlSyndrom assoziiert sind
(www.retinainternational.org/scinews
/disloci.htm; www.sph.uth.tmc.edu/
RetNet/disease.htm; siehe Beiträge
von Bolz und Gal). Darüber hinaus
sind für die Gruppe der RP 49 Gene
auf definierten Chromosomen lokali
siert. Obwohl Mutationen in den unter
schiedlichen Genen zu einem ähn
lichen klinischen Bild führen können,
haben die von ihnen kodierten Protei
ne zum Teil völlig unterschiedliche
Funktionen (www.retinainternatio
nal.org/scinews/disloci.htm). Das er
ste Gen, das mit einer Form der adRP
assoziiert wurde, war das Rhodopsin
Gen. Inzwischen sind über 150 Muta
tionen in diesem Gen beschrieben
worden. Unterschieden werden Muta
tionen, die zu 2 prinzipiell unter
schiedlichen Formen führen: Klasse I
Mutationen resultieren in einer diffu
sen Form der RP (zunächst globaler
Statische
Perimetrie
Kinetische
Perimetrie
ERG
Maximalantwort
ERG
Flicker
re. Auge
li. Auge
10.2
7.0
11.0
4.2
20.8
16.6
konstant
10.8
10.7
10.7
Pat
re. Auge
li. Auge
re. Auge
li. Auge
re. Auge
li. Auge
GA004
GA060
GA0071
GA0722
GA0721
17.0
9.7
47.3
2.3
89.4
16.9
21.2
konstant
13.9
6.4
11.3
16.3
13.8
4.4
14.3
8.6
16.6
11.4
7.4
8.2
15
17.0
nicht messbar nicht messbar
26.8
43.8
5.4
10.3
konstant
95.6
Plasma
ornithin
spiegel
µmol/l
221
768
440
732
524
Tab 4 GenotypPhänotypKorrelation bei Mutationen im ABCA4 Gen
nach van Driel et al. Ophthalmic Genetics 1998, in (Gerth et al. 2002)
Phänotyp
Normal
Normal oder AMD
STGD1
arCRD
arRP
ABCA4, Allel 1
ABCA4, Allel 2
wt
wt
mittel
wt
schwer
mild
schwer
mittel
schwer
schwer
schwer
wt
AMD = altersbezogene Makuladegeneration
STGD1 = M. Stargardt assoziiert mit Mutationen im ABCA4 Gen
arCRD = autosomal rezessive Cone Rod Dystrophy (ZapfenStäbchenDystrophie)
arRP = autosomal rezessive Retinitis pigmentosa
Funktionsverlust in den Stäbchen ge
folgt von einem zentripetalen Verlust
der Zapfenfunktion, Klasse IIMutatio
nen führen zu einer regionalen Form
der RP (zeitgleicher regionaler Funk
tionsverlust von Stäbchen und Zap
fen). Derzeit ist auch eine Mutation im
RhodopsinGen bekannt, die lediglich
mit einer autosomaldominanten (sta
tionären) Form der kongenitalen Nacht
blindheit verbunden ist. Die aus
schließliche Funktionsstörung ohne
nachfolgende Degeneration der Stäb
chen und Zapfen erklärt sich dadurch,
dass das mutierte Protein lediglich zu
einer Verschiebung in der spektralen
Empfindlichkeit führt, die Stäbchen
physiologie sonst aber nicht beein
flusst (Überblick in: Lorenz et al.
2001b). Auch können Mutationen im
gleichen Gen entweder zu einer syn
dromalen RPForm im Sinne eines
UsherSyndroms führen oder nur zu
einer isolierten Hörstörung. Darüber
hinaus werden zunehmend Gene be
kannt, deren heterozygote Mutationen
zu einer autosomal dominanten Er
krankung führen, und bei denen ande
re homozygote oder compound he
terozygote Mutationen zu einer auto
somal rezessiven Erkrankung führen.
Ein Beispiel ist das RetGC1Gen:
Heterozygote Mutationen führen zu
einer sich später manifestierenden
ZapfenStäbchenDystrophie, Muta
tionen an beiden Allelen zu einer
Form der LCA (LCA1). Ein weiteres
Beispiel ist die BetaUntereinheit der
Phosphodiesterase (PDE6B). Hetero
zygote Mutationen führen zu einer
a.d. stationären Nachtblindheit, Mu
tationen in beiden Allelen zu einer
autosomal rezessiven Retinitis pig
mentosa (Überblick in: Lorenz et al.
2001b). Auch die Trennung in Maku
ladystrophien – also Erkrankungen,
die auf die Netzhautmitte beschränkt
sind – und generalisierte Netzhautdy
strophien ist keine absolute, da Mu
tationen im gleichen Gen zu beiden
Erkrankungen führen können. Ein Bei
spiel ist das ABCA4 (=ABCR) Gen,
dessen Mutationen typischerweise
mit dem Morbus Stargardt assoziiert
sind, die aber auch zu ZapfenStäb
chenDystrophien oder zur RP führen
können (Beispiel und Diskussion in
Gerth et al. 2002) (Abb. 2, Tabelle 4).
Alle Beispiele belegen die große ge
netische und klinische Heterogenität
und unterstreichen die Bedeutung
von GenotypPhänotypKorrelationen.
II. Beratung bei Netzhaut
dystrophien im Kindes und
Erwachsenenalter
1. Augenärztliche Beratung
Wesentliche Elemente der Beratung
sind die Prognose der Erkrankung so
wie therapeutische Möglichkeiten.
Aussagen zur individuellen Prognose
setzen eine genaue Phänotypisierung
im Longitudinalverlauf voraus sowie,
soweit möglich, die genaue Genoty
pisierung. Obwohl die funktionellen
Konsequenzen von Mutationen nicht
immer vorhergesagt werden können,
ergibt sich aus der wachsenden An
zahl von verfügbaren GenotypPhä
notypKorrelationen eine zunehmend
genauere Abschätzung. Darüber hin
aus erlauben funktionelle Untersu
chungen der mutierten Genprodukte
gewisse Vorhersagen. Allerdings sind
diese Untersuchungen oft dadurch
erschwert, dass das betreffende Gen
ausschließlich im Bereich der Netz
haut oder des retinalen Pigmentepi
thels exprimiert wird. Tiermodelle stel
len nur eine begrenzte Möglichkeit dar
(siehe Beitrag von Seeliger). Die Er
stellung klinischer Datenbanken steht
noch am Anfang, ist aber ein wesent
liches Element. Dabei wird auch die
standardisierte Erfassung von Sehlei
stungen im Hinblick auf Lebensqua
lität und Lebensbewältigung eine zu
nehmende Rolle spielen (www.nei.nih.
gov/resources/visionfunction/manual_
cm2000.pdf). Aktivitäten von Patien
tenseite, die zum Teil staatlich geför
dert werden (z.B. ein vom BMBF ge
fördertes Projekt zur Erstellung eines
Netzwerkes für Seltene Netzhautde
generationen (SND)) und als Ziel die
vermehrte Einbindung der Patienten
in die wissenschaftliche Datensamm
lung haben, können hier in Zukunft ei
nen wertvollen Beitrag leisten. Dies ist
von umso größerer Bedeutung, als
die berechtigte Hoffnung besteht, in
absehbarer Zeit klinische Studien
kausaler Therapieansätze durchfüh
ren zu können (siehe Beitrag von Rei
chel). Eine erste diesbezügliche Zu
sammenkunft hat letztes Jahr auf In
itiative von Prof. JoséAlain Sahel in
Paris stattgefunden (Clinical Trials for
Retinal
Degenerative
Diseases.
Bridging the Efforts Across the Con
tinents, 15./16.04.2002). Bei wenigen
(metabolischen) Netzhautdystrophien
waren Therapien (Diäten) schon in der
Vergangenheit erfolgreich, insbeson
dere beim RefsumSyndrom und bei
der Atrophia gyrata (Endres et al.
2002). Hoffnungen werden auch in die
medgen 15 (2003)
Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
Tab 3 Interindividuelle und interokuläre Variabilität am Beispiel der Atrophia gyrata (Caruso et al. 2001)
Halbwertszeit der Sehfunktionen (in Jahren) basierend auf einer 4 – 6 jährigen Verlaufsbeobachtung.
183
Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
Abb 2 GenotypPhänotypKorrelation bei
Mutationen an beiden Allelen des ABCA4
Gens (modifiziert nach Gerth 2002)
N.S., Mutter, 32 J. Visus 0,6
Allel 1 schwere Mutation (5917 del G)
Allel 2 leichte Mutation (G 1961 E)
Fundus: Makula (Pfeil) leicht aufgelockert
GanzfeldERG: normal
→ isolierte Makulpathie (mild)
Entwicklung von elektronischen Seh
prothesen gesetzt, die direkt ins Auge
implantiert werden (siehe Beitrag von
Zrenner).
Die ophthalmologische Beratung um
fasst aber auch die Information über
symptomatische Hilfsmittel und deren
Verordnung sowie Aspekte der Habi
litation und Rehabilitation. Sympto
matische Hilfsmittel sind vor allem
optische und elektronische Sehhilfen.
Die Habilitation spielt vor allem im
Kindesalter eine entscheidende Rol
le. Hier bewährt sich die enge Koope
ration zwischen Augenarzt, Frühför
derstellen für blinde und sehgeschä
digte Kinder, schulischen Einrichtun
gen für Sehbehinderte und Blinde und
Patientenselbsthilfeorganisationen wie
beispielsweise Pro Retina (www.prore
tina.de; siehe Beitrag von Gusseck). Im
Erwachsenenalter sind Patientenselbst
hilfeorganisationen, Berufsbildungs
stätten und Mobilitätstrainer wesent
liche Elemente für die Krankheitsbe
wältigung und die möglichst lange
Einbindung ins Berufsleben bei Er
krankungen, die häufig (derzeit noch)
schicksalhaft zur Erblindung führen.
Bei syndromalen Erkrankungen müs
sen weitere Fachdisziplinen in die Be
ratung einbezogen werden.
2. Genetische Beratung
Eine differenzierte genetische Bera
tung ist möglich, wenn der Genotyp
identifiziert und der Phänotyp in sei
nem gesamten möglichen Spektrum
bekannt ist. Trotz der enormen Fort
schritte in der Molekulargenetik kann
heute aber nach wie vor nur ein Teil
der Netzhautdystrophien auf moleku
184
medgen 15 (2003)
N.T., Tochter, 10 J., Visus 0,1
Allel 1 schwere Mutation (5917 del G)
Allel 2 schwere Mutation (5917 del G)
Fundus: Netzhautarterien eng (Stern),
deutliche Makulaveränderungen (Pfeil)
GanzfeldERG: Zapfen und Stäbchen path.
→ ZapfenStäbchenDystrophie
larer Ebene charakterisiert werden.
So sind beispielsweise 50% der Pa
tienten mit Retinitis pigmentosa Ein
zelfälle ohne (derzeit) fassbaren Ge
notyp. Bei der LCA/EOSRD liegt die
Mutationsnachweisrate derzeit bei ca.
50% (www.retinainternational.org/sci
news/). Hoch ist die Mutationsnach
weisrate bei Xchromosomaler RP, die
ca. 15% aller RPFälle ausmacht. In
insgesamt 58 Familien mit nachge
wiesenem Xchromosomalen Erbgang
wurden in einer kürzlich erschienenen
Arbeit bei 71% Mutationen im RPGR
Gen (RP3) und bei 8% im RP2Gen
nachgewiesen (Bader et al. 2003). Bei
männlichen Patienten mit leerer Fami
lienanamnese und Verdacht auf eine
Xchromosomale Form einer Netz
hautdystrophie (XLRP oder Chorioid
eremie) sollten immer mögliche Kon
duktorinnen ophthalmologisch unter
sucht werden, da sich bei diesen Er
krankungen aufgrund der Xchromo
somalen Geninaktivierung in bis zu
90% der Konduktorinnenstatus nach
weisen lässt (Überblick in Lorenz et
al. 2001b). Aufgrund variabler Expres
sivität und reduzierter Penetranz müs
sen für die korrekte Einschätzung des
Wiederholungsrisikos auch bei auto
somal dominanten und autosomal re
zessiven Formen sowie bei (scheinba
ren) Einzelfällen weitere Familienmit
glieder untersucht werden (ophthal
mologisch und gegebenenfalls auch
durch andere Fachdisziplinen), so lan
ge nicht alle Erkrankungen auf mole
kularer Ebene identifiziert werden
können. Variable Expressivität ist bei
spielsweise für Mutationen im Peri
pherinGen bekannt, die entweder zu
einer generalisierten Netzhautdystro
phie oder nur zu einer Makulopathie
führen können (Weleber et al. 1993).
Erkrankungen, die sich nur bei Muta
tionen in beiden Allelen manifestieren
und deshalb typischerweise autoso
malrezessiv vererbt werden, können
selten auch auf paternale Isodisomie
zurückzuführen sein. Dies wurde
kürzlich auch für eine Form der
EOSRD (Mutation im RPE65Gen)
und der arRP nachgewiesen (Muta
tion im MERTKGen) (Thompson et al.
2002). Die Aufdeckung dieser Situa
tion beeinflusst natürlich das tatsäch
liche Wiederholungsrisiko für Ge
schwisterkinder. Bei echten Simplex
Fällen von Erkrankungen, die prinzi
piell allen 3 Mendelschen Erbgängen
folgen können, d.h. allen Zapfen
Stäbchen und StäbchenZapfen Dy
strophien ohne (derzeit) nachweisba
rem Genotyp muss sich die geneti
sche Beratung auf die Darstellung der
verschiedenen Erbgänge beschrän
ken.
Da die Bedeutung des Wiederho
lungsrisikos stark von der Prognose
der Erkrankung abhängt, setzt eine
umfassende genetische Beratung ne
ben der Bestimmung des Erbgangs,
und so weit möglich der Genotypisie
rung, die genaue Bestimmung des
Phänotyps und eine detaillierte
Kenntnis des Verlaufs der Erkrankung
und eventueller therapeutischer Mög
lichkeiten voraus. Daher ist eine enge
Zusammenarbeit zwischen Humange
netiker und Kliniker erforderlich. Op
timal ist die Betreuung der Patienten
und ihrer Familien durch einen Oph
thalmogenetiker.
Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie
III. Fazit
Aufgrund der großen klinischen und
genetischen Heterogenität von Netz
hautdystrophien ist die Genotypisie
rung und Phänotypisierung möglichst
vieler Patienten anzustreben. Leider
sind solche GenotypPhänotypKor
relationen heute nur im Rahmen von
wissenschaftlichen Projekten mög
lich. Eine routinemäßige molekularge
netische Diagnostik wird derzeit von
den Kostenträgern nicht finanziert.
Diese ist aber in dem Maß zu fordern,
in dem der Genotyp mit ausreichen
der Wahrscheinlichkeit identifiziert
werden kann. Mithilfe der daraus zu
erstellenden Datenbanken kann dann
einerseits eine zunehmend präzise
Beratung der Betroffenen und ihrer
Familien erfolgen, andererseits wird
so die Voraussetzung geschaffen für
die Evaluierung von in Zukunft mög
lich werdenden kausalen Therapien,
für die ausreichend große Patienten
kollektive zur Verfügung stehen müs
sen. Ausreichend große Zahlen defi
nierter Genotypen von so seltenen Er
krankungen, wie dies die verschiede
nen Formen der Netzhautdystrophien
darstellen, können nur durch Bünde
lung nationaler und internationaler Da
ten rekrutiert werden. Das Problem der
begrenzten finanziellen Ressourcen
kann zumindest teilweise durch die
Weiterentwicklung der molekularge
netischen Techniken und damit der
Bereitstellung von kostengünstigeren
Verfahren für high throughputTestun
gen gelöst werden.
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Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Birgit Lorenz
Fachärztin für Augenheilkunde
und Medizinische Genetik
Abteilung für Pädiatrische Ophthalmologie,
Strabismologie und Ophthalmogenetik
Klinikum der Universität Regensburg
93042 Regensburg
Tel. 00499419449226
Fax 00499419449216
[email protected]
www.paedeye.de
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