Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie Diagnostik und Beratung bei Netzhautdystrophien im Kindes und Erwachsenenalter Birgit Lorenz Abteilung für Pädiatrische Ophthal mologie, Strabismologie und Ophthalmogenetik Klinikum der Universität Regensburg Zusammenfassung Die große klinische und genetische Heterogenität von Netzhautdystro phien im Kindes und Erwachsenenal ter erfordert sowohl für die Diagnose stellung als auch die Beratung mög lichst umfassende GenotypPhänotyp Korrelationen. Die Erstellung von na tionalen und internationalen Daten banken ist ein wichtiges Anliegen, da so die Voraussetzungen geschaffen werden für (1) eine immer präzisere Beratung der Betroffenen und ihrer Familien und (2) für in Zukunft mög lich werdende Therapiestudien an ausreichend großen Patientenkollek tiven mit definierten Genotypen. Exemplarisch aufgezeigt werden der zeitige Möglichkeiten und Grenzen der klinischen und genetischen Dia gnostik. Schlüsselwörter Genotypisierung, Phänotypisierung, GenotypPhänotypKorrelation, Pro gnose, genetische Beratung 180 medgen 15 (2003) Summary Diagnosis and counselling of retinal dystrophies with childhood or adult onset. Retinal dystrophies with childhood or adult onset are a clinically and ge netically heterogeneous group of di seases. Genotypephenotype correla tions are a prerequisite for effective diagnosis and counselling of patients and their families. Establishment of national and international databases is essential for (1) an increasingly precise counselling of the patients and their families and (2) future therapeutic trials in sufficiently large patient num bers. Examples demonstrate actual possibilities and limitations of diag nosis and counselling. Key words Genotype, phenotype, genotypephe notypecorrelation, prognosis, genetic counselling Einleitung Netzhautdystrophien des Kindes und Erwachsenenalters sind durch einen bereits bei Geburt sich manifestieren den oder erst im Lauf des Lebens auftretenden Sehverlust gekennzeich net, der entweder zunächst vor allem das zentrale Sehen betrifft (bei primä rer Einbeziehung der Makula, d.h. der Stelle des schärfsten Sehens) oder das periphere Sehen. Symptome sind die Herabsetzung der Sehschärfe bzw. eine progrediente Gesichtsfeld einschränkung. Da die Netzhaut ei nerseits Sinneszellen für das Sehen im Hellen (Zapfen) und andererseits für das Sehen im Dunkeln (Stäbchen) besitzt, können je nach Erkrankung entweder beide Systeme gleichzeitig oder in zeitlicher Abfolge oder auch (überwiegend) nur ein System betrof fen sein. Darüber hinaus sind in der Netzhaut außer den Zapfen und Stäb chen weitere neuronale Zellen lokali siert (Bipolare, Ganglienzellen, Hori zontalzellen, Amakrinzellen, Müller sche Zellen), die die visuelle Informa tion weiterleiten bzw. verarbeiten und die ebenfalls primär oder sekundär betroffen sein können. Daraus ergibt sich, dass Netzhautdystrophien eine extrem heterogene Erkrankungsgrup pe darstellen, und zwar sowohl auf genetischer als auch klinischer Ebe ne. Die Aufdeckung der molekularen Ursachen erlaubt einerseits eine zu nehmend differenziertere Diagnose, stellt aber andererseits neue Ansprü che an die klinische Phänotypisie rung. Da die Mehrzahl der Erkrankun gen progredient ist und nicht nur in ter, sondern auch intraindividuelle Variabilität ein häufiges Phänomen ist, Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie Abb 1 Komplexe Phänotypisierung bei Xchromosomaler RP mit be kanntem Genotyp 16jähriger Patient mit nachgewiesener Mutation im RPGR Gen (RP3) (Bader2003). Gezeigt sind die Daten des rechten Auges. Der Visus be trägt 0,9. Das GoldmannGesichtsfeld zeigt keine groben Veränderun gen. Im GanzfeldERG nach ISCEVStandard sind weder Zapfen noch Stäbchenantworten ableitbar. Das GanzfeldERG ist daher bei diesem Patienten nicht mehr zur Verlaufsdokumentation geeignet. A B A. Augenhintergrund Am hinteren Augenpol sind nur diskrete Verände rungen erkennbar. Der Makulawallreflex ist abgeschwächt, die Umge bung der Makula erscheint etwas heller. B. Autofluoreszenz Im retinalen Pigmentepithel RPE ist als Abbaupro dukt Lipofuszin enthalten, das eine Auofluoreszenz AF hat, wenn der Au genhintergrund mit grünem Licht (z.B. Argonlaser 488 nm) beleuchtet wird. Die Untersuchung ist z.B. an einem Heidelberg Retinographen möglich (HRA, Heidelberg Instruments). Bei Pathologien im Photorezep torRPEKomplex kann es zu einer Zunahme der AF kommen als Zeichen einer vermehrten LipofuszinBildung. Im Atrophiestadium des RPE kommt es dann zu einer Abnahme der AF. Bei dem Patienten ist es um die physiologisch dunkle Fovea herum zu einer ringförmigen vermehrten AF gekommen. C–D. Zweifarbenperimetrie an einem modifizierten statischen Peri meter (HFA, Humphrey Instruments) Untersucht ist das 30° Gesichts feld. Mit dieser Methode kann die Stäbchen und Zapfenfunktion orts aufgelöst untersucht und analysiert werden. Bei dem Patienten zeigen sich für beide Photorezeptorsysteme eindeutige Störungen, die aber nicht kongruent sind. C. zeigt den tatsächlichen Empfindlichkeitsverlust für Stäbchen im dunkeladaptierten Zustand (blau) und für Zapfen im helladaptierten Zustand (rot). Der Empfindlichkeitsverlust ist in dB angegeben. C D. zeigt das Verhältnis der Empfindlichkeitsverluste für Stäbchen und Zapfen. Jährliche Kontrollen erlauben die Dokumentation des Verlaufes als Vor aussetzung für in Zukunft möglich werdende kausale Therapieansätze. Legende Empfindlichkeitsverlust Stäbchen > Zapfen Stäbchen = Zapfen Zapfen > Stäbchen Blinder Fleck D keine Antwort sind für die Beratung aussagekräftige Longitudinaluntersuchungen essen tiell. Diese gewinnen auch im Hinblick auf in Zukunft möglich werdende The rapieansätze zunehmend an Bedeu tung (siehe Beiträge von SchmidtEr furth, Wolf und Schnurrbusch, Kirch hof, Zrenner, Bartsch et al. und Rei chel et al. in dieser Ausgabe). I. Diagnostik bei Netzhaut dystrophien im Kindes und Erwachsenenalter 1. Diagnostische Möglichkeiten und Notwendigkeiten Prinzipiell ist der Begriff Dystrophie progredienten Erkrankungen vorbe halten. Dennoch ist es erforderlich, klinisch progrediente Erkrankungen von stationären Funktionsstörungen abzugrenzen, da dies für die Ein schätzung der Prognose bedeutend ist und gerade im Kindesalter nicht immer sofort erkannt werden kann, um welche Störung es sich handelt. Tabelle 1 gibt eine Aufstellung von primär stationären Netzhautdysfunk tionen in Abgrenzung zu progredien ten Netzhautdystrophien. In Tabelle 2 sind derzeit mögliche diagnostische Schritte aufgelistet. Dabei sind spe zielle Untersuchungsmethoden zur qualitativen und quantitativen ortsauf gelösten Phänotypisierung einzelnen Zentren vorbehalten, die sich schwer punktmäßig mit Netzhautdystrophien befassen. Ein Beispiel ist in Abb.1 ge geben. GenotypPhänotypKorrelatio nen gewinnen im Hinblick auf in Zu kunft möglich werdende Therapiean sätze zunehmend an Bedeutung. Ver wandte müssen gegebenenfalls auch bei leerer Familienanamnese unter sucht werden, wenn es sich um Er krankungen mit variabler Expressivität und/oder reduzierter Penetranz han delt oder um Xchromosomale Er krankungen, bei denen die Kondukto rinnen (asymptomatische oder symp tomatische) Veränderungen aufweisen können. Gerade Frühstadien von Netzhauterkrankungen können noch einen relativ unauffälligen Augenhin tergrund haben, so dass erst elektro physiologische Untersuchungen die richtige Einordnung der Erkrankung ermöglichen. Ein Beispiel ist in Abb.1 gezeigt. Stationäre Erkrankungen können ophthalmoskopisch lebens lang unauffällig sein. Einem frühkind lichen Nystagmus kann eine stationä re oder progrediente Zapfendysfunk tion zugrundeliegen (Lorenz and Gampe 2001a (Tabelle 1). Um auf grund inter und intrafamiliärer Varia bilität die Individualprognose korrekt einschätzen zu können und um den Effekt (von in Zukunft möglich wer dender) Therapien beurteilen zu kön nen, sind Longitudinalstudien mit Kontrolluntersuchungen z.B. in jähr lichen Abständen erforderlich (z.B. Birch et al. 1999). Tabelle 3 zeigt am Beispiel der Atrophia gyrata die inter medgen 15 (2003) 181 Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie Tab 1a Stationäre Netzhaut dysfunktionen Tab 2 Diagnostik bei Netzhautdystrophien Achromatopsie autosomal rezessiv (ACHM1,2,3)* Klinische Untersuchung von Betroffenen Verwandten Blauzapfenmonochromasie Xchromosomal Makulahypoplasie* – Albinismus (a.r., Xchromosomal) – Aniridie – Isolierte Foveahypoplasie Kongenitale stationäre Nachtblindheit – Xchromosomal (CSNB1‡, CSNB2‡) – a.d. (Rho, PDEB, Transducin) – a.r. Oguchi Disease (Arrestin, Rhodopsinkinase) – a.r. Fundus albipunctatus (RDH5) Tabelle 1b Netzhautdystrophien Leber’sche kongenitale Amaurose LCA* / Early Onset Severe Retinal Dystrophy EOSRD‡ meist a.r., selten a.d. Xchromosomale Retinoschisis ‡ ZapfenStäbchendystrophien (ConeRodDystrophies CRD) a.d., a.r., simplex, (Xchromosomal) – generalisiert – lokalisiert StäbchenZapfendystrophien (Retinitis pigmentosa, RodConeDystrophies) – ADRP – ARRP – XLRP – simplex RP – Chorioideremie Syndromale und metabolische Netzhaut dystrophien – UsherSyndrome USH1, USH2, USH3 – BardetBiedlSyndrom BBS16 – RefsumSyndrom – Atrophia gyrata – Ceroidlipofuszinose – Abetalipoproteinämie – Mitochondriopathien Legende * mit kongenitalem /frühkindlichem Nystag mus (sensorischem Defektnystagmus (SDN)) assoziiert; ‡ SDN ± individuelle und sogar interokuläre Variabilität des Phänotyps im Longi tudinalverlauf. 2. Grenzen der Phänotypisierung Histologische Untersuchungen der Netzhaut sind in der Regel erst post mortem möglich. Die in vivo Phänoty pisierung stützt sich daher auf funk tionelle Messungen sowie auf diverse bildgebende Verfahren. Die Reprodu zierfähigkeit psychophysischer Unter suchungen ist begrenzt. Dafür gibt es folgende Gründe: Psychophysische Schwellen sind nicht scharf definiert, da sie z.B. tageszeitlichen Schwan kungen unterliegen, von der aktuellen Verfassung des Untersuchten (Auf merksamkeit, Ermüdung, Koopera tionsfähigkeit, Kooperationsbereit 182 medgen 15 (2003) Elektrodiagnostik GanzfeldERG (ISCEV Standard) Spezielle Elektrophysiologie* Multifokales ERG / MusterERG* FarbERG* ERG mit langen Stimuli (Analyse OnOffGanglienzellen)* MikrovoltERG* VEP, multifokales VEP* Psychophysik Visusprüfung Gesichtsfeld dynamisch statisch 2FarbenPerimetrie skotopisch und photopisch* Farbensehen Dunkeladaptation* Spektrale Empfindlichkeit* Bildgebende Verfahren Fundusphotographie (standardisiert, z.B. 9 Aufnahmen) Autofluoreszenz* Fluoreszenzangiographie Optical Coherence Tomographie OCT* Untersuchung durch andere Fachdiszipli nen bei Verdacht auf syndromale Formen Molekulargenetik Kopplungsuntersuchungen Kandidatengenanalyse *) Diese Methoden sind nur in speziellen Zentren verfügbar, die sich schwerpunkt mäßig mit Netzhautdystrophien befassen. schaft), Veränderung der optischen Verhältnisse der Augen (z.B. altersbe dingte Änderung der Linsentransmis sion) und von den Untersuchungsbe dingungen abhängen (z.B. tatsächli che Helligkeit des Umfeldes und des Stimulus, Teststrategien). Eine zuneh mende Automatisierung der Teststrate gien kann die nicht patientenbezoge nen Störfaktoren minimieren. Das Auf lösungsvermögen und die exakte Lo kalisation bildgebender Verfahren sind nach wie vor zu begrenzt, um z.B. zel luläre Vorgänge in vivo zu verfolgen bzw. um reproduzierbar identische Areale zu untersuchen. Entwicklungen wie funduskontrollierte Funktions messungen oder Dokumentation der in vivo Morphologie mit optischen Verfahren mit Auflösung im µmBe reich (Gloesmann et al. 2003) werden hier zunehmende Möglichkeiten bie ten, die aber ihre Grenzen finden durch die begrenzten Kooperations möglichkeiten. Dies betrifft zum einen Kinder. Zum anderen weisen Patien ten mit frühkindlicher Manifestation einer Netzhautdystrophie unter Einbe ziehung der Makula typischerweise einen Nystagmus auf, der ortsaufge löste Messungen je nach Ausprägung stark erschwert oder sogar unmöglich macht. Ein dritter Faktor ist die in Ab hängigkeit von der Erkrankungsart und dem Erkrankungsstadium vor handene Blendungsempfindlichkeit, die den Einsatz bildgebender Verfah ren aufgrund der oft benötigten hohen Lichtintensität limitiert. 3. Das Problem der genetischen und klinischen Heterogenität Netzhautdystrophien im engeren Sinn sind StäbchenZapfen und Zapfen StäbchenDystrophien. Sie wurden in der Vergangenheit als Retinitis pig mentosa (RP) zusammengefasst, wenn sie im Jugend bzw. Erwachsenenalter manifest wurden und als Leber’sche kongenitale Amaurose (LCA), wenn sie bereits im Säuglings bzw. Klein kindesalter symptomatisch waren. Zusätzlich erscheint es sinnvoll, noch eine Erkrankungsgruppe als frühkind liche schwere Netzhautdystrophien (Early Onset Severe Retinal Dystro phy, EOSRD) zu definieren, die sich von der LCA durch eine messbare Sehschärfe und ein messbares Ge sichtsfeld zumindest in der ersten Le bensdekade unterscheiden (Lorenz et al. 2000). Derzeit sind 25 Gene iden tifiziert, die mit RP assoziiert sind, 7 Gene, deren Mutationen zur LCA bzw. EOSRD führen, 7 Gene, deren Muta tionen mit verschiedenen Formen des UsherSyndroms assoziiert sind, und 5 Gene, deren Mutationen mit dem BardetBiedlSyndrom assoziiert sind (www.retinainternational.org/scinews /disloci.htm; www.sph.uth.tmc.edu/ RetNet/disease.htm; siehe Beiträge von Bolz und Gal). Darüber hinaus sind für die Gruppe der RP 49 Gene auf definierten Chromosomen lokali siert. Obwohl Mutationen in den unter schiedlichen Genen zu einem ähn lichen klinischen Bild führen können, haben die von ihnen kodierten Protei ne zum Teil völlig unterschiedliche Funktionen (www.retinainternatio nal.org/scinews/disloci.htm). Das er ste Gen, das mit einer Form der adRP assoziiert wurde, war das Rhodopsin Gen. Inzwischen sind über 150 Muta tionen in diesem Gen beschrieben worden. Unterschieden werden Muta tionen, die zu 2 prinzipiell unter schiedlichen Formen führen: Klasse I Mutationen resultieren in einer diffu sen Form der RP (zunächst globaler Statische Perimetrie Kinetische Perimetrie ERG Maximalantwort ERG Flicker re. Auge li. Auge 10.2 7.0 11.0 4.2 20.8 16.6 konstant 10.8 10.7 10.7 Pat re. Auge li. Auge re. Auge li. Auge re. Auge li. Auge GA004 GA060 GA0071 GA0722 GA0721 17.0 9.7 47.3 2.3 89.4 16.9 21.2 konstant 13.9 6.4 11.3 16.3 13.8 4.4 14.3 8.6 16.6 11.4 7.4 8.2 15 17.0 nicht messbar nicht messbar 26.8 43.8 5.4 10.3 konstant 95.6 Plasma ornithin spiegel µmol/l 221 768 440 732 524 Tab 4 GenotypPhänotypKorrelation bei Mutationen im ABCA4 Gen nach van Driel et al. Ophthalmic Genetics 1998, in (Gerth et al. 2002) Phänotyp Normal Normal oder AMD STGD1 arCRD arRP ABCA4, Allel 1 ABCA4, Allel 2 wt wt mittel wt schwer mild schwer mittel schwer schwer schwer wt AMD = altersbezogene Makuladegeneration STGD1 = M. Stargardt assoziiert mit Mutationen im ABCA4 Gen arCRD = autosomal rezessive Cone Rod Dystrophy (ZapfenStäbchenDystrophie) arRP = autosomal rezessive Retinitis pigmentosa Funktionsverlust in den Stäbchen ge folgt von einem zentripetalen Verlust der Zapfenfunktion, Klasse IIMutatio nen führen zu einer regionalen Form der RP (zeitgleicher regionaler Funk tionsverlust von Stäbchen und Zap fen). Derzeit ist auch eine Mutation im RhodopsinGen bekannt, die lediglich mit einer autosomaldominanten (sta tionären) Form der kongenitalen Nacht blindheit verbunden ist. Die aus schließliche Funktionsstörung ohne nachfolgende Degeneration der Stäb chen und Zapfen erklärt sich dadurch, dass das mutierte Protein lediglich zu einer Verschiebung in der spektralen Empfindlichkeit führt, die Stäbchen physiologie sonst aber nicht beein flusst (Überblick in: Lorenz et al. 2001b). Auch können Mutationen im gleichen Gen entweder zu einer syn dromalen RPForm im Sinne eines UsherSyndroms führen oder nur zu einer isolierten Hörstörung. Darüber hinaus werden zunehmend Gene be kannt, deren heterozygote Mutationen zu einer autosomal dominanten Er krankung führen, und bei denen ande re homozygote oder compound he terozygote Mutationen zu einer auto somal rezessiven Erkrankung führen. Ein Beispiel ist das RetGC1Gen: Heterozygote Mutationen führen zu einer sich später manifestierenden ZapfenStäbchenDystrophie, Muta tionen an beiden Allelen zu einer Form der LCA (LCA1). Ein weiteres Beispiel ist die BetaUntereinheit der Phosphodiesterase (PDE6B). Hetero zygote Mutationen führen zu einer a.d. stationären Nachtblindheit, Mu tationen in beiden Allelen zu einer autosomal rezessiven Retinitis pig mentosa (Überblick in: Lorenz et al. 2001b). Auch die Trennung in Maku ladystrophien – also Erkrankungen, die auf die Netzhautmitte beschränkt sind – und generalisierte Netzhautdy strophien ist keine absolute, da Mu tationen im gleichen Gen zu beiden Erkrankungen führen können. Ein Bei spiel ist das ABCA4 (=ABCR) Gen, dessen Mutationen typischerweise mit dem Morbus Stargardt assoziiert sind, die aber auch zu ZapfenStäb chenDystrophien oder zur RP führen können (Beispiel und Diskussion in Gerth et al. 2002) (Abb. 2, Tabelle 4). Alle Beispiele belegen die große ge netische und klinische Heterogenität und unterstreichen die Bedeutung von GenotypPhänotypKorrelationen. II. Beratung bei Netzhaut dystrophien im Kindes und Erwachsenenalter 1. Augenärztliche Beratung Wesentliche Elemente der Beratung sind die Prognose der Erkrankung so wie therapeutische Möglichkeiten. Aussagen zur individuellen Prognose setzen eine genaue Phänotypisierung im Longitudinalverlauf voraus sowie, soweit möglich, die genaue Genoty pisierung. Obwohl die funktionellen Konsequenzen von Mutationen nicht immer vorhergesagt werden können, ergibt sich aus der wachsenden An zahl von verfügbaren GenotypPhä notypKorrelationen eine zunehmend genauere Abschätzung. Darüber hin aus erlauben funktionelle Untersu chungen der mutierten Genprodukte gewisse Vorhersagen. Allerdings sind diese Untersuchungen oft dadurch erschwert, dass das betreffende Gen ausschließlich im Bereich der Netz haut oder des retinalen Pigmentepi thels exprimiert wird. Tiermodelle stel len nur eine begrenzte Möglichkeit dar (siehe Beitrag von Seeliger). Die Er stellung klinischer Datenbanken steht noch am Anfang, ist aber ein wesent liches Element. Dabei wird auch die standardisierte Erfassung von Sehlei stungen im Hinblick auf Lebensqua lität und Lebensbewältigung eine zu nehmende Rolle spielen (www.nei.nih. gov/resources/visionfunction/manual_ cm2000.pdf). Aktivitäten von Patien tenseite, die zum Teil staatlich geför dert werden (z.B. ein vom BMBF ge fördertes Projekt zur Erstellung eines Netzwerkes für Seltene Netzhautde generationen (SND)) und als Ziel die vermehrte Einbindung der Patienten in die wissenschaftliche Datensamm lung haben, können hier in Zukunft ei nen wertvollen Beitrag leisten. Dies ist von umso größerer Bedeutung, als die berechtigte Hoffnung besteht, in absehbarer Zeit klinische Studien kausaler Therapieansätze durchfüh ren zu können (siehe Beitrag von Rei chel). Eine erste diesbezügliche Zu sammenkunft hat letztes Jahr auf In itiative von Prof. JoséAlain Sahel in Paris stattgefunden (Clinical Trials for Retinal Degenerative Diseases. Bridging the Efforts Across the Con tinents, 15./16.04.2002). Bei wenigen (metabolischen) Netzhautdystrophien waren Therapien (Diäten) schon in der Vergangenheit erfolgreich, insbeson dere beim RefsumSyndrom und bei der Atrophia gyrata (Endres et al. 2002). Hoffnungen werden auch in die medgen 15 (2003) Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie Tab 3 Interindividuelle und interokuläre Variabilität am Beispiel der Atrophia gyrata (Caruso et al. 2001) Halbwertszeit der Sehfunktionen (in Jahren) basierend auf einer 4 – 6 jährigen Verlaufsbeobachtung. 183 Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie Abb 2 GenotypPhänotypKorrelation bei Mutationen an beiden Allelen des ABCA4 Gens (modifiziert nach Gerth 2002) N.S., Mutter, 32 J. Visus 0,6 Allel 1 schwere Mutation (5917 del G) Allel 2 leichte Mutation (G 1961 E) Fundus: Makula (Pfeil) leicht aufgelockert GanzfeldERG: normal → isolierte Makulpathie (mild) Entwicklung von elektronischen Seh prothesen gesetzt, die direkt ins Auge implantiert werden (siehe Beitrag von Zrenner). Die ophthalmologische Beratung um fasst aber auch die Information über symptomatische Hilfsmittel und deren Verordnung sowie Aspekte der Habi litation und Rehabilitation. Sympto matische Hilfsmittel sind vor allem optische und elektronische Sehhilfen. Die Habilitation spielt vor allem im Kindesalter eine entscheidende Rol le. Hier bewährt sich die enge Koope ration zwischen Augenarzt, Frühför derstellen für blinde und sehgeschä digte Kinder, schulischen Einrichtun gen für Sehbehinderte und Blinde und Patientenselbsthilfeorganisationen wie beispielsweise Pro Retina (www.prore tina.de; siehe Beitrag von Gusseck). Im Erwachsenenalter sind Patientenselbst hilfeorganisationen, Berufsbildungs stätten und Mobilitätstrainer wesent liche Elemente für die Krankheitsbe wältigung und die möglichst lange Einbindung ins Berufsleben bei Er krankungen, die häufig (derzeit noch) schicksalhaft zur Erblindung führen. Bei syndromalen Erkrankungen müs sen weitere Fachdisziplinen in die Be ratung einbezogen werden. 2. Genetische Beratung Eine differenzierte genetische Bera tung ist möglich, wenn der Genotyp identifiziert und der Phänotyp in sei nem gesamten möglichen Spektrum bekannt ist. Trotz der enormen Fort schritte in der Molekulargenetik kann heute aber nach wie vor nur ein Teil der Netzhautdystrophien auf moleku 184 medgen 15 (2003) N.T., Tochter, 10 J., Visus 0,1 Allel 1 schwere Mutation (5917 del G) Allel 2 schwere Mutation (5917 del G) Fundus: Netzhautarterien eng (Stern), deutliche Makulaveränderungen (Pfeil) GanzfeldERG: Zapfen und Stäbchen path. → ZapfenStäbchenDystrophie larer Ebene charakterisiert werden. So sind beispielsweise 50% der Pa tienten mit Retinitis pigmentosa Ein zelfälle ohne (derzeit) fassbaren Ge notyp. Bei der LCA/EOSRD liegt die Mutationsnachweisrate derzeit bei ca. 50% (www.retinainternational.org/sci news/). Hoch ist die Mutationsnach weisrate bei Xchromosomaler RP, die ca. 15% aller RPFälle ausmacht. In insgesamt 58 Familien mit nachge wiesenem Xchromosomalen Erbgang wurden in einer kürzlich erschienenen Arbeit bei 71% Mutationen im RPGR Gen (RP3) und bei 8% im RP2Gen nachgewiesen (Bader et al. 2003). Bei männlichen Patienten mit leerer Fami lienanamnese und Verdacht auf eine Xchromosomale Form einer Netz hautdystrophie (XLRP oder Chorioid eremie) sollten immer mögliche Kon duktorinnen ophthalmologisch unter sucht werden, da sich bei diesen Er krankungen aufgrund der Xchromo somalen Geninaktivierung in bis zu 90% der Konduktorinnenstatus nach weisen lässt (Überblick in Lorenz et al. 2001b). Aufgrund variabler Expres sivität und reduzierter Penetranz müs sen für die korrekte Einschätzung des Wiederholungsrisikos auch bei auto somal dominanten und autosomal re zessiven Formen sowie bei (scheinba ren) Einzelfällen weitere Familienmit glieder untersucht werden (ophthal mologisch und gegebenenfalls auch durch andere Fachdisziplinen), so lan ge nicht alle Erkrankungen auf mole kularer Ebene identifiziert werden können. Variable Expressivität ist bei spielsweise für Mutationen im Peri pherinGen bekannt, die entweder zu einer generalisierten Netzhautdystro phie oder nur zu einer Makulopathie führen können (Weleber et al. 1993). Erkrankungen, die sich nur bei Muta tionen in beiden Allelen manifestieren und deshalb typischerweise autoso malrezessiv vererbt werden, können selten auch auf paternale Isodisomie zurückzuführen sein. Dies wurde kürzlich auch für eine Form der EOSRD (Mutation im RPE65Gen) und der arRP nachgewiesen (Muta tion im MERTKGen) (Thompson et al. 2002). Die Aufdeckung dieser Situa tion beeinflusst natürlich das tatsäch liche Wiederholungsrisiko für Ge schwisterkinder. Bei echten Simplex Fällen von Erkrankungen, die prinzi piell allen 3 Mendelschen Erbgängen folgen können, d.h. allen Zapfen Stäbchen und StäbchenZapfen Dy strophien ohne (derzeit) nachweisba rem Genotyp muss sich die geneti sche Beratung auf die Darstellung der verschiedenen Erbgänge beschrän ken. Da die Bedeutung des Wiederho lungsrisikos stark von der Prognose der Erkrankung abhängt, setzt eine umfassende genetische Beratung ne ben der Bestimmung des Erbgangs, und so weit möglich der Genotypisie rung, die genaue Bestimmung des Phänotyps und eine detaillierte Kenntnis des Verlaufs der Erkrankung und eventueller therapeutischer Mög lichkeiten voraus. Daher ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Humange netiker und Kliniker erforderlich. Op timal ist die Betreuung der Patienten und ihrer Familien durch einen Oph thalmogenetiker. Netzhautdegenerationen Klinik, Genetik und Therapie III. Fazit Aufgrund der großen klinischen und genetischen Heterogenität von Netz hautdystrophien ist die Genotypisie rung und Phänotypisierung möglichst vieler Patienten anzustreben. Leider sind solche GenotypPhänotypKor relationen heute nur im Rahmen von wissenschaftlichen Projekten mög lich. Eine routinemäßige molekularge netische Diagnostik wird derzeit von den Kostenträgern nicht finanziert. Diese ist aber in dem Maß zu fordern, in dem der Genotyp mit ausreichen der Wahrscheinlichkeit identifiziert werden kann. Mithilfe der daraus zu erstellenden Datenbanken kann dann einerseits eine zunehmend präzise Beratung der Betroffenen und ihrer Familien erfolgen, andererseits wird so die Voraussetzung geschaffen für die Evaluierung von in Zukunft mög lich werdenden kausalen Therapien, für die ausreichend große Patienten kollektive zur Verfügung stehen müs sen. Ausreichend große Zahlen defi nierter Genotypen von so seltenen Er krankungen, wie dies die verschiede nen Formen der Netzhautdystrophien darstellen, können nur durch Bünde lung nationaler und internationaler Da ten rekrutiert werden. Das Problem der begrenzten finanziellen Ressourcen kann zumindest teilweise durch die Weiterentwicklung der molekularge netischen Techniken und damit der Bereitstellung von kostengünstigeren Verfahren für high throughputTestun gen gelöst werden. Gerth C, AndrassiDarida M, Bock M, Preising MN, Weber BH, Lorenz B. (2002) Phenotypes of 16 Stargardt macular dystrophy/fundus flavima culatus patients with known ABCA4 mutations and evaluation of genotypephenotype correla tion. Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 240:628–638. Gloesmann M, Hermann B, Schubert C, Satt mann H, Ahnelt PK, Drexler W. (2003) Histologic correlation of pig retina radial stratification with ultrahighresolution optical coherence tomogra phy. Invest Ophthalmol Vis Sci 44:1696–1703. 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Birgit Lorenz Fachärztin für Augenheilkunde und Medizinische Genetik Abteilung für Pädiatrische Ophthalmologie, Strabismologie und Ophthalmogenetik Klinikum der Universität Regensburg 93042 Regensburg Tel. 00499419449226 Fax 00499419449216 [email protected] www.paedeye.de Literaturverzeichnis. Bader I, Brandau O, Achatz H et al. (2003) Xlin ked retinitis pigmentosa: RPGR mutations in most families with definite X linkage and cluste ring of mutations in a short sequence stretch of exon ORF15. Invest Ophthalmol Vis Sci 44: 1458–1463. Birch DG, Anderson JL, Fish GE (1999) Yearly ra tes of rod and cone functional loss in retinitis pigmentosa and conerod dystrophy. Ophthal mology 106:258–268. Caruso RC, Nussenblatt RB, Csaky KG, Valle D, KaiserKupfer MI (2001) Assessment of visual function in patients with gyrate atrophy who are considered candidates for gene replacement. Arch Ophthalmol 119:667–669. Endres W, Stolla A, Shin YS, Röschinger W, Lo renz B, Zrenner E. 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