Seelenruhe in der „stillsten Zeit“ des Jahres

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Philosophie im Gespräch
Seelenruhe in der „stillsten Zeit“ des Jahres
1.Dezember 2015, SOB Tirol
Von der stillsten zur geschäftigsten Zeit
Für viele ZeitgenossInnen ist der Dezember einer der geschäftigsten Monate. Früher war es die „stillste
Zeit“ im Jahr, denn die kurzen Tage und die geringen Möglichkeiten für künstliche Lichtquellen,
außerdem der „Winterschlaf“ der Natur zwangen den Menschen regelrecht zu einem ruhigeren
Lebensrhythmus. Industrialisierung und zunehmender „Turbokapitalismus“ führten dazu, dass
einerseits die Nacht zum Tag gemacht werden konnte, andererseits der Mensch als Konsumfaktor
entdeckt wurde.
Das ursprünglich pagane Fest des „Sol invictus“ (des unbesiegten Sonnengottes der Römer) wurde
christianisiert und ist seit dem 4. Jh. gleichgesetzt mit dem Geburtsfest Jesu. Im Judentum findet sich
etwa zur selben Jahreszeit das Chanukkahfest, das auch als „Lichterfest“ begangen wird. Die „dunkle“
Jahreszeit wurde von jeher durch lichtreiche und hoffnungsvolle Riten und Feste bewältigt. In den
letzten Jahrzehnten entwickelte sich nun also die „stillste Zeit“, die mit hoffnungsvollen und hellen
Festen bestritten wurde, immer mehr zu einer verkommerzialisierten und dadurch „geschäftigen“ Zeit,
in der nicht nur viele Konflikte aufbrechen, sondern Menschen auch an ihre persönlichen Grenzen
kommen.
Müdigkeitsgesellschaft
Philosophisch betrachtet, ist in dieser Zeit möglicherweise eine gesellschaftliche Symptomatik zu
erkennen, die Byung-Chul Han als „Müdigkeitsgesellschaft beschreibt. Er nimmt zu verschiedenen
Zeiten verschiedene „Leitkrankheiten“ wahr: So wurde das „bakterielle und virale“ Zeitalter inzwischen
vom „neuronalen“ Zeitalter abgelöst. Krankheiten wie Depression, ADHS, Borderlinestörungen und
Burnout bestimmen die pathologische Landschaft des angehenden 21. Jahrhunderts. „Die Klage des
depressiven Individuums ‚Nichts ist möglich’ ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt Nichts ist
unmöglich.“ So der Befund Hans, dass die Krankheitstendenzen Spiegel einer Gesellschaft sind. Und
waren es früher die „Feinde von außen“, die klar von einem Innen getrennt werden konnten, so wird
heute mit dem „Alles ist möglich“ ein „innerer“ Feind ermöglicht: Nämlich ich gegen mich selbst, weil
ich vielleicht die Doktrin des Alles-Erreichbaren nicht schaffe – und damit bei mir etwas falsch laufen
muss. Die Vorweihnachtszeit ist möglicherweise eine solch symptomatische Zeit, in der die Werbung
vorzeigt, was wir alles haben und können sollten, in der all das angeboten wird, was nicht wirkliche
Bedürfnisse stillt, aber aus mir erst macht, was ich sein soll.
Führt das zur pathologischen Müdigkeit? Han bildet als Gegenmodell eine kontemplative Möglichkeit,
die ebenfalls zu einer Müdigkeit führt, aber zu einer Erschöpfungsmüdigkeit, die loslässt und in einer
Zeit der Muße begründet ist: eine Müdigkeit „der negativen Potenz, nämlich des nicht-zu“.
Antike „Seelenruhe“
In der antiken Philosophie dachten Vertreter der Stoa, des Epikureismus und der Skepsis ähnlich. Bei
ihnen – besonders bei Epikur – wären wir damit bei der „Seelenruhe“ gelandet. Dabei ist das lateinische
„tranquilitas animae“ nicht unbedingt die „ataraxia“ im Sinne der epikureischen
„Unerschütterlichkeit“, auch nicht deckungsgleich mit der „apatheia“, der „Leidenschaftslosigkeit“,
sondern nach Seneca eher die griechische „ethymia“: Frohsinn, Wohlgestimmtheit, humorvolle
Gelassenheit.
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Der Weg der „Seelenruhe“ (dahingestellt sei hier, was mit „Seele“ gemeint ist) ist laut Epikur in
folgendem Satz benannt: „Keinen Schrecken mehr erregt der Gott, keine Angst der Tod, das Gut ist
leicht zu beschaffen, das Beschwerliche leicht zu ertragen.“
Übersetzt ins Heute könnten die Satzteile wie folgt ausgelegt werden, um eine „Anleitung“ zu bieten:
1. Kein Schrecken mehr erregt der Gott: Damit ist nicht unbedingt der traditionelle Gott- oder
Götterglaube gemeint, vielmehr alles, was zur Religion und zu Gott erhoben werden kann und
was uns in Abhängigkeiten führt: Das kann die Angst um den Arbeitsplatz und um die
Gesundheit genauso sein, wie die neuen Religionen der Marktwirtschaft mit ihren Einkaufsund Bankentempeln und Priesterschaften in Wirtschaftskammern und Ratingagenturen. Wenn
ich erkenne, dass es illusorische Götzen sind, aus deren Abhängigkeit ich mich befreien kann,
dann habe ich einen Schritt Richtung Seelenruhe geschafft.
2. Keine Angst erregt der Tod: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn
solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“
Dieser berühmte Satz Epikurs spiegelt seine eigene Einstellung zum Tod wieder und lässt
erahnen, dass ein Blick auf das Leben aus der Perspektive des Todes (oder besser: des
Sterbens) das Leben selbst relativiert. Die „ars moriendi“ als „ars vivendi“ zeigt, dass wir
Grenzen haben, und zeigt auch, wie vieles aus einer Distanz heraus unwichtig wird.
3. Das Gut ist leicht zu beschaffen: Darunter ist Epikurs oft falsch verstandener Hedonismus zu
verstehen: Lustvolles Leben ist bereits erreicht, wenn man sich mit den einfachsten Dingen
zufrieden geben kann. Epikur unterscheidet zwischen a. natürlichen und notwendigen
Bedürfnissen (Essen, trinken, schlafen); b. natürlichen aber nicht notwendigen Bedürfnissen
(z.B. Geschlechtsverkehr) und c. weder natürlichen noch notwendigen Bedürfnissen (z.B.
Reichtum, Ruhm). Wenn a. erfüllt ist, dann hat der Mensch, was er braucht. C. hingegen führt
ihn wieder in neue Abhängigkeiten. Wenn wir auf die Vorweihnachtszeit schauen, dann sind
wir gerade in der Phase, in der uns Handel und Werbung c. einreden wollen (und auch
können!).
4. Das Beschwerliche ist leicht zu ertragen: Hier könnte der Umgang mit Problemen und
Widerfahrnissen gemeint sein. Aldous Huxley formulierte: „Drei Faktoren prägen unser Leben:
das, was wir als Erbe mitbekommen haben; das, was wir von der Umwelt mitnehmen; und das,
wie wir mit den ersten beiden Faktoren umgehen.“ Heute würden wir vielleicht den Begriff
„Resilienz“ verwenden, um Epikurs Anleitung zu umschreiben. Wenn ich lerne mit Problemen
umzugehen und nicht in Jammern und Ohnmacht stecken bleibe, dann ändert sich meine
Handlungsfähigkeit im Leben. Die östliche Philosophie unterscheidet zwischen Schmerz, der
von außen zugefügt wird, der einem widerfährt, und zwischen Leiden, das dadurch entsteht,
wie ich mit dem Schmerz umgehe. Je mehr ich mich um den Schmerz drehe und ihn ins
Zentrum rücke, umso größer wird das Leid. Vielleicht ist bei Epikur hier ähnliches gemeint.
Die philosophisch gedachte Seelenruhe hatte geschichtlich immer die Ambivalenz zwischen
„Privatisierung“ („Lebe im Verborgenen!“) und „Psychohygiene“. Die jeweiligen Autoren wurden und
werden auch bis heute in dieser Ambivalenz interpretiert. Für eine Hilfestellung in Zeiten heutiger
Hektik können aber Möglichkeiten gefunden werden, um inne zu halten und die eigene psychische
Gesundheit zu unterstützen. Philosophie so verstanden, ist weniger auf der Suche nach Wahrheit als
vielmehr Anleitung für ein besseres Leben.
Literatur:
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Bucej, Johannes, Seelenruhe. Philosophisch zur inneren Mitte finden. München 2014.
Han, Byung-Chul, Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2013 (8. Auflage)
Martens, Ekkehard, Stechfliege Sokrates. Warum gute Philosophie wehtun muss. München
2015.
Ruffing, Reiner, philosophenzeit. Übungen zur Lebenskunst. Gütersloh 2010.
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